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Fürst Bismarck in Kissingen

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Textdaten
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Titel: Fürst Bismarck in Kissingen
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aus: Die Gartenlaube, Heft 42, S. 720–723
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Fürst Bismarck in Kissingen.

Mit banger Sorge haben in den letzten Wochen viele deutsche Herzen auf die Nachrichten gelauscht, die von Kissingen aus über das Befinden unseres alten Reichskanzlers in die Welt drangen. Fürst Bismarck war dort krank geworden, so krank, daß um ihn, den Achtundsiebzigjährigen, ernste Besorgnisse sich aufdrängen mußten. Glücklicherweise aber hat er sich doch wieder leidlich erholt und den Kurort nach einem sehr unfreiwillig verlängerten Aufenthalt wieder verlassen, nicht in jener Rüstigkeit wie vor fast zwanzig Jahren, als er mit General von der Tann dort tapfer über Berg und Thal schritt, aber doch so erheblich gekräftigt, daß er in der heimathlichen Ruhe die baldige völlige Gesundung mit Zuversicht erwarten darf, in der heimathlichen Ruhe, die ihm sein getreuer Leibarzt Schweninger so sehr empfahl, daß der Fürst sie dem Anerbieten Kaiser Wilhelms II., den Winter über auf einem der kaiserlichen Schlösser Wohnung zu nehmen, vorzog.

Seit dem Jahre 1874 ist Fürst Bismarck ein ziemlich regelmäßiger Gast von Kissingen und seit jener Zeit nur in den Jahren 1875, 1882, 1884, 1888 und 1889 ausgeblieben. In den drei ersten Jahren mag sowohl das mangelnde Bedürfniß für eine Badekur als auch die große Vorliebe des Fürsten und der Fürstin für die ländliche Abgeschlossenheit von Varzin zu gunsten des pommerschen Landsitzes entschieden haben; 1888 und 1889 gestattete die Geschäftslage eine Badereise nicht, auch erfreute der Kanzler sich in dem Sommer des verhängnißvollen Drei-Kaiser-Jahres glücklicherweise einer guten Gesundheit.

Seine erste Kissinger Badereise war durch ein schweres rheumatisches Fußleiden verursacht, an welchem der Fürst in der Nacht vom 5. zum 6. März 1874 erkrankte und das ihn über sechs Wochen an das Krankenlager und an das Zimmer fesselte. Auf seinem Krankenbett empfing er damals nicht nur die wiederholten Besuche seines alten Kaisers, sondern er hatte dort auch noch die Verhandlungen mit den Fraktionsführern des Reichstages über das damals schwebende und arg gefährdete erste Militärgesetz zu führen. Es war am 9. April, als Kaiser Wilhelm nach einer langen Unterredung mit dem Fürsten, an dessen Krankenlager auf einem Lehnsessel sitzend, seine Genehmigung zu dem Kompromißvorschlage des „Septennats“ gab. Erst 14 Tage später konnte Fürst Bismarck einen Versuch zum Spazierengehen im Garten seines Hauses machen. Er verlief aber wenig befriedigend, und erst am 8. Mai folgte die erste Ausfahrt.

Um die Nachwirkungen der überstandenen Krankheit vollends zu beseitigen, traf Fürst Bismarck am Vormittage des 4. Juli 1874 mit seiner Gemahlin und seiner Tochter, der Gräfin Marie, zum ersten Male in Kissingen ein und nahm im Hause des Dr. Diruf senior daselbst Wohnung. Selbstverständlich übten der Fürst und die Seinen vom ersten Tage an die größte Anziehungskraft auf das Badepublikum aus, und zwar dergestalt, daß schon nach einigen Tagen das Kissinger Tageblatt die Bitte aussprach, man möchte doch den Fürsten auf der Kurpromenade mit Grüßen verschonen. Am 18. Juli erfolgte das Attentat des Böttchergesellen Kullmann, gerade in dem Augenblick, als der Fürst im Wagen das Haus zu einer Ausfahrt verließ. Zur Erinnerung daran ist das Haus jetzt mit einer Gedenktafel verziert und die Straße hat in diesem Jahre durch Beschluß der städtischen Behörden nach eingeholter Zustimmung des Fürsten den Namen „Bismarckstraße“ erhalten. Einer ihn zu seiner Rettung beglückwünschenden Abordnung der Badegäste erwiderte damals der Kanzler: „Die Sache ist zwar nicht kurgemäß, aber das Geschäft bringt es so mit sich.“

Von dem Tage des Attentats datiert aber auch die erste Kissinger Rede des Fürsten Bismarck. Sie war an das Publikum gerichtet, welches ihm am Abend eine Serenade und einen Fackelzug darbrachte. In dieser Rede sagte der Kanzler: „Das aber darf ich wohl sagen, daß der Schlag, der gegen mich gerichtet war, nicht meiner Person galt, sondern der Sache, der ich mein Leben gewidmet habe: der Einheit, Unabhängigkeit und Freiheit Deutschlands. Und wenn ich auch für die große Sache hätte sterben müssen, was wäre es weiter gewesen, als was Tausenden unserer Landsleute passiert ist, die vor drei Jahren ihr Blut und Leben auf dem Schlachtfelde ließen? Das große Werk aber, das ich mit meinen schwachen Kräften habe mit beginnen helfen, wird nicht durch solche Mittel zu Grunde gerichtet werden, wie das ist, wovor mich Gott gnädiglich bewahrt hat. Es wird vollendet werden durch die Kraft des geeinten deutschen Volkes. In dieser Hoffnung bitte ich, mit mir ein Hoch zu bringen auf das geeinigte deutsche Volk und auf seine verbündeten Fürsten!“

Kaiser Wilhelm befand sich damals auf der Reise nach Gastein. Er und König Ludwig von Bayern hatten die Nachricht aus Kissingen empfangen, während sie im Fürstensalon des Münchener Bahnhofs bei der Tafel saßen. Der Glückwunsch, welchen König Ludwig dem Fürsten sandte, schloß mit den Worten: „Mögen Sie Trost und Befriedigung finden im Rückblick auf eine ruhmvolle Vergangenheit, welche Ihnen Buben zu Feinden, Männer zu Freunden gemacht hat.“ Die Zahl der Glückwunschtelegramme und -schreiben belief sich auf nahezu zweitausend. Das Attentat ist später auch Anlaß zur Errichtung des Bismarckstandbildes bei der unteren Kissinger Saline geworden, welches jedem Besucher des weltberühmten Bades wohlbekannt und nächst der Saline selbst der Zielpunkt vieler Tausende von Spaziergängern ist. Dort steht das Denkmal nahe der Stätte, welche am 10. Juli 1866 der Schauplatz heißen Kampfes zwischen Bayern und Preußen war, und es ist eine versöhnende Fügung der Geschichte, daß gerade Kissingen, um welches das hartnäckigste Treffen des Mainfeldzuges tobte, in dem weiteren Werdegang des nunmehr geeinigten Deutschen Reiches und Volkes zu einer so hervorragenden Rolle gelangt ist.

Bei seinen späteren Besuchen Kissingens hat Fürst Bismarck auf der oberen Saline Quartier genommen, fernab von dem Gewühl des Badelebens, inmitten einer ländlichen Umgebung, wie sie ihm und seiner Gemahlin so sehr zusagt. Eine kleine halbe Stunde nördlich von Kissingen, auswärts am linken Ufer der Saale, befindet sich das große Salinenwerk Friedrichshall, aus dem Gradierwerk, dem Badehause und zwei etwa zehn Minuten auseinander liegenden umfangreichen Wohngebäuden bestehend. Der Besucher hat die Auswahl zwischen drei Wegen. Eine schöne schattige Allee zweigt vom Kurgarten ab zum Gradierwerk; in der Nähe derselben führt die Fahrstraße, die Landstraße nach Hausen, entlang; Liebhaber können auch den Wasserweg auf den kleinen Saaledampfern wählen. Wer einen Umweg nicht scheut, findet eine hübsche Straße am jenseitigen Saaleufer, am Clauswald entlang über das Altenburger Haus nach Hausen. Dieser Weg gewährt namentlich einen hübschen Blick auf die saftigen Wiesen, welche die munter dahinfließende Saale umsäumen. Das Altenburger Haus, hart am Walde der oberen Saline gegenüber gelegen, ist ein beliebter Ausflugspunkt für das Badepublikum, welches dort gern den Nachmittagskaffee einnimmt und dabei oft Gelegenheit hat, den alten Kanzler auf seinen Ausfahrten zu begrüßen. Aber das Altenburger Haus ist auch ein geschichtlich denkwürdiger Punkt, denn hier traten die vom Claushof gegen Kissingen vordringenden Bataillone des 15. preußischen Regiments aus dem deckenden Walde und eröffneten das Feuer gegen die bayerischen Truppen, welche die Salinen, Hausen und die hinter den Salinen ansteigenden Höhen besetzt hielten und bis zum Nachmittag in mehr als sechsstündigem Feuergefecht vertheidigten, bis ein umfassender Angriff des Generals v. Manteuffel von Hausen her sie zum Rückzug nöthigte. Den Salinen gegenüber findet der Wanderer rechts an

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Vor der oberen Saline in Kissingen: eine Ausfahrt des Fürsten Bismarck nach seiner letzten Krankheit.
Nach der Natur gezeichnet von Fritz Bergen.

[722] der Straße einen ziemlich umfangreichen Friedhof, auf welchem die Opfer jenes Tages zu ewigem Frieden gebettet sind. An ihnen vorüber sind in den letzten Jahren die Tausende aus Schwaben, Baden, der Pfalz, aus Thüringen, Hessen und Frankfurt entlang gezogen, welche dem alten Baumeister des Reiches „im Ruhestand“ ihre Huldigungen zollten. Für die Toten, die um Kissingen ruhen, gilt wie für alle in den drei letzten deutschen Kriegen gefallenen Kämpfer das Wort, welches Bayern seinen an der Beresina vernichteten Söhnen auf dem bekannten Obelisken in München widmete: „Auch sie starben für des Vaterlandes Befreiung.“

Uebrigens ist die Kissinger Gegend im Jahre 1866 nicht zum ersten Male der Schauplatz heißen Kampfes gewesen. Der Augustinermönch Hieronymus Schneeberger im Kloster zu Münnerstadt hat soeben in einer zum Amtsjubiläum des Regierungspräsidenten Grafen Luxburg herausgegebenen Festschrift „Die Brunnenschlacht“ nachgewiesen, daß das große Treffen zwischen Chatten und Hermunduren, von welchem Tacitus im 13. Bande seiner „Annalen“, berichtet, im Jahre 59 n. Chr. im Saalethal von Neustadt bis Kissingen getobt hat.

Heute freen wir uns des Friedens dieses lachenden Landschaftsbildes, eines der schönsten aus der Umgebung von Kissingen, die wahrlich daran nicht arm ist. Drüben die aufsteigenden Wälder mit ihrem kühlen Schatten an heißen Sommertagen, weiterhin auf lustigem Hintergrunde die Bodenlaube, vor uns die grünen Wiesen, rechts die ansteigenden Höhen, mit reichem Erntesegen bedeckt, so ist der Anblick der Saline in den Julitagen, in welchen Fürst Bismarck gewöhnlich dort einzukehren pflegt. Ausnahmsweise ist er auch wohl schon im Juni und im August dort eingetroffen, aber in der Regel sieht man gegen Mitte Juli die bayerischen Hofequipagen einziehen, welche samt Dienerschaft und Pferden König Ludwig von Bayern dem von ihm hochverehrten Kanzler ein für allemal zur Verfügung gestellt hat, ein Vermächtniß, welches auch vom Prinz-Regenten Luitpold sorglich aufrecht erhalten wird. Wenige Tage später folgt der Fürst, von seiner Gemahlin und in der Regel vom Grafen Herbert Bismarck begleitet. Mit ihnen kommt auch Professor Schweninger, der den Beginn der Kur persönlich zu überwachen pflegt. Der Tag der Ankunft ist stets ein Festtag für Kissingen. Von Ebenhausen her führt nachmittags oder abends die bekränzte Lokomotive den Zug heran. Auf dem Bahnhofe harren die Behörden von Kissingen, die königlichen wie die städtischen, erstere mit dem Badekommissar, letztere mit dem Bürgermeister an der Spitze, zwischen ihnen im hellblauen Waffenrock die Offiziere des Bezirkskommandos, der Vorstand der Post- und Telegraphenperwaltung und Hunderte von Badegästen; in ihrer Mitte mit prächtigen Blumenspenden manche persönlichen Freunde des fürstlichen Hauses, die oft nur um des Verkehrs mit der Familie Bismarck willen sich in Kissingen Stelldichein geben. Weithin schallt der Jubelgruß den Kommenden entgegen, Fürst und Fürstin winken freudig bewegt vom Fenster des Salonwagens. Verbindlich nimmt der Fürst nach dem Aussteigen die Begrüßung der Behörden entgegen, die Fürstin wendet sich in ihrer herzlichen Art den sie umringenden näheren Bekannten und den Damen zu, endlich geht es durch das Fürstenzimmer zu den harrenden königlichen Wagen. Und dann beginnt jene Fahrt durch das hell erleuchtete Kissingen, welche sich bis an die letzten Häuser des Ortes zu einem ununterbrochenen Triumphzuge gestaltet.

An der oberen Saline, einem ehemals fürstbischöflichen Lustschloß, jetzt dem Staate gehörig, empfängt der dortige Pächter Oekonomierath Streit dus fürstliche Paar und geleitet es in die Räume des oberen Stockwerks, die trotz ihrer einfachen Ausstattung doch in den Möbeln und in manchem Stück an den Wänden Zeugniß von dem Sammelfleiß des Besitzers ablegen. Dort haben auch Professor Schweninger und sein Assistent Dr. Chrysander, der oft genannte Sekretär des Fürsten, ihre Zimmer, im unteren Stockwerk sind Räume für die Familienmitglieder vorbehalten und dort befand sich auch ehedem, so lange der Fürst noch im Amt war, die Kanzlei. Wenn der Fürst die Schwelle des Hauses überschritten hat, melden sich bei ihm der Postexpeditor, welchem die auf der Saline für den alleinigen Gebrauch des Fürsten eingerichtete Post- und Telegraphenstation seit langen Jahren übertragen ist, und der Kommandant der kleinen Gendarmerieabtheilung, welche für die Dauer seiner Anwesenheit auf der Saline verbleibt. Hierzu die eigene und die königliche Hofdienerschaft, welche letztere fast nur bei den Ausfahrten Dienst zu thun hat – jedenfalls ein ziemlich umfangreicher Haushalt, der die sonst stille Saline belebt. Steigt der Fürst dann die Treppe zum ersten Stock hinauf, so gelangt er durch eine Thür zur Rechten in den großen Empfangssaal, der sein Licht durch drei nach der Straße und drei nach dem Hofe belegene Fenster erhält, er dient zugleich als Speisesaal. Auf der rechten Seite desselben schließen sich auf der Straßenfront die Zimmer der Fürstin, auf der Hoffront die des Fürsten an. Wenn das fürstliche Paar nach seiner Ankunft diese Räume betritt, findet es sie mit den schönsten Blumenspenden seitens der Stadt und vieler Kurgäste geschmückt, auch andere werthvolle Ueberraschungen fehlen nicht. Kissingen zeichnet sich durch einen prachtvollen Blumen- und namentlich Rosenflor aus, aber man darf wohl behaupten, daß ein recht bedeutender und sicherlich der schönste Theil derselben während der Anwesenheit des Fürsten den Weg nach der oberen Saline nimmt. Ebenso gehen mit der Post zahlreiche Blumenspenden ein, auch aus den bayerischen Bergen kommen Sendungen der schönsten Alpenrosen und erfüllen den Saal mit ihrem würzigen Duft.

Hat der Fürst die Nacht leidlich verbracht – „gut“ gehört zu den Seltenheiten – so nimmt er wohl schon am andern Vormittag das erste Bad. In früheren Jahren ward auch Brunnen getrunken und damit eine vormittägliche Promenade verbunden, in den letzten Jahren ist die Brunnenkur in Wegfall gekommen und der Fürst badet nur. In dem Badehause am Gradierwerk ist das Fürstenbad für ihn hergerichtet, ein der gewaltigen Gestalt angepaßter Baderaum. Wenn der Wagen in der zwölften Stunde unter dem Zuruf der zahlreich versammelten Badegäste vorfährt, so erwartet dort Hofrath Dr. Streit feinen berühmten Badegast und geleitet ihn entblößten Hauptes in die Halle. Draußen harrt das Publikum nach Hunderten, darunter viele Damen und Kinder mit Blumensträußen. Tritt der Fürst nach dem Bade wieder heraus, so beginnt einer der für seine Gesundheit unzuträglichsten und in diesem Jahre sogar gefährlichen Augenblicke. Anstatt sofort nach dem Bade die verordnete und so nothwendige Bewegung anzutreten können, muß der Fürst den Sturm der Begrüßungen über sich ergehen lassen. Da steht er denn einige Minuten und länger entblößten Hauptes inmitten der Menge, nimmt Grüße und Blumensträuße entgegen, theilt Händedrücke aus, hin und wieder muß er auch wohl ein Gedicht einer kleinen Verehrerin anhören. Endlich kann der Spaziergang beginnen, auf welchem ihn einer seiner Söhne, falls diese in Kissingen anwesend sind, oder Professor Schweninger begleitet. Der Fürst trägt den großen grauen oder schwarzen Schlapphut; in der Hand einen festen Eichenstock, so schreitet er hochaufgerichtet einher. Mitunter lenkt er seine Schritte zu der bekannten Bismarckwage, einem Wägehäuschen, auf dessen rothsammetnem Lehnstuhl er einen Augenblick ausruht. Beim Beginn der Kur und vor der Abreise läßt er sich wägen, und auf dieser Wage ist denn auch das körperliche Höchstgewicht des gewichtigsten Staatsmannes Europas mit 247 Pfund festgestellt worden. Im vorigen Jahre war es bis auf 206 Pfund heruntergegangen, jetzt nach der überstandenen Krankheit soll es nur noch 184 Pfund betragen. Es steht indes zu vermuthen, daß in den anderen Angaben das „Bruttogewicht“ mit den Kleidern enthalten ist, während die neueste Wägung im Hause ohne Tuchbekleidung und Stiefel gemacht zu sein scheint. Fühlt der Fürst sich ermüdet oder ist ihm der Andrang des Publikums zu unbequem, so wird der in der Nähe haltende Wagen bestiegen, der ihn in wenigen Minuten zur Saline bringt. Mit den zunehmenden Jahren sind diese Mittagsspaziergänge leider mehr und mehr abgekürzt worden.

Um ein Uhr beginnt die Frühstückstafel, selten, vielleicht niemals ohne Gäste. Sie ist von vornehmer Einfachheit, in der Regel giebt es nur kalte Fleischspeisen und eine warme Schüssel. Das Getränk bildet Münchener Spatenbräu, hier wie in Friedrichsruh und Varzin, und Moselwein. Zum Schluß kommt wohl auch ein guter westfälischer Kornschnaps. Diese Frühstückstafeln gehören, wenn der Fürst nicht durch sein körperliches Befinden behindert ist, meist zu den interessantesten Stunden, die ein Gast im Hause des Fürsten erleben kann. Da plaudert er, an Erinnerungen von Gedenktagen oder an neuere Begebenheiten anknüpfend, und manch werthvoller Beitrag zur Geschichte seiner Zeit ist an der Frühstückstafel oder nachher bei der behaglichen Pfeife seinen Lippen entflossen. Die Unterhaltung dauert oft eine oder mehrere Stunden, je nachdem die anwesenden Gäste dem Fürsten Anregung bieten [723] oder sein Befinden es gestattet. Dann zieht er sich in sein Zimmer zurück, um auszuruhen oder zu arbeiten. Dort liest er auch die mittags eingegangenen Briefe und Zeitungen, die Dr. Chrysander schon bei Tisch zugleich mit einem langen Bleistift überreicht hat. Einzelne bevorzugte Gäste werden mitunter vom Fürsten gebeten, ihm in sein Zimmer zu folgen, und hier findet dann wohl ein intimeres, für andere Hörer nicht bestimmtes Gespräch statt. Je nach der Witterung, der Tageshitze und dem Befinden erfolgt gegen fünf Uhr eine Ausfahrt, entweder mit der Fürstin oder mit einem etwa nach Kissingen gekommenen Gaste. Auf diesen Fahrten hat der Fürst im Laufe der Jahre die Umgegend von Kissingen so genau angesehen, daß er sich dort so gut auskennt wie auf seinen heimischen Gütern. Bodenbeschaffenheit, Waldbestände, Ernte, Wildstand, Eigenthümlichkeiten der Bewohner, nichts ist seinem Blicke entgangen. Zum Essen um sieben Uhr sind dann in der Regel wieder Gäste gebeten. So lange der Fürst im Amte war, stellte dazu die damals in Kissingen zahlreich vertretene Diplomatie eine große Ziffer. Deutsche und auswärtige Minister, fremde Botschafter, deutsche höhere Beamte und Offiziere harrten des Vorzugs, mit einer solchen Einladung beehrt zu werden. Nicht selten kamen auch Mitglieder der deutschen Diplomatie oder höhere Beamte aus Berlin zum Vortrag, und die Saline zu Kissingen ist der Schauplatz mancher wichtigen Verhandlung gewesen, die Wiege manches weittragenden Erlasses in der Reichsverwaltung. Seit dem Rücktritt von den Geschäften hat mit dem amtlichen Verkehr auch der Zutritt der vielen Personen aufgehört, die ehedem zu dienstlichen Zwecken nach Kissingen kamen. Aber auch heute noch erhält der Fürst viele Besuche, deren Erwiderung sich dann in sein Tagewerk einschiebt; hin und wieder folgt er auch wohl einer Einladung nahestehender Freunde, die, wie z. B. Graf Guido Henckel Donnersmarck, in Kissingen eigenen Hausstand führen.

Auch die Hauptmahlzeit belebt der Kanzler durch die ihm eigene außerordentliche Frische. Sind Fremde zugegen, die französisch sprechen, so führt er die Unterhaltung ebenso leicht und elegant französisch wie deutsch, ist ein Anlaß vorhanden, so werden auch wohl englische Sätze eingeschoben. Im letzten Winter setzte der Fürst seine Gäste durch den Vortrag eines Liedertextes in lettischer Sprache in Erstaunen, den er ohne jeden Anstoß hersagte. Weiß einer der Anwesenden gerade die richtige Saite in dem reichen Schatz der Erinnerungen des Fürsten anzuschlagen oder wird eine ihn besonders beschäftigende Tagesfrage berührt, so können die Anwesenden auch wohl das Glück haben, einem mit erstaunlicher Leuchtkraft gesättigten Vortrag zuzuhören, theils geschichtlichen, theils politischen Inhalts, aber immer von der gewaltigen Voraussicht, dem außerordentlich reichen Wissen und der sichern und treffenden Kritik des Fürsten zeugend. Wenn der Fürst dann mit der historischen Pfeife im Kreise seiner Hörer sitzt, fühlen die älteren Freunde sich um zwanzig Jahre zurückversetzt; der Fürst, der da vor ihnen sitzt, giebt dem Kanzler der siebziger Jahre nichts nach. Ist die Pfeife ausgegangen, so beeilt sich eine der anwesenden Damen, den Holzfidibus zu entzünden, und der Fürst unterläßt niemals, für die liebenswürdige Aufmerksamkeit mit einem Handkuß zu danken. Gegen 11 Uhr pflegt der Fürst sich dann zurückzuziehen, nicht selten, um noch Unterschriften oder Anordnungen für den nächsten Tag zu geben.

So ist sein Leben in Kissingen möglichst seiner häuslichen Ordnung in Friedrichsruh und Varzin angepaßt. Wenngleich außerhalb Kissingens und des eigentlichen Badelebens weilend, bildet der Fürst mit seiner Familie doch den Mittelpunkt des letzteren, und ganz erheblich hat sich das gesteigert, seit an die Stelle der amtlichen Persönlichkeiten, die den Fürsten in Kissingen mit Berichten, Rücksprachen und Vorträgen heimsuchten – das deutsche Volk getreten ist, welches mit dem Begründer von Deutschlands Macht und Einheit Zwiesprache pflegen und ihm dankerfüllt ins Antlitz sehen will. Der alte Kanzler, auf dem Hofe der Kissinger Saline unter der schattigen Kastanie zu deutschen Männern redend, das wird bis in die fernsten Tage unserer Geschichte ein eigenes und die Gemüther bewegendes Bild sein. Zu dem historischen Fenster unseres alten Kaisers ist der Kastanienbaum in der Kissinger Saline das Gegenstück, so wie Kaiser Wilhelm der Erste und sein großer Kanzler unzertrennlich zusammengehören.

Selten wird der Platz vor der Saline leer, so lange der Fürst in Kissingen weilt. Stets ist ein Häuflein Menschen da, Kurgäste, Durchreisende, Landleute aus der Umgegend, die zu Wagen oder mit dem Wanderstab hereingekommen sind, nur um ihn zu sehen. Kommt dann die Mittagsstunde, wo der Fürst ins Bad fährt, so wächst die Zahl der Harrenden an. Sie besetzen auch das gegenüberliegende ansteigende Gelände, um möglichst Einblick in die Fenster zu haben, so daß die fürstliche Familie nicht selten dadurch beengt ist. Die Polizei hat schon oft vergebliche Versuche gemacht, die Höhe zu räumen, aber das Publikum ist standhaft und ein jeder glaubt an Bismarck ein persönliches Anrecht zu haben.

Kommt dann der Tag der Abreise, so erneuern sich alle jene Kundgebungen der Liebe und Verehrung, die sich bei der Ankunft abgespielt haben, ungeachtet des Wechsels im Badepublikum in womöglich noch reicherem Maße. Die Fülle kostbarer Blumenspenden, die nebst Sendungen köstlichsten Obstes während der ganzen Zeit der Anwesenheit des fürstlichen Paares angedauert hat, wächst noch einmal riesengroß an. Von der Saline bis zum Bahnhofe geleiten ununterbrochen herzliche Zurufe die Scheidenden, am Bahnhofe selbst ist noch einmal alles versammelt, was irgend Anspruch darauf hat, dem Fürsten und seiner Gemahlin nahen zu dürfen. Selbst Tyras und Rebekka, die beiden Doggen, bekommen ihre Liebkosungen zum Abschiede; letzere ist übrigens in diesem Jahre nach längerer Unterbrechung zum ersten Male wieder mitgekommen. Endlich ist der Salonwagen bestiegen, die Glocke läutet das Abschiedssignal und vom Fenster aus erwidern Fürst und Fürstin dankend und grüßend das vielhundertstimmige: Auf Wiedersehen!