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Sein Minister

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Autor: Emma Merk
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Titel: Sein Minister
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aus: Die Gartenlaube, Heft 42–46, S. 717–720, 734–738, 752–755, 767–771
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Sein Minister.

Novelle von E. Merk.

Wer ist die junge Dame in Weiß – jene dort mit den rothen Anemonen im blonden Haar?“ fragte der eben angekommene Assessor Emil Wienburg den ihm befreundeten Rechtsanwalt Rotte, mit dem er vor dem Tanzplatz stand und die Gesellschaft überblickte.

Sie waren beide Gäste auf dem Künstlerfest, das in einem Buchenwalde, nahe bei der Stadt abgehalten wurde. Ein heiteres Bild! Die jungen Maler in ihren schmucken glänzenden Kostümen, in ihren Ritterpanzern und Sturmhauben, auf denen die Sonne flimmerte, oder im straff sich anschmiegenden Jagdanzug mit wallender Feder auf dem Barett, und dazwischen die modernen Frauengestalten in hellen luftigen Kleidern: Mittelalter und neunzehntes Jahrhundert in wunderlichem Gemisch. Und über all den bunten Menschengruppen das Goldgrün junger Buchenäste, das Blau eines sonnigen Maientags.

Rechtsanwalt Rotte hatte den Zwicker aufgesetzt, seine Augen aber waren so vielen hübschen bekannten Gesichtern begegnet, daß er nicht sofort Antwort gab, bis ihm der Assessor mit leiser Ungeduld die Hand auf den Arm legte: „Dorthin müssen Sie sehen – nach rechts! Eben spricht sie mit ein paar jungen Mädchen. Sie ragt in ihrer stolzen Schönheit über die zierlichen Puppengestalten der beiden Dämchen so sehr empor, daß sie auch Ihnen ins Auge fallen muß.“

Rotte folgte dem Blick. „Wie – die kennen Sie nicht, Wienburg? Das ist stark! Es ist Fräulein Herwald, die Tochter des vielgenannten Kabinettsekretärs und Günstlings des Königs.“

„Ah! Der muß ich mich vorstellen lassen!“ rief Emil Wienburg eifrig.

„Diesen Gefallen kann ich Ihnen thun. Sie war mit meiner Schwester in der Pension, daher bin ich ihr näher bekannt. Aber sie wird nicht nach Ihrem Geschmack sein, Wienburg. Sie ist gar nicht kokett, gar nicht lustig. Ein ernstes Kind, mit einem Hang zur Schwärmerei. Freilich, ich glaube, Sie gehören zu den klugen Leuten, die der Tochter den Hof machen, wenn sie sich beim Vater einschmeicheln wollen. Na, Herwald ist jetzt der einflußreichste Mann im Lande, und wer weiß –“

„Machen Sie nicht so viel Umschweife, Rotte, sondern kommen Sie! Ich möchte noch einen Tanz von dem Mädchen erobern!“ Mit diesen Worten zog der Assessor den Rechtsanwalt in das Gewühl.

Wienburg hatte ein hübsches gefälliges Gesicht und ausdrucksvolle Augen. Er besaß eine stattliche Größe und war mit ausgesuchter Eleganz gekleidet, ohne stutzerhaft zu erscheinen. Sein blonder Schnurrbart, sein helles Haar verriethen die häufige Pflege des Friseurs. Während er nun an den Tischen vorüberschritt, grüßte er aufs verbindlichste bald rechts, bald links, hier mit einem Lächeln und einem Aufleuchten der Augen, dort mit tiefer Ehrerbietung. Er hatte überall Bekannte, und Höflichkeit gegen jedermann war sein oberster Grundsatz. Bald machte er mit feierlicher Umständlichkeit einer alten Dame Platz, bald trat er bescheiden vor einem ergrauten Würdenträger zur Seite. Er fand auch im Vorübergehen Zeit, ein paar jungen Mädchen, die ihn mit koketten Blicken anschauten, einige schmeichelhafte Worte zuzuflüstern.

Endlich stand er vor der jungen Dame im weißen Kleide, die er kennenlernen wollte. Fräulein Herwald war eine ungewohnliche Erscheinung; eine blonde Juno, trotz aller jugendlichen Schlankheit von stolzem Wuchs, Ihr Kopf mit dem gewellten Haar und dem weichen Oval des Gesichts, der geraden feinen Nase und dem schön gewölbten Mund mußte jeden Bildhauer begeistern. Dabei hatte sie liebe warme Kinderaugen.

„Fräulein Dora, mein Freund wünscht, Ihnen vorgestellt zu werden,“ sagte Rotte nach einer kurzen Begrüßung und nannte die Namen.

Emil verneigte sich tief. „Ich freue mich, gnädiges Fräulein, endlich das Vergnügen zu haben,“ begann er mit seinem einschmeichelnden Lächeln, „nachdem ich Ihnen so oft auf der Straße begegnet bin. Sie werden sich freilich kaum erinnern!“

„O doch! Wenn ich aus der englischen Stunde kam, hat sich mein Weg häufig mit dem Ihrigen gekreuzt.“

Die Antwort überraschte ihn. Eine andere Dame würde sicher geleugnet haben, daß sie ihn bemerkt habe. Er fühlte eine gewisse Unsicherheit vor dem ernsten jungen Gesicht, vielleicht nur, weil sie nicht wie die anderen Mädchen zu ihm aufblicken mußte, weil ihre klaren blauen Augen ihm in so gerader Linie gegenüberstanden. Und zugleich empfand er auch ein zwingendes Verlangen, auf dies Mädchen Eindruck zu machen.

Er drückte sein Bedauern aus, daß er nicht schon am Morgen dem Feste habe beiwohnen können, und der Blick, der die Worte begleitete, schien zu sagen: es schmerzt mich nur, weil ich dadurch kostbare Stunden in Deiner Gesellschaft versäumte.

Dora erzählte lebhaft, als wollte sie eine Befangenheit fortplaudern, von dem Festzug der jungen Künstler, die, den Herold voran, am Morgen durch den Wald geritten waren. „Man glaubte sich in eine ferne Vergangenheit versetzt,“ schloß sie. „Dazu diese großartige Landschaft, ein Frühlingsmorgen und blauer Himmel, ein majestätischer Fluß – es war ein Bild aus einer schöneren Welt!“

Emil lenkte das Gespräch auf historische Erinnerungen, auf die Rolle der Geschichte in der Dichtung, und Doras Wangen rötheten sich vor Begeisterung, als sie von ihren bewunderten Dichtern sprach. Groß und glänzend begegneten ihre Augen den beredten Blicken des Assessors.

Dieser ward Doras Mutter, einer stillen Dame, und deren am gleichen Tische sitzenden Bekannten vorgestellt und fand auch sofort Gelegenheit, sich dienstfertig zu erweisen, indem er aus der bereitstehenden Bowle den duftenden Maitrank in die Gläser füllte; bald schwebte das süße Aroma des Waldmeisters berauschend durch die Luft. Aber Wienburg hielt es nicht lange aus in dem gesetzten und, wie er sich innerlich gestand, ziemlich langweiligen Kreise. Er erbat und erhielt die Erlaubniß, Dora zu dem mit Laubgewinden umzogenen Tanzplatz zu führen, wo sich helles Mädchenlachen mit den lockenden Tönen der Musik mischte.

Dora war zwar noch nicht viel auf Bällen gewesen, aber doch eine geübte Tänzerin. Bisher hatte sie bei dem Wiegen im Walzertakt nur die lustige Bewegung froh empfunden; heute fühlte sie zum ersten Male, daß ein Mann den Arm um sie geschlungen hielt – sie fühlte es mit einem süßen Bangen. Und sie wurde eine wundersame Empfindung den ganzen Abend nicht mehr los, denn die Blicke des Assessors kehrten, auch wenn er mit anderen Damen tanzte, immer wieder zu ihr zurück. Sie war wie berauscht; ein poetischer Glanz lag für sie über dem Feste.

Dora war erzogen worden wie viele Mädchen. Man hatte sie ängstlich vor jeder Kenntniß des wirklichen Lebens zurückgehalten, aber ihr nicht verwehrt, Roman um Roman zu verschlingen und sich daraus ein Bild des Lebens zu gestalten, in dem alles von Gefühl überströmte, in dem die Helden von unerschütterlicher Treue waren und die Liebe die Sonne bedeutete, um die alle Gedanken, alle Worte, alle Handlungen der Menschen kreisten. Schon aus Neugier mußte sie deshalb mit Ungeduld auf den Augenblick warten, da auch sie von dem Glanz dieser Sonne berührt und ihr Dasein mit einem goldenen Strahlenkranz des Glücks umwoben würde. Ja, es hatte sie ernstlich beunruhigt, daß sie zwanzig Jahre alt geworden war, ohne jemals ein rascheres Schlagen des Herzens verspürt zu haben. Wie anders war das heute! Dieser Maientag mit dem köstlichen Morgen im Walde hatte ihre Phantasie wunderbar beflügelt. Es war ihr, als könnte dieses Fest, das wie ein Märchen begonnen hatte, nicht nüchtern enden, als müßte nach all den großen Eindrücken noch ein größter, unvergeßlicher kommen. Und das erwartete Wunder kündete sich an, als Emil beim Tanz seinen Arm um sie schlang und ihr tief in die Augen sah. Und dann der Heimweg an seiner Seite! Um zehn Uhr abends war der Sonderzug bestellt, der die Festgäste zur Stadt zurückbefördern sollte. Man hatte bis zur Station eine kleine Strecke zu gehen. Die Musik schmetterte ihre lustigsten Weisen durch den feierlichen, wie aus seinen Nachtträumen erwachenden Wald. Die Fackeln warfen lange rothglühende Streifen über den Moosgrund und die gewaltigen Buchenstämme. Zuweilen rieselte ein ganzes Lichtmeer über die Bäume und die Gestalten zu ihren Füßen, daß man wie geblendet die Augen schloß, und dann wieder ward es plötzlich dunkel und man sah die Sterne zwischen den hohen Wipfeln blitzen. Emil zog dann wohl den Arm des Mädchens fester in den seinigen, damit ihr Fuß nicht über einer Wurzel ausgleite, und seine Stimme hatte einen eigenthümlichen Klang, auch wenn er [718] die harmlosesten Worte sprach. Dieses Mädchen mit der Gestalt einer Heldin und dem schlichten Wesen eines Kindes bezauberte ihn.

Gesprächsweise nannte Dora den Namen der Generalin Halden.

„Sie kennen die Generalin?“ fragte er lebhaft.

„Ja, ich komme häufig in ihr Haus. Mein Vater, der im allgemeinen nicht dafür ist, daß ich viel in Gesellschaft gehe, gestattet mir diesen Verkehr gerne, da in jenem Kreise viel Musik getrieben wird und diese Anregung mein bißchen Talent in Uebung halten soll.“

„Wie mich das freut, gnädiges Fräulein! Nun kann, nun werde ich Ihnen wieder begegnen! Meine Mutter ist mit der Generalin bekannt, die mich längst aufgefordert hat, sie zu besuchen. Jetzt werde ich’s thun und dankbar sein für jede Einladung.“

Es waren unbedeutende Worte, die er da sprach, seiner Begleiterin aber klangen sie wie schmeichelnde Musik. Sie wiederholte sie sich im stillen wieder und wieder, als sie dann in dem halbdunklen Koupé saß und in einer wonnigen Müdigkeit die Schatten und Lichter draußen mit träumerischen Blicken verfolgte.

Noch spät, als sie einschlief an diesem Abend, sah sie das Aufleuchten seiner Augen, mit dem er ihr beim Abschied auf dem Bahnhof die Hand gedrückt hatte, hörte sie sein leises „Auf Wiedersehen!“

Und dieses Wiedersehen ließ nicht lange auf sich warten. Die Generalin Halden war eine sehr leutselige gastfreundliche Dame. Bedeutend jünger als ihr längst ergrauter, seit Jahren zur Disposition gestellter Gatte, fand sie ihre Befriedigung darin, einen auserlesenen geselligen Kreis in ihrem Hause zu versammeln. An hübschen Damen, die ihrer Einladung gerne Folge leisteten, mangelte es ihr auch niemals, während die Herren sich weniger zahlreich einzustellen pflegten. So begrüßte sie den Assessor, der in jeder Beziehung eine gute Erwerbung für ihren Salon abzugeben versprach, mit größter Zuvorkommenheit, Er durfte bald bei keiner Festlichkeit mehr fehlen, die sie gab, denn er war klug genug, der Dame zu verbergen, daß ihn nur ein sehr persönliches Interesse zu seinen Besuchen veranlasse. Um so besser wußte Dora, daß er nur ihretwegen kam. Sie konnten sich freilich in den nicht sehr ausgedehnten Räumen der Generalin niemals unter vier Augen sprechen, aber Emil fand doch nicht selten Gelegenheit zu einem vielsagenden Händedruck, zu einer Aufmerksamkeit, die nicht gewöhnlich war. Ein junges Mädchen braucht so wenig, um sich von einem Mann, der ihr einmal Eindruck gemacht hat, bestricken zu lassen. Ihre Phantasie dichtet mit – das geringste Zeichen sagt ihr so viel, viel mehr, als der junge Mann ahnt. Hinter jedem seiner Worte kommt für sie ein langer Gedankenstrich, den sie ausfüllt mit Poesie und Begeisterung.

An warmen Sommertagen empfing die Generalin ihre Gäste in ihrem Garten außerhalb der Stadt, und hier, wo man sich freier bewegen konnte, erhaschte Emil zuweilen einen günstigen Augenblick, um von Dora mit vielsagendem Ton eine Blume zu erbitten, die sie angesteckt hatte, und diese dann feierlich in die Brusttasche gleiten zu lassen, oder um ihr ein paar Verse zu überreichen, die er für sie geschrieben – Kindereien für einen nüchternen Menschen, für Dora aber Ereignisse, ganze Kapitel in dem Roman, in dem sie lebte und der sie entzückte.

Meistens pflegte Doras Bruder die Schwester bei der Generalin abzuholen, ein hübscher, etwas leichtsinniger junger Mensch von neunzehn Jahren, der sich die Ritterdienste bei der Schwester nur widerwillig aufnöthigen ließ. Einmal, als diese wieder einen Abend in dem Garten der Generalin zugebracht hatte, wartete sie umsonst auf ihren Begleiter.

„Beunruhigen Sie sich nur nicht, liebe Dora,“ sagte die Generalin, die dem Mädchen sehr zugethan war, „wir kehren ja alle nach der Stadt zurück, und die kurze Wegstrecke von unserer Wohnung bis zu der Ihrigen wird gewiß einer der Herren gerne mit Ihnen gehen.“

„Wenn Fräulein Herwald sich meinem Schutze anvertrauen will, stehe ich mit Vergnügen zu Diensten,“ bemerkte Emil, der die Worte mit angehört hatte. Sein Anerbieten klang nicht wärmer, als die Pflicht der Höflichkeit es erheischte, aber zugleich traf Dora der rasche heiße Strahl, der zuweilen blitzartig aus seinen Augen schoß und ein leidenschaftliches Sehnen zu verrathen schien.

Dora sprach kein Wort, während sie mit der Gesellschaft den Heimweg durch die schöne Sommernacht zurücklegte. In süßem Beben dachte sie an die Minuten des Alleinseins mit ihm, die sie hätte hinausrücken mögen und denen sie doch entgegensah wie einer Schicksalsstunde. Am Hause der Generalin wünschte man sich fröhlich Gute Nacht; ein paar Scherzworte wurden noch gewechselt. Dann trennte man sich und Emil bot Dora mit einer Verbeugung seinen Arm. Die Stimmen der anderen verklangen, es wurde ganz still in der Straße, durch die sie gehen mußten und die auf der einen Seite von den Bäumen des Stadtparkes begrenzt war.

Wie eine undurchdringliche Mauer hatte bisher der gesellschaftliche Zwang zwischen den beiden gestanden. Nun war mit einem Male die Scheidewand gefallen. Kein Wunder, daß sie sich befangen fühlten – freilich aus sehr verschiedenen Gründen. Emil würde zwar keinem anderen vergönnt haben, Dora zu begleiten, aber er hatte dieses Alleinsein auch nicht herbeigewünscht. Er war sich noch viel zu wenig klar über seine Absichten. Die bisherige Tändelei, fast immer in Gegenwart anderer, war ihm recht harmlos erschienen. Glühende Blicke, ein langer Händedruck, die wärmsten Komplimente, das alles verpflichtete ja zu nichts. Jetzt aber mußte er fürchten, zu viel zu sagen, sich mit seinen Worten ernstlich zu verstricken. So gingen sie eine Weile schweigend dahin.

Ein leiser Ostwind hatte sich erhoben und brachte einen Strom von Lindenduft von den blühenden Bäumen des Parkes herüber. Trotz aller Vorsätze fühlte Emil sein Herz stürmischer schlagen, und wie ihm Dora nun mit großen glänzenden Augen ins Gesicht blickte. da kam das heiße Verlangen über ihn, sie an sich zu ziehen. nur eine Sekunde lang diese stolzen Lippen zu küssen. Er vergaß seine Bedenken, vergaß die Zurückhaltung, die er sich eben noch gelobt hatte. „Dora!“ sagte er innig. Zum ersten Male nannte er ihren Vornamen. Er fühlte, wie sie beim Klang seiner Stimme erbebte.

„Wir haben noch so wenig miteinander gesprochen, Dora,“ fuhr er leise fort, „aber ich weiß, wir haben einander verstanden. Nicht wahr, von der ersten Minute an? Jeder Blick mußte Ihnen ja sagen, wie gleichgültig mir stets die anderen waren, wie ich sie fortwünschte, um Ihnen zuzuflüstern, was Sie ja lange wissen – daß Sie mich ganz bezaubert, ganz gefangen genommen haben, um von Ihnen zu hören, daß auch Sie mir gut sind! O, es ist so! Ihre lieben Augen haben es mir verrathen und Ihre Lippen dürfen es nicht mehr verneinen, Sie müssen es mir einmal gestehen – das süße, beglückende Wort!“

Seine Stimme klang berückend; sein schönes Gesicht erschien ihr wie von tausend Liebesflammen durchleuchtet. Sie schaute ihn groß und feierlich an, ergriffen von diesem Augenblick, der ihr der weihevollste ihres Lebens dünkte. „Ja, ich bin Ihnen gut!“ sagte sie einfach, mit vollem gläubigen Vertrauen.

Der tiefe Ernst, mit dem sie die Worte sprach, war ihm peinlich, und er hätte nun gerne eine Wendung gefunden, um dieser Stimmung, mit der das Halbdunkel, der berauschende Duft sie beide umfing, ein Ende zu machen. Aber die Augen des Mädchens, die mit solcher Sehnsucht an ihm hingen, waren stärker als sein Wille. Sie standen nun dicht vor Doras Hause, vor dem Abschied.

„Ich kann nicht so von Ihnen gehen, Dora,“ flüsterte er hastig, „ich kann nicht!“ Sein Arm umfaßte ihre Gestalt; er drückte sie an sich, sein Mund preßte sich gewaltsam, glühend auf ihre Lippen; verzehrend senkte sich sein Blick in den ihrigen. Ihr war’s, als hätten stürmische Wellen sie erfaßt – ein willenloses Untertauchen, Vergehen, Sie sagte kein Wort; ihre Hand zitterte noch mit leisem Druck in der seinigen, dann öffnete sich die Thür des Hauses und sie eilte hinein.

Erst als die Thür hinter ihr ins Schloß gefallen war, kam Dora wieder zu sich. Sie meinte, das Herz müsse ihr zerspringen vor Seligkeit. Nun war sie sein! Ihr Mund glühte noch von dem heiligen Gelöbniß, das er in stummer und doch so beredter Sprache empfangen hatte; durch jede Fiber zitterte das neue Leben, das mit jener Sekunde für sie begonnen hatte, das Leben mit ihm, für ihn. Nun gehörten sie ja zusammen bis zum Tode. „Bis zum Tode!“ Sie sprach es leise vor sich hin und lächelte. Auch das Sterben hatte keine Schrecknisse mehr für sie; es erschien ihr in diesem Augenblick als ein süßes Schwinden aller Sinne, wie sie es eben empfunden hatte unter seinem Kuß.

Sie hätte gern tiefe Nachtruhe im Hause angetroffen, um durch keine Stimme, keinen Laut gestört zu werden, aber im Wohnzimmer brannte noch Licht.

„Der gnädige Herr ist heute ganz unerwartet zurückgekommen,“ sagte die Dienerin mit einer Wichtigkeit, welche verrieth, daß diese Heimkehr ihre Neugier wachgerufen habe.

Dora achtete nicht darauf. Sie trat auch nicht mehr in das Zimmer, in dem die Eltern noch lebhaft sprechend [719] zusammensaßen. Rasch und leise schlüpfte sie in ihre Schlafstube, fand aber zu ihrer größten Enttäuschung ihre beiden jüngeren Schwestern, mit denen sie das Zimmer theilte, noch wach. Mit heißen Wangen richteten sie sich in den Kissen auf, als Dora eintrat.

„Was ist denn mit Papa? Weißt Du’s nicht, Dora?“ fragten sie eifrig. „Er kam so aufgeregt nach Hause. Die Mama hat geweint. Geh’ doch hinüber zu den Eltern. Uns hat man natürlich weggeschickt. Aber Dir wird man sagen, was das alles zu bedeuten hat.“

„Morgen werden wir es ja hören, beruhigt Euch nur und schlaft endlich! Ich bin müde.“

Sie warf rasch die Kleider ab und löschte das Licht aus. Mit wahrer Gier sehnte sie sich nach dem Dunkel, nach der Stille, um wieder zurückzukehren in ihren Himmel. Jedes Alltagswort schien ihr eine Entweihung. Erst vermochte sie gar nicht zu denken; sie fühlte, wenn sie die Augen schloß, nur die bange Wonne wieder, welche sie bei der Berührung seiner Lippen durchfluthet hatte, und hörte, wie ihr Herz klopfte. Dann aber bemühte sie sich, mit ruhiger Vernunft in die Zukunft zu schauen. Sie sah keine Schatten, nur eitel Licht. Emil war begabt, im besten Fahrwasser; sein Minister hielt große Stücke auf ihn, wie die Generalin ihr erzählt hatte. Warum sollten ihn die Eltern nicht mit Freuden als Schwiegersohn begrüßen, auch wenn man mit der Vermählung noch eine Weile warten mußte, bis Emil zu einem höheren Posten vorgerückt war! Emil! Ganz leise versuchte sie, wie es klingen würde, wenn sie ihn einmal „Du“ nennen durfte. „Du lieber, Du geliebter –“

Mit einem Lächeln schlief sie ein.


Am nächsten Tage brachte die Zeitung eine Nachricht, die in den weitesten Kreisen Aufsehen erregte: der Kabinettsekretär Herwald war beim König in Ungnade gefallen. Rechtsanwalt Rotte hatte nicht zu viel behauptet, wenn er noch vor Wochen Doras Vater als den einflußreichsten Mann im Staate bezeichnet hatte. Der König, den ein schweres Gehörleiden menschenscheu und mißtrauisch machte, zog sich immer mehr in die Einsamkeit seines fern von der Hauptstadt gelegenen Schlosses zurück; so ward der Sekretär, dem er sein Vertrauen schenkte, zum Vermittler, der zwischen dem König und den Ministern stand, durch dessen Hände alle Regierungsgeschäfte liefen. Ein paar Jahre lang hatte Herwald die Gunst des Königs unumschränkt genossen – nun auf einmal wurde sie ihm entzogen. Niemand, nicht einmal Herwald selbst, wußte, wodurch er sie verscherzt habe. Ob eine seiner Aeußerungen vom Könige mißverstanden wurde oder ob sein Organ, so klar und klangvoll es war, doch die Kraft verloren hatte, zu dem Ohr des Königs zu dringen, der mit krankhafter Zähigkeit seine Schwerhörigkeit zu verbergen suchte – es blieb ein ungelöstes Räthsel. Gewiß war nur eines: daß der verdüsterte Herrscher das einmal verlorene Vertrauen nie wieder zurückgewann und einen entlassenen Günstling nie mehr in seiner Nähe duldete.

Herwald war durch diese plötzliche Ungnade allerdings nicht aller seiner Würden enthoben worden; er konnte, mit einer Beförderung sogar, seinen früheren Dienst als Beamter wieder antreten. Aber Macht ist süß! Es schmeckte bitter, sich nach einigen Jahren der Herrschaft wieder unter Vorgesetzte zu fügen; aus dem einflußreichsten Mann, dem alle Welt geschmeichelt hatte, sich in einen schlichten Beamten zurückzuverwandeln, der seine Pflicht thun mußte, ohne eine Rolle zu spielen.

So herrschte denn im Hause Herwald eine gedrückte Stimmung – für Doras Liebestraum keine günstige Atmosphäre. So sonnenhell im ersten Taumel des Glückes die Zukunft ihr erschienen war, jetzt wollten ihr manchmal dunkle Schatten den frohen Blick in die Ferne verhüllen. Emil hatte noch kein bindendes Wort gesprochen, er mußte die volle Klarheit und Gewißheit erst bringen, und ach, er zögerte so lange, das zu thun! Aber aus den Zweifeln, die ihr Herz bedrängten, riß sie sich immer wieder zuversichtlich heraus. Hatten seine Blicke ihr nicht schon längst seine Liebe gestanden; wäre es möglich gewesen, daß er sie küßte, wenn er nicht im Ernste um sie werben wollte? Und ihre Phantasie hob die Schwingen und schuf ihr Träume, über denen sie die Verstimmung der Eltern und die ganze Wirklichkeit vergaß, in denen das Luftschloß ihres künftigen Heims fertig stand bis auf die Einzelheiten der Einrichtung, bis auf den Salon im Rokoko- und das Eckzimmer im Renaissancestil, bis auf den gedeckten Tisch, an dem zwei glückliche Menschenkinder saßen. –

Es war einige Tage nach der Gesellschaft bei der Generalin, als Dora mit ihren Schwestern über die städtische Promenade ging. Ohne sich an der lebhaften Unterhaltung ihrer Begleiterinnen zu betheiligen, schritt sie dahin, ganz in das phantastische Spiel ihrer Gedanken versunken. Plötzlich zuckte sie zusammen – ein zufälliger Blick hatte ihr Emil gezeigt, der, als er sich bemerkt sah, rasch auf sie zukam. Er grüßte sehr verbindlich und erkundigte sich dann eifrig nach ihrem Befinden. Dora hatte Mühe, ihre Haltung wiederzufinden. Da stand er vor ihr, den sie im Geiste eben zu ihren Füßen gesehen, aus dessen Mund sie zärtliche Liebesworte vernommen hatte, während sie ihm die Haare aus der hohen Stirne strich! Sie wurde dunkelroth, als sie ihm jetzt in Wahrheit in die Augen blickte, und konnte nur schwer auf seine alltägliche Frage eine Antwort finden.

Ihre Verwirrung machte auch ihn befangen; er bemerkte kurz: „Morgen nachmittag werde ich jedenfalls die Ehre haben, Sie bei der Generalin zu treffen,“ und empfahl sich dann rasch, ohne nur mit einer Miene an das selige Geheimniß zu erinnern, das sie beide verband.

In keineswegs angenehmer Stimmung setzte der Assessor seinen Weg fort. Die Verlegenheit Daras, die auch ihren Schwestern aufgefallen sein mußte, ärgerte ihn, noch mehr aber seine eigene Unvorsichtigkeit auf jenem einsamen Heimweg. Ohne daß er es sich selbst recht eingestand, war seit der Entlassung des Kabinettsekretärs eine Wandlung in seinen Gefühlen für Dora eingetreten. Emil gehörte zu den Menschen, in denen ein Mißerfolg Mißachtung wachruft. Er war ja wie alle Welt überzeugt, daß keineswegs eine ehrenrührige Handlung, keineswegs ein Vergehen im Amte, daß nur ein Zufall, eine Laune Herwald um die königliche Gunst gebracht habe. Der Mann hatte einfach Unglück gehabt. Aber in Emils Augen durfte man eben kein Unglück haben. Vor zwei Tagen noch würde er den Kabinettsekretär mit der größten Unterwürfigkeit gegrüßt haben; über die gefallene Größe zuckte er die Achseln. Und diese Stimmung veränderte auch Doras Bild in seinem Gemüth. Jedenfalls schien es ihm angezeigt, sein Verhalten ihr gegenüber reiflich zu überlegen. Heute zum ersten Male hatte ihn auch ihr Anblick in seiner Vorsicht nicht irre gemacht, sondern erst recht bestärkt. Sie war doch zu wenig Weltdame, wenn sie sich auf der Straße, vor Zeugen, nicht besser beherrschen konnte! Bei der Begegnung morgen wollte er lieber den ehrenvollen Rückzug beginnen und, ohne die Höflichkeit zu verletzen, sich gemessen gegen das Mädchen benehmen. Wozu hatte er sich denn eine gewisse Meisterschaft darin erworben, sich, wenn er wollte, mit einer undurchdringlichen Mauer zu umgeben, an der jeder sengende Blick, jede unerwünschte Annäherung abglitt.

Ein schwüler Nachmittag war’s, an dem sie sich im Garten der Generalin trafen. Emil saß schon im Schatten des lustigen, unter Bäumen aufgeschlagenen Zeltes und unterhielt sich als der vorläufig einzige Gast heiter mit der Generalin, als Dora ankam. Sie trug wie bei dem Maifeste ein weißes Kleid und ihr Gesicht erschien unter dem großen rothgefütterten Hut wie in einen leuchtenden Rahmen gefaßt. Es dünkte Emil doch recht schwer, ihrer blühenden Schönheit gegenüber Herr seiner selbst zu bleiben. Das Gespräch war stockend – die gewitterhafte Schwüle machte sich fühlbar und die Generalin wartete mit Ungeduld auf weitere Gäste, denn der große Fruchtkorb aus Gefrorenem sank langsam zusammen und schwamm bereits in einer rosigen Brühe.

Endlich fuhr ein Wagen an. Zur Bestürzung der Dame kam aber statt eines neuen Gastes ihr Stubenmädchen athemlos durch den Garten gelaufen.

„Der Herr General ist zurückgekommen und hat keine Schlüssel!“ rief sie schon von weitem ihrer Herrin zu, die ängstlich aufgesprungen war.

„Wie Sie mich erschreckt haben, Lisette! Ich dachte zum mindesten, es brenne bei uns. Mein Mann ist doch wohl?“

„O ja; der gnädige Herr war nur etwas ungeduldig, Sie nicht zu treffen.“

„Entschuldigen Sie diesen Zwischenfall,“ wandte sich die Generalin an ihre jungen Gäste. „Ich hatte keine Ahnung, daß mein Gatte heute schon aus dem Bad zurückkehren würde. Es scheint ein Brief verloren gegangen zu sein. Du lieber Himmel, da fällt mir ein: die Schlüssel zu seinem Schrank sind in meinem Schreibtisch. Wie ungeschickt!“

[720] „Kann ich vielleicht irgendwie behilflich sein, gnädige Frau?“ warf der Assessor eifrig ein. „Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung. Gestatten Sie mir, daß ich in die Stadt eile.“

„Danke, nein, das geht nicht! Nehmen Sie mir’s nicht übel, aber den Schlüssel zu meinem Schreibtisch kann ich nicht aus der Hand geben. Das ist eine meiner Eigenheiten. In meine Schubfächer darf auch mein Mann keinen Blick werfen. – Es ist ein Glück, daß Sie einen Wagen genommen haben, Lisette! So leid es mir ist, ich muß Sie auf ein Viertelstündchen allein lassen, liebe Dora. Es kann ja auch jeden Augenblick Gesellschaft kommen. Sie machen dann an meiner Stelle die Honneurs, nicht wahr? Ich fliege!“ Und sie eilte hastig dem Wagen zu. [734]

Emil biß sich auf die Lippen und suchte seine Verlegenheit, seinen Aerger zu verbergen über das rasche Verschwinden der Generalin, das ihn in der dämmerigen Schwüle Auge in Auge mit dem Mädchen festbannte, von dem er sich doch losreißen wollte. Er wäre lieber meilenweit gelaufen, statt dies Alleinsein zu ertragen, das ihn zu reden zwang, das seinen Plan eines stummen Rückzugs vereitelte. Wollte denn niemand, niemand kommen? Er hätte den nächsten besten Menschen, die älteste, häßlichste Dame wie einen Götterboten begrüßt. Aber es blieb still in dem Garten. Kein Lüftchen regte sich mehr; nur heißer Blumenduft stahl sich durch die Vorhänge in das Zelt. Dora war bleich geworden, ihre Augen brannten. Ihr erschienen diese ungestörten Minuten als ein Wunder, das eine gütige Macht sandte, um ihr die ersehnte Klarheit, die volle Gewißheit ihres Glücks zu verschaffen. Aber wie sie jetzt, von seinem Schweigen bedrückt, in sein Gesicht blickte, erschrak sie. Das waren nicht mehr die strahlenden Augen, die sonst so flehend die ihrigen gesucht hatten – er schien bekümmert, verstimmt und sah starr in die Weite.

„Das Schicksal scheint zu wollen. daß ich ein zweites Mal in Ihrer Nähe die Besinnung verliere, Fräulein Dora,“ begann er dann. „Ich habe um Ruhe gerungen, um Selbstbeherrschung. Ich fühle, wie nutzlos alles war, wie der Kampf aufs neue beginnt, sobald ich in Ihr liebes Gesicht schaue.“

Dieser Ton der Klage, statt des Jubels, den sie erwartete, diese düstere Miene in einem Augenblick, da sie auf einen Freudensturm hoffte, machte sie völlig verwirrt. Fast besinnungslos stieß sie hervor: „Sie bereuen, was Sie an jenem Abend zu mir gesprochen haben? Sie lieben mich nicht?“

Er hatte den Kopf gesenkt und horchte, ob denn kein Schritt sich nähern wolle. Nein – keine Rettung! Er mußte reden! „Dora“ sagte er in seinem sanftesten Tone, „wie können Sie zweifeln an meinem Gefühl? O glauben Sie mir, es wäre für mich das höchste Erdenglück, Ihre Hand fassen zu dürfen mit der Bitte: sei mein auf immer! Ja, das höchste Erdenglück wäre es, wenn ich aller Welt zujubeln dürfte: seht, das schönste herrlichste Mädchen habe ich mir erobert! Aber es ist nicht jedem vergönnt, den Himmel auf Erden zu haben, Ich darf Ihr Los nicht an mein bescheidenes Leben knüpfen – um Ihretwillen darf ich es nicht, Dora! Es wäre ein Unrecht an Ihrer Jugend, an Ihrer Zukunft. Sie sind wie geschaffen für eine glänzende Lebensstellung, die Natur selbst hat Sie dazu bestimmt, emporzuragen über die niedere Alltagswelt. Ein reicherer, freierer Mann wird das Ziel meiner Sehnsucht erreichen, während ich wohl graue Haare haben werde, bis meine Stellung mir erlauben wird, ein eigenes Heim zu gründen. Aber glauben Sie mir – verehren, lieben kann jener Glücklichere Sie nicht heißer als ich. Und darum, um dieser schmerzlichen Liebe willen, verzeihen Sie mir, daß ich mich in einer trunkenen Sekunde hinreißen ließ, Ihnen meine Gefühle zu verrathen. Gönnen Sie mir den einen Augenblick des Glücks, den ich in einer unvergeßlichen Stunde –“ seine Redegewandtheit hatte ihn verlassen unter dem starren Blick ihrer Augen. Je wärmere Worte er suchte, desto weniger traf er einen überzeugenden Ton. Wie hohle Phrasen glitten ihm die Betheuerungen von den Lippen, bis er, von ihrem regungslosen Gesicht verwirrt, den Muth verlor, weiter zu sprechen.

Dora entgegnete kein Wort. Das poesieumflossene Wunderland, das sie seit jenem Maientage vor sich gesehen hatte, die selige Insel, der sie bisher zustrebte, wie von goldener Wolke getragen – sie waren plötzlich versunken gleich einer täuschenden Fata Morgana. Eine starre Wüste lag um sie her – die endlose Leere. Wie betäubt von dem Unbegreiflichen, vermochte sie kein Wort zu finden.

Das Schweigen zwisschen ihnen ward immer drückender. Emils Beschämung wuchs vor dem großen stummen Schmerz, der aus Doras verstörten Zügen sprach; eine Ahnung ergriff ihn von einer Tiefe in dieser Mädchenseele, vor der sein Gefühl in Nichts zusammensank, und er grollte sich selbst, daß er sich in eine so peinliche Lage verstrickt hatte, in der all seine gerühmte Gewandtheit nicht standhalten wollte. Da wurden zu seiner Befreiung Stimmen laut, Schritte kamen über den Kiesweg. Dieses entsetzliche Alleinsein nahte seinem Ende!

Dora schrak zusammen; sie griff nach Hut und Schirm und schob den Stuhl zurück.

[735] „Dora! Was thun Sie? Was wollen Sie?“ fragte er bestürzt.

„Fort! Ich will gehen! Ich mag jetzt mit niemand sprechen! Halten Sie mich nicht zurück!“ Sie sprach die letzten Worte fast stehend, in einem Tone rührender Verzweiflung, denn er hatte sich an den Ausgang des Zeltes gestellt und versperrte ihr den Weg.

Sie hatte keine Kraft zur Verstellung; sie war zu tief getroffen, um ihr Elend zu verbergen, und wußte nur eines: jetzt fremde Gesichter sehen, reden müssen – diese Marter war nicht zu ertragen.

Er sprach hastig auf sie ein: „Dora, um Gotteswillen – besinnen Sie sich! Mir ist ja nicht anders zu Muthe wie Ihnen; ich leide, tiefer als Sie ahnen! Aber ich denke an Sie, und weil ich an Sie denke, werde ich mich beherrschen. Auch Sie müssen die Kraft dazu finden, es gilt Ihren Ruf! Wir sind hier allein. Wenn Sie forteilen in dieser Erregung – was werden die Damen, die dort kommen, von Ihnen denken! Haben Sie Erbarmen mit sich selbst!“

Sie hörte nicht auf ihn, sondern schlug den Vorhang zurück und eilte aus dem Zelt. Nur fort, aller Vernunft zum Trotz, fort in die Einsamkeit, um dort dies Weh zu vergraben! Aber die Macht der Gewohnheit, der Zwang der Sitte war doch stärker. Als sie den Damen – einer Frau Oberst mit ihren beiden Töchtern – gegenüberstand, da vermochte sie doch nichts Auffallendes zu thun. Der Sturm in ihr war plötzlich wie erstickt. Sie begrüßte die Gäste, erklärte die Abwesenheit der Hausfrau und führte die Damen in das Zelt. Ihre Stimme war ganz ruhig; mechanisch that sie, was der Augenblick erheischte. Die Form, die der letzte, einzige Grundsatz des Assessors war, hatte ihr Recht. Er plauderte eifrig, während Dora das Eis herumreichte und die Mädchen sich die heißen Wangen fächelten, ja er schien dabei von einer Unbefangenheit, um die ihn ein Schauspieler hätte beneiden können.

„Welches Glück, daß Sie endlich kommen, meine Damen! Frau Generalin Halden hat Fränlein Herwald und mich hier zurückgelassen als Hüter – nicht für das himmlische Feuer, sondern für dieses himmlische Eis, und wir mußten trostlos mit ansehen, wie das uns anvertraute Gut vor unseren Augen zerrann.“

Wie der leichte Ton Dora wehthat, wie er ihr ins Herz schnitt! Sie war noch in dem Alter, in dem man einen wehmüthigen Genuß darin finden kann, einen großen Schmerz zu ertragen; sie würde nach der ersten Enttäuschung den Opfermuth der Entsagung sich errungen haben, wenn Emil gleich ihr ergriffen gewesen wäre von der Tragik dieser Stunde. Aber daß er den Traum ihres Glückes auf diese Weise begraben konnte, das erfüllte sie mit Entsetzen. Sie durchschaute ihn ja nicht ganz. Keine Sekunde kam es ihr in den Sinn, daß die veränderte Stellung ihres Vaters sein Verhalten beeinflußt habe. Aber sie hörte sein Lachen und Scherzen. Das also war die Liebe! Ihr schauderte. Man konnte sich hingeben so heiß, als wäre die ganze Seele dabei, und dann ruhig von Trennung reden und sich gleichgültig ins Gesicht schauen, als sei nichts geschehen! Das konnte er! Wer aber nahm ihr jene Erinnerung fort an den Kuß, der auf ihren Lippen gebrannt und eine ruhelose Sehnsucht in ihr aufgewühlt hatte? O, das war unvergeßlich, unauslöschbar!

Nach einer Weile kam die Generalin angefahren und drückte ihr Bedauern aus, daß sie nur zurückgeeilt sei, um ihre lieben Besucher zum Aufbruch zu mahnen; aber ein schweres Gewitter drohe im Westen, es sei höchste Zeit, sich zu flüchten.

Eine bleierne Luft lag athemraubend über den Straßen, durch die der Staub wirbelte, während die Schwalben unruhig über den Boden hinschossen. Als man über den Marktplatz schritt, fuhr eine grelle Feuergarbe durch die düsteren Wolkenmassen; ein gewaltiger Donnerschlag folgte. Und Dora sah mit todestraurigen Augen in die jagenden Wolken und flehte: „Triff mich, Blitz! Nimm mich fort von der häßlichen Welt!“ Aber der Tod kommt nicht in der Stunde, in der eine verzweifelte Seele nach ihm ruft.

Hastig nahm man Abschied. Im Flammenschein der Blitze sah Dora zum letzten Mal in Emils Gesicht. Sie begriff nicht, daß er ihr die Hand reichen, den höflichen Wunsch aussprechen konnte, daß sie sich nicht erkälten möge. Ihr klang es wie Hohn, und in dem zuckenden Licht erschienen ihr seine Züge plötzlich hart und gefühllos. Sie sah den wirklicheu Menschen hervorschauen aus der Idealgestalt, die ihre Phantasie sich von ihm geschaffen hatte. Aber nur einen Augenblick. Der grelle Schein verschwand, und der sich erhebende Wind verschlang fast sein letztes leises „Leben Sie wohl!“


Dann sahen sie sich lange nicht wieder.

Einige Tage nach jener Abschiedsstunde reiste Dora mit ihren Eltern zum Sommeraufenthalt in ein kleines einsames Gebirgsdorf. Aber trotz Sonnenschein und Bergluft lag um sie her die graue Wüste. Dora gehörte nicht zu den Naturen, die vergessen können. Sie wußte, daß Emils Bild einen unverrückbaren Platz in ihrem Herzen behalten werde, aber ohne Glanz, von Schatten bedeckt – zu ihrer Qual. Sie glaubte nicht mehr an die Zukunft, sie konnte nicht mehr hoffen; das Leben widerte sie an. Die Schwestern ärgerten sich über ihr Schweigen, die Eltern rügten ihre verschlossene düstere Miene.

Eines Abends saß die Familie im Freien unter dem leuchtenden Sternenhimmel, den ein leiser geheimnißvoller Duft umspann, hier und da durchleuchtet von einem fallenden Funken, als wanderten die fernen blitzenden Räthsel zur Erde nieder. Es flüsterte und raunte so geheimnißvoll, als müßte alle Sehnsucht, die Menschenherzen je bewegte, wieder erwachen.

Im Nachbarhause saßen ein paar Bauernburschen beim Klang einer Zither zusammen, und eine kecke jugendliche Stimme sang zu dem wehmüthigen Ton der Saiten:

„Aus dem Wald kim i füri,
Wo d’ Sonn’ so hell scheint,
Und mei Schatz is mir lieba
Als all’ meine Freund’,

Als all meine Freund’
Und als all ihr Geld,
Mei Schatz is mir lieba
Als all’s auf der Welt.

Und eh’ i mei Diandl laß,
Eh’ laß i all’s,
Mei Strümpf und mei Schuh’
Und mei Tüchl am Hals.“

Die schlichten Worte trafen Dora so tief, daß sie zum ersten Male Thränen fand für ihren Schmerz und plötzlich laut zu schluchzen begann. Ihr Vater, der seit seiner Entlassung aus dem Dienste des Königs in gereizter Stimmung war und sich erst wieder an das stille Familienleben, dem er lange entfremdet gewesen, gewöhnen mußte, fuhr heftig auf.

„Deine Launen sind unausstehlich! Eine rechte Freude, die ich an meinen Kindern erlebe! Nicht genug, daß der Sohn einen schlechte Streich nach dem andern macht, gewöhnt sich auch das Fräulein Tochter noch an, mit einer Miene umherzuwandeln, als wäre sie mit der ganzen Welt im Krieg. Ich möchte doch wissen, warum! Worüber hast Du Dich zu beklagen? Millionen Menschen würden Gott danken für ein Leben wie das Deinige. Da müht man sich und sorgt Tag und Nacht für seine Kinder und opfert sich für sie – und das ist der Lohn!“

Ein tiefes Schweigen herrschte am Familientische nach diesen Worten. Die Mutter warf der Tochter einen vorwurfsvollen Blick zu, die Schwestern sahen sie groß an, der Bruder kicherte voll Schadenfreude, daß sich das Gewitter einmal über ein anderes Haupt als das seinige entladen hatte.

Ueber Dora kam der Trotz. Sie stand auf und ging, ohne ein Wort zu erwidern, in ihr Stübchen, das sie hier auf dem Lande allein bewohnte. So lange hatte sie schweigend gelitten; jetzt erst, wo ihr der Schmerz, der einmal sein Recht wollte, angerechnet wurde wie ein Verbrechen, jetzt erst fühlte sie, wie vereinsamt sie war. Wie wenig die Ihrigen mit ihr empfanden! Mußte es einem Menschen denn genügen, sich täglich satt zu essen? War ihr Vater nicht auch einmal jung gewesen? Hatte er nicht erfahren, daß es bittere Kränkungen und Enttäuschungen giebt, auch ohne Lebenssorgen? Lange schaute sie in die weiten Welten, die am Nachthimmel erglänzten. War denn der Mensch festgebunden an eine winzige Scholle? War nicht auch die Erde groß genug, um auf ihr die Füße zu regen?

Am nächsten Morgen trat sie mit blassem Gesicht an den Frühstückstisch und sagte, den Vater fest anblickend, die Worte, die sie sich in der Nacht zurechtgelegt hatte: „Ich will Dir Deine Mühe um uns erleichtern, Papa. Du hast selbst gewollt, daß ich das Lehrerinnenexamen machte. Wenn Du es mir erlaubst, [736] werde ich eine Stelle als Gesellschafterin oder Erzieherin annehmen. Ich habe das Verlangen nach einer bestimmten Thätigkeit.“

„Was fällt Dir ein?“ rief die Mutter bestürzt. „Was sind das für überspannte Ideen!“

Der Vater aber, von ihrem blassen traurigen Gesicht wie von einem Vorwurf berührt, bemerkte ärgerlich: „Sie soll ihren Willen haben! Ja, thu das, Dora! Sieh Dir einmal die Welt an! Probier’, was es heißt, an fremdem Tisch und unter fremdem Willen zu leben. Das ist die vernünftigste Kur für Deine Launen. Du wirst gerne wieder heimkommen und dann froh sein am Elternhaus.“

Dora ließ sich von ihren Schwestern deren französische und englische Lehrbücher geben und saß nun stundenlaug im stillen Obstgarten und wiederholte die trockenen Sprachregeln. Das Lernen war ihr wie eine Befreiung. Sie wollte jeden anderen Gedanken in sich ersticken, ihren schmerzenden Kopf so mit Wissen vollpfropfen, daß kein Raum mehr blieb für thörichte Sehnsucht.

Nach der Rückkehr in die Stadt begann sie sich mit Eifer um eine Stelle zu bemühen, und die erste, die sich ihr bot, nahm sie an. Eine ältere, einzelnstehende Dame in einer kleineren Stadt der Provinz suchte eine Gesellschafterin, die musikalisch war und ihr in fremden Sprachen vorlesen konnte. Diesen Anforderungen glaubte Dora zu genügen, und wenn ihr auch eine weitere Entfernung und der Aufenthalt in einer Großstadt wünschenswerther gewesen wäre, so wollte sie doch nicht lange zögern und wählen. Die Hauptsache war ja, fortzukommen, fort aus den heimathlichen Straßen, in denen sie auf Schritt und Tritt Gefahr lief, Emil wieder zu begegnen. Sie erfuhr auch wenig Liebe mehr im Elternhause. Ihr Entschluß hatte sie selbst der Mutter entfremdet.

Die Abreise, die erste einsame Eisenbahnfahrt, die Ankunft an einem neuen Ort, unter ganz neuen Verhältnissen – alles das war nun freilich ein Ereigniß, das ihr junges Gemüth aufregte und ihre Gedanken ablenkte. Aber sie erschrak vor der Dame, deren Heim sie theilen sollte. Die Appellrathswitwe von Heinel war eine groteske Erscheinung. Auf einem winzigen kugelrunden Körper mit kurzen Aermchen und Beinchen saß ein großer Kopf mit einem mächtig entwickelten Doppelkinn, dessen Fülle noch auffälliger wurde, weil Stirne und Augen von einem grünen Lichtschirm verdeckt waren. Aber die Stimme klang gutmüthig, und die alte Dame war offenbar bei der Begegnung mit der neuen Hausgenossin nicht weniger in Erregung und Spannung wie diese selbst.

Die liebevolle Güte, mit der Frau von Heinel Dora aufnahm, bewahrte diese vor der großen Reue über ihren Entschluß, von der sie sonst sicherlich erfaßt worden wäre. Wie so manches andere junge Mädchen hatte Dora geglaubt, in der Ferne sei die „Welt“, die große Welt, die ihr sofort einen bedeutenden Wirkungskreis erschließen werde. Und nun mußte sie erfahren, daß das, was sie „Welt“ genannt hatte, immer in der weiten Ferne blieb wie der Horizont, der ewig vor den Augen fortrückt; daß ihr Wirkungskreis sich gerade wie daheim aus kleinen alltäglichen Pflichten zusammensetzte.

Es war für jemand, der seinen Gedanken entfliehen wollte, unerträglich einförmig im Haushalt der Witwe. Der Tageslauf wurde nach der Uhr geordnet. Zur bestimmten Stunde mußte Dora etwas vorspielen, zur festgesetzten Minute aus einem altmodischem rührseligen Roman vorlesen. Darauf legte die Dame ihre Patience und Dora saß bei ihr und sah die kleinen dicken Hände die Karten drehen und wenden, und die Uhr tickte so langsam, als seien die Sekunden plötzlich dreimal so lange geworden. Am Abend pflegten sich hier und da Besuche einzufinden, meist Damen, die eifrig von allen Geschehnissen der kleinen Stadt berichteten. Denn die Witwe, die ihr Leben in ihren Zimmern, auf ihrem Lehnstuhl zubrachte. interessierte sich aufs lebhafteste für alle Angelegenheiten der „besseren“ Familien, und eine wirkliche Neuigkeit war ein Fest für sie.

Dora hatte viel Kraft nöthig, um die erschlaffende Langeweile zu ertragen. Frau von Heinel hatte mit wohlwollender Neugierde herausgebracht, daß ein Liebeskummer das junge Mädchen aus der Heimath fortgeführt habe, und tröstete Dora getreulich. Es würde gewiß alles noch gut werden; sie selbst habe auch manche Thräne vergossen, bis sie mit ihrem seligen Leopold vor dem Altar gestanden habe. Während dann Dora immer wieder das Unfaßliche zu begreifen suchte, daß die dicke kleine Frau auch einmal jung und geliebt gewesen sei, hatte diese schon die Karten aufgelegt, um das Schicksal ihrer Gesellschafterin heraszulesen, und prophezeite mit unermüdlicher Geduld und unerschütterlichem Vertrauen ein großes Glück, vor allem einen wichtigen Brief, „der ins Haus stehe“.

Em Brief kam nun allerdiugs an Dora, aber er wühlte nur ihre schmerzlichsten Erinnerungen auf. Die Generalin Halden schrieb ihr in flüchtigem Plauderton unter anderen Mittheilungen: ihr gemeinschaftlicher Bekannter, der Assessor Wienburg, mache der Tochter des Ministerialraths von Kammerling aufs lebhafteste den Hof. Vielleicht lag in dieser Bemerkung eine kleine Bosheit versteckt, deren ja auch befreundete Frauen gegeneinander fähig sind, wenn es sich um einen Mann handelt. Jedenfalls aber ahnte die Generalin nicht, wie der kurze Satz die Stimmung der Armen, die ohnedies ihr Dasein von Woche zu Woche schwerer fand, bis zur Verzweiflung verbitterte. Dora war entschlossen, ihre Stellung zu kündigen und noch weiter in die Fremde zu wandern, so weit, daß Emils Name nicht wieder zu ihr dringen konnte.

Da nahm ein kleiner Zwischenfall ihre Gedanken in Anspruch und nöthigte sie zum Bleiben. Einmal in der Woche pflegten sich bei Frau von Heinel auch ein paar Herren zum Whistspiel einzufinden; Dora hatte dann den Thee zu bereiten und den Herrn Bergrath, den Herrn Rektor und den Herrn Rentamtmann damit zu versorgen. Sie hatte dieses Amt schon einige Male versehen. Als sie nun wieder einmal dem Bergrath seine Tasse reichte, fuhr er wie verblüfft vor ihr zurück, schob die Brillengläser zurecht und rief mit erregter Stimme: „Meine Germania! Meine endlich gefundene Germania!“

Dabei starrte er sie mit so weit geöffneten Augen an, sein schmales Gesicht mit der scharfen Nase, der hohen Stirn und dem kahlen Scheitel bot einen so ungeheuerlichen Anblick, daß Dora zwischen Lachen und Schrecken kämpfte und nicht wußte, ob der Mann aus plötzlichem Liebeswahnsinn oder aus einem noch ungewöhnlicheren Grund den Verstand verloren habe. Erst allmählich erholte er sich genügend von seiner freudigen Ueberraschung, um ihr in einer langen Rede zu erklären, daß man demnächst den Besuch des Ministers erwarte, der auf seiner Durchreise in der Stadt absteigen und sich einen Tag aufhalten werde, zur Besichtigung des neuen Archivs. Ein Ausschuß habe sich gebildet, um die hohe Persönlichkeit gebührend zu feiern. Vor dem Bankett im Rathhause an dem sämtliche Honoratioren mit ihren Frauen theilnehmen würden, sollte ein kurzes Festgedicht gesprochen werden. Er – der Bergrath lächelte stolz bescheiden – sei beauftragt worden, für diese Gelegenheit die Verse zu liefern, da man seine kleine poetische Ader kenne, und im Hinblick auf die bekannten patriotischen Gesinnungen des Ministers habe er seine Dichtung einer „Germania“ in den Mund gelegt. Umsonst aber suche man seit Wochen nach einer passenden Vertreterin für diese Rolle. Nun habe er sie gefunden, schöner, herrlicher, als seine kühnsten Träume sie ihm ausgemalt hätten. Ein Eichenlaubkranz für das goldene Haar, ein weiches faltiges Gewand, von einem goldenen Gürtel gehalten – entzückend! Seine Verse würden hinreißen, von solchem Munde gesprochen! Ob sie ihm den Gefallen erweisen würde?

Sie erwiderte ausweichend, aber Frau von Heinel klatschte ungeduldig in die kleinen Hände und rief, Dorn müsse dem Bergrath den Gefallen unter allen Umständen erweisen, und die Sache sei einfach abgemacht. Dora sträubte sich nicht länger. Freilich mußte sie sich gestehen, daß sie ein entschiedenes „Nein!“ zur Antwort erhalten würde, wenn sie die Erlaubniß ihrer Eltern einholen wollte; allein in einem gewissen Trotze, den sie noch immer hegte, beschloß sie, selbständig zu handeln und über das Fest den Eltern gegenüber zu schweigen.

Die Verse des Bergraths hatte sie rasch ihrem Gedächtniß eingeprägt und sie verlor die Geduld nicht, wenn der von seinem Machwerk begeisterte Dichter immer aufs neue eine Wiederholung wünschte, Frau von Heinel nahm mit der größten Aufregung an der Sache Theil und wunderte sich, daß das junge Mädchen mit so gleichgültiger Ruhe das Gewand der „Germania“ anprobierte, ohne Freude über die eigene Schönheit oder ein Bangen vor dem öffentlichen Auftreten zu verrathen.

An dem Tag, an dem der Minister des Innern, Freiherr von Telf, ankam, waren alle Häuser beflaggt, die Leute liefen vom frühen Morgen an feiernd umher, eine allgemeine Feststimmung herrschte. Erst am Abende fand die eigentliche Begrüßung statt, [738] in einem Saale des Rathhauses, in dem sich die Menschen Kopf an Kopf drängten.

Dora konnte sich doch einer gewissen Beklemmung nicht erwehren, als sie, von dem Bergrath begleitet, auf einer Seitentreppe das kleine Vorzimmer erreicht hatte, von dem aus sie das Podium betreten mußte, und das Schwirren und Gemurmel der großen Versammlung vernahm, vor der sie in wenigen Augenblicken erscheinen sollte. Wie im Traum sah sie in dem hohen Pfeilerspiegel ihr eigenes Bild. War sie wirklich dieses stolze königliche Weib mit dem wallenden Mantel, über den das Haar leuchtend herabfloß, diese gebietende Erscheinung mit dem ernsten Haupt, das so hoch und kühn erschien unter dem goldenen Stirnband und dem Eichenlaubkranz?

Ein Rauschen und Flüstern im Saal, ein Stühlerücken, dann eine Stille. Der Minister war eingetreten.

„Muth!“ flüsterte ihr der Bergrath zu, während sie die Stufen zu dem Podium emporstieg.

Die Musik begann, der Vorhang theilte sich. Hunderte von Augen waren auf sie gerichtet. Aber in diesem Augenblick fühlte sie keine Befangenheit mehr. Laut und kräftig klang ihre Stimme in dem tiefen Schweigen. Wie durch eine fremde Macht dünkte sich Dora emporgehoben über alle Scheu, durchströmt von feuriger Begeisterung. Deutlich sah sie nur ein einziges Gesicht, ein fremdes, ernstes – ein Paar trauriger gütiger Augen, die unverwandt zu ihr aufblickten.

Sie fühlte noch ein Brausen in den Ohren, eine Fiebergluth in den Adern, als längst der Vorhang sich geschlossen hatte und draußen die Stimme eines Redners sich erhob, auf die ein lautes Hochrufen folgte. Sie stand allein in dem kühlen Vorzimmer und wollte eben den Kranz aus dem Haar nehmen, als man an die Thür klopfte.

„Seine Excellenz wünscht der ‚Germania‘ vorgestellt zu werden.“

Sie wußte, als die Tochter eines Beamten, daß der Wunsch eines Ministers einem Befehle gleichkomme – sonst würde sie sich lieber nicht im Kostüm in den Saal gewagt haben. So aber nahm sie ohne Widerrede den Arm des sehr erregten jungen Mannes, der die Botschaft gebracht hatte und als Mitglied des Festausschusses einen Blick des Ministers auf sich zu lenken hoffte. In der nächsten Minute stand sie, sich verneigend, vor der gefeierten Persönlichkeit. An gewöhnlichen Tagen hätte sie vielleicht ein leises Herzklopfen verspürt – in dem sanften Taumel, in dem sie sich jetzt befand, fühlte sie eine vollkommene Sicherheit. Als sie in das Gesicht des Ministers blickte, erkannte sie dieselben Züge, die sich ihr während ihres Vortrags klar und scharf aus dem Menschenknäuel hervorgehoben hatten. Also jene gütigen traurigen Augen waren die seinigen gewesen!

Der Minister war ein sehr großer Mann mit leise nach vorn gebeugter Gestalt. Der spitz zugeschnittene Vollbart, der sein gedankenvolles Gesicht umrahmte, war schon mit grauen Fäden durchzogen; um den edelgeformten Mund lag ein sympathischer Zug. Dora hatte sich die Excellenz viel stolzer und herablassender gedacht. Statt dessen schien der Freiherr eher schüchtern und befangen, als er ihr nun seine Freude, seinen Dank ausdrückte für ihre schöne Verkörperung der deutschen Idealgestalt.

Sie wollte sich nach einigen wohlgesetzten höflichen Redensarten mit einer Verbeugung zurückziehen, denn einer der Herren hatte sich dem Minister genähert und forderte seine Aufmerksamkeit. Allein sie vermochte den Kreis, der sich um die Excellenz gebildet hatte, nicht zu durchdringen und konnte nur ein paar Schritte zurückweichen.

Gleich darauf wurden die großen Thüren des anstoßenden Saales geöffnet, man blickte auf die lichtübergossene, von Krystall und Silber funkelnde Tafel, die hier gedeckt war. Das größere Publikum hatt sich zurückgezogen; nur der Festausschuß, die Beamten und Offiziere, die an dem Bankett theilnahmen, standen mit ihren Damen in großer Toilette umher und harrten auf den Vortritt des Ministers. Dieser schaute sich um, trat mit einem Lächeln auf Dora zu und sagte, ihr seinen Arm bietend: „Ich brauche nicht nach der höchsten Würdenträgerin zu suchen; Germania hat den Vorrang vor allen deutschen Frauen!“

Schüchtern legte Dora die Hand auf seinen Arm und senkte die Augen, als sie nun, von ihm geführt, durch die Reihen der ehrerbietig zurückweichenden Herren und Damen schritt. Sie fühlte, daß alle Blicke auf sie geheftet waren, daß auf allen Gesichtern die Frage zu lesen stand: „Was will das Mädchen hier, die Gesellschafterin? Warum ihr diese Auszeichnung?“ Es war ihr scheu und beklommen zu Muthe, als sie in ihrem phantastischen Gewand mitten unter den Gesellschaftstoiletten der anderen Damen, unter den schwarzen Fräcken und bunten Uniformen an der Seite des Ministers Platz nehmen mußte. Doch wie er nun mit seiner freundlichen Stimme, mit seinem wohlwollenden Lächeln das Wort an sie richtete, da fand sie ihre Haltung wieder. Sie ließ sich gelassen von der entrüsteten, durch sie verdrängten Bürgermeisterin anstarren und hielt den Augen stand, die sie mit süßsaurer Miene betrachteten. Eine große milde Ruhe schien von dem ernsten Manne an ihrer Seite auf sie überzuströmen. Voll Interesse fragte er nach ihrer Heimath, nach ihrer Familie.

„Otto Herwald ist Ihr Vater, der frühere Kabinettsekretär? Ich kenne ihn schon von der Zeit her, da ich noch Rechtspraktikant war und Ihr Herr Vater mein Vorgesetzter. Damals hatte er noch blondes üppiges Haar – wie Sie, mein Fräulein! Und Sie haben auch seinen freien Wuchs und seine klare Gesichtsfarbe. Die ernsten blauen Augen dagegen müssen wohl ein Geschenk Ihrer Mutter sein.“

Sie plauderte bald mit unbefangener Lebhaftigkeit und freute sich, daß das Gespräch so mühelos und ungezwungen zwischen ihnen dahinfloß. Nur zuweilen schien es ihr, als bemächtige sich seiner eine plötzliche Zerstreutheit; wie gedankenverloren schaute er sie dann an und antwortete wie abwesend: „Ja, ja, gewiß – in der That!“ Dann brach sie erröthend mitten im Satze ab und fürchtete, ihn gelangweilt zu haben. Aber er besann sich sofort und bat: „O bitte, fahren Sie fort! Ich höre! Ich höre Ihnen so gerne zu.“

Nun begannen die Festreden. Ein leiser Seufzer entfuhr dem Munde des Freiherrn. Er senkte die Augen und blickte unverwandt auf die Mädchenhand, die neben ihm auf dem Tischtuche lag, während ein blasser Mensch mit Schweißtropfen auf der Stirne seine mühsam eingelernten Sätze herauswürgte. Es war eine lange Qual für den Redner und die Hörer, und Dora athmete befreit auf, als endlich das „Hoch“ auf die Excellenz von allen Lippen erklang. Ihr Tischnachbar neigte sein Glas zu dem ihrigen und sah ihr dabei tief und seltsam in die Augen.

Als er darauf sich erhob und seine Stimme durch den lautlos gewordenen Saal tönte, da wußte sie, daß er ein Recht hatte, an Rang und Ansehen über die anderen emporzuragen. Wie beredt ihm die Worte von den Lippen flossen; wie klar und einfach sich ihm die Sätze rundeten, die soviel mehr sagten als die weitschweifigen Phrasen, mit denen er gefeiert worden war! Sie war ordentlich stolz, daß dieser Mann, hinter dessen Stirn so tiefe Gedanken wohnten, ihrem schlichten Geplauder seine freundliche Aufmerksamkeit geliehen hatte.

Der Minister blieb liebenswürdig gegen seine Tischnachbarin bis zuletzt und dankte ihr endlich ganz bescheiden für den schönen Abend, den ihre Gesellschaft ihm bereitet habe. Dora nahm die Auszeichnung, die er ihr hatte angedeihen lassen, harmlos hin als das Wohlwollen eines älteren Mannes für die Jugend, als eine Huldigung, die mehr ihrer Rolle denn ihr selbst galt. Kein Mißklang, keine Unruhe störte ihr frohes Selbstgefühl, als sie in Begleitung des Bergrathes und seiner Frau den Saal verließ und auf dem Heimweg die begeisterten Dankesworte des glücklichen Dichters entgegennahm, der von Wonne strahlte über die hohe Gnade, die sich, dank der schönen „Germania“, auch über ihn ergossen hatte.

Frau von Heinel verlor alle Fassung, als sie hörte, der Minister habe ihre Gesellschafterin zu Tisch geführt. Sie wußte, welch tiefe Kränkung damit verschiedenen Damen zugefügt worden war, die um diese Ehre gegeizt und sich im Wettkampf um dieselbe schon im voraus verfeindet hatten.

„Armes Kind!“ rief sie, immer wieder den Kopf schüttelnd, „diese Auszeichnung wird böses Blut machen, sehr böses Blut! Ich kann auch nur die eine Erklärung finden: der Herr Minister muß sich in Sie verliebt haben, Dora, sonst hätte er nicht so gegen alles Herkommen gehandelt.“

Dora lächelte über den Haß der Damen wie über die Erklärungsversuche der Räthin; am allerdrolligsten aber erschien es ihr, daß diese nun eine gewisse Hochachtung und Ehrerbietung gegen sie an den Tag legte, als wäre von der Person des Ministers ein Goldglanz an ihr hängen geblieben.

[752] Die Zeitung brachte eine ausführliche Schilderung über den Empfang des Ministers, in der auch Doras Name genannt wurde, und diese fürchtete sich ein wenig vor dem nächsten Briefe von zu Hause, wo auf diese Weise ihr Auftreten bekannt werden konnte. Zu ihrer peinlichen Ueberraschung erhielt sie auch nach etwa einer Woche eine Karte, auf der ihr Vater schrieb, er sei eben mit dem Morgenzug angekommen und im Bahnhofhotel abgestiegen; er habe mit ihr zu sprechen und werde sie um zwölf Uhr besuchen. Für den Fall, daß in dem fremden Hause eine Unterredung unmöglich wäre, erbitte er sich Nachricht, wann sie ihn im Gasthof aufsuchen könne.

Das klang nicht sehr vertrauenerweckend; ihr Vater mußte sehr entrüstet über ihr öffentliches Hervortreten sein, da er persönlich zu ihr kam. Sie zog es vor, ihn in ihrem Stübchen zu erwarten; aber je näher die Mittagsstunde kam, desto banger wurde ihr zu Muth, und ihr Herz klopfte heftig, als endlich ihr Vater bei ihr eintrat. Dennoch that es ihr wohl, seine Stimme wieder zu hören; sie wäre ihm gern an den Hals geflogen. Aber Herwald hatte seinen Kindern stets fremd gegenübergestanden, so wagte sie auch in der Fremde nicht, eine wärmere Zärtlichkeit zu zeigen.

Zu ihrer Ueberraschung erkundigte er sich freundlich nach ihrem Befinden und sah ihr dabei forschend ins Gesicht, als fürchtete er, daß ihre Gesundheit gelitten haben könnte. „Warum schriebst Du uns kein Wort von Deinem Auftreten und von der Auszeichnung, die der Minister Dir zu theil werden ließ?“ fragte er dann, sich neben ihr niederlassend.

Sie war froh, daß er ohne lange Einleitung diesen Gegenstand berührte, und staunte nur, daß seine Stimme dabei so ruhig blieb. Jetzt lächelte er sogar! Sie kannte ihren Vater gar nicht wieder.

„Ich fürchtete, Ihr würdet zanken. Aber ich bin so gedrängt worden –“

„Nun, die Mama war über Dein Schweigen etwas gekränkt,“ unterchrach er sie mit einer gewissen Ungeduld, wieder zum Wort zu kommen: „In Deinem letzten Brief stand ja keine Silbe über die Festlichkeit. Weißt Du, wer mir zuerst von der Sache gesprochen hat? Der Minister selbst.“ Er hatte ihre Hand ergriffen und streichelte sie, was er noch nie gethan hatte.

Dora war glücklich über dieses liebevolle Entgegenkommen. Sie fühlte, wie ihr die Augen feucht wurden; zum ersten Mal, seit sie von Hause entfernt war, ergriff sie das Heimweh. Bisher hatte sie in ihrer Familie einen gewissen Unmuth gegen sich vorausgesetzt; nun schien es doch, als werde sie nirgends besser geliebt, als habe die Entfernung selbst den strengen Vater weicher gegen sie gestimmt.

„Ja, mit begeisterten Worten hat mir der Minister von Dir gesprochen, Dora. Und kurz und gut, ich will es Dir ohne Umschweife sagen: um seinetwillen bin ich hier! Er bittet durch mich um Deine Hand.“

Dora sprang empor, bleich, erschrocken. „Aber – aber Papa, er ist doch so viel älter als ich – und ich kenne ihn kaum!“

„Ich meine, daß heutzutage jedes Mädchen sich glücklich schätzen darf, einen ernsten zuverlässigen Mann an der Seite zu haben. Was willst Du denn? Freiherr von Telf ist in den besten Jahren. Er war lange verwitwet, hat lange nicht mehr das Glück gehabt, ein rechtes Heim zu besitzen. Welch bessere Aufgabe kann sich ein Mädchen wünschen, als einem Manne, der wie Telf seine Zeit, sein Leben dem Vaterland opfert, das Dasein zu verschönern?“

Dora hörte nicht mehr, was ihr Vater sprach. Sie rief sich die gütigen Augen des Mannes zurück, sie suchte sich an die friedliche, vertrauensvolle Stimmung zu erinnern, die sie in seiner Nähe empfunden hatte – aber dabei war es ihr doch, als hätte der Herbst für sie begonnen und in einem versteckten Winkel ihres Herzens sei noch eine Hoffnung wach auf den vollen Frühling; als sollte ihr heimlicher scheuer Wunsch nach Glück nun ganz vernichtet werden.

Noch immer stand sie blaß und stumm vor dem Vater. Sein Gesicht ward finster. Ihm hatte die Werbung des Ministers seit seiner Entlassung aus dem Dienste des Königs die erste freudige Stunde gebracht. Dora hatte auf einmal seine Achtung gewonnen seit sie die Gattin des Mannes werden sollte, dem sich Herwald wohl eine Zeitlang gleichberechtigt an die Seite gestellt hatte, der ihn aber jetzt wieder weit überragte. Ein heißer Zorn erfaßte ihn, wenn er an die Möglichkeit dachte, daß sein Ehrgeiz an Mädchengrillen scheitern könnte, die zum ersten Mal für ihn eine ernste Bedeutung gewannen. Aber er mußte seinen Unmuth unterdrücken; er durfte Dora nicht zum Widerstand reizen; sie hatte ja bewiesen, welch ein Starrkopf sie war. Darum versuchte er es mit schmeichelndem Zureden.

„Dora, ich habe Dich immer für ein kluges Mädchen gehalten, das ein Stück meines Charakters geerbt hat. Mir aber hat das Herrschen stets besser zugesagt als das Dienen. Mache Dir doch einmal Deine zukünftige Stellung an der Seite des Ministers klar! Wie werden sich alle die Herren Räthe und Assessoren vor der Excellenz von Telf verneigen, wie werden die Damen Dich [754] beneiden, welche Rolle kannst Du in der glänzenden Gesellschaft spielen, die sich in dem Palais in der Parkstraße versammeln wird!“

Es schien fast, als habe der Vater mit seinen Worten den richtigen Punkt getroffen, denn eine plötzliche Röthe überzog die bleichen Wangen seiner Tochter; herausfordernd hob sie den Kopf, ihre Augen blitzten wie im Triumph, und um ihre Lippen zuckte ein ihr sonst fremder hochmüthiger Ausdruck. Ein Gedanke hatte mit einem Male das Dunkel vor ihr mit grellem Licht durchzuckt – der Freiherr von Telf, er war ja Emils Minister! Seltsam, daß ihr dieser Zusammenhang nicht sofort klar geworden war! Nun weckte diese Gewißheit einen Sturm in ihrer Seele, nun jagten sich in ihrem Kopfe die Bilder. O, er sollte sich vor ihr verneigen, der Herr Assessor Wienburg! Er sollte die Macht fühlen, welche die Gattin seines höchsten Vorgesetzten in Händen hielt! Da winkte ihr Genugthuung, Glück – das einzige Glück, das ihr noch werden konnte!

„Nicht wahr, Dora“ begann ihr Vater wieder, durch die Verwandlung in ihren Zügen sehr erleichtert, „Du hast überlegt und siehst ein, daß ich gute Nachricht brachte? Und Deine Antwort?“

„Ich will den Minister heirathen, Vater!“ Ihre Stimme klang hart, aus ihrem Gesicht war alle Weichheit verschwunden. Sie blieb auch ruhig und gemessen, als der Vater sie jetzt stürmisch an sich zog. Ihr war, als habe sie ihrem Herzen das Todesurtheil gesprochen und müsse nun lernen, kühl, unnahbar, stolz zu werden und nie wieder ein warmes Gefühl zu verrathen.

Ihr Vater eilte sofort zum Telegraphenamt, um dem Minister die Einwilligung seiner Tochter mitzutheilen. Zwei Stunden später kam die Antwort. „Dora, meine liebe Braut – ich danke Ihnen in tiefem Glück! Ihr Bernhard.“

Das Mädchen blickte mit ernstem traurigen Gesicht auf das Blatt. „Bernhard“ hieß er. Sie. hatte ihm ihr Wort gegeben, ohne seinen Vornamen zu wissen! Es schien ihr ganz unglaublich, daß sie ihn jemals mit diesem Namen nennen, daß er je aufhören würde, für sie etwas anderes als der „Herr Minister“ zu sein.

Frau von Heinel wurde durch die Nachricht von dieser Verlobung in förmliche Ekstase versetzt. Die Karten hatten wieder einmal recht gehabt und das große Glück vorhergesagt! Und dann, welcher Genuß, ihren Bekannten eine Neuigkeit mitzutheilen, die sich wahrlich nicht alle Tage ereignete: ihre Gesellschafterin die Frau eines Ministers! Die Freude über diesen Gesprächsstoff tröstete die Witwe sogar einigermaßen über Doras rasches Scheiden. Denn der Freiherr bat dringend um die Rückkehr seiner Braut. Er sei in den Jahren, schrieb er, da man schon geize mit jeder sonnigen Stunde und einen Aufschub des Glücks nicht zu ertragen vermöge. Da er die Hauptstadt nicht verlassen konnte, hatte er den Verlobungsring mit einem Brief voll der wärmsten Worte seiner Braut zugeschickt. Er schien ganz zu vergessen, wie viel auch er seiner künftigen Gattin zu bieten habe; er sprach nur von dem unverdienten Glück, das ihm zu theil werde durch ihre Jugend, ihren Liebreiz.

Das sichere Bewußtsein seiner tiefen Neigung hätte Dora mit Vertrauen auf die Zukunft durchdringen müssen. Aber gerade vor der großen Güte, die aus seinen Zeilen sprach, beschlich sie ein Bangen, das Gefühl einer Verantwortung, die sie fast erdrückte.

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Drei Monate waren seitdem vergangen. Dora kam mit ihrem Gatten von der Hochzeitsreise zurück. Sie hatten an der Riviera, an all den Plätzen geweilt, an denen trotz der frühen, fast winterlichen Jahreszeit blauer Himmel und Sonne zu erhoffen gewesen war. Mit staunenden dankbaren Augen hatte Dora, die bisher über ihre Heimat nicht hinausgekommen war, die Schönheit dieser Welt bewundert. Nun aber brachte ihr die Heimkehr nach all dem Neuen, nach dem stürmischen Umschwung, den ihr Leben erfahren hatte, eine große Stille, in der sie sich erst auf sich selbst besinnen konnte. Noch immer schien es ihr wie ein Traum, daß sie plötzlich in eine Persönlichkeit verwandelt worden war, der man mit Ehrerbietung begegnete, mit der selbst die Eltern, die alten Freundinnen in einem veränderten Tone sprachen. Wenn sie durch die hohen Zimmer ihrer Wohnung schritt, so war es ihr stets, als sei sie eine Fremde, die hier nur Gastfreundschaft genieße, und ihre neue Würde wie ihr Besitz dünkten ihr nur geborgt. Der selige Rausch, der eine liebende Frau in der Ehe erfaßt, hatte sie nicht ergriffen. Es blieb eine gewisse Scheu zwischen ihr und dem Gatten, und die rechte Vertraulichkeit wollte sich nicht finden lassen. Und doch liebte der Freiherr seine Gattin, liebte sie um so heißer und tiefer, als es trotz seines ergrauenden Haares der erste Herzensfrühling war, den er genoß. Zeit seines Lebens war er ein Mann der Arbeit gewesen, der schweren mühevollen Gedankenarbeit, welche die ganze Kraft für sich fordert und keine Zeit übrig läßt für persönliche Wünsche. Er war keiner von jenen Ehrgeizigen, die sich mit rücksichtsloser Energie emporkämpfen, bis sie ihr Ziel erreicht haben. Nur die Pflichttreue war es, die ihn trieb, von sich selbst wie von anderen im Berufe das Höchste zu fordern; jene Pflichttreue, die sich nie genug thut, kein Abweichen vom Wege gestattet. Dabei war er viel zu bescheiden, um einen ungewöhnlichen Lohn für seinen ungewohnlichen Eifer zu erwarten; er meinte eben nur seine Schuldigkeit zu thun.

Zum Verkehr mit Damen hatte er schon als ganz junger Mensch wenig Zeit gehabt. Seine erste Heirath war eigentlich eine That der Gutmüthigkeit gewesen. Das Mädchen war viel zu seiner Mutter gekommen und hatte der alten Frau, die keine Tochter besaß, kindliche Anhänglichkeit bewiesen. Die Mutter hatte dann ihr Möglichstes gethan, um dem Sohne die Vorzüge der stillen sanften Bertha ins beste Licht zu rücken. So war Bertha seine Frau geworden, seine treue sorgsame Gefährtin. Er hatte keinen Grund gehabt, die Wahl zu bereuen. Seine Ehe war sturmlos gewesen, freilich auch niemals von einer rechten Liebessonne durchleuchtet worden.

Seine Gattin war schon lange tot, als er die bevorzugte Stellung erlangte, welche seine Kenntnisse und seine Arbeitskraft verdienten. Gerade weil er niemals auf eine solche Würde gehofft hatte, ergriff ihn für die erste Zeit fast ein Schwindel. Dann aber trat er sicher und fest auf, denn er glaubte an sich. Ganz seinem großen Wirkungskreise sich widmend, hatte er auch als Excellenz ein still zufriedenes Leben geführt, bis beim Anblick Doras der große Wunsch nach Glück mit unabweisbarer Macht über ihn gekommen war. Zum ersten Male fand er jetzt den Muth, für sich selbst eine Forderung an das Schicksal zu stellen. Fast überwältigt von Dank, hatte er die Gewährung seiner Bitte vernommen. Er faßte es kaum, daß sich über den Abend seines Lebens so glänzender Sonnenschein ergießen sollte.

Auch als Dora seine Gattin geworden war, blickte er auf das stolze bezaubernde Frauenbild, dessen Schönheit nun ihm allein angehörte, immer noch wie auf ein holdes Wunder. Aber er schämte sich der zärtlichen Geständnisse, für die er sich zu alt vorkam! Daß er Dora liebe, schien ihm so klar erhärtet, daß es keiner Betheuerung mehr bedürfe, und er wäre sehr erstaunt gewesen, wenn man ihm gesagt hätte, daß keine Frau, auch die seinige nicht, solche Versicherungen des Gefühls entbehren wolle. Er hätte viel tyrannischer, viel selbstsüchtiger sein dürfen und er würde Doras Seele doch ganz anders beherrscht haben, wenn er ihr zugleich einen Einblick in sein Herz gestattet hätte. –

Am ersten Sonntag nach der Rückkehr sollten der jungen Excellenz die Beamten ihres Mannes vorgestellt werden und sie sollte zum ersten Mal an seinem Tische die Honneurs machen. Auf der Liste der zu dem Diner Eingeladenen hatte Dora auch den Namen Wienburg gelesen. Wie ihr Herz klopfte bei dem Gedanken an dieses Wiedersehen! Wie oft sie sich die Miene zurechtlegte, mit der sie ihn begrüßen wollte – ernst, unnahbar, mit einem fremden Lächeln, das ihm sagen mußte: ein Ocean liegt zwischen mir und Dir! Aber sie schmückte sich doch mit besonderer Aufmerksamkeit und freute sich über den vornehmen Schnitt des dunklen Atlaskleides, das mit langer Schleppe an ihr niederfloß und ihren Wuchs noch stattlicher und majestätischer als sonst erscheinen ließ.

Selten nur gestaltet sich eine oft ausgemalte, oft überdachte Stunde genau nach unserer Erwartung. Schon Emils Eintritt in Doras Empfangssaal war anders, als sie es sich vorgestellt hatte. Sie hatte geglaubt, daß er als der jüngste unter den Beamten bescheiden im Vorzimmer bleiben und warten würde, bis nach all den Würdenträgern, den Direktoren und Räthen, auch an ihn die Reihe kommen würde, vorgestellt zu werden. Stattdessen erschien er als einer der ersten; der Minister ging auf ihn zu, schüttelte ihm die Hand, und den Arm des jungen Mannes in den seinigen legend, führte er ihn zu seiner Frau.

[755] „Hier stelle ich Dir meinen jungen Hilfsarbeiter und Freund vor, Herrn Assessor Wienburg – gewissermaßen meine rechte Hand!“

Mit ganz besonderem Wohlwollen hingen die Augen des Freiherrn an den hübschen Zügen des jungen Mannes, der sich mit seinem gewinnendsten Lächeln verneigte.

„Ich habe bereits das Vergnügen gehabt,“ erwiderte Dora. Emil stand ehrerbietig vor ihr und brachte in den glattesten Worten seine Glückwünsche dar. Und nun war sie eingeschüchtert und verwirrt, nicht er; sie hatte Mühe, Gelassenheit zu zeigen. Den ersehnten stolzen Triumph über ihn empfand sie nicht.

Während der Minister sich einem neuen Gaste zuwandte, hoben sich Emils Augen plötzlich mit beredter Sprache zu Dora empor. Sie drückten tiefe Trauer aus, einen entsagungsvollen Schmerz, einen stummen Vorwurf, sie schienen zu sagen: „Ich habe mich geopfert für Dich! War es nicht gut für Dein Glück? Bist Du mir nun dankbar? Ich habe Dich geliebt und Du hast einen anderen erwählt!“

In der That hatte Emil in dieser Minute gar nicht die Empfindung, als habe er an Dora ein Unrecht verübt. Im Gegentheil. Da für seine Begriffe eine hohe beneidete Stellung das höchste Erdenglück bedeutete, so erschien er sich wirklich wie ein Großmüthiger, der mit Rücksicht auf das Glück des geliebten Mädchens eine jugendliche Liebesthorheit in der selbstlosesten Weise abgebrochen hatte. Und Doras Ehe war ihm ein Beweis, daß auch ihr jenes Gefühl nicht besonders tief gegangen, daß sie weltklug und berechnend und ehrgeizig sei wie er selbst. So war er kühn genug, zu hoffen, daß die einstige Neigung der Excellenz ihm für alle Zukunft ihr Wohlwollen sichern würde, worauf er um so mehr Gewicht legte, als er überzeugt war, die schöne junge Frau werde über ihren Gatten eine immer größere Herrschaft gewinnen.

Dora war bleich geworden in seiner Nähe. Sie hatte seit jener Trennung im Gewittersturm sein Gesicht nicht mehr gesehen und hatte geglaubt, es habe jede Macht über sie verloren, ihre Liebe sei völlig überwunden. Und nun, wie sie diese Züge, diese Augen wiedersah, da schien alles zu verblassen und zu verschwinden, was seit jenem abendlichen Heimweg im Lindenduft geschehen war. Sie fühlte deutlich das wunderbare Entzücken wieder, mit dem sie eine Sekunde lang an seiner Brust geruht hatte, und der Rausch, den sein Kuß in ihr geweckt hatte, erfaßte sie aufs neue, nur mit heißerer Sehnsucht. Sie sagte sich, daß ihre Gedanken Sünde seien, ein Verbrechen gegen das Vertrauen ihres Gatten – umsonst, die Erinnerung wich nicht. Sie mußte ihre Pflichten als Wirthin erfüllen, mußte sich verneigen und lächeln und freundlich zuhören – doch beständig verfolgte sie der angstvolle Wunsch, der aus der Tiefe ihres Herzens empordrang: „O, müßte ich ihn niemals wiedersehen! Wie kann ich ihn für immer aus meiner Nähe entfernen?“

Emil saß am untersten Ende der langen Tafel, aber sie begegnete doch immer wieder seinen Augen, in denen ein Ausdruck entsagungsvoller Bewunderung lag, diesen dämonisch bestrickenden Augen, die sie glauben machen wollten, daß er sie geliebt habe, immer noch liebe. Unter allen Stimmen hörte sie die seinige heraus.

Wie eine Erlösung dünkte es sie, als die Cigarren gebracht wurden und sie sich zurückziehen durfte. In Gewissensqualen saß sie dann in ihrem Zimmer, drückte die Hände an die hämmernden Schläfen und fragte sich immer wieder: „Durfte ich denn Bernhards Frau werden, wenn dieser andere einen solchen Sturm in mir wachzurufen vermag? Und doch – es war keine Lüge, wenn ich sagte, mein Herz sei frei, Ich kannte es ja selbst nicht! Aber ich will nicht, will nicht an ihn denken!“ Trotzdem schien sich der Sturm nicht so rasch zu beruhigen, die fremde Gewalt in ihr nicht so rasch zu weichen, denn sie murmelte ein paarmal düster vor sich hin: „Er hat Dich ja nicht gewollt, hat Dich verschmäht! Erinnere Dich doch dieser Schmach!“

Ihr Gatte war in sehr vergnügter Stimmung, als er eine Stunde später bei ihr eintrat. Er zog sich einen Sessel an das kleine Sofa heran, auf dem sie saß, und legte seinen Arm um ihren Nacken.

„Solche Sonntagsruhe mit einem lieben Gesicht in der Nähe, das ist schön,“ sagte er mit einem warmen Lächeln. „Früher, wenn es so still und einsam in meiner Behausung war, ging ich oft auch an diesem Tage an die Arbeit, nur um nicht melancholisch zu werden. Du lehrst mich den Feiertag heiligen, Dora.“

Sie plauderten eine Weile von den verschiedenen Herren, die ihre Gäste gewesen waren. Der Minister wußte von jedem ein lebendiges Bild zu entwerfen; er war ein Menschenkenner, wenn ihm auch seine Güte hier und da einen Streich spielte.

Auch Dora fand, es sei ein trauliches Zusammensitzen in dieser späten Nachmittagsstunde, während Glockengeläute zum offenen Fenster hereinklang und aus der Ferne zuweilen das Geräusch der Straßen herüberschwirrte. Aber ihr Behagen wollte nicht standhalten. Wie gut alles wäre, dachte sie, wie friedlich, wenn nur jener Eine ihr nie wieder vor die Augen käme!

Sich zusammennehmend, fragte sie plötzlich: „Du hältst große Stücke auf den Assessor Wienburg?“

„O ja! Er ist ein gewandter Mensch, Vielleicht gefällt es mir auch, daß er mir so diensteifrig ergeben ist, daß er eine so feine Höflichkeit besitzt. Ich verachte die plumpe Devotion, der ich nur allzu oft begegne. Aber kein Mensch ist unzugänglich für eine liebenswürdige Unterordnung, die ja in diesem Falle von seiten des jüngeren Mannes auch nichts Unnatürliches hat.“

„Und der Assessor wird oft in unser Haus kommen?“

„Bisher habe ich nur ab und zu einige Herren bei mir gesehen, nicht öfter, als es in meiner Stellung dringend geboten war. Doch jetzt, da dies Haus eine so junge und hübsche Herrin besitzt, werden wir ja wohl geselliger leben müssen, und der Assessor ist jedenfalls eine gute Figur für einen Salon; außerdem wird er als Ordner bei Deinen Festen seinesgleichen suchen, wenn Du ihn als Hilfsarbeiter heranziehen willst. Er ist Dir doch nicht unangenehm?“

„Nein,“ erwiderte sie leise. Sie kämpfte mit sich. „Wahrheit, Wahrheit ist das Einzige, das Dich retten kann!“ rief es in ihr. Sie senkte die Augen auf die halb verwelkten Rosen, die sie noch am Kleide stecken hatte, und zupfte in nervöser Unruhe an den Blättern. Aber ihre Stimme beherrschte sie so gut wie möglich, als sie begann: „Ich will Dir nur gestehen, Bernhard: Herr Wienburg hat mir in meiner Mädchenzeit – erst letzten Sommer war’s – sehr den Hof gemacht. Glaubst Du nicht, daß man es seltsam finden, daß man sich Bemerkungen erlauben wird, wenn er öfter zu uns kommt?“

Der Minister war aufgestanden. Doras Worte berührten ihn peinlich. Wer ein Weib mit ganzer Seele liebt, den verletzt jeder Blick, den ein anderer auf sie geworfen hat. Aber nichts dünkte Bernhard lächerlicher und sinnloser als die Rolle des eifersüchtigen Gatten. Dora war sein. Er hätte sich jeden Zweifels an ihr geschämt und es wäre ihm ihrer und seiner selbst unwürdig erschienen, mit ihrer Vergangenheit zu eifern, auf ihre Tänzer zu grollen und vor jedem jungen Menschen zu zittern, der sich einst in ihre Nähe gedrängt hatte. So wurde es ihm nicht schwer, ihre Bedenken leicht zu nehmen.

„Liebes Kind, ich glaube, der Assessor macht allen hübschen Mädchen und Frauen den Hof. Man steht das bei ihm gar nicht so ernst an, das ist so seine Art! Seit einem Jahre habe ich schon ein halbes Dutzend nennen hören, die er besonders ausgezeichnet haben soll.“

Damit war Bernhard seiner augenblicklichen Verstimmung auch schon Herr geworden, und es dauerte nicht lange, so hatte er die Worte seiner Frau ganz vergessen. Er mußte so viel Ernstes in seinem Amt bedenken!

Aber Dora hatte keine wichtige Arbeit; sie war viel allein und grübelte beständig über ihre Empfindungen. Es verletzte sie, daß ihr Gatte ihr Geständniß so leicht nahm. Sie hatte Schutz bei ihm gesucht, hatte gehofft, daß er ihr Emil fernhalten werde. Warum wollte er nicht verstehen, daß es sich nicht um ein flüchtiges Spiel, sondern um etwas weit Ernsteres gehandelt hatte? Oder legten die Männer überhaupt kein so großes Gewicht auf Herzensregungen? War es thöricht von ihr, sich zu ängstigen und zu quälen wegen einer unabweisbaren Erinnerung? Jedenfalls wollte sie dem Assessor mit eisiger, unnahbarer Kälte begegnen. Wenn sie das tolle Herzklopfen, das sie in seiner Nähe befiel, verbarg, wenn kein Athemzug, keine Bewegung, kein Blick verrieth, was in ihr vorging, dann war diese Schwäche ein Unglück, das sie ganz allein zu tragen hatte, das niemand in seinen Rechten verletzte.

[767] Es fällt einer Frau immer schwer, einem Mann gegenüber, der ihr nicht gleichgültig ist, die richtige Grenze in ihrem Benehmen zu finden. Um nicht freundlich zu scheinen, war Dora beleidigend unhöflich gegen Emil; um nicht zu zeigen, daß ihr die Vergangenheit noch etwas bedeute, schien sie auch seine Gegenwart kaum zu bemerken. Und gerade diese schroffe Abweisung reizte ihn zum Widerstand mit allen Mitteln. Er glaubte zwar zu wenig an die Echtheit der Geringschätzung, die sie gegen ihn an den Tag legte, um zu befürchten, daß sie die freundlichen Gesinnungen ihres Gatten für ihn erschüttern und ihm ernstlich schaden würde. Nein, je mehr sie ihn zu hassen vorgab, desto klarer wurde ihm, daß sie ihn noch immer liebe. Aber er war zu eitel, um die Mißgunst einer schönen, gefeierten, einflußreichen Frau und die beständige Zurücksetzung in ihrem Salon mit Gelassenheit ertragen zu können, vollends da er von Doras Gatten oft in deren Nähe gezogen wurde.

Es gehörte Emils aalglatte Geschmeidigkeit und seine ganze Diplomatie dazu, um es ihm zu ermöglichen, gegen Doras Unliebenswürdigkeit mit den alten Waffen anzukämpfen, ohne den Verdacht des Gatten zu erwecken. Aber er war Meister darin, eine Sekunde zu erhaschen, in welcher er die junge Frau mit einem feurigen Flehen, einer stummen Klage in den Augen unbemerkt, anblicken konnte, und dann, sobald die Aufmerksamkeit sich ihm wieder zuwandte, ruhig im Gespräch fortzufahren. Er verstand sich darauf, sie immer wieder durch eine Bemerkung, ein Wort, das für niemand auffällig war, an die Vergangenheit zu erinnern, an jenes Maifest, an die Nachmittage bei der Generalin, an die Zeit ihrer Liebe. Mitten in der allgemeinen Unterhaltung geschah das, selbst wenn ihr Gatte zuhörte, so daß es ihr unmöglich war, sich gegen den Zwang zu wehren, den er auf ihr Gedächtniß ausübte.

So fremd und kühl sie sich also dem Anscheine nach gegenüberstanden, es war doch ein heimlicher Kampf zwischen ihnen, der seine Gefahren hatte. Emil war überzeugt, daß er in diesem Kampfe Sieger bleiben, daß sein unermüdliches Betteln um einen freundlichen Blick, das beredte Bekenntniß seiner Augen sie endlich bezwingen werde. Er wollte ja nicht um Liebe werben, nur um Freundschaft. Aber eines hatte er nicht in Betracht gezogen, gerade das, was so nahe lag und wirklich geschah: daß die schöne Frau, um deren Gunst er sich mühte, dabei Macht über ihn selber gewann, eine Macht, die sogar seinen Ehrgeiz zu ersticken drohte, die seine Vernunft verwirrte, die ihn aus seinem vorgesteckten Wege fortriß, einem Abgrund entgegen. Dora war jetzt noch schöner als in ihrer Mädchenzeit. Ihre stolze Gestalt schien wie von selbst in dem glänzenden Kreise die erste Stelle einzunehmen; es lag über ihr ein Hauch der Vornehmheit, dem gerade der Assessor nur schwer zu widerstehen vermochte.

Die Entdeckung, daß er auf dem besten Wege sei, sich in eine schwüle Leidenschaft für die junge Frau zu verstricken, machte Emil bestürzt. Er fürchtete die Augen des Ministers, fürchtete, sich zu verrathen, und suchte nach einer Maske für seine Empfindungen. Am klügsten schien es ihm, durch seine Bemühungen um eine andere Dame jeden Verdacht abzulenken. Er hatte Ida von Kammerling, die Tochter eines Ministerialrats, dessen Gunst ihm von Nutzen sein konnte, schon früher ausgezeichnet; nun that er es in auffälliger Weise. Das junge Mädchen war weder schön noch liebenswürdig, vielmehr eckig in Erscheinung und Wesen, und ein scharfer Zug um ihren Mund ließ nicht eben auf die friedlichste Gemüthsart schließen. Sie hatte von seiten der Männer noch nicht viel Liebenswürdigkeiten erfahren, so machten ihr denn die Aufmerksamkeiten des hübschen und verwöhnten Assessors einen um so größeren Eindruck. Emil aber begegnete öfter, wenn er im Salon des Ministers lebhaft plaudernd neben Ida stand, den Augen Doras; ein leidenschaftlicher zorniger Ausdruck lag in ihnen, der ihn triumphieren machte. O, endlich hatte sie sich verrathen – sie war eifersüchtig, sie liebte ihn noch!

In der That suchte Dora vergebens, einer eifersüchtigen quälenden Unruhe Herr zu werden, wenn sie den Assessor in der Nähe des Mädchens sah, mit dem das allgemeine Gerücht ihn bereits verlobte. Immer wieder schweiften dann ihre Blicke zu dem blonden Manne hinüber, der sich lächelnd zu seiner Nachbarin hinabneigte, und eine Marter folterte sie, die sie mit Angst vor der Zukunft erfüllte. Emil aber spielte sein doppeltes Spiel weiter. Wenn er Dora stundenlang alle Qualen der Eifersucht hatte kosten lassen, dann starrten seine Augen sie plötzlich an, so sehnsüchtig, so verzehrend, als wollten sie sagen: ich bin unglücklich! Siehst Du denn nicht, daß ich mich nur betäube, zu vergessen suche und nicht vergessen kann?

Einmal, als man sich im Musikzimmer niedergelassen hatte, um dem Vortrag einer Sängerin zu lauschen, stand Emil dicht neben Dora und heimlich von der Seite schaute er sie an, unablässig. Da konnte sie sich nicht länger beherrschen, und in herbem Ton bemerkte sie, ohne ihn anzusehen. „Neben Fräulein von Kammerling ist noch ein Ptatz frei, Herr Assessor!“

„Sie spotten, Excellenz!“ erwiderte er leise und blieb.

Sie verwandte die Augen nicht von der Sängerin, aber sie fühlte seine Blicke, seine Nähe. Es war ihr, als durchfluthe ihr banges Herz ein heißer Strom, und das stürmische Liebeslied, das durch den Saal klang, erschien ihr wie der Aufschrei ihrer eigenen verworrenen Gefühle.

Das Glück ist ein seltsames Ding. Dora hatte allen Grund, mit ihrem Dasein zufrieden zu sein. Ihr Mann überschüttete sie mit Güte, sie war umgeben von einem Glanz, den sie sich noch vor kurzem nicht hätte träumen lassen – aber je mehr Gutes ihr zu theil wurde, desto mächtiger regten sich unerfüllbare Wünsche und sie klagte das Schicksal an, daß es ihr nicht ein heißeres Liebesglück beschieden hatte. Und da von allen Seiten in schmeichelnden Worten ihre Schönheit, ihre unwiderstehliche Anmuth gepriesen wurde, so stieg ihr Glaube an ihre Macht über die Herzen, und sie begann sich an den Gedanken zu gewöhnen, daß Emil doch in Wahrheit dieser Macht nicht habe widerstehen können, daß seine Liebe echt sei. Ja vielleicht war dieselbe erst jetzt voll erwacht! Vielleicht hatte sich ihr einst ein Hinderniß entgegengethürmt, von dem sie nichts ahnte – vielleicht hatte auch er gelitten! Aber sie wurde solcher Erwägungen doch nicht froh. Immer wieder empfand sie ein wahres Grauen darüber, daß er sich mehr und mehr in ihre Seele drängte, daß ihr Ringen nutzlos zu werden drohte gegen den Bann, der ihren Willen umstrickte.

Sie war so viel allein. Ihr Gatte hatte gehäufte Berufsgeschäfte, ernste Sorgen. Der König, dessen Gehörleiden immer mehr zunahm, zog sich fast gänzlich in die Einsamkeit zurück; die Minister konnten nur schwer die nöthigen Unterschriften erlangen. Seit der Kabinettsekretär Herwald in Ungnade gefallen war, hatten die Günstlinge rasch gewechselt, und zu alledem hatte sich der unglückliche Herrscher seinem Sohne, dem künftigen Thronfolger, gänzlich entfremdet. Der heißblütige junge [768] Prinz, dem die väterliche Hand nicht mehr die Zügel straff hielt, begann nun in stürmischem Ungestüm sein Leben zu genießen, und man sah im Lande mit wachsender Angst, wie er seine Kraft in tollen Gelagen verzehrte und die Hoffnungen erschütterte, die man in seine Person gesetzt hatte. Niemand jedoch wagte es, dem „künftigen König“ Vorstellungen zu machen, bis sich Freiherr von Telf dazu entschloß. Ihm lag die Zukunft des Staates mehr am Herzen als seine eigene, und so bat er eines Tages um Audienz bei dem Kronprinzen. Mit ernsten muthigen Worten beschwor er ihn, seine Kraft dem Lande zu erhalten, sich die Liebe des Volkes zu sichern, über das er einst herrschen sollte, der großen Zukunft zu gedenken, die ihm bevorstehe, Der Prinz hörte ihn ruhig an; die offene Sprache verfehlte ihren Eindrnck nicht, ja sie trug die besten Früchte. Aber solche Warner werden immer unangenehm empfunden, und Freiherr von Telf wußte, daß seine Entlassung unfehlbar kommen werde, sobald der Prinz den Thron bestieg.

So sehr ihn diese Vorgänge beschäftigten, so scheute er sich doch, sie mit Dora zu besprechen; er wollte sie nicht vorzeitig beunruhigen. Aber indem er vermied, ihr Interesse für seine Angelegenheiten wachzurufen, beging er dennoch einen Fehler. Sein Vertrauen würde ihr geschmeichelt haben – seine Rücksicht, stets auf ihre Gedanken einzugehen, dankte sie ihm nicht; denn sie wußte, daß er den Kopf voll von anderen Dingen hatte, und war versucht, zu glauben, daß sie ihm überflüssig sei.

Es war mittlerweile Sommer geworden, ein heißer Sommer mit gewitterschweren drückenden Tagen. Dora fühlte, wie die Schwüle ihre innere Unruhe steigerte; heiße sehnsuchtsvolle Wünsche wuchsen in ihr empor wie Giftpflanzen, die nur in Sonnengluth reifen. Eines Tages beschwor sie ihren Mann, mit ihr fortzureisen; sie müsse freie Luft haben, freie Natur. Da er die Stadt unmöglich verlassen konnte und seine Frau blaß und elend fand, so miethete er in der Umgebung der Stadt eine hübsche Villa mit einem Garten. Das Landhaus lag auf einer Anhöhe, wo in fast ländlicher Stille ein weiter Horizont sich den Augen darbot, und war mit dem Wagen in kurzer Fahrt zu erreichen. Er konnte allerdings über Mittag nicht hinausfahren, da er zu viel Zeit verloren hätte, aber zum Abendbrot fand er sich regelmäßig ein.

Für Doras Seelenzustand war aber da draußen zu viel Ruhe, zu viel Einsamkeit. So frisch der Wind auch über die weite Anhöhe wehte, so klar der Horizont vor ihr lag bis an die Alpenkette, für ihr Gemüth war die Beschäftigungslosigkeit, in der sie hier lebten, eine gesteigerte Gefahr, und das stille Hinüberstarren nach den fernen Bergen wiegte sie nur in haltlose Träumerei.

Bei seinem letzten Besuch vor ihrer Uebersiedlung hatte Emil die Worte Doras mit angehört, sie wolle in ihrer Sommerfrische viel lesen. Die Bemerkung war nicht an ihn gerichtet gewesen, aber er hatte sie benutzt, um diensteifrig ein paar poetische Werke in die Villa zu senden samt einigen bescheidenen Zeilen. Mit feiner Berechnung hatte er seine Wahl getroffen und Gottfried von Straßburgs „Tristan und Isolde“ in ihre Hand gelegt. Wenn sie in den berauschend süßen Reimen, die der moderne Uebersetzer dem alten Meister nachgesungen hatte, jene berückende Schilderung der Minne las, so nahm der Held des Gedichtes, fast ohne daß sie sich dessen selber bewußt wurde, die Gestalt und die Züge Emils an; Emil schwebte ihr vor Augen, jung und schön – und ach, sie hatte ihn geliebt!

In den Liedern, die er ihr sonst noch zugesandt hatte, war da und dort ein Vers angestrichen, und immer waren es Worte, die sie auf sich beziehen mußte. Es lag ein tückischer Zauber in dem Gedanken, daß seine Augen auf demselben Blatt geruht, daß sein Herz höher geschlagen hatte bei demselben Bilde, das nun auch sie ergriff. Es schien zu ihr zu reden in schmeichelnden poetischen Lauten, und unablässig schwirrten ihr die Zeilen durch den Kopf:

„Unser goldenes Jugendglück
Ging auf immer in Scherben.
Laß mich flieh’n in die Fremde weit!
Denn die Geister der alten Zeit
Müßten uns beide verderben.“

Das Buch sank ihr dann wohl in den Schoß, und wie in ihrer Mädchenzeit begann ihre Phantasie ihr endlose Märchen zu erzählen; aber die Bilder die sie jetzt schuf, waren glühender, gefährlicher als ehedem. Sie wußte, daß das alles schwärmerische Unmöglichkeiten waren, und hielt es für kein Unrecht, sich dem Hang zum Fabulieren hinzugeben. Aber dabei sah sie Emils Gestalt bald nicht mehr im nüchternen Tageslicht, sondern im unsicheren verklärenden Mondenschein; ihre Erkenntniß seines Charakters verlor sich mehr und mehr in trügerischen Schleiern. Sie glaubte allmählich an seine Leidenschaft und ihre Phantasie war unermüdlich, allerlei entschuldigende Gründe dafür zu suchen, daß er sie dennoch aufgegeben hatte.

Wenn ihr Gatte des Abends kam, dann wichen die Gespenster, dann ward es ruhig in ihr. Aber er hätte fragen müssen, wie sie ihre Tage verbringe, hätte ihr Denken an sich reißen, ihr Gemüth beschäftigen sollen. Müde jedoch, wie er war, fühlte er sich glücklich, wenn er ihre Hand in der seinigen halten und schweigend ausruhen durfte an ihrer Seite. Im wonnigen Bewußtsein sicheren Besitzes hatte er keine Ahnung davon, welcher Sturm der Friedlosigkeit ihre junge heiße Seele durchtobe.

Eines Abends stand Dora, schon lange ihren Gatten erwartend, auf der Veranda und blickte gedankenverloren auf die sprühenden farbig glitzernden Tropfen des Springbrunnens. Ein letzter glühender Wiederschein der Sonne übergoß noch die Höhe mit einem Meer von Glanz; dann verzitterte das grelle Licht, fortfluthend, wie von bläulichen Schatten aufgesogen. Dora seufzte plötzlich tief auf, sie wußte selber kaum, warum. Ein Gefährt kam durch die stille Straße gerollt; sie hob wie erwachend den Kopf. Aber der Wagen fuhr nicht wie sonst, wenn ihr Gatte heimkehrte, in den Hof, er hielt vor dem Gartenthor. An der Hausthür klaug die Glocke, und gleich darauf meldete die Dienerin: „Herr Assessor Wienburg.“

Doras Hand klammerte sich krampfhaft fest an das Geländer, an dem sie lehnte. Ruhe, Ruhe! Sie preßte die Linke auf ihr toll klopfendes Herz. Welcher Dämon führte ihn in ihre Nähe, jetzt, gerade jetzt?

Er trat in das Zimmer hinter ihr und verneigte sich tief, denn sie hatte den Kopf ihm zugewandt und blickte ihm durch die offene Thüre zur Veranda entgegen, aber ohne sich von der Stelle zu bewegen.

Der Assessor näherte sich ihr mit ein paar schnellen Schritten. „Ich bitte tausendmal um Verzeihung, daß ich zu so später Stunde zu stören wage. Excellenz hat mich beauftragt – “

„Ist meinem Gatten etwas zugestoßen?“ rief Dora rasch. Sie hatte im ersten Augenblick nur über Emils Kommen gezittert; nun erst besann sie sich.

„Nein, gnädige Frau! Excellenz sandte mich nur, damit Sie sich nicht beunruhigen. Es findet eine geheime Ministersitzung statt, die wohl noch mehrere Stunden dauern wird. Excellenz kann also nicht zum Abendbrot erscheinen. Ein Kanzleibote sollte herausgeschickt werden; aber Seine Excellenz war so liebenswürdig, auf meine Bitte hin meine Dienste in Anspruch zu nehmen.“

Er war vor sie hingetreten und stand ihr nun erwartungsvoll gegenüber.

„Ich danke Ihnen,“ sagte Dora, ohne ihn anzusehen, „und bedauere nur, daß Sie Ihre Zeit für mich opferten und diese einförmige Fahrt durch die Vorstadt zweimal ertragen müssen.“

„O, die Fahrt war ein Genuß, wie er mir nur selten zu theil wird,“ betheuerte er mit einem leisen erregten Schwingen in der Stimme, das sie seltsam durchschauerte. „Ich bin ja dem Glanz, der Sonne entgegengeeilt. Diese Höhe hier lag umflossen von Licht vor meinen Augen. Und dann – ich habe kein Heim, nach dem ich verlange. Ich werde auch nicht mit Ungeduld erwartet.“

In seiner Stimme zitterte eine vorwurfsvolle Klage. Sie hatte Mühe, das Gespräch fortzusetzen, und eine Weile blieb es still zwischen ihnen. Aber dieses Schweigen war unerträglich. Sie erinnerte sich, gehört zu haben, daß seine Mutter die Präsidentin Wienburg, vor kurzem vom Schlage getroffen worden sei, und erkundigte sich nach ihrem Befinden.

Er seufzte. „Sie lebt! Aber welch ein Leben ist das – geistig und körperlich gelähmt!“

„Wie traurig!“

„Ja, es ist traurig. Was würde ich nicht thun, um meine Mutter zu retten! Ihr Wunsch war stets mein oberstes Gesetz. Sie durfte mein Lebensglück von mir fordern, und ich gab es ihr hin. Und nun stehe ich vor einer entschwindenden Gestalt, die ich nicht wiedererkenne, ohne jede Möglichkeit Hilfe zu bringen.“

Er sprach so ernst bewegt, wie sie ihn nie hatte reden hören. Sie mußte diesem Herzenston glauben und war überzeugt, jetzt offenbarte er ihr jene Seele, die man der Welt gegenüber nicht zur Schau trägt, die sich nur in seltenen Augenblicken auf die Lippen drängt. Das große Räthsel, warum er ihr entsagt hatte, [770] schien sich plötzlich zu lichten: seine Mutter hatte es so gewollt! Noch immer wagte sie nicht, den Blick zu ihm zu erheben; aber sie fühlte, wie seine Augen sie betrachteten, verschlangen.

„Wie süß es hier duftet!“ sagte er leise. „Wie nach blühenden Linden.“

„Im August?“ fragte sie ironisch; aber ihre Stimme klang gepreßt.

„Vielleicht ist es nur die Erinnerung, die mich überkommt. Jeder hat einmal eine Stunde, in der das Glück ihn streift – auch mir ist eine solche Stunde geworden, und damals blühten die Linden. Seitdem giebt es für mich keinen süßeren Duft in der Welt.“

Eine gewaltsam zurückgehaltene Empfindung sprach aus seinen Worten. Er heuchelte nicht – seine Leidenschaft war echt. Er, der Unstete, den die Mädchen den „Eintagsfalter“ nannten, der bisher leichten Herzens mit der Liebe getändelt hatte – er fühlte sich plötzlich umstrickt von Banden, die ihn festhielten, die er nicht abzuschütteln vermochte. Es war der dämonische Zauber des Unerreichbaren, des Verbotenen, der ihm die verführerische Frau, die da vor ihm im Dämmerlicht zwischen dem Weinlaub lehnte, so unwiderstehlich machte.

„Ein Jahr! Wie es die Menschen entfremden, wie es die Welt verändern kann!“ fuhr er leise fort, die Augen fest auf Dora geheftet, als müsse er sie zwingen, ihn anzusehen. „Denken Sie auch noch der Vergangenheit, gnädige Frau? Vor einem Jahr –“

Sie öffnete plötzlich die Lippen, die sie fest aufeinander gepreßt hatte. „Vor einem Jahr war ich mit meinen Eltern auf dem Lande in einem stillen Gebirgsdorf,“ erwiderte sie. Sie sah ihm kalt in das leidenschaftlich erregte Gesicht.

Er aber ließ sich durch diese scheinbare Kälte nicht täuschen. „Wenn sich ein Jahr fortdenken ließe!“ seufzte er, „wenn jener süße Lindenduft wiederkäme und die ewig verlorene, unvergeßliche Stunde des Glücks! Ihnen hat dieses Jahr nur geschenkt und geschenkt – mir hat es alles genommen. Vielleicht durch eigene Schuld, vielleicht –“

Sie nahm plötzlich alle ihre Kraft zusammen; dicht an ihm vorbei ging sie in das Zimmer und klingelte. Ein jähes Entsetzen hatte ihr die Beherrschung wiedergegeben.

Die Dienerin trat ein mit der Lampe. Das Licht erschien ihr wie eine Rettung. Während das Mädchen die Vorhänge am Fenster zuzog, wandte sich Dora an den Assessor, der noch an der Thür zur Veranda stand. „Ich wiederhole Ihnen meinen Dank, Herr Assessor, daß Sie sich herbemüht haben, um mir Unruhe zu ersparen.“ Sie reichte ihm die Hand.

Diese Worte, in Gegenwart der Dienerin gesprochen, waren eine deutliche Verabschiedung, der er sich fügen mußte. Aber es blitzte doch ein Ausdruck des Triumphes aus seinen Augen. Im Lampenlicht sah er erst die Blässe auf ihrem Gesicht, das Beben ihrer Gestalt, ihre Fassungslosigkeit. Er fühlte bei der leisen Berührung ihrer fiebernden Finger, wie ihr ganzes Wesen im Aufruhr war trotz ihrer erheuchelten Gelassenheit. Mit einer stummen Verbeugung verabschiedete er sich.

Als Dora allein war, trat sie wieder auf die Veranda; durch die geöffnete Thür fiel der Lichtschimmer über ihre helle Gestalt. Sie hörte den Wagen fortfahren; aber Emil war nicht eingestiegen. Sie unterschied trotz der Dämmerung seine Gestalt, die an dem eisernen Gartengitter entlang schritt. Auf der Straße, ihrem Hause gerade gegenüber, blieb er wie festgewurzelt stehen und schaute zurück. Sie wollte im ersten Augenblick sich ins Zimmer zurückziehen, dann aber blieb sie doch regungslos, finster vor sich hinstarrend.

Sie freute sich nicht über ihren Sieg. Reue ergriff sie, ein unsägliches Verlangen, ihn zurückzurufen, ihn zu fragen: warum hast Du mich nicht zu Deiner Frau gewollt? Warum hast Du uns beide so elend gemacht? Sie verzieh es sich nicht, daß sie ihn nicht hatte zu Ende reden lassen. Mit der Ueberzeugung, daß ein fremder Wille ihn von ihr getrennt habe, der Wille seiner Mutter, würde ihr die Entsagung leichter werden – so wähnte sie. Die Liebe versteht sich ja so merkwürdig gut auf Trugschlüsse!

Emil stand noch langge auf der Straße und blickte zu der hohen hellen Gestalt hinüber. Dann ging er, wie berauscht von einem giftigen Trank. Sein Entschluß war gefaßt. Statt in ein paar Tagen, wenn sein Urlaub begann, fortzureisen, wollte er in der Stadt bleiben, in Doras Nähe. Während seine Freunde auf den höchsten Bergspitzen die Gefahr suchten, wolltr er hier einen Weg gehen, auf dem jeder Schritt Verderben brachte. Diese Frau gewinnen, diese Lippen küssen, die einem anderen gehörten! Ein tollkühner Plan, aber um so lockender, um so verführerischer, weil der, der ihn betrat, seine Existenz in die Schanze schlug! Er sah Dora in einem falschen Licht. Aus dem schwärmerischen Kind, das sie vor einem Jahre noch gewesen war, schien sie ihm jetzt ein verlangendes Weib geworden zu sein, an dessen Verstellungskunst er glaubte, dem er Klugheit, Leidenschaft und List zutraute. Er ahnte gar nicht, wie viel von dem alten Kinderwahn noch in dem Herzen der schönen Frau zurückgeblieben war.

Der Zufall schien mit Emil verschworen, um Dora zu verderben. Ihr Gatte mußte in die Reichshauptstadt verreisen. So war sie nun ganz der Einsamkeit überlassen. Ihre Bekannten waren auf dem Lande, es kam kein Besuch mehr, nur ab und zu ein Brief, der sie in die Wirklichkeit zurückrief, sie dem Traumleben entriß, das sie führte, während dieser heißen wolkenlos blauen Augusttage, auf die so wunderbare leuchtende Nächte folgten.

Jeden Abend, wenn es ganz dunkel, ganz still auf der Höhe geworden war, sah sie vor dem Gitterthor, der Veranda gegenüber, einen Mann lehnen. Niemand außer ihr bemerkte ihn; kein Mensch ging mehr durch die Straße. Sie unterschied die Umrisse seiner Gestalt, sie wußte, wer es war, der da zu ihr emporschaute. Das Bewußtsein, daß seine Blicke sie umspannen mit einem Netz, das sich enger und enger um sie schloß, machte sie fiebern. Es kam sie die Lust an, ihn fortweisen zu lassen, diesem stummen Anstarren, durch das er Macht über sie gewann, mit Gewalt ein Ende zu machen. Und wenn er dann in später Stunde seinen Posten verließ, dann war es ihr doch, als habe das Glück an der Pforte gestanden, ohne daß sie die Arme danach ausstrecken durfte. Am Tage zitterte sie, so oft die Klingel gezogen wurde, weil sie fürchtete, er würde kommen, und wenn dann irgend eine gleichgültige Anfrage gemeldet wurde, so war sie doch enttäuscht.

Einmal erschien die Gelleralin Halden bei ihr zum Besuch.

„Ich bin selbst herausgefahren, liebe Dora,“ sagte sie „weil ich Sie persönlich bitten wollte, übermorgen zu mir zu kommen. Sie werden gelesen haben, daß an diesem Tage der Schützenzug stattfinden wird. Er geht an meinen Fenstern vorüber. Sie müssen ihn sich ansehen! Nein, nein – ich dulde gar keine Ausrede, ich nehme einen Korb unter keinen Umständen an. Wissen Sie, daß Sie wirklich leidend aussehen? Diese Abgeschiedenheit hier draußen taugt nicht für eine junge Frau. Wir werden nur eine kleine Gesellschaft bei uns haben – lauter Bekannte!“

Du darfst nicht hin, er wird kommen – gerade weil er kommen wird, mußt Du hin; es wird besser sein, wenn Du wieder einmal mit ihm gesprochen und erfahren hast, daß sein Zauber nicht unwiderstehlich ist – diese Gedanken stürmten auf Dora ein. Sie besann sich eine Weile, dann sagte sie ihr Erscheinen zu. Als die Generalin sich empfahl, rief sie noch ein fröhliches: „Auf Wiedersehen also! Schon um neun Uhr morgens! Verspäten Sie sich nur nicht!“

Mit dem festen Vorsatze, dem Assessor so kalt und abweisend wie nur möglich zu begegnen, fuhr Dora am übernächsten Tage in die Stadt, wo in den Straßen bunte Fahnen flatterten und überall schon Scharen von Neugierigen in gespannter Erwartung sich drängten. Emil war bereits anwesend, als Dora bei der Generalin eintrat. Seine Augen grüßten sie, aber er hielt sich ihr ferne. Sie bemerkte dennoch, daß er sie unablässig beobachtete und sich nur deshalb stumm von der Gesellschaft in eine Fensterecke zurückzog, um jeder ihrer Bewegungen folgen zu können. Das machte sie verwirrt; sie wußte kaum, was sie redete.

Jetzt begann auf der Straße die Musik, die ersten Schützenfahnen flatterten lustig heran. Man stellte sich an die Fenster. Emil hatte es so einzurichten gewußt, daß er hinter der Frau des Hauses und Dora seinen Platz fand. Die Generalin aber war zu lebhaft, um an derselben Stelle zu verweilen, und als nun die künstlerisch geschmückten Wagen mit den kostümierten Gruppen vorüberkamen, eilte sie bald zu diesem, bald zu jenem ihrer Gäste, um eine Bemerkung auszutauschen. Laut schmetterte die Musik, die Menge rief „hoch“ – ein tosender Jubel drang in die Zimmer herauf. Dora faßte einen plötzlichen Entschluß. Sie wollte die Gunst dieser Minuten benutzen, wollte ein Ende machen mit den Kämpfen der letzten Wochen, mit dieser rastlosen Sehnsucht, die er ihr Abend für Abend aufdrängte durch seine stumme Gegenwart.

„Warum kommen Sie jeden Abend in später Stunde in die Gegend, in der ich wohne?“ fragte sie hastig; ihre Augen glühten. „Wie können Sie es wagen, stundenlang vor meinem Garten zu [771] stehen? Mein Ruf sollte Ihnen zu heilig sein, um mich durch Ihr auffälliges Benehmen dem Gerede preiszugeben!“

„Ihr Ruf ist mir heilig, gnädige Frau. Auffällig, sagen Sie, sei meine scheue Bewunderung? Aber ich schwöre Ihnen, kein Mensch hat mich gesehen. Wenn ein Tritt sich nahte, wenn nur ein Laut vernehmbar wurde, schlich ich fort in das tiefste Dunkel.“ Er sprach hastig wie sie, mit leiser Stimme, die in dem anwachsenden Straßenlärm nur an ihr Ohr dringen konnte. „Wie ein Schatten betrete ich die Gegend, in der meine Gedanken unausgesetzt weilen. Wenn Sie darüber zürnen, muß ich wohl fürchten, daß meine Nähe Sie stört, Excellenz – denn nur Sie wußten von ihr.“

„Nun denn – Sie stören mich in der That! Ich will nicht, daß Sie wiederkommen!“

Sie sah, wie er zusammenzuckte. Mit fest aneinander gepreßten Lippen stand er neben ihr und schwieg. Er schwieg hartnäckig, auch als die Generalin wieder erschien und zu plaudern begann. Stumm trat er dann in eine Ecke des Gemachs und hielt sich mit einer düsteren Miene von Dora fern. Sie sagte sich, daß diese schroffe Abweisung ihre Pflicht gewesen sei, daß diese weite Kluft zwischen ihnen sein müsse, aber sie konnte doch nicht anders als immer wieder nach der Stelle blicken,m wo er stand. Sie gehörte zu den Menschen, die es nicht ertragen, jemand wehgethan zu haben, die alle Dissonanzen abgleichen möchten, auch die unauflösbaren. Als er nach dem Frühstück, das man in dem stillen, kühlen Eßzimmer eingenommen hatte, eine Sekunde in ihre Nähe kam, schaute sie ihn fragend an, mit guten traurigen Augen. Es war nur ein kurzer Blick, aber er genügte, um dem Assessor zu zeigen, daß er richtig gerechnet, daß seine beleidigte Miene sie weicher gestimmt habe.

Ein lauter Lärm auf der Straße lockte die übrigen Gäste an die Fenster; sie blieben allein in dem leeren Speisezimmer.

„Man lacht sehr vergnügt da unten“ sagte er in einem gedämpften leidenschaftlichen Ton. „Mir erweckt diese Feststimmung einen Groll, als wäre sie ein Hohn auf mich. Sie schauen mich an, Excellenz – Sie wollen sehen, welche Miene ein Mensch zeigt, den man mit einem kurzen kühlen Wort von dem einzigen armseligen Fleckchen verbannt hat, das ihm eine schmerzliche Seligkeit gewährte? Nicht einmal dieses dunkle bescheidene Glück, dieses Bettlerglück gönnen Sie mir!“

Dora hatte die Selbstbeherrschung verloren. Ihr Herz, das sie so lange niedergekämpft hatte, klopfte wild, unbändig. „Glück!“ wiederholte sie. „Das nennen Sie Glück?“

Er sah den träumerischen Glanz in ihren Augen, das schmerzliche Zucken um ihre Lippen. Nun hatte er erreicht, was er wollte: sie verrieth, daß sie litt. Nun wollte, nun mußte er das Aeußerste wagen. „Ja, ein Bettlerglück – ich sagte so. Und steht es dem Bettler nicht frei, auf Stunden sein Elend zu vergessen, wenn er Phantasie genug besitzt, um sich in den Traum zu wiegen, er sei reich und mächtig, sei König – was er nur immer will? Der Bettler am Gitter Ihres Gartens hatte solch berückenden Traum, wenn er in der süßen Sommernacht da draußen stand. Er sagte sich: nichts trennt mich von der geliebten Frau, die dort im Lampenschimmer sitzt, nichts! Wenn ich nur will – ein einziger Griff und diese Pforte öffnet sich; wenige Schritte, und ich bin auf jenen Stufen dort, die zum Paradiese führen! Sie hört einen Laut, sie springt empor – ich aber stürze hin zu ihren Füßen, und endlich, endlich sage ich ihr in tausend heißen Worten, was ich verschweigen, vergraben mußte, bis zum Ersticken!“

Er schwieg. Seine lodernden Augen redeten eine noch glühendere Sprache als sein Mund. Sie wußte nicht, was die ihrigen antworteten, sie hatte die Gewalt über ihre Blicke verloren, aber ihre Lippen entgegneten zitternd, tonlos: „Ein tolldreister Traum! Das Märchen eines Fieberkranken! Ich wußte nicht, daß Sie dichten, Herr Assessor!“

„Welches Märchen hat Ihnen dieser böse Mensch erzählt?“ fragte plötzlich eine scharfe Stimme hinter ihnen; es war die der Generalin, die forschend von einem zum andern blickte.

Sie erschraken beide, keines konnte seine Verwirrung verbergen. Sie fühlten erst jetzt, wie weit sie während dieser einsamen Minuten von ihrer Umgebung fortgewesen waren, wie gänzlich sie die Welt um sich her vergessen hatten.