Entstehung der Arten (1876)/Zweites Capitel

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Erstes Capitel Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe um's Dasein (1876)
von Charles Darwin
Drittes Capitel


[63]
Zweites Capitel.
Abänderung im Naturzustande.
Variabilität.Individuelle Verschiedenheiten.Zweifelhafte Arten.Weit und sehr verbreitete und gemeine Arten variiren am meisten.Arten der größeren Gattungen jeden Landes variiren häufiger als die der kleineren Genera.Viele Arten der großen Gattungen gleichen den Varietäten darin, daß sie sehr nahe, aber ungleich mit einander verwandt sind und beschränkte Verbreitungsbezirke haben.

Ehe wir von den Principien, zu welchen wir im vorigen Capitel gelangten, Anwendung auf die organischen Wesen im Naturzustande machen, müssen wir kurz untersuchen, in wiefern diese letzten veränderlich sind oder nicht. Um diesen Gegenstand nur einigermaßen eingehend zu behandeln, müßte ich ein langes Verzeichnis trockener Thatsachen geben; doch will ich diese für ein künftiges Werk versparen. Auch will ich nicht die verschiedenen Definitionen erörtern, welche man von dem Worte „Species“ gegeben hat. Keine derselben hat bis jetzt alle Naturforscher befriedigt; doch weiß jeder Naturforscher ungefähr, was er meint, wenn er von einer Species spricht. Allgemein schließt die Bezeichnung das unbekannte Element eines besonderen Schöpfungsactes ein. Der Ausdruck „Varietät“ ist fast eben so schwer zu definiren; gemeinschaftliche Abstammung ist indeß hier meistens einbedungen, obwohl sie selten bewiesen werden kann. Auch findet sich, was man Monstrositäten nennt; sie gehen aber stufenweise in Varietäten über. Unter einer „Monstrosität“ versteht man nach meiner Meinung irgend eine beträchtliche Abweichung der Structur, welche der Art meistens nachtheilig oder doch nicht nützlich ist. Einige Schriftsteller gebrauchen noch den Ausdruck „Variation“ in einem technischen Sinne, um Abänderungen zu bezeichnen, welche directe Folge äußerer Lebensbedingungen sind, und die „Variationen“ dieser Art gelten nicht für erblich. Doch, wer kann behaupten, daß die zwerghafte Beschaffenheit der Conchylien im Brackwasser des Baltischen Meeres, oder die [64] Zwergpflanzen auf den Höhen der Alpen, oder der dichtere Pelz eines Thieres in höheren Breiten nicht in einigen Fällen auf wenigstens einige Generationen vererbt werden? und in diesem Falle würde man, glaube ich, die Form eine „Varietät“ nennen.

Es mag wohl zweifelhaft sein, ob plötzliche und große Abweichungen der Structur, wie wir sie gelegentlich in unseren gezähmten Rassen, zumal unter den Pflanzen auftauchen sehen, sich im Naturzustande je stetig fortpflanzen können. Fast jeder Theil jedes organischen Wesens steht in einer so schönen Beziehung zu seinen complicirten Lebensbedingungen, daß es eben so unwahrscheinlich scheint, daß irgend ein Theil auf einmal in seiner ganzen Vollkommenheit erschienen sei, als daß ein Mensch irgend eine zusammengesetzte Maschine sogleich in vollkommenem Zustande erfunden habe. Im domesticirten Zustande kommen oft Monstrositäten vor, welche normalen Bildungen in sehr verschiedenen Thieren ähnlich sind. So sind oft Schweine mit einer Art Rüssel geboren worden. Wenn nun irgend eine wilde Art der Gattung Schwein von Natur einen Rüssel besessen hätte, so hätte man schließen können, daß derselbe plötzlich als Monstrosität erschienen sei. Es ist mir aber bis jetzt nach eifrigem Suchen nicht gelungen, Fälle zu finden, wo Monstrositäten normalen Bildungen bei verwandten Formen ähnlich wären; und nur solche haben Bezug auf vorliegende Frage. Treten monströse Formen dieser Art je im Naturzustande auf und sind sie fähig, sich fortzupflanzen (was nicht immer der Fall ist), so würde, da sie nur selten und einzeln vorkommen, ihre Erhaltung von ungewöhnlich günstigen Umständen abhängen. Sie würden sich auch in der ersten und den folgenden Generationen mit der gewöhnlichen Form kreuzen und würden auf diese Weise fast unvermeidlich ihren abnormen Character verlieren. Ich werde aber in einem späteren Capitel auf die Erhaltung und Fortpflanzung einzelner und gelegentlicher Abänderungen zurückzukommen haben.

Individuelle Verschiedenheiten.

Die vielen geringen Verschiedenheiten, welche oft unter den Abkömmlingen von einerlei Eltern vorkommen, oder unter solchen, von denen man einen derartigen Ursprung annehmen kann, kann man individuelle Verschiedenheiten nennen, da sie bei Inviduen der nämlichen Art beobachtet werden, welche auf begrenztem Raume nahe beisammen wohnen. Niemand glaubt, daß alle Individuen einer Art genau nach [65] demselben Modell gebildet seien. Diese individuellen Verschiedenheiten sind nun gerade von der größten Bedeutung für uns, weil sie oft vererbt werden, wie wohl Jedermann schon zu beobachten Gelegenheit hatte; hierdurch liefern sie der natürlichen Zuchtwahl Material zur Einwirkung und zur Häufung, in gleicher Weise wie der Mensch in seinen cultivirten Rassen individuelle Verschiedenheiten in irgend einer gegebenen Richtung häuft. Diese individuellen Verschiedenheiten betreffen in der Regel nur die in den Augen des Naturforschers unwesentlichen Theile; ich könnte jedoch aus einer langen Liste von Thatsachen nachweisen, daß auch Theile, die man als wesentliche bezeichnen muß, mag man sie aus dem physiologischen oder aus dem classificatorischen Gesichtspunkte betrachten, zuweilen bei den Individuen von einerlei Arten variiren. Ich bin überzeugt, daß die erfahrensten Naturforscher erstaunt sein würden über die Menge von Fällen von Variabilität sogar in wichtigen Theilen des Körpers, die sie nach glaubwürdigen Autoritäten zusammenbringen könnten, wie ich sie im Laufe der Jahre zusammengetragen habe. Man muß sich aber auch dabei noch erinnern, daß Systematiker durchaus nicht erfreut sind, Veränderlichkeit in wichtigen Characteren zu entdecken, und daß es nicht viele gibt, welche mit Mühe innere wichtige Organe sorgfältig untersuchen und in vielen Exemplaren einer und der nämlichen Art mit einander vergleichen. So würde man nimmer erwartet haben, daß die Verzweigungen der Hauptnerven dicht am großen Centralnervenknoten eines Insectes in der nämlichen Species abändern könnten, sondern hätte vielmehr gedacht, Veränderungen dieser Art könnten nur langsam und stufenweise eintreten. Und doch hat Sir John Lubbock kürzlich bei Coccus einen Grad von Veränderlichkeit an diesen Hauptnerven nachgewiesen, welcher beinahe an die unregelmäßige Verzweigung eines Baumstammes erinnert. Ebenso hat dieser ausgezeichnete Naturforscher, wie ich hinzufügen will, kürzlich gezeigt, daß die Muskeln in den Larven gewisser Insecten von Gleichförmigkeit weit entfernt sind. Die Schriftsteller bewegen sich oft in einem Kreise, wenn sie behaupten, daß wichtige Organe niemals variiren; denn dieselben Schriftsteller zählen in der Praxis diejenigen Organe zu den wichtigen (wie einige wenige ehrlich genug sind, zu gestehen), welche nicht variiren, und unter dieser Voraussetzung kann dann allerdings niemals ein Beispiel von einem variirenden wichtigen Organe angeführt werden; aber von jedem anderen Gesichtspunkte aus lassen sich deren viele aufzählen.

[66] Mit den individuellen Verschiedenheiten steht noch ein anderer Punkt in Verbindung, welcher äußerst verwirrend ist: ich meine die Gattungen, welche man „protëische“ oder „polymorphe“ genannt hat, weil deren Arten ein colossales Maß von Veränderlichkeit zeigen. In Bezug auf viele dieser Formen stimmen kaum zwei Naturforscher darüber mit einander überein, ob dieselben als Arten oder als Varietäten zu betrachten seien. Ich will Rubus, Rosa und Hieracium unter den Pflanzen, mehrere Insecten und Brachiopodengenera unter den Thieren als Beispiele anführen. In den meisten dieser polymorphen Gattungen haben einige Arten feste und bestimmte Charactere. Gattungen, welche in einer Gegend polymorph sind, scheinen es mit einigen wenigen Ausnahmen auch in anderen Gegenden zu sein, und es auch, nach den Brachiopoden zu urtheilen, in früheren Zeiten gewesen zu sein. Diese Thatsachen nun sind insofern sehr auffallend, als sie zu zeigen scheinen, daß diese Art von Veränderlichkeit unabhängig von den Lebensbedingungen ist. Ich bin zu vermuthen geneigt, daß wir wenigstens bei einigen dieser polymorphen Gattungen Abänderungen in solchen Punkten ihres Baues begegnen, welche der Art weder nützlich noch schädlich sind und welche daher bei der natürlichen Zuchtwahl nicht berücksichtigt und befestigt worden sind, wie nachher erläutert werden soll.


Individuen einer und derselben Art bieten oft, wie allgemein bekannt ist, unabhängig von einer Variation große Verschiedenheiten der Structur dar, wie die beiden Geschlechter mehrerer Thiere, wie die zwei oder drei Formen steriler Weibchen oder Arbeiter bei Insecten, wie in den unreifen oder Larvenständen vieler niederen Thiere. Es gibt auch noch andere Fälle von Dimorphismus und Trimorphismus sowohl bei Pflanzen als bei Thieren. So hat Wallace, der vor Kurzem die Aufmerksamkeit besonders auf diesen Gegenstand gelenkt hat, gezeigt, daß die Weibchen gewisser Schmetterlingsarten im malayischen Archipel regelmäßig unter zwei oder selbst drei auffallend verschiedenen Formen auftreten, welche nicht durch intermediäre Varietäten verbunden werden. Neuerlich hat Fritz Müller analoge aber noch außerordentlichere Fälle von den Männchen gewisser brasilianischer Crustaceen beschrieben; so kommt das Männchen einer Tanais regelmäßig unter zwei weit von einander verschiedenen Formen vor, das eine hat viel stärkere und verschieden geformte Scheeren, das andere mit viel reichlicher [67] entwickelten Riechhaaren versehene Antennen. Obgleich nun aber in den meisten von diesen Fällen die dimorphen und trimorphen Formen, sowohl bei Thieren als bei Pflanzen jetzt durch keine Zwischenglieder zusammenhängen, so ist es doch wahrscheinlich, daß sie einmal so zusammengehangen haben. Wallace beschreibt z. B. einen Schmetterling, der auf einer und derselben Insel eine große Reihe durch Zwischenglieder verbundener Varietäten darbietet und die äußersten Glieder dieser Reihe gleichen sehr den beiden Formen einer verwandten dimorphen Art, welche auf einem anderen Theile des malayischen Archipels vorkömmt. Dasselbe gilt für Ameisen; die verschiedenen Arbeiterformen sind gewöhnlich völlig verschieden: in manchen Fällen aber werden, wie wir später sehen werden, die verschiedenen Formen durch fein abgestufte Varietäten verbunden. Es scheint allerdings zuerst als eine höchst merkwürdige Thatsache, daß derselbe weibliche Schmetterling das Vermögen haben sollte, gleichzeitig drei weibliche und eine männliche Form zu erzeugen; daß eine Zwitterpflanze aus derselben Samenkapsel drei verschiedene Zwitterformen erzeugen sollte, welche drei verschiedene Formen Weibchen und drei oder selbst sechs verschiedene Formen Männchen enthalten. Nichtsdestoweniger sind aber diese Fälle nur die auffallendsten Belege für jene allgemeine Thatsache, daß jedes weibliche Thier Männchen und Weibchen hervorbringt, die in einigen Fällen in so wunderbarer Weise von einander verschieden sind.


Zweifelhafte Arten.

Diejenigen Formen, welche zwar in beträchtlichem Maße den Character einer Art besitzen, aber anderen Formen so ähnlich oder durch Mittelstufen mit solchen so enge verkettet sind, daß die Naturforscher sie nicht als besondere Arten anführen wollen, sind in mehreren Beziehungen die wichtigsten für uns. Wir haben allen Grund zu glauben, daß viele von diesen zweifelhaften und engverwandten Formen ihre Charactere lange Zeit beharrlich behauptet haben, lange genug, so viel wir wissen, um sie für gute und echte Species zu halten. Practisch genommen pflegt ein Naturforscher, welcher zwei Formen durch Zwischenglieder mit einander verbinden kann, die eine als eine Varietät der anderen zu behandeln, wobei er die gewöhnlichere, zuweilen aber auch die zuerst beschriebene als die Art, die andere als die Varietät ansieht. Bisweilen treten aber auch sehr schwierige Fälle, [68] die ich hier nicht aufzählen will, bei der Entscheidung der Frage ein, ob eine Form als Varietät der anderen anzusehen sei oder nicht, sogar wenn beide durch Zwischenglieder eng mit einander verbunden sind; auch will die gewöhnliche Annahme, daß diese Zwischenglieder Bastarde seien, nicht immer genügen, um die Schwierigkeit zu beseitigen. In sehr vielen Fällen jedoch wird eine Form als eine Varietät der anderen erklärt, nicht weil die Zwischenglieder wirklich gefunden worden sind, sondern weil Analogie den Beobachter verleitet anzunehmen, entweder daß sie noch irgendwo vorhanden sind, oder daß sie früher vorhanden gewesen sind; und damit ist dann Zweifeln und Vermuthungen Thüre und Thor geöffnet.

Wenn es sich daher darum handelt zu bestimmen, ob eine Form als Art oder als Varietät zu bestimmen sei, scheint die Meinung der Naturforscher von gesundem Urtheil und reicher Erfahrung der einzige Führer zu bleiben. Gleichwohl können wir in vielen Fällen nur nach einer Majorität der Meinungen entscheiden; denn es lassen sich nur wenige ausgezeichnete und gutgekannte Varietäten namhaft machen, die nicht schon bei wenigstens einem oder dem anderen sachkundigen Richter als Species gegolten hätten.

Daß Varietäten von so zweifelhafter Natur keineswegs selten sind, kann nicht in Abrede gestellt werden. Man vergleiche die von verschiedenen Botanikern geschriebenen Floren von Grossbritannien, Frankreich oder den Vereinigten Staaten mit einander und sehe, was für eine erstaunliche Anzahl von Formen von dem einen Botaniker als gute Arten und von dem andern als bloße Varietäten angesehen werden. Herr H. C. Watson, welchem ich zur innigsten Erkenntlichkeit für Unterstützung aller Art verbunden bin, hat mir 182 Britische Pflanzen bezeichnet, welche gewöhnlich als Varietäten betrachtet werden, aber auch schon alle von Botanikern für Arten erklärt worden sind; und bei Aufstellung dieser Liste hat er noch manche unbedeutendere aber auch schon von einem oder dem anderen Botaniker als Art aufgenommene Varietät übergangen und einige sehr polymorphe Gattungen gänzlich außer Acht gelassen. Unter Gattungen, mit Einschluß der am meisten polymorphen Formen, führt Babington 251, Bentham dagegen nur 112 Arten auf, ein Unterschied von 139 zweifelhaften Formen! Unter den Thieren, welche sich zu jeder Paarung vereinigen und sehr ortswechselnd sind, können dergleichen zweifelhafte, von verschiedenen Zoologen bald als Arten bald als Varietäten angesehene [69] Formen nicht so leicht in einer Gegend beisammen vorkommen, sind aber in getrennten Gebieten nicht selten. Wie viele jener nordamericanischen und europäischen Insecten und Vögel, die nur sehr wenig von einander abweichen, sind von dem einen ausgezeichneten Naturforscher als unzweifelhafte Arten und von dem anderen als Varietäten oder sogenannte climatische Rassen bezeichnet worden! In mehreren werthvollen Aufsätzen, die Wallace neuerdings über die verschiedenen Thiere, besonders über die Lepidopteren des großen malayischen Archipels veröffentlicht hat, weist er nach, daß man sie in vier Gruppen theilen kann, nämlich in variable Formen, in Localformen, in geographische Rassen oder Subspecies und in ächte repräsentirende Arten. Die ersten oder die variablen Formen variiren bedeutend innerhalb der Grenzen einer und derselben Insel. Die localen Formen sind auf jeder besonderen Insel mäßig constant und bestimmt; vergleicht man aber alle derartige Formen von den verschiedenen Inseln mit einander, so stellen sich die Unterschiede als so gering und graduirt heraus, daß es unmöglich wird, viele dieser Formen zu bestimmen oder zu beschreiben, obschon die extremen Formen hinreichend scharf bestimmt sind. Die geographischen Rassen oder Subspecies sind vollständig fixirte und isolirte Localformen; da sie aber nicht durch stark markirte und bedeutungsvolle Charactere von einander abweichen, „so kann kein etwa möglicher Beweis, sondern nur individuelle Meinung bestimmen, welche derselben man als Art und welche man als Varietät betrachten soll.“ Repräsentirende Arten endlich nehmen im Naturhaushalte jeder Insel dieselbe Stelle ein, wie die localen Formen und Subspecies; da sie aber ein größeres Maß von Verschiedenheit, als das zwischen Formen und Subspecies, von einander trennt, so werden sie allgemein von den Naturforschern für gute Arten genommen. Nichtsdestoweniger läßt sich kein bestimmtes Kriterium angeben, nach welchem man variable Formen, locale Formen, Subspecies und repräsentirende Arten als solche erkennen kann.

Als ich vor vielen Jahren die Vögel von den einzelnen Inseln der Galapagos-Gruppe mit einander und mit denen des americanischen Festlandes verglich und andre sie vergleichen sah, war ich sehr darüber erstaunt, wie gänzlich schwankend und willkührlich der Unterschied zwischen Art und Varietät ist. Auf den Inselchen der kleinen Madeira-Gruppe kommen viele Insecten vor, welche in Wollaston’s bewunderungswürdigem Werke als Varietäten characterisirt sind, welche [70] aber gewiß von vielen Entomologen als besondere Arten aufgestellt werden würden. Selbst Irland besitzt einige wenige jetzt allgemein als Varietäten angesehene Thiere, die aber von einigen Zoologen für Arten erklärt worden sind. Einige erfahrene Ornithologen betrachten unser britisches Rothhuhn (Lagopus) nur als eine scharf ausgezeichnete Rasse der norwegischen Art, während die Mehrzahl solches für eine unzweifelhafte und Großbritannien eigenthümliche Art erklärt. Eine weite Entfernung zwischen der Heimath zweier zweifelhaften Formen bestimmt viele Naturforscher dieselben für zwei Arten zu erklären; aber, hat man mit Recht gefragt, welche Entfernung genügt dazu? Wenn man die Entfernung zwischen Europa und America groß nennt, wird dann auch jene zwischen Europa und den Azoren oder Madeira oder den Canarischen Inseln oder zwischen den verschiedenen Inseln dieser kleinen Archipele genügen?

B. D. Walsh, ein ausgezeichneter Entomolog der Vereinigten Staaten, hat neuerdings sogenannte phytophage Varietäten und phytophage Arten beschrieben. Die meisten pflanzenfressenden Insecten leben von einer Art oder von einer Gruppe von Pflanzen; einige leben ohne Unterschied von vielen Arten, ohne indessen dadurch verändert zu werden. Walsh hat nun aber andere derartige Fälle beobachtet, wo Insecten, welche auf verschiedenen Pflanzen lebend gefunden wurden, entweder im Larven- oder im erwachsenen Zustande oder in beiden geringe aber constante Verschiedenheiten in Farbe, Größe oder Art der Absonderungen darboten. In einigen Fällen fand man nur die Männchen, in anderen Fällen Männchen und Weibchen in einem geringen Grade von einander verschieden. Sind die Verschiedenheiten etwas stärker ausgeprägt und sind beide Geschlechter und alle Altersstände afficirt, dann werden die betreffenden Formen von allen Entomologen für Species erklärt. Aber kein Beobachter kann für Andere genau bestimmen, selbst wenn er es für sich thun kann, welche von diesen phytophagen Formen Varietäten, welche Arten zu nennen sind. Walsh bezeichnet diejenigen Formen, von denen man voraussetzen kann, daß sie sich gezwungen kreuzen, als Varietäten, und diejenigen, welche diese Fähigkeit zu kreuzen verloren zu haben scheinen, als Arten. Da die Verschiedenheiten davon abhängen, daß sich die Insecten lange von verschiedenen Pflanzen ernährt haben, so kann man nicht erwarten, jetzt Zwischenglieder zwischen den verschiedenen Formen zu finden. Der Naturforscher verliert dadurch den besten Führer zu der Bestimmung, [71] ob solche zweifelhafte Formen für Varietäten oder Species zu halten sind. Dies kommt nothwendig in gleicher Weise bei nahe verwandten Organismen vor, welche verschiedene Continente oder Inseln bewohnen. Hat aber auf der anderen Seite ein Thier oder eine Pflanze eine weite Verbreitung über einen und denselben Continent, oder bewohnt es viele Inseln desselben Archipels, und bietet es in den verschiedenen Gebieten verschiedene Formen dar, so hat man immer gute Aussicht, Zwischenglieder zu finden, welche die extremen Formen mit einander verbinden; diese werden dann auf den Rang von Varietäten herabgesetzt.

Einige wenige Naturforscher behaupten, daß Thiere niemals Varietäten darbieten: dann legen sie aber den geringsten Verschiedenheiten specifischen Werth bei; und wenn selbst dieselbe identische Form in zwei verschiedenen Ländern oder in zwei verschiedenen geologischen Formationen gefunden wird, so glauben sie, daß zwei verschiedene Arten im nämlichen Gewande stecken. Der Ausdruck Art wird dadurch zu einer nutzlosen Abstraction, unter der man einen besonderen Schöpfungsact versteht und annimmt. Es ist sicher, daß viele von competenten Richtern für Varietäten angesehene Formen so vollständig dem Character nach Arten ähnlich sind, daß sie von anderen ebenso competenten Männern dafür gehalten worden sind. Aber es ist vergebene Arbeit, die Frage zu erörtern, ob sie Arten oder Varietäten genannt werden sollten, so lange noch keine Definition dieser zwei Ausdrücke allgemein angenommen ist.

Viele dieser stark ausgeprägten Varietäten oder zweifelhaften Arten verdienten wohl eine nähere Betrachtung; denn man hat vielerlei interessante Beweismittel aus ihrer geographischen Verbreitung, analogen Variation, Bastardbildung u. s. w. herbeigeholt, um bei Feststellung der ihnen gebührenden Rangstufe mitzuhelfen. Doch erlaubt mir der Raum nicht, sie hier zu erörtern. Sorgfältige Untersuchung wird in vielen Fällen ohne Zweifel die Naturforscher zur Verständigung darüber bringen, wofür die zweifelhaften Formen zu halten sind. Doch müssen wir bekennen, daß gerade in den am besten bekannten Ländern die meisten zweifelhaften Formen zu finden sind. Ich war über die Thatsache erstaunt, daß von solchen Thieren und Pflanzen, welche dem Menschen in ihrem Naturzustande sehr nützlich sind oder aus irgend einer anderen Ursache seine besondere Aufmerksamkeit erregen, fast überall Varietäten angeführt werden. Diese Varietäten werden überdies oft von einigen Autoren als Arten bezeichnet. Wie sorgfältig [72] ist die gemeine Eiche studirt worden! Nun macht aber ein deutscher Autor über ein Dutzend Arten aus den Formen, welche bis jetzt von anderen Botanikern fast ganz allgemein als Varietäten angegeben wurden; und in England können die höchsten botanischen Gewährsmänner und vorzüglichsten Practiker angeführt werden, welche nachweisen, die einen, daß die Trauben- und die Stieleiche gut unterschiedene Arten, die anderen, daß sie bloße Varietäten sind.

Ich will hier auf eine neuerdings erschienene merkwürdige Arbeit A. DeCandolle’s über die Eichen der ganzen Erde verweisen. Nie hat Jemand größeres Material zur Unterscheidung der Arten gehabt oder hätte dasselbe mit mehr Eifer und Scharfsinn verarbeiten können. Er gibt zuerst im Detail alle die vielen Punkte, in denen der Bau der verschiedenen Arten variirt, und schätzt numerisch die Häufigkeit der Abänderungen. Er führt speciell über ein Dutzend Merkmale auf, von denen man findet, daß sie selbst an einem und demselben Zweige, zuweilen je nach dem Alter und der Entwickelung, zuweilen ohne nachweisbaren Grund variiren. Derartige Merkmale haben natürlich keinen specifischen Werth, sie sind aber, wie Asa Gray in seinem Bericht über diese Abhandlung bemerkt, von der Art, wie sie gewöhnlich in Speciesbestimmungen aufgenommen werden. DeCandolle sagt dann weiter, daß er die Formen als Arten betrachtet, welche in Merkmalen von einander abweichen, die nie auf einem und demselben Baume variiren und nie durch Zwischenzustände zusammenhängen. Nach dieser Erörterung, dem Resultate so vieler Arbeit, bemerkt er mit Nachdruck: „Diejenigen sind im Irrthum, welche immer wiederholen, daß die Mehrzahl unserer Arten deutlich begrenzt und daß die zweifelhaften Arten in einer geringeren Minorität sind. Dies schien so lange wahr zu sein, als man eine Gattung unvollkommen kannte und ihre Arten auf wenig Exemplare gegründet wurden, d. h. provisorisch waren. Sobald wir dazu kommen, sie besser zu kennen, strömen die Zwischenformen herbei und die Zweifel über die Grenzen der Arten erheben sich.“ Er fügt auch noch hinzu, daß es gerade die bestbekannten Arten sind, welche die größte Anzahl spontaner Varietäten und Subvarietäten darbieten. So hat Quercus robur achtundzwanzig Varietäten, welche mit Ausnahme von sechs sich sämmtlich um drei Subspecies gruppiren, nämlich Q. pedunculata, sessiliflora und pubescens. Die Formen, welche diese drei Subspecies mit einander verbinden, sind verhältnismäßig selten: und wenn, wie Asa Gray ferner [73] bemerkt, diese jetzt seltenen Uebergangsformen völlig aussterben sollten, so würden sich die drei Subspecies genau ebenso zu einander verhalten, wie die vier oder fünf provisorisch angenommenen Arten, welche sich eng um die typische Quercus robur gruppiren. Endlich gibt DeCandolle noch zu, daß von den 300 Arten, welche in seinem Prodromus als zur Familie der Eichen gehörig werden aufgezählt werden, wenigstens zwei Drittel provisorisch, d. h. nicht genau genug gekannt sind, um der oben angegebenen Definition der Species zu genügen. Ich muß hinzufügen, daß DeCandolle die Arten nicht mehr für unveränderliche Schöpfungen hält, sondern zu dem Schluß gelangt, daß die Ableitungstheorie die natürlichste „und die am besten mit den bekannten Thatsachen der Paläontologie, Pflanzengeographie und Thiergeographie, des anatomischen Baues und der Classification übereinstimmend ist.“

Wenn ein junger Naturforscher eine ihm ganz unbekannte Gruppe von Organismen zu studiren beginnt, so macht ihn anfangs die Frage verwirrt, was für Unterschiede er für specifische halten soll und welche von ihnen nur Varietäten angehören; denn er weiß noch nichts von der Art und der Größe der Abänderungen, deren die Gruppe fähig ist; und dies beweist eben wieder, wie allgemein wenigstens einige Variation ist. Wenn er aber seine Aufmerksamkeit auf eine Classe innerhalb eines Landes beschränkt, so wird er bald darüber im Klaren sein, wofür er die meisten dieser zweifelhaften Formen anzuschlagen habe. Er wird im Allgemeinen geneigt sein, viele Arten zu machen, weil ihm, sowie den vorhin erwähnten Tauben- oder Hühnerfreunden, die Verschiedenheiten der beständig von ihm studirten Formen sehr beträchtlich scheinen und weil er noch wenig allgemeine Kenntnis von analogen Verschiedenheiten in anderen Gruppen und anderen Ländern zur Berichtigung jener zuerst empfangenen Eindrücke besitzt. Dehnt er nun den Kreis seiner Beobachtung weiter aus, so wird er auf mehr Fälle von einiger Schwierigkeit stoßen; er wird einer großen Anzahl nahe verwandter Formen begegnen. Erweitern sich seine Erfahrungen aber noch mehr, so wird er endlich für sich selbst klar darüber werden, was Varietät und was Species zu nennen sei; doch wird er zu diesem Ziele nur gelangen, wenn er viel Veränderlichkeit zugibt, und er wird die Richtigkeit seiner Annahme von anderen Naturforschern oft in Zweifel gezogen sehen. Wenn er nun überdies verwandte Formen aus anderen jetzt nicht unmittelbar aneinandergrenzenden Ländern [74] zu studiren Gelegenheit erhält, in welchem Falle er kaum hoffen darf, die Mittelglieder zwischen seinen zweifelhaften Formen zu finden, so wird er sich fast ganz auf Analogie verlassen müssen, und seine Schwierigkeiten kommen auf den Höhepunkt.

Eine bestimmte Grenzlinie ist bis jetzt sicherlich nicht gezogen worden, weder zwischen Arten und Unterarten, d. h. solchen Formen, welche nach der Meinung einiger Naturforscher den Rang einer Species nahezu, aber doch nicht ganz erreichen, noch zwischen Unterarten und ausgezeichneten Varietäten, noch endlich zwischen den geringeren Varietäten und individuellen Verschiedenheiten. Diese Verschiedenheiten greifen in einer unmerklichen Reihe in einander, und eine Reihe erweckt die Vorstellung von einem wirklichen Übergang.

Ich betrachte daher die individuellen Abweichungen, wenn schon sie für den Systematiker nur wenig Werth haben, als für uns von großer Bedeutung, weil sie den ersten Schritt zu solchen unbedeutenden Varietäten bilden, welche man in naturgeschichtlichen Werken der Erwähnung eben werth zu halten pflegt. Ich sehe ferner diejenigen Varietäten, welche etwas erheblicher und beständiger sind, als die uns zu den mehr auffälligen und bleibenderen Varietäten führende Stufe an, wie uns diese zu den Subspecies und endlich Species leiten. Der Übergang von einer dieser Verschiedenheitsstufen in die andere nächsthöhere mag in vielen Fällen lediglich von der Natur des Organismus und der langwährenden Einwirkung verschiedener äußeren Bedingungen, welchen derselbe ausgesetzt war, herrühren; aber in Bezug auf die bedeutungsvolleren und adaptiven Charactere kann er der später zu erörternden accumulativen Wirkung der natürlichen Zuchtwahl und der Einwirkung des vermehrten Gebrauchs und Nichtgebrauchs von Theilen zugeschrieben werden. Ich glaube daher, daß man eine gut ausgeprägte Varietät mit Recht eine beginnende Species nennen kann; ob sich aber dieser Glaube rechtfertigen lasse, muß nach dem Gewicht der im Verlaufe dieses Werkes beigebrachten Thatsachen und Betrachtungen ermessen werden.

Man hat nicht nöthig, anzunehmen, daß alle Varietäten oder beginnenden Species sich nothwendig zum Range einer Art erheben. Sie können in diesem beginnenden Zustande wieder erlöschen; oder sie können als Varietäten sehr lange Zeiträume hindurch feststehen bleiben, wie Wollaston von den Varietäten gewisser fossiler Landschneckenarten auf Madeira und Gaston De Saporta von Pflanzen gezeigt hat. [75] Gediehe eine Varietät derartig, daß sie die elterliche Species an Zahl überträfe, so würde man sie für die Art und die Art für die Varietät einordnen; oder sie könnte die elterliche Art verdrängen und ausmerzen; oder endlich beide könnten neben einander fortbestehen und für unabhängige Arten gelten. Wir werden jedoch nachher auf diesen Gegenstand zurückkommen.

Aus diesen Bemerkungen geht hervor, daß ich den Kunstausdruck „Species“ als einen arbiträren und der Bequemlichkeit halber auf eine Reihe von einander sehr ähnlichen Individuen angewendeten betrachte, und daß er von dem Kunstausdrucke „Varietät“, welcher auf minder abweichende und noch mehr schwankende Formen Anwendung findet, nicht wesentlich verschieden ist. Eben so wird der Ausdruck „Varietät“ im Vergleich zu bloßen individuellen Verschiedenheiten nur arbiträr und der Bequemlichkeit wegen benutzt.


Weit und sehr verbreitete und gemeine Arten variiren am meisten.

Durch theoretische Betrachtungen geleitet, glaubte ich, daß sich einige interessante Ergebnisse in Bezug auf die Natur und die Beziehungen der am meisten variirenden Arten darbieten würden, wenn ich alle Varietäten aus verschiedenen wohlbearbeiteten Floren tabellarisch zusammenstellte. Anfangs schien mir dies eine einfache Sache zu sein. Aber Herr H. C. Watson, dem ich für seinen werthvollen Rath und Beistand in dieser Beziehung sehr dankbar bin, überzeugte mich bald, daß dies mit vielen Schwierigkeiten verknüpft sei, was späterhin Dr. Hooker in noch bestimmterer Weise bestätigte. Ich behalte mir daher für ein künftiges Werk die Erörterung dieser Schwierigkeiten und die Tabellen über die Zahlenverhältnisse der variirenden Species vor. Dr. Hooker erlaubt mir noch hinzuzufügen, daß, nachdem er sorgfältig meine handschriftlichen Aufzeichnungen durchgelesen und meine Tabellen geprüft, er die folgenden Sätze für vollkommen wohl begründet halte. Der ganze Gegenstand aber, welcher hier nothwendig nur sehr kurz abgehandelt werden kann, ist ziemlich verwickelt, zumal Bezugnahmen auf den „Kampf um’s Dasein“, auf die „Divergenz der Charactere“ und andere erst später zu erörternde Fragen nicht vermieden werden können.

Alphons DeCandolle u. a. Botaniker haben gezeigt, daß solche Pflanzen, die sehr weit ausgedehnte Verbreitungsbezirke besitzen, gewöhnlich auch Varietäten darbieten, wie es sich ohnedies schon hätte [76] erwarten lassen, da sie verschiedenen physikalischen Einflüssen ausgesetzt sind und mit anderen Gruppen von Organismen in Concurrenz kommen, was, wie sich nachher ergeben wird, ein Umstand von gleicher oder noch viel größerer Bedeutung ist. Meine Tabellen zeigen aber ferner, daß auch in einem bestimmt begrenzten Gebiete die gemeinsten, d. h. die in den zahlreichsten Individuen vorkommenden Arten und jene, welche innerhalb ihrer eignen Gegend am meisten verbreitet sind (was von „weiter Verbreitung“ und in gewisser Weise von „Gemeinsein“ wohl zu unterscheiden ist), am häufigsten zur Entstehung von hinreichend bezeichneten Varietäten Veranlassung geben, um sie in botanischen Werken aufgezählt zu finden. Es sind mithin die am besten gedeihenden oder, wie man sie nennen kann, die dominirenden Arten, — nämlich die am weitesten über die Erdoberfläche und in ihrer eignen Gegend am allgemeinsten verbreiteten und die an Individuen reichsten Arten, — welche am öftesten wohl ausgeprägte Varietäten oder, wofür ich sie halte, beginnende Species liefern. Und dies ist vielleicht vorauszusehen gewesen; denn so wie Varietäten, um einigermaßen stet zu werden, nothwendig mit andern Bewohnern der Gegend zu kämpfen haben, so werden auch die bereits herrschend gewordenen Arten am meisten geeignet sein, Nachkommen zu liefern, welche, wenn auch in einem geringen Grade modificirt, doch diejenigen Vorzüge erben, durch welche ihre Eltern befähigt wurden, über ihre Landesgenossen das Übergewicht zu erringen. Bei diesen Bemerkungen über das Übergewicht ist jedoch zu berücksichtigen, daß sie sich nur auf diejenigen Formen beziehen, welche zueinander und namentlich zu Gliedern derselben Gattung oder Classe mit ganz ähnlicher Lebensweise im Verhältnisse der Concurrenz stehen. Hinsichtlich der Individuenzahl oder der Gemeinheit einer Art erstreckt sich daher die Vergleichung natürlich nur auf Glieder der nämlichen Gruppe. Man kann eine der höheren Pflanze eine herrschende nennen, wenn sie an Individuen reicher und weiter verbreitet als die andern unter nahezu ähnlichen Verhältnissen lebenden Pflanzen des nämlichen Landes ist. Eine solche Pflanze wird darum nicht weniger eine herrschende sein, weil etwa eine Conferve des Wassers oder ein schmarotzender Pilz unendlich viel zahlreicher an Individuen und noch weiter verbreitet ist als sie. Wenn aber eine Conferve oder ein Schmarotzerpilz seine Verwandten in den oben genannten Beziehungen übertrifft, dann würden diese Formen unter den Pflanzen ihrer eigenen Classe herrschende sein.

[77]
Arten der grösseren Gattungen in jedem Lande variiren häufiger als die Arten der kleineren Genera.

Wenn man die ein Land bewohnenden Pflanzen, wie sie in einer Flora desselben beschrieben sind, in zwei gleiche Mengen theilt, auf die eine Seite alle Arten aus großen (d. h. viele Arten umfassenden), und auf die andre Seite alle Arten aus kleinen Gattungen bringt, so wird man eine etwas größere Anzahl sehr gemeiner und sehr verbreiteter oder herrschender Arten auf Seiten der großen Genera finden. Auch dies hat vorausgesehen werden können; denn schon die einfache Thatsache, daß viele Arten einer und der nämlichen Gattung ein Land bewohnen, zeigt, daß die organischen und unorganischen Verhältnisse des Landes etwas für die Gattung Günstiges enthalten, daher man erwarten durfte, in den größeren oder viele Arten enthaltenden Gattungen auch eine verhältnismäßig größere Anzahl herrschender Arten zu finden. Aber es gibt so viele Ursachen, welche dieses Ergebnis zu verhüllen streben, daß ich erstaunt bin, in meinen Tabellen auch selbst eine kleine Majorität auf Seiten der größeren Gattungen zu finden. Ich will hier nur zwei Ursachen dieser Verhüllung anführen. Süßwasser- und Salzpflanzen haben gewöhnlich weit ausgedehnte Bezirke und eine große Verbreitung; dies scheint aber mit der Natur ihrer Standorte zusammenzuhängen und hat wenig oder gar keine Beziehung zu der Größe der Gattungen, wozu sie gehören. Ebenso sind Pflanzen von unvollkommenen Organisationsstufen gewöhnlich viel weiter als die höher organisirten verbreitet, und auch hier besteht kein nahes Verhältnis zur Größe der Gattungen. Die Ursache weiter Verbreitung niedrig organisirter Pflanzen wird in dem Capitel über die geographische Verbreitung erörtert werden.

Daß ich die Arten nur als stark ausgeprägte und wohl umschriebene Varietäten betrachtete, führte mich zu der Voraussetzung, daß die Arten der größeren Gattungen eines Landes öfter als die der kleineren Varietäten darbieten würden; denn wo immer sich viele einander nahe verwandte Arten (d. h. Arten derselben Gattungen) gebildet haben, sollten sich, als allgemeine Regel, auch viele Varietäten derselben oder beginnende Arten jetzt bilden, — wie da, wo viele große Bäume wachsen, man viele junge Bäumchen aufkommen zu sehen erwarten darf. Wo viele Arten einer Gattung durch Variation entstanden sind, da sind die Umstände günstig für Variation [78] gewesen; und man möchte mithin auch erwarten, sie noch jetzt dafür günstig zu finden. Wenn wir dagegen jede Art als einen besonderen Act der Schöpfung betrachten, so ist kein Grund einzusehen, weshalb verhältnismäßig mehr Varietäten in einer artenreichen Gruppe als in einer solchen mit wenigen Arten vorkommen sollten.

Um die Richtigkeit dieser Voraussetzung zu prüfen, habe ich die Pflanzenarten von zwölf verschiedenen Ländern und die Käferarten von zwei verschiedenen Gebieten in je zwei einander fast gleiche Mengen getheilt, die Arten der großen Gattungen auf die eine und die der kleinen auf die andere Seite, und es hat sich unwandelbar überall dasselbe Ergebnis gezeigt, daß eine verhältnismäßig größere Anzahl von Arten auf Seite der großen Gattungen Varietäten haben als auf Seite der kleinen. Überdies bieten die Arten der großen Genera, welche überhaupt Varietäten haben, unveränderlich eine verhältnismäßig größere Zahl von Varietäten dar, als die der kleineren. Zu diesen beiden Ergebnissen gelangt man auch, wenn man die Eintheilung anders macht und alle kleinsten Gattungen, solche mit nur 1—4 Arten, ganz aus den Tabellen ausschließt. Diese Thatsachen haben einen völlig klaren Sinn, wenn man von der Ansicht ausgeht, daß Arten nur streng ausgeprägte und bleibende Varietäten sind; denn wo immer viele Arten einer und derselben Gattung gebildet worden sind oder wo, wenn der Ausdruck erlaubt ist, die Artenfabrication thätig betrieben worden ist, sollten wir gewöhnlich diese Fabrication auch noch in Thätigkeit finden, zumal wir alle Ursache haben zu glauben, daß das Fabricationsverfahren neuer Arten ein sehr langsames sei. Und dies ist sicherlich der Fall, wenn man Varietäten als beginnende Arten betrachtet; denn meine Tabellen zeigen deutlich als allgemeine Regel, daß, wo immer viele Arten einer Gattung gebildet worden sind, die Arten dieser Gattung eine den Durchschnitt übersteigende Anzahl von Varietäten oder von beginnenden neuen Arten enthalten. Damit soll nicht gesagt werden, daß alle großen Gattungen jetzt sehr variiren und daher in Vermehrung ihrer Artenzahl begriffen sind, oder daß kein kleines Genus jetzt Varietäten bilde und wachse; denn dieser Fall wäre sehr verderblich für meine Theorie, zumal uns die Geologie klar beweist, daß kleine Genera im Laufe der Zeiten oft sehr groß geworden, und daß große Gattungen, nachdem sie ihr Maximum erreicht, wieder zurückgesunken und endlich verschwunden sind. Alles, was wir hier beweisen wollen, ist, daß da, wo viele Arten in einer Gattung gebildet [79] worden, auch noch jetzt durchschnittlich viele in Bildung begriffen sind; und dies ist gewiß richtig.


Viele Arten der größeren Gattungen gleichen Varietäten darin, daß sie sehr nahe, aber ungleich mit einander verwandt sind und beschränkte Verbreitungsbezirke haben.

Es gibt noch andere beachtenswerthe Beziehungen zwischen den Arten großer Gattungen und ihren aufgeführten Varietäten. Wir haben gesehen, daß es kein untrügliches Unterscheidungsmerkmal zwischen Arten und gut ausgeprägten Varietäten gibt; und in jenen Fällen, wo Mittelglieder zwischen zweifelhaften Formen noch nicht gefunden wurden, sind die Naturforscher genöthigt, ihre Bestimmung von der Größe der Verschiedenheiten zwischen zwei Formen abhängig zu machen, indem sie nach Analogie urtheilen, ob deren Betrag genüge, um nur eine oder alle beide zum Range von Arten zu erheben. Der Betrag der Verschiedenheit ist mithin ein sehr wichtiges Kriterium bei der Bestimmung, ob zwei Formen für Arten oder für Varietäten gelten sollten. Nun haben Fries in Bezug auf die Pflanzen und Westwood hinsichtlich der Insecten die Bemerkung gemacht, daß in großen Gattungen der Grad der Verschiedenheit zwischen den Arten oft außerordentlich klein ist. Ich habe dies numerisch durch Mittelzahlen zu prüfen gesucht und, soweit meine noch unvollkommenen Ergebnisse reichen, bestätigt gefunden. Ich habe mich deshalb auch bei einigen scharfsinnigen und erfahrenen Beobachtern befragt und nach Auseinandersetzung der Sache gefunden, daß wir übereinstimmten. In dieser Hinsicht gleichen demnach die Arten der großen Gattungen den Varietäten mehr, als die Arten der kleinen Gattungen. Man kann die Sache aber auch anders ausdrücken und sagen, daß in den größeren Gattungen, wo eine den Durchschnitt übersteigende Anzahl von Varietäten oder beginnenden Species noch jetzt fabricirt wird, viele der bereits fertigen Arten doch bis zu einem gewissen Grade Varietäten gleichen, insofern sie durch ein geringeres Maß von Verschiedenheit als das gewöhnliche von einander getrennt werden.

Überdies sind die Arten großer Gattungen mit einander verwandt, in derselben Weise, wie die Varietäten einer Art mit einander verwandt sind. Kein Naturforscher behauptet, daß alle Arten einer Gattung in gleichem Grade von einander verschieden sind; sie können daher gewöhnlich noch in Subgenera, in Sectionen oder noch kleinere [80] Gruppen getheilt werden. Wie Fries richtig bemerkt, sind diese kleinen Artengruppen gewöhnlich wie Satelliten um gewisse andere Arten geschaart. Und was sind Varietäten anders als Formengruppen von ungleicher gegenseitiger Verwandtschaft, um gewisse Formen geordnet, um die Stammarten nämlich? Unzweifelhaft besteht ein äußerst wichtiger Differenzpunkt zwischen Varietäten und Arten; daß nämlich der Betrag der Verschiedenheit zwischen Varietäten, wenn man sie mit einander oder mit ihren Stammarten vergleicht, weit kleiner ist, als der zwischen den Arten derselben Gattung. Wenn wir aber zur Erörterung des Princips, wie ich es nenne, der „Divergenz der Charactere“ kommen, so werden wir sehen, wie dies zu erklären ist, und wie die geringeren Verschiedenheiten zwischen Varietäten zu den größeren Verschiedenheiten zwischen Arten anzuwachsen streben.

Es gibt noch einen andern Punkt, welcher der Beachtung werth ist. Varietäten haben gewöhnlich eine sehr beschränkte Verbreitung, was sich eigentlich schon von selbst versteht; denn wäre eine Varietät weiter verbreitet, als ihre angebliche Stammart, so müßten ihre Bezeichnungen umgekehrt werden. Es ist aber auch Grund zur Annahme vorhanden, daß diejenigen Arten, welche sehr nahe mit anderen Arten verwandt sind und insofern Varietäten gleichen, oft sehr enge Verbreitungsgrenzen haben. So hat mir z. B. Herr H. C. Watson in dem wohlgesichteten Londoner Pflanzencatalog (vierte Ausgabe) 63 Pflanzen bezeichnet, welche darin als Arten aufgeführt sind, die er aber für so nahe mit anderen Arten verwandt hält, daß ihr Rang zweifelhaft wird. Diese 63 geringwerthigen Arten verbreiten sich im Mittel über 6,9 der Provinzen, in welche Watson Großbritannien eingetheilt hat. Nun sind im nämlichen Cataloge auch 53 anerkannte Varietäten aufgezählt, und diese erstrecken sich über 7,7 Provinzen, während die Arten, wozu diese Varietäten gehören, sich über 14,3 Provinzen ausdehnen. Daher denn die anerkannten Varietäten eine beinahe eben so beschränkte mittlere Verbreitung besitzen, als jene nahe verwandten Formen, welche Watson als zweifelhafte Arten bezeichnet hat, die aber von englischen Botanikern fast ganz allgemein für gute und echte Arten genommen werden.


Schluß.

Es können denn also Varietäten von Arten nicht unterschieden werden, außer: erstens durch die Entdeckung von verbindenden Mittelgliedern, [81] und zweitens durch ein gewisses unbestimmtes Maß von Verschiedenheit; denn zwei Formen werden, wenn sie nur sehr wenig von einander abweichen, allgemein nur als Varietäten angesehen, wenn sie auch durch Mittelglieder nicht verbunden werden können; der Betrag von Verschiedenheit aber, welcher zur Erhebung zweier Formen zum Artenrang für nöthig gehalten wird, kann nicht bestimmt werden. In Gattungen, welche mehr als die mittlere Artenzahl in einer Gegend haben, zeigen die Arten auch mehr als die Mittelzahl von Varietäten. In großen Gattungen sind sich die Arten nahe, aber in ungleichem Grade verwandt und bilden kleine um gewisse Arten sich ordnende Gruppen. Mit andern sehr nahe verwandte Arten sind allem Anschein nach von beschränkter Verbreitung. In all’ diesen verschiedenen Beziehungen zeigen die Arten großer Gattungen eine starke Analogie mit Varietäten. Und man kann diese Analogien ganz gut verstehen, wenn Arten einst nur Varietäten gewesen und aus diesen hervorgegangen sind; wogegen diese Analogien vollständig unerklärlich sein würden, wenn jede Species unabhängig erschaffen worden wäre.

Wir haben nun auch gesehen, daß es die am besten gedeihenden oder herrschenden Species der größeren Gattungen in jeder Classe sind, die im Durchschnitt genommen die größte Zahl von Varietäten liefern; und Varietäten haben, wie wir hernach sehen werden, Neigung in neue und bestimmte Arten verwandelt zu werden. Dadurch neigen auch die großen Gattungen zur Vergrößerung, und in der ganzen Natur streben die Lebensformen, welche jetzt herrschend sind, noch immer mehr herrschend zu werden durch Hinterlassung vieler abgeänderter und herrschender Abkömmlinge. Aber auf nachher zu erläuternden Wegen streben auch die größeren Gattungen immer mehr sich in kleine aufzulösen. Und so werden die Lebensformen auf der ganzen Erde in Gruppen abgetheilt, welche andern Gruppen untergeordnet sind.


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