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Etiquette

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Autor: Ossip Schubin
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Titel: Etiquette
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Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Gebrüder Paetel
Drucker: G. Bernstein
Erscheinungsort: Berlin
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Quelle: Commons
Kurzbeschreibung: Eine Rokoko-Arabeske
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Etiquette.
Eine Rococo-Arabeske
von
Ossip Schubin.


Berlin.
Verlag von Gebrüder Paetel.
1887.



I.

Die alten Götter sind todt – der Glaube ist verschwunden von der Welt.

Es ist nicht lange her, daß eine der Aufgeklärten bei einem Souper der alten blinden Doyenne französischer Blaustrümpfe, Madame Dudeffand, Voltaire verächtlich der Bigotterie geziehen hat mit den Worten: „Ah c’est un dévot, c’est un déiste!“

Ja, die alten Götter sind todt, aber ein Fetisch ist übrig geblieben – ein Fetisch, dem die Besten und Bösesten, die Klügsten und die Dümmsten fast mit derselben willigen Ergebenheit noch Blut und Glück und Selbstachtung opfern – die Etiquette!

Auch ihre Macht ist verringert; Tyrannin über die Tyrannen, ist ihr Ende nah. Wie soll sie weiter leben in diesem Jahrhundert der Willkür und der Laune!

Die Stunde wird kommen, wo eine Königin selbst in kühnem Jugendübermuthe ihr die Waffen aus der Hand reißen und somit vollbringen wird, was der Dirne Du Barry nicht geglückt. Entwaffnet durch eine Königin, verhöhnt, verlacht und verspottet, wird sie zusammenbrechen zu Füßen eines Thrones, dessen letzte Stütze sie war.

Heute aber steht sie noch fest, wächst sie mit der Feierlichkeit der Sachlage. Sie hat ja immer viel zu schaffen gehabt, so einer der Großen dieser Welt im Sterben lag, wie es der Fall ist in der Zeit, da unsere Geschichte beginnt, Anfangs Mai anno domini 1774. –

Ludwig XV. – Ludwig „der Vielgeliebte“ – mit welch’ grausamer Ironie der Name, den ihm vor nunmehr vollen dreißig Jahren sein ganzes, um sein Leben zitterndes Volk beigelegt, in sein verhaßtes Alter hineinklingt! – Ludwig, der Vielgeliebte, liegt im Sterben, und vieles Andere mit ihm.

Zwei Dinge hatten ihm sein Lebtag lang Angst eingeflößt – der Tod und die Hölle. Die geringste ernstliche Veränderung seines Gesundheitszustandes war stets mit einer großen Steigerung dieser Furcht verbunden und mit einem dringenden Verlangen nach einem Seelsorger, weshalb auch Madame Du Barry, deren Macht über ihn zum guten Theil einem instinctiven Errathen und Ausnützen seiner Schwächen zuzuschreiben ist, da er am 28. April plötzlich in dem hübschen Königsspielzeug, dem kleinen Trianon, erkrankte, sein Unwohlsein als eine Bagatelle behandelnd, ihn bestimmen wollte, seine Genesung alldort abzuwarten.

Sie fühlte sich sicher in dem hübschen, ländlich einfachen Schlößchen, umgeben von dem ganzen Troß der Aiguillonisten, deren Werkzeug sie war, glaubte sich da geborgen vor den Eingriffen der königlichen Familie, vor den Intriguen der antiaiguillonistischen Partei, mit einem Wort, geborgen vor dem Seelsorger, der sie aus der Nähe des Königs verbannt hätte.

Ihre Geschichtskenntnisse reichten nicht weit zurück; aber bis zu den Augusttagen von 1744 – dem großen Duell zwischen der Herzogin von Chateauroux und dem Clerus von Frankreich am Krankenbett des Königs in Metz, reichten sie doch. Daß es ihr, Jeanne Bequs, der ehemaligen Protegee von Mademoiselle Frédéric besser ergehen sollte, als der schönsten, stolzesten Tochter aus dem Hause Nesle – das erwartete sie nicht.

Leider war’s nicht lange möglich, den Zustand des Königs zu verheimlichen, denn dieser Zustand verschlimmerte sich binnen kurzer Frist. Der kühne und gewissenlose Herzog d’Aiguillon selbst war’s, der schließlich der Favoritin den Rath ertheilte, mit ihrem Gebieter und Sklaven so rasch als möglich umzukehren nach Versailles. Immer gleich lenksam, fügte sie sich, brachte den König zurück in den großen, ungemütlichen Palast, den officiellen Wohnsitz des Königthums, wo die Facultät augenblicklich mit allerhand reichlichen Aderlässen an ihm herum experimentirte, ohne viel heraus zu experimentiren, als – immer stärker auftretende Symptome der bösesten Blattern.

Kalt, grausam, unabweisbar trat der Sensenritter an das Lager des Fürsten und rief: „Komm’, mach’ Dich reisefertig!“

Aber sich reisefertig zu machen, war keine leichte Sache für einen Monarchen, dessen Angst vor der Hölle im Kampfe war mit seiner Liebe für Jeanne Bequs, Gräfin Du Barry.

Er hing mehr an ihr, als an allen ihren Vorgängerinnen, mehr als an der schwärmerischen Madame de Mailly und der pikanten Madame de Vintimille und der schönen, stolzen Chateauroux, mehr, hundertmal mehr als an der gelehrten, kalten, herrschsüchtigen Madame de Pompadour, deren irdischen Überresten er, da selbe an einem häßlichen Regentage das Schloß verließen, nichts als die Worte nachzurufen wußte: „Pauvre Marquise, elle a un bien mauvais temps!“

Es liegt etwas von supremster, ausgleichender Schicksalsironie in dieser Leidenschaft des hochmüthigsten aller Bourbonen für die Tochter des Pöbels – in dieser Demüthigung des gesalbten Hauptes vor der Hefe von Paris!

Vielleicht hatte er mitunter eine Ahnung davon, daß Jeanne Bequs in Versailles den Weg bahnte für die Fischweiber des vierten October. Aber: „Cela durera aussi longtemps que moi!“ – mit diesem Wort, das ein ebenso beredtes Zeugniß ablegt für seine fabelhafte Selbstsucht, als für seine erstaunliche Hellseherei – und mit dem er sich über alle Verdrießlichkeiten seiner Regierung hinwegsetzte, beruhigte er sich auch über die Bresche, die er in die Tradition gerissen durch die Einführung der Dirne an den Hof von Versailles.

Sie hatte die naive Gewissenlosigkeit einer Zigeunerin, sie kannte weder Haß noch Liebe, noch Reue oder religiöse Scrupel oder irgend ein anderes von den sogenannten tieferen Gefühlen, welche das Herz schwer, und die Seele dunkel machen; sie war unbedeutend, herzlich unbedeutend – aber eine ganz kleine, unbezahlbare Kunst verstand sie doch, und das war: die schwarzen Schmetterlinge aus des Königs Nähe zu verjagen.

Ihre lustigen Pariser Liedchen, ihre grisettische Ausgelassenheit, ja selbst ihre zischelnde Aussprache – Alles amüsirte ihn an ihr. Sein Lebenlang von der Langenweile Derer, die der Unterhaltung leben, verfolgt, liebte er in ihr die einzige Person, die es je vermocht hatte, mit dieser Langenweile fertig zu werden.

Er konnte sie nicht entbehren. Sie war gutmüthig und unerschrocken mit der Unerschrockenheit des Leichtsinns. Trotz der furchtbaren Ansteckungsgefahr wich sie nicht von seinem Lager, theilte sich nicht ohne einen gewissen Heldenmuth in seine Pflege mit seinen drei vernachlässigten Töchtern Mesdames Louise, Adelaide und Victoire oder, wie er die armen, freudlos hinalternden Damen in einem Augenblick übermüthiger Laune verächtlicher Zärtlichkeit benannt hatte: Chiffe, Coche, Graille.

Da, inmitten dieser gottlosen, jeder Religion vergessenden Zeit, entbrennt zwischen Aiguillonisten und Choiseulisten – zwischen der Partei kirchlicher und der der weltlichen Ambition – ein fanatischer Streit um das Seelenheil des Königs. Das Allerheiligste wird entwürdigt zum Zankapfel zwischen den Parteien. Hier verlangt, dort schnöde zurückgewiesen, irrt das Viaticum tagelang unstät durch die Corridore des Königsschlosses.

Das Viaticum oder die Du Barry! Es ist wie ein Kriegsruf, den sich die streitenden Parteien entgegen schreien. Und – o der widerspruchsvollen, gotteslästerlichen Zeit! – die Choiseulisten, die Aufgeklärten sind es, welche dem Könige die Sterbesacramente aufdrängen – und die Aiguillonisten, die Jesuitenfreunde, halten die Thür seines Schlafgemaches zu! –

Dumpfe Echos des großen Streites dringen bis zu dem Sterbenden hinein. Das Viaticum oder die Du Barry? … Hier die Absolution und das Paradies, ein vages Mysterium in einer Wolke von grauem Weihrauchduft – dort die schöne, verlockende Sünde in greifbarster Wirklichkeit. So lange er noch auf Genesung hofft, zögert er. Wie der große Constantin scheint auch Ludwig, der Vielgeliebte, der Ansicht gewesen zu sein, sich erst dann mit sühnender Buße zu beschädigen, wenn er die Sünde nicht mehr genießen könne.

Aber sein Zustand verschlimmert sich täglich, ja stündlich – es steht schlecht um die Du Barry, schlecht um den König. Immer beängstigender umkreisen seine alten Feinde, die schwarzen Schmetterlinge, das gesalbte Haupt, und mit Angst und Schrecken merkt’s die Du Barry, diesmal versagt ihre Kunst ihr den Dienst – sie kann nicht fertig werden mit ihnen, kann es nicht verhindern, daß sich inmitten der schwülen Niedergeschlagenheit seines Siechthums die Pein grauser Höllenangst immer dringender, immer folternder bei Ludwig meldet. Er, der sich nie aufzurichten vermocht an den tröstlichen Seiten der Religion – beugt sich zitternd ihren Schrecken!

Am vierten Mai nimmt der Kampf sein Ende. Ludwig selbst ist’s, der die Favoritin bittet, sich in aller Stille zurück zu ziehen, „da es ihm unangenehm wäre, die leidigen Scenen von Metz sich noch einmal abspielen zu sehen“ – woraus er seinen Frieden schließt mit Gott – oder zum wenigsten mit der Kirche.

Die Du Barry, nur eine kurze Strecke entfernt, harrt noch immer auf einen Wink ihres Gebieters und hofft verzweifelnd, inbrünstig auf des Königs Genesung.

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Sie ist die Einzige, die auf seine Genesung hofft, vielleicht die Einzige in seinem weiten Reich – im Übrigen harrt ganz Frankreich nicht ohne Spannung, nicht ohne Ungeduld auf Ludwig’s, des Vielgeliebten, Tod.

Wie lange die Agonie dauert! Nimmt es denn noch kein Ende mit ihm?

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Es ist der 10. Mai – der 10. Mai 1774 – der große Umschwung der Dinge rückt heran. Der König ist reisefertig, hat seinen Paß richtig erhalten von der allein seligmachenden Kirche, und auch Dauphin und Dauphine, Beide von dem verpesteten Krankengemach so weit getrennt als möglich, sind reisefertig – die Stallmeister und Postillone gestiefelt und gespornt, die Wagen in Bereitschaft, der Übersiedelung harrend.

Die Schloßuhr hat Eins geschlagen. Bald grell, bald halb verschleiert scheint die Sonne zwischen zerstückten, schiefergrauen Windwolken heraus.

Im Schloßgarten von Versailles stand neben einem der großen verschnörkelten Bassins ein schlanker junger Mann und sah dem Getriebe des Wassers zu, das zwischen einer malerischen Verwicklung von Najaden und Dryaden mit kicherndem Muthwillen hervorplätscherte.

Es war der Vicomte de Letorière, genannt der „Bezaubernde – le charmant“. Um seine schwarzen Augen und seinen kecken, übermüthigen Mund zuckte ironischer Hochmuth, und in seiner Haltung verrieth sich die gewollte Gleichgültigkeit Derjenigen, die sich selber den Ärger über eine Niederlage wegleugnen.

Er war heute nach Versailles gekommen, um zu sehen, wie’s mit dem König stehe, und hatte sich aus dem Schlosse zurückgezogen, weil er wußte, daß inmitten der den Todeskampf eines Monarchen begleitenden Spannung die Herren doch noch Zeit finden würden, ein billiges Wort über die Schlappe fallen zu lassen, welche der Ehrgeiz des Vicomte de Letorière kürzlich erlitten hatte. Denn sein Ehrgeiz hatte eine Schlappe erlitten – alle Sophismen der Welt halfen ihm darüber nicht hinaus. Zum ersten Male, seit er als bettelarmer, junger Provinz-Edelmann nach Paris gekommen, um Carriere zu machen, war es ihm nicht gelungen, ein sociales Hinderniß zu nehmen. Er hatte zurückweichen müssen vor der – Etiquette.

Die Sache verhielt sich so:

Lancelot Joseph le Provost du Vighan, Seigneur de Letorière, war ein armer Edelmann aus der Xaintonge. Er gehörte zu der zweiten Noblesse.

Als Ludwig XV. eines Tages seinen Rath M. Chérin gefragt, wer denn der hübsche, junge Cavalier sei, den Niemand kenne und dem er seit einiger Zeit auf allen seinen Wegen begegne – ein gewisser M. de Letorière – da hatte M. Chérin mit dem Kopfe schüttelnd geantwortet: der junge Herr habe ihm zwar seine Papiere vorgelegt, aber es stünde damit so – so. Jedenfalls dürfte M. de Letorière Schwierigkeiten haben, zu Hof zu kommen, denn …

„Er ist charmant – ich will ihn bei Hof sehen, richten Sie sich danach. Geben Sie ihm den Titel eines Vicomte!“ schnitt der Monarch dem allzu gewissenhaften Adelsforscher das Wort ab.

Und M. Chérin richtete sich danach – der Vicomte de Letorière kam zu Hof.

In den Augen des Königs war er ein hübscher, amüsanter Mensch, den man gern um sich leiden und in Folge dessen, ohne viel an seine Geburt zu denken, mit Glücksgütern überschütten möchte.

In den Augen der Großen des Reichs, der Rohan und Clermont-Tonnerre, der La Trémouille und Montmorency, war er ein Parvenu, ein Glücksritter, der durch die Gunst der Frauen und die Laune des Königs eine sociale Höhe erklommen hatte, welche einzunehmen er nicht berechtigt war, und von welcher ihn herabzustürzen sie nur die erste vortheilhafte Gelegenheit abwarteten.

Ehren aller Art waren dem hübschen Letorière zu Theil geworden, wie noch Keinem seiner geringen Herkunft. Was er jedoch nicht erreicht hatte, noch erreichen konnte, war das officielle Recht auf den persönlichen Verkehr mit dem Fürsten, das Recht in seinem Schlafgemach seinem Lever und Debotter beizuwohnen. Daß dieses Recht zu besitzen in normalen Zeiten jedem wohlorganisirten Individuum ein erhebendes Bewußtsein bietet, wird Niemand ableugnen, der die Sache von einem objectiven Standpunkt ins Auge faßt; aber durch dieses Recht verurtheilt sein, in der nächsten Nähe eines Monarchen auszuharren, der an den schwarzen Blattern erkrankt ist, verringert um ein Beträchtliches die Annehmlichkeiten der Situation. In den Augen der Höflinge verminderte es diese Annehmlichkeiten dermaßen, daß anfänglich nicht wenige von ihnen Miene machten, zeitweilig auf den Verkehr mit dem Fürsten zu verzichten.

Das königliche Krankengemach war ein wahrer Pestherd. Mehr als fünfzig Personen streckte die Seuche im Schloß darnieder. Wer es unter anständigem Vorwand konnte, trachtete sich vom Hofe zurückzuziehen.

Um diese Zeit höfischer Panik war’s, daß der Vicomte de Letorière sich freiwillig anbot, den König zu bedienen und zu pflegen.

Aber – halt! … „Will er über unsere Schultern hinübersteigen bis in das Schlafzimmer des Königs, der Gassenjunge? Nimmermehr!“ riefen die Würdenträger des Reiches, und sie wiesen sein Anerbieten ab, höflich, aber sehr entschieden.

Es durfte nicht sein – die Etiquette gab’s nicht zu!

Freilich, der König hätte einen Machtspruch thun können, vor ihm streckte selbst die Etiquette die Waffen; aber der König wußte gar nichts von der Beleidigung, welche sein Liebling erfahren. Der König lag im Sterben – mein Gott, wie lang’ er im Sterben lag!

Da stand nun der junge Letorière ganz vereinsamt in dem Schloßgarten von Versailles und lächelte über die Kleinlichkeit der Menschen und die Tyrannei der Etiquette!

C’est égal, elle m’a joué un mauvais tour, cette vieille pédante; à nous deux, ma bonne, wir wollen doch sehen, welcher von uns Beiden der Stärkere ist, Du oder ich!“

Er bückte sich ein wenig, um einen kleinen Kieselstein vom Boden aufzuheben, holte aus und übermüthig lächelnd zielte er seinen Wurf gerade auf die Brust einer der manierirten Dryaden. „Wenn mein Stein die stolze Dame auf das Herz trifft, welches sie wahrscheinlich nicht hat, so ist der Sieg mein!“ sagte er sich. Aber der Kiesel sauste an der steinernen Göttin vorüber und berührte sie nicht.

Der Vicomte biß sich in die Lippen, – das Orakel hatte gegen ihn entschieden.

„Sollte die alte Perrücke wirklich stärker sein als ich?“ murmelte er. „Bah, man hat nicht das Recht, zudringlich an der Thür der Zukunft durchs Schlüsselloch zu spähen – man sieht Alles verkehrt; ’s ist nur ein Aberglaube!“

Eine alte Cousine aus der Isle de France hatte ihn gelehrt, mittelst des Wurfs eines Kieselsteines der Vorsehung ihre bevorstehenden Entschließungen abzufragen. Nur ein Aberglaube fürwahr – aber der Aberglaube hatte tiefe Wurzeln geschlagen in seinem Herzen, und – es mochte wohl Zufall gewesen sein, aber die Kieselsteine hatten fast immer Recht behalten.

„Es ist dieser hochmüthige d’Ugeon, der mir den Streich gespielt und die Herren in Harnisch gebracht hat gegen mich,“ murmelte der Vicomte; „nun freilich, alle Angehörigen des Hauses von Savoyen sind gegen mich. Sie mißgönnen mir mein Glück. Albernheiten! Es ist nicht der Mühe werth, an die Chikanen der Etiquette zu denken. Im Vergleich mit meinem Glück sind derlei kleinliche Ärgernisse nur lächerliche Lappalien!“

Bekanntermaßen sind alle vernünftigen Menschen darin mit einander übereingekommen, Dinge, welchen sie ihr halbes Leben lang unermüdlich nachgestrebt, als erbärmliche Lappalien zu bezeichnen, sobald sie sich endgültig davon überzeugt haben, daß diese selbigen Dinge für sie unerreichbar sind.

Noch vor Kurzem schien es wohl noch einige Wichtigkeit für den jungen Vicomte zu haben, bis in das Gemach des Königs vordringen zu dürfen – jetzt aber ist das für ihn eine erbärmliche Lappalie geworden!

„Freilich, wenn sie etwas gegen mich im Schilde führen sollte, das mich von Julie trennt, … diese verteufelte Etiquette … dann … dann … dann wäre die Sache häßlich, aber – über das Herz meines Engels hat die alte Schulmeisterin keine Macht . . . nicht wahr, Julie? …“ so dachte er halblaut vor sich hin. „Nicht wahr, Julie, meine Braut, … mein Herz,“ wiederholte er leise, zärtlich, fast als hätte sie ihn hören, hätte ihm antworten können, und wieder bückte er sich nach einem Kieselstein, aber unschlüssig wog er ihn in der Hand, ließ ihn dann sinken. Er fand den Muth nicht, das Orakel zu befragen; die Sache ging ihm zu nah.

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Halb zwei … dreiviertel zwei – wie lang der König zum Sterben braucht! – Wird denn die Sache kein Ende nehmen! –

In der langen Spiegelgalerie, die zu den inneren Gemächern des Königs führt, stehen die Cavaliere unschlüssig da und dort, vereinzelt oder in kleinen Gruppen, erzählen einander von den Schrecken, der Abscheulichkeit des königlichen Siechthums, erwähnen achselzuckend der Unglücklichen, welche der Ansteckung zum Opfer gefallen sind, schütteln mit einem schlechten Witz ihre Angst ab, dann, über ihre Schultern nach indiscreten Lauschern ausspähend, fragen sie einander halblaut, ob etwa der Tod des Monarchen den verbannten Choiseul wieder ans Ruder bringen dürfte, und was wohl mit der Du Barry werden wird ... Sie war ein guter Narr trotz Allem ...!

Am andern Ende des Schlosses harren Dauphin und Dauphine mit ihrem Hofstaat der Abwicklung des großen Ereignisses entgegen. Die Dauphine schlank, reizend mit hübsch gerundetem, ovalem Gesichtchen, in dem die feinen Züge noch nicht übermäßig geschärft hervortreten, wie in ihrer späteren Periode, plaudert immer und immer wieder heiter aus der feierlichen Schweigsamkeit heraus, welche der Ernst der Situation ihr abfordert, und theilt Madame de Lamballe eine neue Idee mit für die langweilige Hoftrauer.

Der Dauphin, schon damals schwerfällig behäbig, eine feiste Caricatur der legendären Bourbonenschönheit, runzelt die Stirn zu ihrer Leichtfertigkeit und wendet sich plötzlich an seinen Bruder, den Grafen von Provence, mit der Frage, ob es denn wahr, daß Choiseul die Haare verloren habe und dick geworden sei?

Mit ironischem Lächeln bestätigt der Graf von Provence das ominöse Gerücht, worauf der Dauphin sich erhebt und mit derselben schlaffen Bewegung, die bei jedem für ihn wichtigen Lebensmoment seine aufgeregte Unschlüssigkeit bekunden wird, sich in den Hüften wiegt und ans Fenster tritt. –

Monsieur d’Artois, schön, schlank, der letzte Ritter dieses ohnehin schwindenden Geschlechts – ein Ritter, der freilich stark mit dem Dandy versetzt ist – hat vollauf damit zu thun, sich eine anständig bekümmerte Physiognomie abzuzwingen. Er richtet die Augen auf die Kaminuhr, ein possierlich Spielzeug, welches die Prinzessin von Lamballe Marie Antoinette zum Hochzeitsgeschenk verehrt hat, weshalb es mit den Emblemen der Liebe und Treue geschmückt ist – Liebe und Treue, personificirt durch ein nacktes Knäblein, das ein Hündchen aufwarten lehrt.

Monsieur d’Artois spöttelt darüber, daß der Liebe die Flügel fehlen, und findet, daß es „bien trouvé“ sei, die Treue in Form eines sehr decrepiden Hundes darzustellen, der nicht mehr laufen kann.

Marie Antoinette hält sich lachend das Taschentuch an die Lippen. Ach, aber was lacht man nicht, wenn man ermüdet ist von viertägigem Ernst! Der Dauphin zuckt unzufrieden mit den runden Achseln, – und die Dauphine verbirgt ihre Heiterkeit kunstgerecht hinter betrübtem Gähnen. Wie langsam der Zeiger der Pendule vorrückt … noch nicht zwei Uhr!

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Immer qualvoller gestaltet sich das Leiden des Königs – eine aufgedunsene Masse ekler Fäulniß, windet er sich auf seinem Lager, verlangt noch in den Delirien des Todeskampfes nach der Du Barry. – Mit der Rastlosigkeit der Sterbenden, die ihre Ruhestätte suchen, läßt er sich aus seinem Bett in einen Fauteuil schleppen. Die Luft in seinem Gemach ist dumpf, widerlich, erstickend.

„Nimmt’s denn kein Ende?!“ stöhnt Versailles.

An dem Bassin, in das die graziös verkrümmten Dryaden ihre übermüthigen Wasserfanfaren herabblasen, steht noch immer Lancelot de Letorière gedankenversunken und lächelt über die Kleinlichkeit der Welt.

Mit majestätischer Schwermuth segelt ein weißer Schwan über die dunkle, vom kühlen Maiwind leicht aufgekräuselte Wasserfläche.

Die architektonisch verstutzten Alleen des Schloßgartens werfen kurze, breite Schatten auf den ockergelben Kies; die Fliederbäume mit ihren süßduftigen, blaßlila Blüthenrispen heben die launische Grazie ihres Gezweiges ab gegen die pedantische Eckigkeit der zu Obelisken und Pyramiden verkünstelten Taxusbüsche. Und alles ist still ringsum, ernst und feierlich still – wie sich’s geziemt, wenn ein König im Sterben liegt.

Die Schloßuhr schlägt zwei … Da … was ist Das?

Dem donnernden Laut eines Wasserfalles gleich, der sich aus schwindelnder Höhe in die Tiefe stürzt, tönt es in die Frühlingsstille hinein … die Schritte Hunderter von Menschen!

Es ist ein Anderer als der Vicomte de Letorière, der jetzt in Versailles über die Kleinlichkeit von Welt und Menschen lächelt, eine ernstere, grausamere Persönlichkeit.

Neben dem verlassenen Königsleichnam steht der Tod und blickt den Höflingen nach, die es so eilig haben, von Ludwig XV. hinweg zu hasten, um Ludwig XVI. zu begrüßen.

Le roi est mort, vive le roi!


II.

Nicht einmal einbalsamirt haben sie ihn, wie es wohl sonst königlichen Leichen geziemt. Die Angst vor der Pestilenz war zu groß. Da der Herzog von Villequier als erster Kämmerer von Dr. Andouillé verlangte, er möge den Leichnam öffnen, hat der Arzt dem Höfling nicht ohne Schlagfertigkeit erwidert: er sei dazu bereit, nur müsse der Herzog während der Operation den Kopf des Todten halten, wie’s ihm sein Amt gebiete. Da aber hat sich der Herzog fortgeschlichen und nicht ein Wort erwidert.

Und so wirft man die verpesteten Überreste des „Vielgeliebten“ in einen metallenen Sarg, gießt ein paar Kannen Spiritus darauf und senkt den Deckel darüber. Ein paar elende Arbeiter und armselige Vertreter des niederen Clerus umstehen, Wache haltend, den vernachlässigten Katafalk – dann, kaum zwei Tage später, überführen sie die Leiche nach St. Denis. Fast unheimlich, ohne Sang und Klang, nur von einem Dutzend Pagen und etwa fünfzig fackeltragenden, berittenen Stallknechten begleitet, die nicht einmal in Trauer sind, so eilt der häßliche Zug durch die kühle Mainacht – vorwärts – vorwärts, fast im Galopp, um sich der Last so schnell als möglich zu entledigen.

Und rechts und links am Straßensaum stehen, Spalier bildend, mit haßverzerrten Gesichtern finstere Gestalten. In das Windseufzen, Hufestampfen und Wagengerassel tönen gleich scharfen Geißelhieben treffende Spottlieder mitten hinein:

„Voluptueux peu délicat,
Inappliqué par habitude
On sait qu’etranger à l’état,
Le plaisir fut ta seule étude.
Un intérêt, vil en tout point
Maîtrisait ton âme apathique,
Et du pur sang d’un peuple étique
Tu nourrissais ton embonpoint!“

Die Ironie einer ganzen Gesellschaft, der Haß eines ganzen Volkes – das ist die Ehrenwache, die Ludwig, den Vielgeliebten, zum Grabe geleitet. Vorwärts – vorwärts – es hat Eile!

Die Nacht verdüstert sich, und Wind und Regen blasen die Fackeln aus. Es ist elf Uhr – man hat St. Denis erreicht. Ohne Leichenrede, ohne jegliche Ceremonie wird der Sarg hinunter gestoßen in die Gruft – es ist vorüber.

Und ganz Frankreich athmet auf – befreit!

Das ist die Leichenfeier Ludwig’s des Fünfzehnten – sie gibt Lancelot de Letorière, welcher ihr heimlich aus müßiger Neugier als geistreicher Beobachter beigewohnt hat, zu denken! – „Wahrlich, noch nie hab’ ich einem Begräbniß beigewohnt, das einem Spießruthenlauf so ähnlich gesehen,“ murmelt er vor sich hin und erinnert sich an Allerlei.


-  -  -


Jetzt hat er aufgehört, sich mit dem Begräbniß des Königs zu beschäftigen und darüber philosophische Betrachtungen anzustellen.

Volle vierzehn Tage sind verflossen seit der unheimlichen Leichenfeier, – eine neue Ära ist angebrochen und – Ludwig, der Vielgeliebte, vergessen.

Alles ist wie ausgestorben in Versailles. Die Schwäne segeln vereinsamt die großen Bassins entlang, strählen mit ihren schwarzen Schnäbeln vornehm lässig ihr weißes Gefieder und blicken vergeblich aus nach den hübschen Dämchen und Cavalieren in Puder und Reifrock, in Dreispitz und Kniehosen, die ihnen noch vor Kurzem Futter zu streuen pflegten.

Minister d’Aiguillon ist gestürzt und die Du Barry in ein Bernhardiner Kloster verbannt, ihre Anhänger irren wie flüchtiges Wild durch Frankreich, von den Insulten der Bevölkerung verfolgt. Das neue Königspaar, die königlichen Prinzen, der ganze Hofstaat hat sich vorläufig hinübergesiedelt in das Schloß von Choisy, wo der König sich mit weit ausfahrenden Reformplänen beschäftigt.

Ja, eine neue Ära ist angebrochen – die Ära Ludwig’s XV. ist vorüber.

Er war ein schlechter Monarch, er ließ Alles gehen, wie es wollte, so lange er sein persönliches Vergnügen dabei fand. Aber seine Lieblinge hatten es gut unter ihm, und selten hatte es ein ehrgeiziger Glücksritter weiter zu bringen vermocht in Frankreich, als um die Zeit, da Voltaire regierte und Ludwig XV. auf dem Throne saß. „Es wird Mancherlei schwer zu erreichen sein unter dem neuen König mit seinem unschlüssig zitternden Doppelkinn, seinen ängstlich gewissenhaften Augen!“ Das sagt sich der Vicomte de Letorière, während er in seinem Pariser Appartement, in seinen Kissen ruhend, zwischen den blaßgelben Brocat-Vorhängen seines Bettes zu der von Boucher gemalten Zimmerdecke emporblickt, aus der Paris Venus den Apfel reicht.

Er lächelt noch immer über die Kleinlichkeit der Menschen – aber er grämt sich nicht mehr darüber. Trotz einer lebensgefährlichen Wunde, die er unlängst bei einem Zweikampf davon getragen, und der er es verdankt, das Bett hüten zu müssen, blickt er in die Zukunft königlich sicher, wie das Sonntagskind, das er ist – ein Sonntagskind, dem das Schicksal noch keinen Wunsch abgeschlagen. Halt … doch einen! Den Wunsch, einen an den schwarzen Blattern erkrankten König pflegen zu dürfen!

„Ein sonderbarer Wunsch war’s in der That,“ murmelt er, jetzt selber seinen Opfermuth belächelnd. „Peut-être aprés tont, l’ai-je échappé belle. – Mir liegt an der ganzen Sache wahrlich nicht so viel,“ setzt er, ein Schnippchen schlagend, hinzu; „nichts desto weniger werde ich ihr den Streich, welchen sie mir gespielt, nie vergessen, dieser vieille collet monté – der Etiquette!“

Indem tritt ein Diener herein und präsentirt ihm ein Briefchen.

Nicht ohne Hast greift er nach dem Billet, öffnet es mit vor Aufregung zitternden Fingern. Die Orthographie des Briefchens ist zweifelhaft, die große, unausgeschriebene Kinderschrift geht im Zickzack, aber der Stil ist allerliebst, – so findet es zum wenigsten der Vicomte, da er mit vor Rührung feucht aufglänzenden Augen liest:

„O, Du meine Seele, mein Glück! Wenn Du wüßtest, wie sich mein Herz wund sehnt nach Dir, besonders jetzt, seit ich weiß, daß Du krank liegst, einsam und traurig! Und da gefangen sein, Dich nicht pflegen dürfen! Ach, es ist schrecklich! Mein Herz flattert mir in der Brust herum, wie ein armes Vöglein, das sich vergeblich gegen die Eisenstäbe seines Käfigs stößt. Es möchte hinüber zu Dir. Befreie mich, Du meine Seele, mein Glück! In die weite Welt möchte ich’s hinausschreien, daß ich Dich liebe, daß Du mich liebst, und wollt’ nur, meine Stimme wäre stark genug, daß alle Könige und alle Königinnen der Welt mich hören könnten. Die Könige würden sich ärgern – die Königinnen aber würden mich doch nur beneiden. –

Deine J.“     

Der Vicomte hält das Blättchen an die Lippen. „O Julie!“ murmelt er, „so lange ich Deiner sicher bin, fordere ich König und Königin und selbst die alte Prüde, die Etiquette, in die Schranken. A nous deux, ma bonne! Du wärst die erste Dame, mit der ich nicht hätte fertig werden können!“

In immer lustigerem Muthwillen spinnen sich seine Gedanken ab. „Nicht wahr, es ist Dir verdrießlich,“ ruft er, „daß eine Verbindung stattfinden soll zwischen einer Prinzessin von Geblüt und Lancelot de Letorière, Du alte Pedantin! Du möchtest alle Menschen zu mehr oder minder hoffähigen Marionetten umdrechseln, die nicht Herz noch Kopf genug haben zu eigenem Wollen und Trachten. Aber da hast Du Dich verrechnet in Julie und mir!“

Es war eine Prinzessin von Savoyen-Carignan diese Julie, mit der sich seine Phantasie so liebevoll beschäftigte und die ihm so zärtliche, unorthographische Briefchen schrieb, Mile. Julie Victoire de Soissons. Sie hatten einander öfters gesehen bei Hoffesten und gegenseitige Neigung für einander gefühlt, ohne sich aussprechen zu können, bis sich schließlich eine Gelegenheit gefunden, worauf ein feierliches Gelöbniß zwischen ihnen stattgehabt und ein heimlicher Briefwechsel sich entsponnen hatte. Das wäre so einige Zeit weiter gegangen, ohne daß sich Allzuernstes daraus ergeben hätte, wäre nicht die Werbung eines ältlichen deutschen Herzogs an die junge Dame herangetreten, so daß sie im aufgeregten Widerstand gegen ihre, sehr für den durchlauchtigsten Freier Partei nehmende Familie ihr ganzes Geheimniß preisgab und erklärte, lieber wolle sie ihre blühende Jugend in einem Kloster vergraben, denn Jemandem anders die Hand zum Ehebund reichen, als Lancelot de Letorière.

Der Zorn derer von Savoyen-Carignan war groß. Julie wurde in ein Kloster eingesperrt, und zwar in die große Abbaye von Montmartre, die seit ihrem Bestand stets unglücklichen oder auch nur weltmüden Fürstentöchtern zur Zufluchtsstätte diente.

Aber der Briefwechsel zwischen der Prinzessin und Lancelot dauerte fort.

Die von Savoyen-Carignan sahen ein, daß es die höchste Zeit sei, Letorière aus dem Wege zu räumen. Erst intriguirten sie um eine lettre de cachet. Aber die Du Barry wendete lächelnd die Gefahr von ihrem jungen Freund ab. Ludwig XV. ließ sich wahrlich etwas Klügeres einfallen, als seinen amüsanten Schützling in die Bastille zu stecken, diesen langweiligen, langnasigen Savoyen-Carignans zu Liebe. Im Übrigen war die eigentliche Blüthezeit der lettres de cachet vorbei. – Man mußte es auf andere Weise versuchen, mit dem Bezaubernden fertig zu werden. Ein Anhänger des fürstlichen Hauses, Graf d’Ugeon, forderte ihn – Letorière ließ sich nicht bitten in solchen Fällen. Schon waren die Degen gezogen, da fiel die Nachricht von der Erkrankung Ludwig’s mitten zwischen die Kampfbereiten herein. Die Degen wurden zurückgesteckt in die Scheide, die Abwicklung des Ehrenhandels vorläufig aufgeschoben. Der Graf d’Ugeon, Kammerherr des Königs, hatte Dienst in Versailles und – schloß dem sich opfermüthig zur Pflege des Erkrankten anbietenden Vicomte de Letorière hochmüthig die Thür des königlichen Gemachs vor der Nase zu.

Den Tag nach dem Begräbniß des Monarchen war der schwebende Ehrenhandel zwischen den beiden jungen Edelleuten ausgetragen worden.

Trotzdem d’Ugeon sein Möglichstes gethan, seinem jungen Gegner den Garaus zu machen, hatte er ihm doch nur zwei gefährliche Degenstiche beigebracht.


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In behaglich träumerischer Reconvalescenten-Stimmung zieht der Vicomte allerlei hübsche Erinnerungen aus seiner Vergangenheit hervor, tändelt damit ein Weilchen und läßt sie wieder ruhen. Wie viel er erreicht hat, seitdem er, als blutarmer Collégien die Schule schwänzend, nach Paris gekommen ist, um sein Glück zu machen!

Fast wie ein Feenmärchen will ihn sein eigenes Leben bedünken.

Wie viele Processe hat er nicht gewonnen, wie viele Ehrenstellen nicht erhalten seit seiner Flucht nach Paris! Aber von all’ dem Guten, mit dem das Schicksal ihn überhäuft, kann doch nichts sich messen mit dem letzten, herrlichsten Gottesgeschenk – der Liebe Juliens de Soissons.

Er liebt sie rasend, abgöttisch – liebt sie um ihres unschuldigen Selbsts willen, unbeeinflußt durch ihre fürstliche Herkunft – er, der leichtsinnige, verwegene Taugenichts, dem noch keine Frau heilig gewesen, liebt sie zitternd andächtig, ohne daß bis dahin im Verkehr mit ihr der Ausdruck einer sündigen Regung je seinen Lippen oder seiner Feder entschlüpft wäre.

Soeben hat er sich der angenehmen Beschäftigung gewidmet, das Briefchen Julie’s zum sechsten Mal zu lesen, als sich die Thür abermals öffnet und unangemeldet mit der Vertraulichkeit eines sehr alten Bekannten ein schlanker, beweglicher Greis mit stechenden, schwarzen Augen und unter scharf geschnittener Nase recht nichtsnutzig hervorlächelndem Mund hereintritt – der alte Maréchal von Richelieu. Er trägt einen mit Gold gestickten schwarzen Sammetrock, Spitzenmanschetten bis an die Finger und in der Hand einen Rohrstock mit goldnem Knopf.

„Nun, wie geht’s, petit vaurien, störe ich Dich nicht?“ ruft er heiter. Er kennt Lancelot seit dessen Knabenzeit, weshalb er der Gewohnheit treu geblieben, ihn zu dutzen. „Hm! Siehst schlecht aus, mein armer Junge; hat Dich hart angepackt, dieser Ugeon. Und was sagt denn Deine Schöne in der Abtei drüben dazu, daß man ihr den Geliebten so arg zugerichtet hat?“

Der Vicomte, dem die Tonart, in welcher der alte Cyniker seiner Geliebten erwähnt, nicht zusagt, macht ein ablehnend ernstes Gesicht und, das letzte Briefchen Julie’s recht tief unter seinem Kopfkissen verbergend, erwidert er: „Reden wir von anderen Dingen, Maréchal.“

„Ja, du lieber Himmel, von was soll man denn reden! Ist’s, weil man Dich nicht mehr drin sieht, oder weiß der Himmel aus welch’ anderem Grunde, – jedenfalls ist die Welt jetzt in eine Spießbürgerlichkeit ausgeartet, die sich nicht beschreiben läßt. Wahrlich, im Vergleich zu der tugendhaften Langenweile des Hoflebens von Choisy waren die letzten Tage von Versailles ein Carneval. Man konnte wenigstens die Choiseulisten ein wenig ärgern. Wie besorgt sie sich zeigten um das Seelenheil des Königs, diese guten Leute, diese Freisinnigen, diese Voltairianer. Rührend war’s mit anzusehen! Du weißt, ich halt’s mit den Jesuiten, bin auch gewiß dafür, daß ein König standesgemäß stirbt, id est mit allem landesüblichen Ceremoniell. Je nun, als ob sich’s ihnen darum gehandelt hätte, den Choiseulisten – nicht die Spur! … Nur darum, mit der armen Du Barry ein Ende zu machen. Hm! Hast Du gehört, wie ich den alten Beaumont, den Erzbischof von Paris, empfing?“

„Nein,“ erwidert Letorière, auf das Geschwätz des alten Herrn nur mit halbem Ohr hörend.

„‚Monsieur!‘ rief ich – Du weißt, daß ich keinen Bischof als ‚Monseigneur‘ anrede, es hat sich die Rotüre immer viel zu viel in die hohe Geistlichkeit hineingemischt, als daß ich den Herrschaften die Ehre anthäte – ‚Monsieur!‘ sagte ich dann, da sich der alte Herr in Versailles präsentirte, ‚um Gotteswillen, stören Sie den Kranken nicht! Wenn Ihnen durchaus darum zu thun ist, sich an einem hübschen, kleinen Sündenregister zu ergötzen, so stelle ich mich Ihnen zur Verfügung, beichte Ihnen meine Sünden, erzähle Ihnen dabei so viel nette Sachen, aber so viel … daß Sie dergleichen nicht gehört haben, seit Sie Erzbischof sind von Paris.‘“ Und der Maréchal steckt die Hände tief in die Taschen und lacht vor sich hin, bis ihm die Schultern davon zucken.

„Hat der Erzbischof den Antrag angenommen, Maréchal?“ fragt Letorière, mitlächelnd aus Höflichkeit.

„Nein, leider nein,“ bedauert der Herzog, und nachdenklich fährt er fort: „Jetzt ist’s vorbei mit Ludwig, dem Vielgeliebten! ... Nun, die Finanzen sind zerrüttet, und die Canaille stirbt Hungers, so zum wenigsten sagt man mir. C’est égal, ’s war doch eine lustige Zeit … Schadedrum. Zu Tode langweilen wird man sich unter dem jetzigen Régime, nicht einmal eine Madame Poisson, der man Aufregungen bereiten könnte!“ Und der Herzog reibt sich in Erinnerung eines längst begangenen bösen Streiches mit einigem Vergnügen die Hände. Er ist stolz auf alle seine vergangenen Nichtsnutzigkeiten und Eulenspiegeleien. Eine derselben, welche er stets mit besonderem Behagen erzählt, ist, wie er seiner Zeit, um die von einer Migräne befallene Marquise de Pompadour, née Poisson, zu quälen, eine ganze Nacht in seinem, über dem ihren gelegenen Schlafzimmer getanzt hat – ganz allein, aber mit sehr großem Kraftaufwand.

„Und Deine Angelegenheiten standen auch viel günstiger unter dem alten Régime, als jetzt,“ fährt er fort. „Die Grisette dort in Versailles war immer entzückt, wenn sie ein paar hübschen jungen Liebesleuten zu ihrem Glück verhelfen und der Etiquette ein Schnippchen schlagen konnte, während die jetzige Königin – – ja, wo ihr selbst die Etiquette Unbequemlichkeiten bereitet, da schüttelt sie selbe von sich ab; von den Andern aber fordert sie, daß sie dem alten Cultus treu bleiben. Die Adelsbriefe werden ganz anders geprüft als ehedem, und alte Statuten hervorgezogen, um die sich seit der Regierung Voltaire’s Niemand mehr zu kümmern beliebte. Die Parvenus werden’s nicht mehr so gut haben wie in der alten Zeit.“

Bei dem unliebsamen Wort „Parvenu“ zuckt Letorière zusammen. Ohne davon Notiz zu nehmen, taucht der Herzog seinen stechenden Blick in die Augen des jungen Freundes und fragt brüsk: „Sag’, wie stehst Du denn eigentlich mit Deiner Julie?“

Letorière runzelt die Stirn – „ich stehe mit ihr wie ein Verlobter mit seiner Braut, die er wie ein Heiligthum hoch hält.“

Die Mienen des alten Richelieu verrathen das mitleidigste Staunen: „Also ist es wahr, was die Leute sagen“ – Richelieu nimmt eine Priese Tabak – „Deine ganzen Errungenschaften belaufen sich, dieser Soissons gegenüber, auf ein paar schlecht geschriebene Liebesbriefe? O, Du armer Teufel! Wie Du Deine Zeit verloren hast!“ Der Herzog pfeift leise vor sich hin.

„Das wollen wir noch abwarten, Herzog,“ antwortet nicht ohne Verdruß der Vicomte.

„Hm! Du glaubst wirklich, daß das Prinzeßchen die ernstliche Absicht hegt, Dich zu heirathen?“

„Es wäre abscheulich von mir, daran zu zweifeln,“ versichert Lancelot hitzig. „Ich glaube an Julie, wie ich an den Himmel glaube!“

„Seit wann glaubst Du denn an den Himmel, mein Sohn?“

„Seitdem ich einem Engel begegnet bin, der mich ihn begreifen lehrte!“ sagt Letorière sehr ernst.

Sacre jeu! welche Begeisterung!“ ruft der leichtsinnige alte Lebemann aus, „Du sprichst ja, als ob es gälte, das heilige Grab zu erobern!“

„Meine Liebe ist mir heiliger als Jerusalem,“ sagt Letorière kurz.

Der Herzog schüttelt den Kopf. „Glaube meiner Erfahrung,“ erwidert er dem Schwärmer – „sobald eine Liebschaft Dir mehr wird als eine lustige Zerstreuung oder ein amüsantes Hazardspiel, so vergällt sie Dir früher oder später das Leben. Die Geschichte mit der Soissons steht schlecht für Dich …“

„Wir wollen doch sehen,“ ruft der Vicomte heftig; „wollen sehen, ob ich Julie nicht erobere, – allen Savoyen-Carignans und der Etiquette zum Trotz!“

„Nun, mein Lieber,“ sagt der Herzog, „mit den Savoyen-Carignans dürftest Du fertig werden – mit der Etiquette nicht. Hinter dem Rücken dieser Tyrannin sich ein wenig zu amüsiren, ist so ein hochmüthiges Dämchen allenfalls im Stande; sich öffentlich gegen sie aufzulehnen, einem verdrießlichen Aufsehen die Stirne zu bieten – nie! Den Cultus des ‚es schickt sich nicht‘ haben alle diese kleinen Prinzessinnen im Blut. Sich mit einem hübschen Liebhaber in einen sentimentalen Briefwechsel einzulassen, dazu werden sie sich bequemen – allenfalls zu einem Stelldichein, wenn sie recht sicher sind, nicht ertappt zu werden. Im Übrigen coquettirt man ein wenig mit romantischer Excentricität … schließlich thut man doch, was alle Anderen thun. Wenn Du den König für Dich gehabt hättest, wäre es anders gewesen; so aber … folge meinem Rath, – verlier’ Deine Zeit nicht länger. Stell’ Deiner Julie ein Ultimatum; fügt sie sich nicht, dann brich mit ihr.“

„Unsere Ansichten gehen himmelweit auseinander in dieser Sache, Herzog. Wir verstehen einander nicht mehr,“ sagt Letorière.

Der alte Herr erhebt sich. „Ja, wir verstehen einander nicht mehr,“ gibt er achselzuckend zu; „mir ist’s leid um Dich … Du hast Deine Leichtlebigkeit verloren. Méfie toi – Du warst ein Glückskind bis jetzt, aber wenn mich nicht Alles täuscht, so führt das Schicksal etwas im Schilde gegen Dich. – Siehst Du, es gibt zwei Dinge im Leben, die man nicht ernst nehmen darf, – das Glück und die Frauen. Das Glück hat nämlich mit den Schönen Folgendes gemein: es langweilt sich mit denen, die es zu ernst nehmen, und schüttelt gähnend von sich ab Diejenigen, die es mit Thränen feiern. Méfie toi, adieu!

Kaum hat sich die Thür hinter dem Alten geschlossen, so zieht Letorière das Briefchen Juliens unter seinem Kissen hervor, als wirksames Gegenmittel zu dem ätzenden Gift, welches der alte Epikuräer ihm in das Herz geträufelt hat.

Aber seltsam! Richelieu hat ihm die Freude verdorben an dem zärtlichen Aufsatz. Immer und immer wieder heften sich seine Augen auf die Unterschrift – ein verwischtes J., das ebenso gut ein S. sein konnte als ein L.

Und wenn sie ihn wirklich so liebte, wie sie in großsprecherischer Leidenschaft es ihm kund gab, warum unterschrieb sie sich dann nicht mit ihrem vollen Namen, fragte sich der Vicomte in zornigem Verdruß, und ein böses, langsam arbeitendes Mißtrauen schlich sich plötzlich kalt und lähmend durch seine Adern. „Wenn sie doch nur mit Dir tändelte?“ fragte er sich.


III.

Mehr oder minder steil bergan steigende Straßen, einige eng wie in orientalischen Städten, voll düstern braunen Schattens und mit reihen Geranien und Nelken in den Fenstern der Häuser, einige malerisch, andere nur armselig, noch andere einfach plump und banal, große Strecken zusammengebrochenen Mauerwerks, in dem die Demolirhacke Staub aufwirbelt. Häuser, deren eingerissene Façade Einblick in ihr Inneres gewährt – den Einblick auf beschmutzte gelbe und blaue Tapeten, an denen noch irgend ein verblichenes Porträt in ovalem Rahmen vergessen an einem rostigen Nagel zittert, auf ein unebenes Parquet mit großen braunen Flecken, von denen man nicht weiß, ob sie von einem Mord erzählen, oder von einer Orgie – brachliegendes Terrain mit, zwischen Kehricht und Schutthaufen wucherndem mannshohen Riedgras, in dem wüstes Diebesgesindel die Nächte verbringt oder Selbstmörder sich ein Plätzchen suchen – gelbe Sandgruben mit schreiend grünem Unkraut an den Rändern, – gepflasterte Straßen, ungepflasterte Straßen, hier und da eine Flucht hölzerner Treppen und, gegen den Gipfel des Berges zu, stille grüne Gärten, von moosüberwucherten Mauern eingefaßt, um kleine altväterische Häuschen geschmiegt – ein frischer Hauch, von unverdorbener Landluft mit Rosen und Lawendel gewürzt, inmitten des schnödesten Straßengewinkels von Paris; – Vergnügungsorte von historischer Verrufenheit, colossale Windmühlen, grau und uralt, vergraste Abhänge, dazu über dem Portal irgend eines der elendesten Häuser oder auch an einer Gartenmauer angebracht, ein Stückchen kunstvollen Basreliefs – oder irgend ein anderes Überbleibsel verschollener Herrlichkeit, das die große Springfluth der ersten französischen Revolution nicht mit sich fortgeschwemmt hat – das ist Montmartre – Montmartre mit seiner übel beleumundeten Bevölkerung von herabgekommenen Künstlern, die einen Erfolg erwarten, von verliederten Arbeitern, die eine Revolution vorbereiten, – ein Viertel, das ein Mann Anstand nimmt zu durchstreifen, wenn er eine Dame am Arm führt – Montmartre, wo im Jahre der Commune, 1871, die Blutlachen auf den Straßen standen, – Montmartre, wo man heute nicht an einer der schmutzigen Wirthsstuben vorüber kann, ohne zwischen dem Geschrei eines Streites, der mit Worten begonnen hat und mit Schlägen und Messerstichen endigt, irgend eine verunstaltete Strophe der Marseillaise hervortönen zu hören, – das Montmartre von 1886!

Damals aber in der längst verschollenen Zeit, als das ancien régime sein gepudertes Haupt noch hoch hielt und, kecklich mit dem Feuer spielend, die plebejischen Gefahren, welche es schon recht bedenklich zu umdrohen begannen, belächelte – sah es anders aus auf den Hügeln zwischen Paris und St. Denis.

Kein Vorstadtlärm, kein Gewirr von neuen oder alten, schiefen oder geraden Häusern nein, reizende Parkanlagen, dazwischen kleine Meiereien und großartige Gebäude, – die ganze Herrlichkeit der größten Abtei von Frankreich breitete sich über diese Hügel aus.

Von der Abtei und allen ihren Anhängseln ist heute nichts übrig geblieben als die kleine Kirche von St. Pierre, welche vom Gipfel des Montmartre zwischen schattigen Akazien und Sykomoren recht verwundert auf das neue Paris zu ihren Füßen niederblickt. Sie ist die Doyenne der Kirchen von Paris. Ihre Grundpfeiler sind von den ersten christlichen Merovingern in die Erde gepflanzt worden, über ihr zeitgeschwärztes Portal hat die Republik von heute die Devise der Revolution: „liberté, fraternité, égalité“ gesetzt. Sie ist beinahe so alt wie die katholische Religion und hat auch beinahe so viel ausgehalten wie diese. Sie ist stehen geblieben, während der Zorn der ersten Revolution, Paläste und Gotteshäuser zerstörend, über ganz Frankreich hinbrauste; ist stehen geblieben während der letzten großen Schlacht, die das zusammenbrechende Kaiserreich auf diesen Höhen gegen ganz Europa verlor, – ist stehen geblieben, während die Greuel des Proletarieraufstandes von 1871 seine ehrwürdigen Mauern umtobten – vereinsamt, abgetrennt von Allem, was ihr ehemals verwandt und sympathisch war, steht sie auch heute noch aufrecht, in einer neuen Zeit unter Fremden, wie eine Greisin, die ihre ganze Nachkommenschaft überlebt. – – –

Wenn man den Küster fragt nach Überresten der Abtei, schüttelt er den Kopf. Die Revolution hat Nichts respectirt, nicht einmal die Gräber – Alles ist verbaut, Alles vermauert worden, berichtet er uns. „Aber die Abtei muß sehr schön gewesen sein,“ setzt er wohl hinzu; sie reichte hinab bis zum heutigen Boulevard Clichy, wo sich zu ihren Zeiten freilich noch grüne Ländereien hinzogen. Denn Montmartre war nur ein winzig Dörflein im Schatten einer großen Abtei, und Paris war weit, damals vor mehr denn hundert Jahren, da dieser kleine Parvenu, der Vicomte de Letorière, in schwärmerischer Liebe entbrannt war zu einer Prinzessin von Geblüt – zu Julie Victoire von Soissons.


IV.

Ein recht schwüler Maitag war’s damals im Jahre 1774, und der Flieder stand in der Blüthe.

In vollen weißen und blaßlila Rispen bauschte er hinüber über die Mauern der Abtei, hob sich ab gegen die Finsterniß aufziehender Gewitterwolken und nickte grüßend nieder zu der tief unter ihm, in blauer Ferne verschimmernden Hauptstadt. Primeln und Maiglöckchen lachten zu seinen Füßen, aus den glatten Nasenplätzen heraus. Die ganze Natur feierte den herrlichen Gottesdienst der Jahresauferstehung.

Und ein betäubender Duft schwebte über Allem; fast war es, als wolle der Frühling alle Engel herunterlocken aus dem Himmel – oder zum wenigsten den Nonnen ihre entsagungsvolle Andacht recht schwer werden lassen. –

Es war Nachmittag, und in einer der Kapellen der Abtei beschäftigte sich eine Laienschwester damit, den heiligen Raum mit allerhand Blumensträußen zu verzieren für den schönen Abendgottesdienst, der zur Feier der h. Maria, die ganze Dauer des Maimonds über, allabendlich in den französischen Kirchen gehalten wird. Das Licht der langen, schrägen Sonnenstrahlen sickerte röthlich golden durch die gemalten Fenster in die sich stärker und stärker verdichtende Dämmerung. Die Düfte von Flieder, Jasmin und Iris mischten sich mit dem Geruch von Moder und erkaltetem Weihrauch, und das holde Lispeln und Wispern der neu erwachten Frühlingsvegetation klang leise hinein in die heilige Stille. „O Madame!“ rief plötzlich die Laienschwester, da sie in dem düstersten Winkel der Kapelle ein schlankes Figürchen kauern sah – „was thun Sie wohl hier um diese Zeit?“

„Was sollte ich thun, Schwester Marie Angélique? Ich betete,“ seufzte das junge Persönchen und rieb sich schwermüthig die Augen. Ein ganz reizendes Dämchen war es, angethan mit einem bauschigen Kleid von grauem, mit blaßgrün und rosa Guirlanden durchschnörkeltem Atlas, mit gelblichen Spitzen um Arm und Busen. Ein Strauß halbverwelkter Rosen ruhte an der Brust der Schönen, und um ihren Hals hing an rosa Bande ein in Diamanten gefaßtes Miniaturbildchen. Um ihr gepudertes Köpfchen und ihre Schultern schlang sich ein schwarzer Schleier, vielleicht, um ihre betrübte Stimmung zu verrathen – vielleicht nur, weil – Julie Victoire von Soissons wußte, daß sie der schwarze Flor tausendmal verführerischer kleidete als alle bunten Dinge der Welt.

„Ja, ich betete,“ seufzte sie noch einmal und hob die Augen schwärmerisch zu der Statue der Himmelskönigin, die von einem farbigen Stucksockel herab zu ihr niedersah.

„Sie beteten,“ – und die ernsten Augen der Schwester blickten aus ihrem blassen, resignirten Gesicht heraus recht vorwurfsvoll auf die launische kleine Prinzessin. „Sie beteten aus Langerweile, Madame, das ist nicht gut, es erzürnt den lieben Gott.“

„Ah, sage mir das nicht, mach’ mir keine Angst,“ flehte die Kleine; „um Nichts in der Welt möchte ich ihn erzürnen, den lieben Gott, gerade jetzt, ich hab’ ihn so nöthig.“

„Als ob man ihn nicht immer nöthig hätte,“ mahnte die Schwester kopfschüttelnd.

„Mag sein; doch wenn man glücklich ist, vergißt man’s,“ gestand Julie Victoire ehrlich – „ich aber bin sehr, sehr unglücklich! Du kannst Dir’s gar nicht ausdenken, wie unglücklich ich bin!“ und mit ihrer winzigen Hand griff sie in das mit blauer Seide gefütterte Réticule aus kirschrothem Sammet an ihrem Arm, um ein Taschentuch hervorzuholen, – ein kleines spitzenbesetztes Ding, das wenig danach angethan schien, der Vertraute eines wirklichen Kummers zu werden.

„Arme Kleine!“ sagte die Laienschwester kopfschüttelnd, „ja, Sie sind unglücklich wie ein Kind, dem man sein Spielzeug weggenommen hat. Freilich, Ihre Lage ist traurig, aber trösten Sie sich, das Herz bricht Einem nicht entzwei von dergleichen. Man stirbt nicht daran!“

„Nein, gewiß nicht, wenn man so organisirt ist wie Du! Als ob Du mir nachfühlen könntest!“ grollte das Prinzeßchen und warf trotzig die Lippen auf; dabei begegnete ihr stolzer, junger Blick dem der alternden Schwester. Eine Art Andacht überkam die Kleine plötzlich, und wie sie tiefer und immer tiefer in diese großen, ernsten Augen hinein schaute, da war ihr’s, als habe sie den Blick in eine jener stillen und dunkeln unterirdischen Kapellen getaucht, in denen Jahr aus, Jahr ein ein Lämpchen glüht neben dem heiligen Grab. Und sie errieth’s mit einemmal, daß der alte Schmerz in dem Herzen der Laienschwester tiefer und ernster war als ihre stürmisch nach Glück verlangende, junge Unzufriedenheit.

„O, vergieb!“ rief sie eingeschüchtert, fast demüthig und zog die rauhe Hand der Schwester an ihre Lippen.

„Was soll ich vergeben?“ sagte Maria Angélique, mit den Achseln zuckend; und fast mütterlich die heißen Wangen des aufgeregten Mägdlein’s streichelnd, fuhr sie fort: „Allons, mein Kind, regen Sie sich nicht auf. Ziehen Sie sich in Ihre Stube zurück und beschäftigen Sie sich, und dann zum Abendgottesdienst finden Sie sich ein und beten Sie, der liebe Gott möge Ihnen Ihren Seelenfrieden zurückgeben – das ist das Einzige, worauf es wirklich ankommt im Leben. Glauben Sie’s mir!“

Und Julie Victoire geht, sehr begierig den Roman der Schwester Maria Angélique zu erfahren, während diese fortfährt, ruhig Flieder und Jasmin in den Vasen zu ordnen, immer mit demselben blassen, geduldigen, fast gleichgültigen Gesicht.

Wer so wie sie den Muth gefunden, sich das Herz aus der Brust zu reißen und es dem lieben Gott zu opfern als Sühne für die Sünde eines lieben Todten, über den hat kein irdisch Leiden mehr Gewalt.


V.

Ehe der Abend hereingebrochen, weiß ihn Julie von Anfang an bis zu Ende, den Roman von Schwester Maria Angélique. Er ist kurz, einfach und bis zur Verzweiflung traurig – traurig ohne Sentimentalität und ohne Phrase, wie sich die Romane abspielen in der Classe, welcher die Laienschwester entstammt.

Sie war verlobt gewesen mit einem braven, hart arbeitenden Bauernburschen, Namens Jean Nicolas Trinquet. Kurz vor dem, für die Hochzeit bestimmten Tage wurde sein Vater niedergeschossen, zufällig, von einem jungen Cavalier, der dem zusammenbrechenden Bauer ein leichtsinniges: „Pardon, mon ami!“ zurief und ein Goldstück in den Schoß warf. Als der Unglückliche um wenige Stunden später in den Armen Jean Nicolas’ verschied, schwor dieser, daß er nicht ruhen, noch rasten würde, ehe er sich an dem herzlosen Mörder gerächt. Er ging ihm entgegen im Walde an einem finsteren Octobernachmittage, da der Herbst bereits blutrothe Flecken in das Laub gezeichnet hatte, und erschlug ihn mit einer Hacke.

Festgenommen und seiner That geständig, wurde er zum Tode durch den Strang verurtheilt. Umsonst flehte er, man möge ihm noch eine letzte Huld vergönnen – ein kurzes Wiedersehen mit seiner Braut. Alle seine Bitten blieben vergeblich. Da kam ein finsterer Trotz über ihn, und der Priester, der ihm in seiner letzten Stunde beistand, vermochte nicht, in ihm Reue zu erwecken ob des von ihm verübten Verbrechens, da er im Gegentheil behauptete, was er gethan, sei wohl gethan und ein Gott gefällig Werk gewesen.

Der Tag der Urtheilsvollstreckung kam. Die Hände am Rücken gebunden und geschornen Hauptes trat er auf den Richtplatz. Neben ihm schritt der Priester. Aber der Verurtheilte hielt den Kopf von ihm abgewendet und hörte nicht auf ihn. Sein Blick irrte suchend über die neugierig zusammengerottete Menge. Sein finsteres Gesicht verklärte sich wundersam. Dort in der vordersten Reihe stand seine Braut und hatte die Augen auf ihn gerichtet voll Mitleid und Liebe.

Sie stand da, ohne zu schwanken, bis sie ihm die Schlinge zuzogen um den Hals. Dann brach sie bewußtlos zusammen.

Das Antlitz des Gehenkten aber blieb noch im Tode von einem seligen Lächeln verklärt.

„So! Das ist die ganze Geschichte der Schwester Maria Angélique – eine sehr traurige Geschichte ist’s, und ich habe unsere gute Schwester sehr gern – aber …“

Gabrielle de Rohan, eine Jugendgespielin und nahe Verwandte Julie’s ist es, die mit diesen Worten den Bericht abbricht, welchen sie der Freundin abgestattet.

Eine Leidensschwester der Prinzessin, ist sie gleich ihr einer, ihrer Familie unliebsamen Neigung wegen zeitweilig zu klösterlicher Verbannung verurtheilt worden. Die verwöhnten kleinen Schönheiten seufzen mit einander manch’ herzzerreißendes Duett über die Traurigkeit ihres Exils, obzwar wohl selten irgend einem Verbannten seine Existenz hätte angenehmer gestaltet werden können als ihnen.

Wenn es auch damals in der Abtei von Montmartre nicht so zuging, wie in den spanischen Klöstern zu Anfang des sechzehnten Jahrhunderts vor der großen Reform durch die heilige Theresa, so war doch die Regel um ein Bedeutendes weniger streng als heute. Besonders jungen Damen aus der großen Welt, die wegen Herzensangelegenheiten allhier in Haft gesetzt worden waren, zeigte man die zartesten Rücksichten und – beaufsichtigte sie so wenig als möglich. Nur ertappen lassen durften sie sich nicht. Das hätte einen Skandal gegeben – ein Esclandre, und das verstieß gegen die Etiquette – die große Zuchtmeisterin des achtzehnten Jahrhunderts, die noch krampfhaft die todte äußere Form der Moral, den Anstand, vertheidigte, nachdem die Seele dieser selbigen Moral längst daraus entwichen war.

Das kleine Gemach, in dem die beiden Mädchen sich befanden, erinnerte in Nichts an einen Kerker und fast noch weniger an eine Klosterzelle, sondern war das reizendste, coquetteste Boudoir der Welt, mit allerhand anmuthigem Rococotand ausstaffirt. Die beiden Gefangenen saßen an einem kleinen Tischchen und tranken duftige Chokolade aus zierlichen Tassen von Sèvres-Porzellan mit Blumen-Medaillons zwischen breiten Rändern von rose Du Barry verziert – kleine Undinge von Porzellankünstelei, die man damals entzückend fand, die man jetzt noch mit Gold aufzuwiegen beliebt, obzwar artistische Gemüther längst darin übereingekommen sind, sie als Absurditäten zu verdammen.

Gabrielle tändelte mit ihrem Vermeillöffelchen, und wiederholte: „Ja, ich habe die gute Maria Angélique recht lieb, aber …“ und sie neigte sich zu ihrem Hündchen nieder, das neben ihr bittend die Vorderpfoten erhob, und fütterte es mit Biscuit.

„Aber … was meinst Du?“ fragt Julie.

„Ich bin überzeugt, diese Leute fühlen nicht wie wir fühlen“ – vervollständigt Gabrielle mit einem altklugen Achselzucken.

„Ich hoff’s“, versichert Julie treuherzig, „ich wüßte sonst wahrlich nicht, wie die arme Schwester ihre Existenz hätte weiter schleppen können nach diesem entsetzlichen Erlebniß. Ach! wenn ich Lancelot’s Tod mit ansehen müßte, das Herz bräche mir auf der Stelle, und mein Kummer zöge mich zu ihm ins Grab!“

„Liebst Du ihn wirklich so leidenschaftlich?“

„Ich – ihn?“ Julie sieht die Freundin ob der Frage staunend, aus großen, von Zärtlichkeit verklärten Augen an.

„Das ist sehr traurig, denn heirathen kannst Du ihn doch nicht; eine Verbindung zwischen Deiner Familie und dem Sieur de Letorière ist ja absolut unmöglich.“

„Er ist verwandt mit dem Braunschweiger Herrscherhause,“ sagt Julie, etwas ärgerlich die Lippe verschiebend.

„Oh, durch seine Urgroßtante d’Olbreuse, das ist eine Verwandtschaft, auf die er sich lieber nichts einbilden sollte,“ versichert Gabrielle. „Sie war eine hübsche Abenteurerin, von deren Familie Niemand etwas wußte, und deren Persönlichkeit man längst völlig vergessen hätte, wenn es ihr nicht gelungen wäre, irgend einen Einfaltspinsel von deutschem Herzog zum Altar zu schleppen. Es thut mir sehr leid, Dir das sagen zu müssen, aber ich weiß es aus sicherer Quelle. Übrigens hat Conseiller Chérin es selbst meinem Vater mitgetheilt, daß die Ahnenproben des Herrn von Letorière so gut wie illusorisch, und seine Einladungen zu Hof geradezu ein Gewaltstreich gewesen sind.“

„Der König hat ihn zum Marquis d’Olbreuse gemacht,“ ereifert sich Julie.

„Als ob er darum adeliger wäre als früher, weil er das Recht hat, sich eine Marquisenkrone auf seinen Wagenschlag malen zu lassen! Papa sagte noch neulich, da irgend so ein hergelaufener Wicht durch des Königs Willkür mit einem Adelspatent versehen wurde: er begreife nicht recht, was das eigentlich bedeute; daß die Edelleute einen König machen könnten, davon wiese die Geschichte verschiedene Beispiele auf, daß ein König es jedoch vermöchte, einen Edelmann zu schaffen, davon wisse er nichts.“

Julie schweigt trotzig und auch etwas betroffen; plötzlich hebt sie den Kopf: „Wie wagst Du, mir etwas Abfälliges zu sagen über die Familie Lancelot’s! Warst Du nicht verliebt in den Hofmeister Deiner Brüder, einen Sieur Picard?“

Gabrielle zuckt mit den Achseln. „Gewiß,“ gesteht sie gleichmüthig, „aber ich dachte nicht daran, ihn zu heirathen.“

Die unverdorbene, zärtliche kleine Julie Victoire, welche abseits von der Welt in der strengen Einsamkeit eines kleinen Hofes erzogen worden ist, macht die Augen weit auf und ruft: „Oh, Gabrielle! …“ Ein Weilchen später sagt sie nachdenklich: „Ich habe einmal von einer princesse du sang gehört, die sich mit einem Gärtnerburschen vermählte.“

„Ich auch,“ entgegnete Gabrielle, „doch weiß wohl Jeder, daß sie eine häßliche alte Jungfer und noch obendrein verrückt war.“

Julie zieht die feinen Brauen finster zusammen; dann mit einem stolzen, zornigen Blick zu der Freundin aufsehend, ruft sie: „Und wenn Lancelot de Letorière nichts wäre als ein armer Gärtnerbursche, so würde ich ihm dennoch meine Hand reichen vor aller Welt und würde stolz sein, seine Gattin zu heißen, und alle Prinzessinnen der Erde würden mich beneiden, hörst Du – und Du auch!“

Gabrielle de Rohan aber schüttelt mit einer skeptischen kleinen Grimasse das Haupt. „Ich Dich beneiden um eine solche Mésalliance!“ ruft sie lachend – „nein wahrhaftig – übrigens glaube mir, man ist sehr muthig mit der Phantasie, sobald es aber dazu kommt, an die Verwirklichung seiner Chimären zu denken, da überlegt man sich’s. Laß es gut sein, Du heirathest doch noch Deinen alten deutschen Herzog mit dem unaussprechlichen Namen, dessen Portrait Du so abscheulich findest – indessen kannst Du Dich ein wenig unterhalten …“

„Unterhalten … ich begreife nicht, was Du meinst …“ stottert Julie.

Gabrielle lacht laut auf: „Oh ma pauvre petite sainte ni-touche! Wie Du erröthest, o Du liebe, kleine Heuchlerin! Ich meine … nun ich meine, daß Du auch nicht besser bist als wir Andern. Bei welcher von den Nonnen hast Du denn Protection?“

„Was meinst Du …“ sagt Julie, starr vor Scham, vor Erregung.

„Ich meine … welche von ihnen verschafft Dir den Klosterschlüssel?“

Julie richtet sich hoch auf. „Den Klosterschlüssel … mir? … Sortez mademoiselle!“ und mit einer herrischen Bewegung zeigt sie der Jugendgespielin die Thür.

„Ah! …“ ihr bauschiges Rosakleid an beiden Seiten mit spitzen Fingern aufzupfend, macht Gabrielle eine tiefe Reverenz.

An der bereits geöffneten Thür bleibt sie stehen, und über ihre Schulter spöttisch und vielsagend zu Mlle. de Soissons hinüber blinzelnd, ruft sie: „Besuch für Dich, ma mie!“ worauf sie, lustig mit ihren rothen Absätzen klappernd, verschwindet.


VI.

Der Besuch, welchen Gabrielle der kleinen Prinzessin gemeldet hat, ist eine alte Bäuerin in einem schwarzen Seidenmantel, der in langen geraden Falten von ihrem Hals herab ihre Gestalt umfließt, und einer großen, weißen Haube über einem schönen, schwarzäugigen Gesicht – die ehemalige Amme Julie’s.

„Ah Nanon, kommst Du endlich!“ ruft Julie, wirft sich in ihre Arme und schmiegt sich an sie wie ein ängstliches Kind, das sich vor dem Gewitter fürchtet; „hast Du ihn gesehen? – Wie geht es ihm?“

„Er ist wohler, hat gestern das Bett verlassen – aber sein Herz vergeht vor Sehnsucht.“

„Armer Freund!“ seufzt Julie und versteckt ihr erröthendes Gesichtchen an der Schulter der Alten. „Hat er Dir keinen Brief übergeben für mich?“

„Oh doch, doch, und mich gebeten, ihm eine Antwort zurückzubringen noch diesen Abend. Wo ist nur das Briefchen? … Ich habe es gut versteckt … da …“ und sie zieht es aus ihrem Busen.

Julie entfaltet das Briefchen hastig, liest – ihr, einer großen zärtlichen Freude entgegen lächelndes Antlitz verfärbt sich, ihre Lippen zittern, die Thränen treten in ihre Augen. Das Schreiben lautet:

 „Madame!

Wollen Sie mir denn immer noch nicht die Gnade eines kurzen Wiedersehens vergönnen? Ich bitte Sie darum auf den Knieen. Erlauben Sie mir, Sie heute an dem Ort, welchen Ihnen Nanon angeben wird, zu erwarten, und gewähren Sie mir endlich die Freude, Sie zu sehen, den Trost, von Ihren Lippen zu hören, daß Sie treu zu mir halten wollen trotz aller Hindernisse, welche das Schicksal unserer Vereinigung in den Weg legt. Versagen Sie mir diese Gnade, dann werde ich wissen, daß Ihr Gefühl für mich sich verflüchtigt, daß Sie überhaupt nur ein tändelndes Spiel mit mir getrieben haben, wie sich’s eine Prinzessin allenfalls zu ihrer Kurzweil erlaubt, selbst mit einem armen Teufel, der so tief unter ihr steht wie Lancelot de Letorière unter Julie Victoire de Soissons.

Ich würde Ihnen nicht grollen, aber ich würde mich losreißen von einem solchen, unserer Beider unwürdigen Zeitvertreib und aus dieser häßlichen alten Welt voll falschen Glanzes und Scheines, von Herz und Verstand verkrüppelnder Formen fliehen nach einem neuen Erdtheil, wo ein frischer, die Menschheit adelnder Zug über einem jungen, nach Freiheit ringenden Volke weht, und wo es jedenfalls einem unglücklichen Edelmanne vergönnt sein wird, einen ehrenvollen Tod zu finden.

Ihrer Entscheidung harrend, bleibe ich in tiefster Ehrfurcht, Madame,

Ihr ganz ergebener Diener
Lancelot de Letorière.“     

In welchem Tone er ihr schreibt! – er nennt sie Madame – er, der sonst in der Ansprache an sie sich stets der rührendsten Ausdrücke bedient, sie „sein Herz, seinen Engel“ – oder wenn er sehr böse war, nur „sein grausames, abscheuliches, herrliches Liebchen genannt – und jetzt … kann er denn wirklich glauben, nur einen Augenblick glauben, … daß … daß sie ihn nicht rasend, nicht grenzenlos liebt! – – –

Gabrielle de Rohan hat gemeint, man habe sehr, sehr viel Muth in der Phantasie; wenn’s aber hieße, an die Verwirklichung seiner Chimären zu schreiten, dann …

Hätte Lancelot etwa Recht, wär’s Feigheit, berechnende Vorsicht, die sie hinderte, ihm seinen Willen zu thun? … Sie kann doch nicht den Schein auf sich nehmen, leichtsinnig zu sein wie die Anderen! … Und doch, wenn er wirklich böse wäre, ernstlich die Absicht hegte, Frankreich zu verlassen, nach Amerika zu fliehen … wenn er sie für hochmüthig, für herzlos hielte! … Es ist eine ungeheure schmerzliche Verwirrung, aus der sie vergeblich den Ausweg sucht.

Und so sinkt sie nieder in einen sehr steiflehnigen Fauteuil mit sehr mageren Seitenlehnen aus goldgestreiftem weißen Holz, und beide Ellenbogen auf ein Tischchen stützend, die gepuderten Schläfen zwischen den Händen, brütet sie vor sich hin. „Du weißt, was in dem Briefe steht, was er von mir verlangt?“ spricht sie endlich, zu der alten Amme aufsehend.

Die Nanon nickt – „freilich weiß ich’s – er hat es mir gesagt, armer, lieber Herr!“

„Und … und …“ Julie packt die Alte mit beiden Händen an dem kräftigen Arme – „ist er mir böse?“

„Er fürchtet, daß Madame ihn nicht liebt.“

Wieder sinkt Juliens Köpfchen zwischen ihre Hände. „Oh Nanon – ist’s ihm Ernst, beabsichtigt er wirklich, nach Amerika hinüberzugehen?“ murmelte sie.

„Gewiß!“ Nanon nickt.

„Aber, was kann ich thun!“ ruft Julie, „ich kann doch nicht um Mitternacht … Es ist ja unmöglich, ganz unmöglich! …“ und sie ringt verzweiflungsvoll die Hände, und die Thränen perlen schneller und schneller über ihre vor Scham erglühenden Wangen.

Nanon hat Julie Victoire aufrichtig lieb – aber sie hat fünf Goldstücke Lancelot de Letorière’s in der Tasche. Im Übrigen ist sie davon überzeugt, Julie fasse die Situation zu tragisch auf.

Es ist ja nicht das erste Mal, daß sie, die alte Nanon, den postillon d’amour abgab, und bis jetzt waren alle die kleinen, durch sie vermittelten Liebesabenteuer immer ganz glatt abgelaufen – besonders bei sehr großen Damen.

„Madame ist grausam!“ sagt sie.

„Ja, ich bin grausam, grausam gegen mich, der ich die Freude versage, ihn wiederzusehen,“ murmelt Julie bitter – „unbarmherzig grausam!“

„Der Vicomte de Letorière ist ein ritterlicher und ehrenvoller Edelmann, zu dem Eure Hoheit wohl Vertrauen hegen darf.“

„Was meinst Du?“ Julie sieht auf zu der Alten … versteht sie nicht ganz.

„Nun …“ Die Nanon räuspert sich dann, und mit einem einschmeichelnden Augenblinzeln sagt sie: „Nun, ich meine, daß ich an Stelle Eurer Hoheit großmüthig sein und dem Herrn das Opfer einer kurzen und, da es nun leider nicht anders sein kann, heimlichen Unterredung, gönnen würde.“

„Opfer …?“’ Julie macht die Augen weit auf, schüttelt unschuldig ihr wunderhübsches Köpfchen. Sie weiß nichts von der Heuchelei weiblicher Leidenschaft, – weiß nichts von den die Situation beschönigenden Sophismen, mit denen eine gewisse Kategorie von Sünderinnen ihr Gewissen narkotisirt, ehe sie zur That schreitet, – ahnt nicht, wie lange die Frauen noch immer davon sprechen, ein Opfer zu bringen, wenn sie ganz einfach ihrer Schwäche nachgeben.

„Opfer!“ sie faltet die Hände und lächelt traurig vor sich hin, „als ob es ein Opfer wäre, dem heißesten Wunsch meines Herzens zu folgen! Oh, Du kannst Dir’s ja gar nicht ausdenken, wie ich mich danach sehne, ihn wieder zu haben, und sei’s nur für einen einzigen kurzen Augenblick … Ich lebte ja kaum in diesen schrecklichen sechs Wochen, besonders seit ich ihn krank wußte. Aber …“

„Nun? …“

„Es kommt mir so häßlich, so unrecht vor. Wir hofften Alles zu erreichen durch den König, der ihn lieb hatte und seine Sache vertreten hätte gegen meine Eltern. Der aber ist todt – und durch den neuen König erreichen wir nichts, der steht unter der Herrschaft seiner Frau, und die wird regiert von meiner Cousine Lamballe, welche natürlich von meiner Verbindung mit Lancelot nichts wissen will.“

„Drum müssen Sie sich auf eigene Füße stellen, – heute die Sache besprechen mit M. de Letorière, das heißt, wenn Ihnen die Verbindung mit ihm wirklich am Herzen liegt. Es ist freilich zu überlegen – der Vicomte de Letorière ist keine Partie für eine Prinzessin.“

Oh, ob der Klugheit Nanon’s! – das Wort gibt den Ausschlag.

Eine Weile bleibt Julie ganz still, dann murmelt sie unruhig: „Es ist schrecklich … schrecklich … wenn er sich wirklich einbilden könnte, daß ich ihn zu gering achte … Aber wie soll ich’s nur anfangen – ich kann die Pförtnerin doch nicht um den Schlüssel der Abtei bitten!“

„Ich habe an Alles gedacht und Alles besorgt,“ sagt Nanon, unter ihrem Mantel zwischen die Falten ihres karmeliterbraunen Kleides greifend – „da ist der Schlüssel von der kleinen Hinterthür, zu der die Treppe rechts neben dem Appartement Eurer Hoheit führt. Der Vicomte wird Madame unter der Nische erwarten, die am Anfang des Kirchhofs steht. Dort ist die Mauer am niedrigsten. Darf ich ihm sagen, daß er auf Sie rechnen kann? –“

Die Glocke zum Abendgottesdienst schallt laut und feierlich mitten in diese Frage hinein.

„Ja!“ haucht Julie außer sich und läßt den Schlüssel in den kirschrothen Sammet-Réticule an ihrer Seite gleiten.



VII.

Jetzt ist der Abendgottesdienst vorbei – die schönen heiligen Gesänge sind verklungen, mit vorgebeugtem Kopf und schleppenden Füßchen verläßt Julie Victoire die Kapelle.

Plötzlich hört sie neben sich lustiges Seidenrauschen, beschleunigte Schritte. „Euer Hoheit!“ ruft die muntere Stimme Gabrielle’s de Rohan. Sie pflegte ihre Freundin stets so zu nennen nach einem Streit.

„Was gibt’s?“ fragt Julie etwas ärgerlich.

„Oh, garnichts. Nur … Euer Hoheit haben etwas in der Kapelle vergessen …“, und lächelnd reicht Gabrielle der Prinzessin deren rothen Réticule. „Es muß sehr viel Gold darin sein, denn er ist schwer!“

Julie fährt zusammen, unwillkürlich greift sie in den Beutel hinein, sucht … ja, der Schlüssel ist darin. Da begegnen ihre Augen denen Gabrielle’s, die mit einem Ausdruck verwegener und nur mühsam verhaltener Spottlust auf ihr ruhen.

Das Blut steigt ihr in die Wangen; ohne ein Wort hervorbringen zu können, eilt sie an Gabrielle vorbei.



VIII.

Elf Uhr! … Sie sitzt in ihrem Boudoir, einsam wachend, der Pendüle gegenüber, die mit ihrem feinen Stimmchen beim Ablauf jeglicher Stunde irgend ein Tanzstückchen singt.

Elf Uhr! … in zwei Stunden … in zwei Stunden wird sie ihn wiedersehen. Eine irre Seligkeit durchzuckt ihre Adern, und dennoch … sie legt die Hände an die heißen Wangen, denkt an die spöttischen Augen Gabrielle’s. Man hat sie bis jetzt stets den Tugendspiegel genannt, – Jeder hat es gewußt, daß ihre Liebe zu Lancelot de Letorière etwas völlig Reines, Heiliges war, daß der leichtsinnige Taugenichts sich um ihretwillen in einen Schwärmer verwandelt hatte. Mein Gott, es wäre arg genug, das Bewußtsein all’ dieser häßlichen Heimlichkeit mit sich herumzutragen; aber wenn sie Jemand überraschte – dann … Sie schaudert, – vielleicht wär’ es noch möglich, zurück zu treten. Aber, wenn er sich wirklich verletzt fühlen, wirklich wähnen könnte, sie denke zu gering von ihm … Oh, das hält sie nicht aus!

Zwölf Uhr! … Eine hübsche Gavotte voll träumerischer Lieblichkeit tönt durch das Zimmer, verstummt, und nur das emsige Tick-tack, Tick-tack, wie der gleichgültige Pulsschlag der Zeit, durchklingt das feierliche Nachtschweigen.

Wie schwül es ist! Sie reißt das Fenster auf. Wie eine der berühmten Marquisen jener Zeit ist auch sie stolz auf ihre Unabhängigkeit, – darauf, daß sie es vermag, eine Thür zu schließen oder ein Fenster zu öffnen, ohne nach einem Kammerdiener zu schellen.

Die frische Nachtluft streicht herein. Der Frühling schaltet und waltet draußen, arbeitet sachte an irgend einem neuen Wunder, mit dem er morgen früh die Sonne überraschen wird, und der Mond schaut ihm zu; blaß und schwermüthig, steht er am Himmel, als fühle er sich vereinsamt zwischen den Sternen.

Büsche und Bäume werfen kurze dunkle Schatten über den glatten Rasen, über den Kies, und um ihr nachtschwarzes Blattwerk schimmert’s dunstig silbern. In weiter Ferne, wie ein unheimliches Ungeheuer, zeichnet sich mit ihren mächtigen Flügeln eine Windmühle gegen den dunkelblauen, sternbesäeten Himmel ab.

Sie lehnt ihre heißen Hände auf den kalten Fenstersims und blickt hinunter.

Gerade zwei Jahre sind es her, daß sie ihn zuerst gesehen, im Theater, am Dienstag in der Charwoche, während eines geistlichen Concerts. Plötzlich und unerwartet war er aufgetaucht, kaum geheilt von einem Degenstich, den ihm der Graf von Melun bei einem Duell beigebracht.

So allgemein beliebt war er und so entzückt das Publicum von seiner Herstellung, daß es plötzlich wie ein Mann zu applaudiren begann. Darauf hin hatte er sich erhoben in seiner Loge und mit gut gespieltem Staunen im Saal umgesehen, als käme es ihm gar nicht in den Sinn, daß man ihm applaudiren könne wie einem Prinzen von Geblüt oder einem Schauspieler.

Man fand diese Bescheidenheit bezaubernd, wie man Alles bezaubernd an ihm fand. Ach, er war so sehr in der Mode damals!

„Sehen Sie doch an – der berühmte Letorière ist’s, man nennt ihn ’le charmant’ – ein Liebling des Königs und aller Damen in Paris und in Versailles!“ – So riefen ihr die Freundinnen zu, welche sich damals mit ihr im Theater befanden.

Und sie beugte sich vor.

Er trug einen Rock von strohfarbenem Moiré mit grünen Sammetaufschlägen, eine mit einer Smaragdagraffe befestigte große, grüne Sammetschleife auf seiner Achsel, eine zweite Smaragdagraffe glänzte aus der Spitzenschärpe um seinen Hals. Die Knöpfe an seinem Stock waren Opale, mit Brillantsplittern umfaßt, und sein reiches Haar floß ihm gepudert und gekräuselt in zwei vollen Strähnen auf die Schultern herab.

Seine schwarzen Augen begegneten denen der Prinzessin!

„Tick-tack – Tick-tack …“ Es ist Julien, als schlüge die Uhr lauter und immer lauter, fast als schrie sie ihr ins Gesicht: „es ist Zeit … es ist Zeit!“

Die Pendüle schlägt Eins; Julie greift nach dem langen schwarzen Mantel, den ihr Nanon gebracht, um sie unkenntlich zu machen in der Nachtdämmerung, selbst wenn ihr Jemand begegnen sollte, und eilt hinaus. Der breite Corridor mit seinem Pflaster von großen, kalten Steinfließen ist voll grauer Dämmerung, in die das Mondlicht, durch die schmalen, kleinscheibigen Fenster dringend, da und dort grellweiße, schwarzvergitterte Flecken malt. Wie laut doch ihr leichter Tritt widerhallt; wie stark ihr Kleid unter dem schwarzen Mantel knistert! Jetzt hat sie die kleine Treppe erreicht, – der Schlüssel knarrt im Schloß – sie ist im Garten.

Der Thau liegt über Allem – die Luft ist feucht, selbst der rothe Sand unter den Füßchen der Prinzessin ist feucht. Eine Fledermaus flattert über ihrem Kopf quer in die Finsterniß einer mächtigen Baumgruppe hinein. Die Façade der Abtei, eines schwerfälligen Gebäudes, an dessen schmucklosem Mitteltract die verschiedenen architektonischen Epochen sich mit den widersprechendsten Anbauten verewigt haben, ist mit grellem Mondlicht übergossen, unter dem vorspringenden Dachfirst zeichnet sich ein breiter, schwarzer Schattenstreifen.

Warum ist denn Alles so schwarz, so traurig, warum senken die Blumen die Köpfchen und weinen? –

Aus einem offenen Fenster der Abtei dringt ein schriller Laut, eine wilde, klagende, schauerliche Melodie, halb geschluchzt, halb gesungen.

Julie horcht auf und schaudert. Die Irrsinnige ist es, die seit mehr denn dreißig Jahren in der Abtei untergebracht worden. Sie haben ihr den Geliebten erstochen in einer schönen Mondnacht unter ihrem Fenster – ihr eigener Bruder hat es gethan. Sie hat den Verstand verloren darüber – es sind volle dreißig Jahre her – sie ist alt und verwittert, aber an schönen Mondnächten stellt sie sich doch noch ans Fenster und singt in die Nacht hinaus – immer dasselbe Lied, mit dem sie ihm sonst das Zeichen gab zu ihrem Stelldichein.

Athemlos eilt Julie der Richtung des Kirchhofs zu, der, nur durch eine grüne, scharfkantig zugestutzte Hecke von dem Garten getrennt, sich gegen Westen ausbreitet. Hohe Zypressen stehen zwischen den Gräbern, schmal und pechschwarz wie Schildwachen, die den Frieden der Todten hüten. Das Mondlicht liegt voll auf den weißen Grabsteinen, auf denen hier und dort Blumenkränze ruhen – einige noch frisch, voll lebensüppigen Duftes, andere trocken, regenverdorben, in Moder und Staub zerfallend … Ein Grab ist noch offen; man sieht den Sarg in seiner Tiefe lang und schmal, nur mit ein paar Händen voll Erde bestreut.

Julie möchte aufschreien vor Angst – sie kann nicht vorwärts, nicht zurück. Da – ein leichter Schritt – ein Mann in einem langen Mantel eilt auf sie zu. „Bist Du’s … bist Du’s wirklich, Julie? Meine Königin, mein Engel, mein süßes Herz! Ich konnt’ es nicht glauben, bis zum letzten Augenblicke nicht, daß Du Wort halten, kommen würdest!“

Und er kniet nieder vor ihr, zieht ihre Hand an seine Lippen.

„Ich bin gekommen, damit Du nicht mehr das Recht haben mögest, an meiner Liebe zu zweifeln,“ flüstert sie, und ihre Stimme klingt so leise, wie das Seufzen und Lispeln des Nachtwindes in den Blättern.

Der schwarze Mantel ist von ihren Schultern niedergeglitten, sie steht vor dem jungen Mann in ihrem hellen Kleide, mit ihren durchsichtigen schwarzen Halbhandschuhen, aus denen ihre weißen Ellenbogen und feinen schlanken Finger hervorschauen; steht da, das gepuderte Köpfchen etwas gesenkt, die Arme an den Seiten niederhängend, traurig, schüchtern, über ihr schreckliches Wagniß entsetzt und doch vom Scheitel bis zur Fußsohle von unsagbarer Seligkeit bebend.

„Wie konntest Du mich nur zwingen, etwas so Unrechtes zu thun!“ seufzt sie vorwurfsvoll.

Um seinen Mund zuckt es gutmüthig, mitleidig und doch wieder siegesfroh. „Wie konnt’ ich?“ flüsterte er … „wie konnt’ ich? … Es war recht abscheulich und rücksichtslos von mir, ich gesteh’s ja ein – aber Du verlangst doch nicht, ich möge sagen, daß ich’s bereue! … Bereust Du’s?“

Er kniet nicht mehr vor ihr, er ist aufgesprungen, hat den Arm um sie gelegt, ihr müdes Köpfchen ruht an seiner Schulter, alle ihre Bedenken sind entschwunden, sind untergegangen in einer Empfindung schwerer, betäubender Seligkeit. Nein, sie bereut nichts!

Sie sitzen neben einander auf einem kalten, grauen Grabsteine, Hand in Hand, ein paar Schritte von ihnen das offene Grab, ringsherum die hohen, dunklen Cypressen mit hier und da einem grünlich aufschimmernden Contour in ihrem eintönigen Schwarz, über ihnen der sterndurchglänzte blaue Himmelsdom. Ein Hollunderbaum in voller Blüthe steht neben einem Kapellchen, in dem ein zeitgeschwärzter Christus unter der Last des Kreuzes auf seinen Schultern zusammenbricht. Der scharfe, stechende Geruch der Hollunderblüthe mischt sich mit dem Rosenduft, der aus dem Garten herunterschwebt.

Entwaffnet durch ihre hilflose Unschuld, beklommen, fast andächtig hält er ihre Hand in der seinen, ohne es zu wagen, sie näher an sich zu ziehen.

„Und jetzt habe ich Dir Deinen Willen gethan, jetzt laß mich in die Abtei zurück,“ beginnt sie nach einem Weilchen.

„Nur eine Minute noch,“ bittet er, ihre Hand, die sie ihm entzogen, von Neuem erfassend. Oh, wie leicht es ihm wird, sie zurückzuhalten! – „Nur eine Minute, wir müssen doch das Nähere bezüglich unserer Zukunft vereinbaren?“

„Das ist wahr,“ gesteht sie ihm zu – „aber was ist da zu vereinbaren?“

„Wenn Du mich lieb genug hast, Dich über die Kleinlichkeiten der Welt erhaben zu zeigen – Alles … im entgegengesetzten Falle … nichts.“

Sie zerrt an ihren Fingerspitzen – „ich verstehe Dich nicht ganz …“ sagt sie.

„Mit einem Wort – hättest Du den Muth, Dich von mir entführen zu lassen?“ fragt er.

„Aber Lancelot!“ sagt sie, und tief erröthend, vorwurfsvoll hebt sie ihr Gesichtchen zu dem seinen und läßt es beschämt wieder sinken.

Unwillkürlich lächelt er, sehr gutmüthig freundlich, und ihre heißen Wangen streichelnd, flüstert er: „Oh, Du kleine Heilige! Aber hab’ keine Angst; wir finden wohl einen Pfarrer, der uns traut, dafür laß mich sorgen, und dann führe ich Dich auf mein altes Schloß im Poitou, und wir sind glücklich mit einander, so glücklich, wie’s zwei Menschen nur irgend sein können – so lang – so lang, bis es Deinen durchlauchtigsten Verwandten endlich gelungen sein wird, mich aus dem Wege zu räumen.“

Julie schaudert. „Sie dürfen Dir nichts thun,“ ruft sie – „nein, sie werden nicht, – sie wüßten ja, daß der Schlag, der Dich trifft; mich vernichten müßte!“

„Ich weiß kaum, ob sie Dich nicht lieber todt, denn mit mir verbunden sehen möchten,“ sagt er bitter. „Aber lassen wir das. Bist Du bereit?“

„Ja!“ erklärt sie feierlich mit ihrer dünnen, zitternden Kinderstimme – „und wann? … Aber was hast Du?“ Sie blickt besorgt zu ihm auf. „Du siehst blaß und angegriffen aus – Du hättest Dich nicht anstrengen, nicht hierher kommen sollen. Es kann Dir schaden!“

„Und glaubst Du, daß man das überlegt, wenn Einen die Sehnsucht plagt, so eine kleine, grausame, liebe Närrin wiederzusehen?“

Plötzlich legt er die Hand auf die Brust … selbst im Mondschein kann sie ihn erbleichen sehen.

Ein dunkler Schimmer zieht sich um seine Augen. „Mein Verband hat sich gelöst – meine Wunde blutet – Adieu, mein Herz, leb’ wohl – behalte mich lieb, ich muß fort – eine Ohnmacht könnte mich überraschen – und dann …“

Er erhebt sich, macht ein paar Schritte – aber das Blut fließt rascher und rascher, – er fühlt, daß es sein Leben ist, das dahin fließt; er bricht zusammen. „Adieu, Julie! …“

Sie beugt sich über ihn, küßt seine Stirn, seine Schläfen – kann sie ihn da lassen, ohne die Hand zu seiner Rettung zu regen? – Nein, sie will fort, will in die Abtei zurück, Leute rufen zu seiner Hilfe – seiner Rettung, und mag die ganze Welt auch mit Fingern deuten auf sie, was liegt daran!

Fliegenden Schrittes eilt sie hinweg, – aber seltsam, je näher sie der Abtei kommt, desto schwerer haftet ihr Fuß am Boden. Der Mond scheint grell herunter, es ist fast tageshell. Das Lied der Irrsinnigen klingt durch die Nacht – die Unglückliche steht am Fenster, und da sie Julie erblickt, lacht sie und wirft Kußhändchen in den Garten hinaus.

Julie drückt sich tiefer in den Schatten, stürzt in die Abtei. Was soll sie thun, an wen soll sie sich wenden.

Sie will den Weg suchen zur Äbtissin, aber wie kann sie die stören um diese Stunde – sie muß sich an eine Andere wenden. Was aber wird sie sagen? … Ja, sie ist unschuldig, hat sich weder an sich versündigt noch an Gott, nur die äußerliche conventionelle Form hat sie verletzt, und gegen die Etiquette hat sie gefrevelt. – Doch das Gespenst der Etiquette richtet sich dräuend vor ihr auf und legt ihr die Hand auf die Lippen und zischt ihr ins Ohr: „Deine Unschuld zählt nicht in diesem Falle. Viel besser wär’s, Du hättest Dich an Gott versündigt und an Dir, als an mir. Denn Gott verzeiht Dir immer, und Dein Gewissen verzeiht Dir manchmal, aber ich verzeihe nie; – drum füge Dich in die Buße, die ich Dir auferlege, und schweige, sonst sollst Du gebrandmarkt sein auf ewig!“

Aber sie kann sich nicht fügen, sie will nicht. Sie ist wie verwirrt … sie möchte schreien und vermag nicht die Lippen zu öffnen. Dahin, dorthin eilt sie rathlos, fassungslos, rüttelt schließlich an einer der Thürklinken und zieht sich dann wieder zurück. Eine weiße Gestalt tritt in den Corridor hinaus.

„Ach, Sie sind’s, Madame,“ ruft sie, Julien’s ansichtig werdend, aus, „was ist Ihnen, warum sind Sie so bleich?“

„Mir war’s, als … als hätt’ ich im Garten unten, dort gegen den Kirchhof zu, Jemanden um Hilfe rufen hören,“ murmelt Julie, den Blick zu Boden gesenkt.

„Ach, Sie haben schlecht geträumt,“ erwidert ihr die Nonne. „Legen Sie sich nieder, es schickt sich nicht für eine junge Prinzessin, des Nachts in den Gängen herum zu irren wie eine Schlafwandlerin.“

„Aber vielleicht könnte man doch …“ beginnt Julie stotternd.

„Ja, was haben Sie … erklären Sie sich, Madame,“ fragt die Nonne. –

Mehrere Thüren öffnen sich, mehrere weiße Gestalten treten in den Corridor … „was gibts, ja, was gibts? –“

Aber Julie spricht kein Wort; wie durch einen bösen Zauber verstummt, steht sie da, todtenblaß, mit großen verzweifelnden Augen. – Da erblickt sie die Laienschwester. Sie athmet auf – stürzt auf sie zu, die wird sie verstehen. Sie schleppt die Worte an die Lippen. „Liebe … liebe Schwester,“ beginnt sie.

Doch kaum hat sie die Lippen geöffnet, so ruft ein spöttisches, glockenhelles Stimmchen neugierig in die aufgeregte Scene hinein: „Was gibts?“

Julie fährt zusammen. In malerisch losem, spitzenbesetztem Negligé, ein kleidsames Häubchen auf dem halb entpuderten Haupt, ist Gabrielle de Rohan neben die Laienschwester getreten und heftet die Augen voll triumphirender Lachlust auf die arme kleine Prinzessin. Ein eisiger Schauer schüttelt Julie – sie senkt den Kopf – die Scham schnürt ihr die Kehle zu – „nichts“ – murmelt sie – „nichts!“ – –


— — —


Auf dem Kirchhofe liegt der Vicomte de Letorière verlassen und verblutend.

Anfangs hat er noch von Zeit zu Zeit den Kopf gehoben in der Hoffnung auf Beistand, auf Hilfe – jetzt hofft er längst nicht mehr. Der leichtsinnige Cavalier, der den Ernst des Lebens nie gekannt hat, fühlt, daß der Ernst des Todes jetzt an ihn heranrückt. Er, das große Glückskind seiner Zeit, dem bisher Alles gelungen, fühlt, daß das Schicksal diesmal gegen ihn entschieden, daß seine letzte Stunde geschlagen hat.

„Ja, die Kieselsteinchen haben Recht behalten, die Etiquette hat gesiegt,“ murmelt der Vicomte vor sich hin. „Arme kleine Julie! wie gut und lieb und reizend sie war! Ich möcht’ ihr nicht gern Unannehmlichkeiten bereiten!“

Er stützt sich auf einen Ellenbogen auf, um im Mondenschein die niedrige Stelle der Mauer zu suchen, über die er hereingeklettert ist. Schwindelnd schleppt er sich bis zu ihr hin, schwingt sich mit dem Aufgebot der letzten Kraft hinüber und kriecht durch das schwere, thaunasse Riedgras so weit von der Abtei hinweg, als seine Kräfte reichen. Dann streckt er sich müde aus, legt den Kopf auf einen Stein und wartet, ob ihm das Glück wohl noch einmal zulächeln wird in Form eines zufällig Vorübergehenden, der sich seiner annehmen könnte.

Er wartet umsonst.

Der Verband hat sich völlig gelöst, das Blut fließt rasch, seine Kräfte schwinden – sein Bewußtsein verwischt sich. Allerhand Trugbilder umgaukeln seine brechenden Augen, verschwommen, wie in eine Wolke von Puder eingehüllt.

Er sieht einen Reigen von hübschen Frauen und vornehmen Cavalieren um einen großen, hochmüthigen Mann gruppirt, – und alle scheinen sie nichts zu thun zu haben, als sich zu unterhalten und den einen Mann aufzuheitern. Die pittoreske Pracht der königlichen Jagd schillert an ihm vorüber, große Nebelfetzen hängen in den halbentblätterten Ästen der uralten Eichen von Fontainebleau, lange, schräge Herbstsonnenstrahlen schimmern röthlich auf den Pfützen in der regendurchweichten Straße, und ringsherum schluchzt der Herbst in den Bäumen, und die sterbenden Blätter fallen ins Gras. Aber die goldbetreßten Röcke der Jäger glänzen lustig in die braune Herbsteintönigkeit hinein, und die Hifthörner blasen laut und schrill, die Hunde bellen, und das fröhliche Lachen der Damen mischt sich in das Knistern des trockenen Laubes. Alles ist voll Jubel und Heiterkeit. Wie gut man sich amüsirt … Da plötzlich, mitten in den festlichen Reigen hinein, schreiten zwei hagere Gestalten, gebückt unter der Last eines elenden Sarges, und der König zügelt sein Roß und fragt: „Wen tragt Ihr da?“

„Einen armen Bauern.“

„An was ist er gestorben?“

„An Hunger! …“

Der König gibt seinem Pferde die Sporen …

Den Vicomte fröstelt. Eine große Schläfrigkeit überkommt ihn. Die Umrisse der hübschen Dämchen und Cavaliere werden immer undeutlicher, er muß mit den Augen blinzeln, um sie festzuhalten. Wie hübsch, wie anmuthig sie sind, und wie gut sie sich unterhalten, und rings um sie stirbt die Nation – an Hunger …

Und plötzlich mitten zwischen sie hinein fährt in sausendem Galopp ein anderer Sarg, von berittenen Fackelträgern umgeben, die nicht einmal in Trauer sind …

„Wer ist’s, der da begraben wird?“

„Der König!“

Nein, nicht nur der König – ein ganzes Zeitalter mit ihm, ein Zeitalter voll geistreicher Herzlosigkeit und anmuthig schlüpfrigen Leichtsinns, voll von gedankenlos vornehmer Selbstsucht und ebenso gedankenlos vornehmer Humanität – ein Zeitalter, in dem die Kräfte eines ganzen Volkes sich dazu verbrauchten, um den Glanz eines Hofstaates zu unterhalten, – in dem der Hofstaat nichts zu thun hatte, als sich zu bemühen, einen einzigen Mann aufzuheitern! – –

Das Mondlicht ist längst verglommen. Dort, in der Richtung von St. Denis, hinter der Abtei schwebt’s um den Horizont blutigroth – die Röthe verbreitet sich über den ganzen Himmel – über die ganze Erde. –

Dem Vicomte ist es, als versänke das ganze achtzehnte Jahrhundert mit seinem Puder und seinen Schönheitspflästerchen in einen tiefen, rothen See.

Da, aus dem blutrothen Chaos steigt ein winziges Figürchen, ein kleiner Junge mit großen grauen Augen – – Letorière fragt sich, wo er den Kobold schon gesehen? … Ja, richtig, – das Söhnchen der Madame Lätitia Bonaparte ist’s, der armen Corsin, der er unlängst bei Madame de Marboeuf begegnet und zwar in großer Aufregung ob der Unart dieses selben Söhnchens, das sich eigensinnig geweigert hatte, die Hand des Erzbischofs von Paris zu küssen. Die Stimme der Corsin, deren Italienisch mit Französisch durchmischt ist, klingt ihm noch im Ohr – „E un petit monstro, una testa di fer, una testa di fer!“

Wie fällt ihm wohl der Kobold ein zu dieser Stunde! – – –

Er erhebt sich noch einmal, um die Abtei zu grüßen, dann schließt er die Augen. Ein Lächeln spielt um seine Lippen – er lächelt ein letztes Mal über die Kleinlichkeiten der Welt!

„C’est égal! ’s war doch eine amüsante Zeit!“ murmelt er vor sich hin. – „Eine amüsante Zeit! …“

— — —

Es mochte etwa sechs Uhr früh sein, als ein leichter Wagen über die Straße rollte, die von Montmartre nach Paris führt. Es war der hellgelbe, mit Blumen verzierte Wagen des Herzogs von Richelieu, der den lebenslustigen alten Maréchal von einem nächtlichen Abenteuer nach Paris zurückbrachte.

Mit einem Male blieben die Pferde stehen, – Richelieu, welcher eingeschlafen war, erwachte. „Was gibts?“ herrschte er unwirsch den Kutscher an. Der Lakai sprang vom Bock, trat an den Wagenschlag: „Eine Leiche liegt auf der Straße.“

„Die Leiche eines Bauern?“

„Nein, Monseigneur, die Leiche eines Edelmannes – wir glauben, es ist der Vicomte de Letorière!“

„Sac à papier!“ ruft der Herzog und springt zum Wagen heraus.

Ja, dort mit feuchtem, halb aufgekräuseltem Haar, mit zerrissenen und beschmutzten Kleidern liegt zwischen dem thaunassen Gras am Straßenrand in einer Lache von geronnenem Blut das große Glückskind seiner Zeit, der verwöhnte Liebling des Königs, der Vicomte de Letorière!

Der alte Herzog zerrt die Handschuhe von seinen hagern Händen, beugt sich über seinen Schützling, befühlt ihn – der Körper ist schon kalt.

Die Augen des alten Herrn folgen aufmerksam den Blutspuren, die sich deutlich weiter ziehen bis an die Mauer der Abtei … Er hat begriffen! … „Armer Teufel!“ murmelt er, „als ob ich’s ihm nicht voraus gesagt hätte! … Nun freilich – die Etiquette hat gesiegt!“




Die Einzelheiten des Todes Lancelot’s de Letorière drangen nie in das Publicum. Die Kunde verbreitete sich, er sei an den schwarzen Blattern gestorben.

Die Blutspuren im Kirchhofe der Abtei erregten einiges Aufsehen, aber Dank der mächtigen Stellung der Verwandten Julie’s wurde die Sache nicht untersucht, in Folge dessen gerieth sie bald gänzlich in Vergessenheit.

Und Julie? – Die kleine, zärtliche Julie? …

Eine Zeit lang sehen wir sie halb irrsinnig vor Schmerz und Reue endlose Briefe schreiben an einflußreiche Persönlichkeiten, um bald die, bald jene Stiftung für die zahllosen armen Verwandten Lancelot’s anzubetteln – dann verschwindet sie plötzlich vom Schauplatz, verschwindet aus Frankreich – an einen kleinen deutschen Fürstenhof.

„Ah – wenn ich Lancelot’s Tod mit ansehen müßte!“ murmelt Gabrielle, der Worte ihrer Freundin eingedenk, da ihr die Nachricht von der Vermählung zukommt. Und dabei lächelt sie vor sich hin – wie nur das achtzehnte Jahrhundert zu lächeln verstand über – eine Tragödie! –




Druck von G. Bernstein in Berlin.