Fanfaro

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Autor: Stefanie Keyser
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Titel: „Fanfaro“
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aus: Die Gartenlaube, Heft 37–46, S. 601–606, 621–624, 637–640, 653–658, 669–672, 685–688, 701–704, 717–719, 733–735, 749–752
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[601]
„Fanfaro.“
Novelle von Stefanie Keyser.


War es wirklich ihre Heimath?

Wenn sie das Stückchen Erde so nennen mußte, wo sie geboren und erzogen wurde, wo sie jeden Winkel kannte und jede Eigenthümlichkeit seiner Bewohner, – ja, dann war die Landschaft, die sich vor ihr ausbreitete, ihre Heimath. Sie kannte den grünen Eichenwald, unter dessen letzten Ausläufern sie stand; er überzog die langgestreckten Berge, welche den deutschen Kleinstaat begrenzten, dem sie als Bürgerin angehörte. Sie kannte die Wiese drunten und die mit starken Rindern bespannten Wagen, auf die das erste Heu geladen wurde, den Fluß, der murmelnd zwischen seinen kiesigem Ufern dahinströmte, und den an seiner Kette darauf schaukelnden Kahn, der Lustwandelnde übersetzte. Und sie kannte die Stadt Greifenberg, welche am jenseitigen Ufer sich hinzog.

Dennoch ging ihr bei dem Anblick und bei dem Wort „Heimath“ nicht das Herz auf. Sie war fremd geworden in dem halben Decennium, das sie fern dem Vaterlande verlebt hatte, vereinsamt, wie es ihr Name: Ereme (griechisch: die Einsame) besagte, und wie es ihr Schicksal hinfort sein würde.

Ein leiser Seufzer kam über ihre Lippen, während sie den Blick auf der Stadt ruhen ließ, die, wenn auch äußerlich gewachsen, doch ihren nun verwöhnten Augen noch schlichter als sonst erschien. In der gesteinarmen, aber waldreichen Gegend errichtete man keine Prachtbauten. Selbst wo ein mit einer Haube gezierter Thurm die Kirche bezeichnete, bildeten die darum gepflanzten Linden den Hauptschmuck, und den Rest der altersgrauen Stadtmauer verhüllte dunkler Epheu.

Ein einziges Gebäude erhob sich höher und stolzer mit stattlicher Façade: die Universität. Die Häuser, die mit ihren steilen Ziegeldächern sich um dieselbe schaarten, trugen als einzigen Zierrath - Ereme wußte es - über der Hausthür auf eherner Tafel den berühmten Namen eines Lehrers der Hochschule, der einst därin gewohnt hatte. Und es war immer ihr Stolz gewesen, daß auch ihr Haus zu den also geschmückten gehörte, auch ihre Familie zu der geistigen Gemeinde zählte, die aus den erleuchteten Geistern aller Völker und Zeiten sich zusammensetzt.

Als der Fürst des Landes, dessen Standbild in Hermelin und Kurhut auf den Universitätsplatz herabschaut, die Hochschule gründete, hatte ein Clusius als Cancellarius des Landesherrn die Stiftungsurkunde vollzogen, und da die Universität ihr Jubiläum zum zweiten Male feierte, bekleidete ihr Vater, der Professor Clusius, als Rector Magnificus den höchsten Posten an derselben. Dort drüben aus dem säulengeschmückten Portal war er beim Festzug nach dem Denkmal des Stifters herab geschritten im violetten Sammettalar, die Ehrenkette um den Hals. Die Pedelle mit ihren vergoldeten Sceptern gingen voraus, die Professoren folgten, und die Studenten „in Wichs“ schlossen den Zug. Vor dem steinernen Kurfürsten und vor dessen Ururenkel, dem nunmehrigen Schützer der Hochschule, hielt er der athemlos lauschenden Menge eine seiner berühmten Reden.

Es war das letzte Mal, daß er öffentlich gesprochen hatte.

Als das Jahr 1866 gekommen war, mußte er Heilung für sein überarbeitetes Haupt suchen, und er wandte sich zu diesem Zweck der Heimath seiner Seele zu: er ging nach Griechenland. Die Hoffnung, die Stätten schauen zu dürfen, wo sein Geist von früher Jugend an am liebsten geweilt hatte, ließ die ermatteten Kräfte aufleben. Und sie, die damals kaum Neunzehnjährige, vergaß schnell den Schrecken, welchen ihr des sonst unermüdlichen Vaters Entschluß, in den Ruhestand zu treten, bereitet hatte, über die Freude auf die große Reise in das Vaterland der Iphigenie, der Antigone. Sie schrieb die Thränen der bejahrten Cousine ihres Vaters, die seinen Haushalt versorgte, dem Trennungsschmerz zu und verstand nicht, warum der alte Diener, der sie begleitete, seine bedenkliche Miene behielt.

Verklärte sich doch ihres Vaters Antlitz immer mehr, je näher sie dem Ziel ihrer Reise kamen. Mit heitrem Lächeln wandelte er auf dem Deck des großen Lloyddampfers, der sie durch das Mittelländische Meer trug und schon von orientalischem Leben erfüllt war. Albanesen sangen, in ihre Mäntel aus Ziegenfellen gehüllt, eintönige Lieder, Türken saßen mit gekreuzten Beinen an der Schiffswand und speisten aus Blechbüchsen, die in buntem Durcheinander Südfrüchte und Oel, Zwiebeln und Hammelfleisch enthielten, ein Imam warf sich vor einem Säckchen geweihter Erde aus Mekka nieder. Und sie schauten nach den Felsengestaden Ithakas, die kahl, ohne Lebensspur, aber umschwebt von Homer’s unsterblichen Gestalten, an ihren Augen vorüberzogen, bis in der rasch hereinbrechenden Nacht Odysseus’ Heimath entschwand und das Schiffsgestirn der Athener, die sieben Sterne des Wagens, wie Feuer vom Himmel herabflammte.

Im Hafen von Syra bestieg er mit frohem Zuruf das kleine Dampfboot, den „Schild“, das sie an das Ziel ihrer Reise bringen sollte.

Es war gegen Sonnenuntergang, als sie um das Cap Sunion, das jetzt Colonna heißt, herumfuhren. Da trat er zu ihr und sprach mit strahlenden Augen: „Von hier aus erschaute schon [602] der heimkehrende Athener die goldne Lanzenspitze der ehernen Athene des Pheidias, die hoch auf der Akropolis Wacht hielt.“ Helios’ Fackel sank glühend hinab. Ueber den Bergen von Aegina flammte das Abendroth, wie feurige Wolken zuerst, dann in raschem Wandel in die leuchtenden veilchenblauen Farbentöne übergehend, die jener Landschaft eigen sind. Blaue und rothe Lichter, bald tief dunkel, bald hell strahlend, spielten aus dem Meer, aus dem silbern schimmernde Delphine auftauchten. Er hatte den Hut abgenommen; der weiche Hauch dieser Luft, der schon heilbringend sein sollte, spielte in seinem langen grauen Haar, und mit verklärtem Antlitz fuhr er fort: „Da, der rothe Fels ist Salamis, das dunkelblaue Meer, aus dem er emporsteigt, die Stätte, wo vor zwei Jahrtausenden die große Seeschlacht gekämpft wurde. Und dort,“ fügte er mit stockendem Athem, flüsternd, wie beim Anblick eines Allerheiligsten hinzu, „dort taucht die Akropolis auf.“

Die hochgehenden Wogen der Empfindung hielten zwar nicht Stand, als der „Schild“ im Piräus zwischen Schiffen aller Nationen Anker warf und sie den classischen Boden betraten. Die Neugriechen in ihren Fustanellen, den weißen weiten Faltenröcken, den Gamaschen und unförmlichen Schnabelschuhen führten deutlich vor Augen, daß ein neues Volk die alte Culturstätte bewohnte. Selbst Athen war eine moderne, fast abendländische Stadt, wenn auch die Straße, in der sie ihr Logis fanden, nach dem Götterboten Hermes und diejenige, in welcher ihre Buchhandlung lag, nach dem Windgott Aeolus genannt war, und wenn auch die Conditorei, in der sie den berühmten Honig von dem mit Thymian bedeckten Hymettosgebirge naschten, den Namen des großen Gesetzgebers Solon trug.

Aber die Welt von heut versank für sie, wenn sie an mondhellen Abenden droben auf der stillen Akropolis weilten. Der Invalide, den sie als Führer mitnehmen mußten, blieb, zufrieden seine Drachmen einstreichend, zurück. Sie wandelten allein durch die Ruinen im bläulichen Licht der strahlenden Selene, die so groß erschien, als sei sie die erwachsene Schwester unseres kleinen deutschen Mondes. Wie ein aus dem Hades emporgestiegener Geist der Griechen fand der blasse Gelehrte seinen Weg durch die stolzen Propyläen und über das marmorne Trümmerfeld. Mit beflügeltem Wort ließ er die alte Herrlichkeit wieder erstehen: den zierlichen ionischen Säulenbau des Erechtheion, in dem dereinst das älteste aus Oelbaumholz geschnitzte Bild der Athene aufbewahrt wurde, und den Parthenon mit seinen ernsten dorischen Säulen, welcher zu Ehren der Athene Parthenos erbaut war und jene herrliche Statue der Göttin enthielt, die Pheidias aus Gold und Elfenbein gebildet hatte; das alte veilchenumkränzte Athen erhob sich wieder am Fuße der Akropolis. Der ausgegrabene Rundbau des Dionysostheaters wuchs empor, und auf marmornen Sitzen saßen die Athener und schauten die Tragödien des Sophokles und Euripides. Die feierlichen Klänge der Kithara, die Apollo spielte, ließ er im Geist ertönen und das schmeichelnde Flötenspiel säuseln, mit dem die leichtgeschürzten Töchter des benachbarten Ioniens die athenischen Männer zu berücken wußten.

Es war ein herrliches, genußvolles Leben. Aber wie alle Sterblichen wandelten auch sie nur kurze Zeit frei von Unheil.

Es kam ein sonnenklarer Tag, an dem sie wieder einmal zur Burg emporstiegen. Der Vater war schweigsamer denn sonst, und auf ihrem Herzen lag ein Druck, auf ihrem Geist ein Schatten, den sie nicht mit Namen nennen konnte. Sie suchte die Ursache in äußeren Dingen. Sie standen vor der einstigen Cella der Athene Parthenos. Jetzt ragte darin das halb abgetragene Minaret empor, das von den mohammedanischen Siegern aufgeführt worden war. Sie brach in leidenschaftliche Klagen aus über die Barbaren, welche die Statue verschleppt und vernichtet hatten, daß nichts davon übrig geblieben war als die kleine Copie, die sie im Cultusministerium immer auf’s Neue bewunderte.

Aber ihr Vater schüttelte ernst das Haupt: „Das Götterbild ist vernichtet; wir bedauern es, müssen aber bedenken: je reiner die Gottesidee sich entfaltet, je mehr wird sie die Formen und Symbole abstreifen. Laß uns noch einmal in den Giebel hinaufsteigen.“

Mit sicheren Schritten ging er den schwindelnden Weg und ließ sich dann droben auf einem der riesigen Marmorarchitraven nieder. Sein Blick glitt hinaus über den Spiegel der See bis zu den zackigen Bergen des Isthmus, die Akrokorinth beherrscht – eine Ruine gleich der Akropolis, hinab auf den Burghof, der ehemals von herrlichen Marmorbildern und Bauwerken erfüllt gewesen war, und in welchem jetzt, über einander gestürzt, in stachelige Aloen eingebettet, Säulentrommelnt und Capitäle, Metopentafeln und Stücke von Friesen und Statuen lagen, die, von der Zeit bronzirt, nur am frischen Bruch noch weiß glänzten.

Da sprach er leise: „Selbst das herrliche Volk, das eine Blüthezeit sah wie kein anderes, mußte vergehen. Menschenloos! Wie dürfte der Einzelne hoffen, seinem Geschick zu entrinnen?“

Sie sah ihn erschrocken, nach Verständniß suchend, an. Aber auf seinem Antlitz lag das Leuchten der stillen Ergebung, die sich jedem Gebot der Götter fügt. Dann stützte er sich auf ihren Arm und stieg langsam hinab. –

Nur mit geschlossenen Augen zog er noch einmal an der zusammengesunkenen Herrlichkeit vorüber, als er, der Sitte des Landes gemäß, im offnen Sarg hinausgetragen wurde zur letzten Ruhestätte.

Sie konnte sich nicht so schnell vom Grabe ihres Vaters trennen und auch nicht von den Orten, wo sie noch einmal mit ihm eine so glückliche Zeit verlebt hatte. Eine befreundete Familie, Verehrer ihres Vaters, nahm sich ihrer an und half ihr im Ordnen der äußeren Angelegenheiten. Ein bekannter Forscher erbat sich das Material zu einem Nekrolog des berühmten Gelehrten. Sie mußte den Nachlaß des Verstorbenen durchsehen. Und wie aus den Schriften das schöne Gleichmaß seiner Seele zu ihr sprach, so wehte es wie ein Hauch von Trost in ihr Herz, wenn sie in den Trümmern des Tempels der erhabenen Schutzpatronin ihres Vaters weilte. Es war, als ob zwei hehre Stimmen, harmonisch zusammenklingend, einander ergänzend, sie zur Ruhe redeten. Aus dem heißen Schmerz wurde wehmüthige Sehnsucht nach dem Geschiedenen, dann ein stilles Gedenken, ein Weiterleben in seiner Geisteswelt.

So war es gekommen, daß sie mit dem hinsterbenden Vater sich in die Geschichte der alten Griechen versenkte, während in Deutschland unter Kriegsdonner die neue Zeit anbrach; so kam es, daß sie, mit dem ersten großen Schmerze ihres Lebens ringend, die Botschaften von der frechen Einmischung des Erbfeindes, der einmüthigen Erhebung ihres Volkes, dem Siegeslaufe des deutschen Heeres und dem ruhmvollen Friedensschluß nur wie leeren Schall an ihrem Ohre vorüber gehen ließ. Und doch war ein Nachhall aus jener Zeit mächtig genug, sie in die Heimath zurückzuführen.

Als sich ein Jahresring nach ihres Vaters Tode geschlossen hatte, kehrte sie einstmals von einem Spaziergange in den Schloßgarten zurück, den die frühere Königin Amalie angelegt hat. Der Gesang der Nachtigallen, die hier unter Orangenbäumen und Palmen schlugen, tönte ihr nach. Da hörte sie vor dem Schlosse die griechische Militärkapelle eine Weise spielen, die frisch und muthig klang wie das Volkslied ihrer waldigen Heimath. Sie vermochte kaum durch die Menge von fremden Reisenden, Griechen in der Nationaltracht, Griechinnen in fränkischer Kleidung, mit dem Fez auf dem rabenschwarzen Haare, zu dringen. Alle lauschten neugierig dem Musikstücke. Da sie, wunderbar angeheimelt, stehen blieb, sprach der neben ihr schreitende Landsmann: „Es ist die ‚Wacht am Rhein‘, die ihre Siegesreise um die Welt macht.“

Da kam das Heimweh, das sie bisher nie gekannt hatte, mit Macht über sie und überwältigte sie so, daß sie urplötzlich in stürmischer Hast zur Rückkehr rüstete.

Auf dem „Schild“, der sie gebracht, fuhr sie eines Abends mit dem alten Diener wieder davon, und das Land der Griechen versank hinter ihr in Nacht und Fluth. Am andern Morgen lag das große Dampfschiff im Hafen von Syra vor ihr, das sie in die Heimath zurückführen sollte. Hell glänzte sein Name im Morgenlicht. „Mars“ ward es genannt.

Nun befand sie sich schon ein paar Wochen wieder daheim; aber heimisch war es ihr noch nicht geworden. In ihrem kühlen Hause am Universitätsplatze stand zwar Alles unverrückt auf derselben Stelle. Die alte Verwandte ihres Vaters, eines jung verstorbenen Privatdocenten würdige Wittwe, führte wie in früherer Zeit die Wirthschaft.

Aber außerhalb desselben fand sie sich in einer ihr neuen fremden Welt. Zwischen den Studenten klirrten Ulanen; denn Greifenberg hatte eine Garnison bekommen. Die Krieger schauten mit kecken Blicken um sich. Hatte doch der Eine sich unterstanden, sie, Ereme Clusius, schon von Weitem mit den Augen zu fassen [603] und nicht wieder loszulassen. Das war unerhört: die „Clusia“ wurde von dem flottesten Corpsburschen respectirt. Sie hatte hoheitsvoll das Antlitz abgewendet. Ein Schüler ihres Vaters, den sie als Studenten verlassen hatte und als Privatdocenten wiedersah, rasselte bei seinem ersten Besuch als Reservelieutenant in das Haus, da er gerade einberufen war zu einer Uebungszeit. Kaum vermochte sie den Doctor Gerhard wieder zu erkennen, der sonst so würdevoll zur Universität geschritten war und jetzt in toller Hast von ihr hinwegstürmte, als er fürchtete, die Stunde des Appells zu versäumen. Und da sie ihrer intimsten, wenn auch älteren Freundin, der Stiftsdame Melanie von Seebergen, die da drüben in dem grauen ehemaligen Klostergebäude wohnte, über alle die Veränderungen ein erstauntes Wort sagte, erwiderte diese lächelnd:

„Fordern Sie nicht zu viel für sich und Ihre Welt von uns. Bedenken Sie, wir haben nun selbst einen Leonidas. Hat nicht Werder mit seinem Corps ebenso am Engpaß Wacht gehalten und sich nicht einmal aufreiben lassen?“

Selbst der grüne Eichberg war nicht derselbe geblieben. Als sie das dunkle weitgeöffnete Auge zu den leise brausenden Wipfeln erhob, da erschaute sie über dem höchsten Berggipfel den großen schwarzen eisernen Adler, der mit ausgebreiteten Flügeln und hoch nach Westen gerecktem Kopf auf der Säule stand, welche das dankbare Vaterland den gefallenen Kriegern errichtet hatte.

Wehmüthig senkte sie das Haupt. Sie hätte so gern das Große, das gethan war, bewundert; aber es trat ihr fremd, herrisch entgegen, das Leben, welches durch Jahrhunderte ungestört sich hier entfaltet hatte, zurückdrängend.

Und Niemand fühlte mit ihr; sie war stets Creme, die Einsame. Alles jauchzte der neuen Zeit zu. Sogar das Rudel barfüßiger Kinder, das, mit Stöcken bewaffnet, eben herantobte und schrie: „Jetzt kommen sie.“

Dort um die Waldecke, die einen Theil des weiten Exercirplatzes verbarg, bogen sie, die weltberühmten Ulanen mit ihren Lanzen, von denen die schwarz-weißen Fähnchen wehten. Voran der Führer; eine Pferdelänge hinter ihm der Trompeter.

Der Wind ließ Ereme’s blauen Schleier gleich einem Wimpel flattern. Sie zog ihn an sich und schritt durch die Wiesen hinab nach dem Fluß. Da schlug eine mächtige Stimme an ihr Ohr. Unwillkürlich sah sie zurück.

Der Rittmeister hatte sich hoch im Sattel erhoben. „Escadron! Zur Attake! Lanzen gefällt!“ tönte es herüber.

Der Trompeter blies ein Signal, die Ulanen setzten sich in Trab; ein neues Signal, sie gingen in Galopp über, und ein drittes anlegendes Geschmetter, das Ereme zusammenfahren ließ; jetzt sauste die Schwadron mit gefällten Lanzen im Carrière dahin, der Rittmeister, den blinkenden Säbel in der Faust, voraus. Der Boden dröhnte unter den donnernden Rosseshufen, die Luft bebte von den wilden Klängen.

Sie wandte sich an einen jungen Mann, der, den Rechen in der Hand, eine abgetragene schildlose Soldatenmütze auf dem Kopf, seine Arbeit unterbrochen hatte, um den Uebungen der Ulanen zuzuschauen. „Was ist das für eine ungestüme Weise?“

„Wir nennen es ‚Fanfaro‘,“ antwortete er.

„Was heißt das?“ erkundigte sie sich befremdet.

Die barfüßigen Jungen schrieen: „Oho, die weiß nicht, was Fanfaro ist,“ und sie fällten ihre Stöcke wie Lanzen.

„Es ist das Commando, das bei der Infanterie ‚Marsch, Marsch!‘ heißt,“ autwortete der Arbeiter, dessen stramme Haltung zeigte, daß er gedient hatte.

„Und was ist Marsch, Marsch!?“ fragte Ereme.

Die Kinder erhoben ein Hohngelächter, schwangen sich auf ihre Stöcke und ritten im Galopp auf den Exercirplatz hinab.

„Das ist das Commando zur Attake,“ erläuterte der junge Mann, mit verklärtem Gesicht den Dahinstürmenden nachschauend. „Das ist der Bartenstein! Der reitet wie der Teufel.“

Wieder ein Signal.

„Jetzt wird zum Ralliiren geblasen,“ erklärte er.

Die Officiere salutirten mit den Säbeln. Die Escadron kehrte zu ruhiger Gangart zurück.

Ereme wandte sich der Uferstelle zu, wo der Kahn lag, der hier den Uebergang vermittelte.

Der Fährmann, der aus seiner Hütte herabkam, redete sie zutraulich an. „Es hat sich viel verändert, seit ich Sie zum letzten Mal übersetzte. Damals war der Herr Vater noch dabei. Wir haben Alle Theil genommen, als die Nachricht eintraf, daß der berühmteste Professor unserer Universität gestorben war. Und noch dazu so weit von der Heimath.“

„Er würde dieselbe so wenig wieder erkennen als ich,“ erwiderte Ereme.

„Ja, wir sind groß geworden seitdem,“ sagte der junge Mann. „Wir haben das deutsche Reich aufgerichtet. Ich habe auch vor Paris gelegen und mein Weihnachtsbäumchen mit Granatsplittern behangen, statt mit Aepfeln und Nüssen.“

Sie sah ihn verwundert an. Das hätte man früher Galgenhumor genannt. Aber dieses Wort paßte nicht mehr; der Erzähler lachte mit unzweideutigem Frohmuth. Sie hatte keine Zeit, weiter darüber zu grübeln. Die Ulanen zogen heran, wohl der Brücke zu, die weiter droben in die Stadt führte, wo ihre Caserne, ein ehemaliges kurfürstliches Schloß, lag.

Und da ritt auch wieder der Officier an der Spitze, der vorhin so kühn dahin jagte, und auch wieder, wie schon ein- oder zweimal, wenn er ihr begegnet war, faßten seine Augen sie von Weitem so unverwandt und scharf, als wolle er sie an den Boden bannen.

Sie richtete sich auf. In ihren weißen Plaid mit lässigem Faltenwurf gehüllt, den Zipfel über die Schulter geschlagen, erhob sie sich auf dem hohen Uferrand gleich einem plastischen Gebilde vor dem Heranreitenden; dann wandte sie sich mit einer stolzen Bewegung, die wie die sprechende Geste einer antiken Statue erschien, ab und schritt nach dem Kahn hinunter.

Im selben Augenblick ertönte wieder die Commandostimme hinter ihr: „Escadron! Halt! – Bitte, die Herren Officiere!“ Die Officiere ritten an den Rittmeister heran. – „Meine Herren, ich danke Ihnen.“

Er warf sein Pferd herum und setzte im Hui über die Weißdornhecke des Weges, jagte über die Wiese, nahm im Flug den Graben, der sie hüben vom Wege schied, und nun ging es geradeswegs auf die Uferstelle zu, wo Ereme stand.

Eilig stieg sie in den Kahn. Der Schiffer löste ihn von seiner Kette und stieß ab.

Da sprengte der kecke Reiter ihr nach in den Fluß hinein.

Erschrocken schaute sie sich um.

Er aber sah mit einem leichten Lächeln um die schön geschwungenen Lippen, die von der Gewohnheit des Befehlens geschärft erschienen, über sie hinweg. Seine hohe, schlanke, geschmeidige Gestalt, von der Ulanka eng umschlossen, wiegte sich elastisch auf dem feurigen Goldfuchs, der schnaubend die Schaumwellen theilte. Lustig flatterte der weiße Haarbusch von der Czapka.

Die übrigen Zuschauer hatten sich offenbar nicht erschreckt. Sie schienen an absonderliche Reiterstückchen des Rittmeisters gewöhnt zu sein. Der alte Fährmann lachte nur in seinen Bart, von der Wiese aus sahen die heumachenden Archeiter vergnügt zu, die Ulanen zogen unbekümmert ihres Weges. Nur ein Lieutenant mit hübschem regelmäßigen Gesicht und glänzend schwarzem Schnurrbart hielt am Ufer und verfolgte mit unverkennbarer Aufmerksamkeit den Verlauf der Scene.

Das Wasser stieg höher, dem Pferd bis an den Leib; der Rittmeister ritt weiter, immer mit dem gleichen überlegenen Lächeln auf den von einem braunen Bart umkräuselten Lippen. Es schien zu sagen: „Du sollst Deinen Willen nicht durchsetzen, was Du auch thun magst.“

Einmal fiel das Pferd mit den Vorderhufen so tief hinein, daß es den Kopf hochrecken mußte, um über Wasser zu bleiben. Der Ausdruck in dem kühn geschnittenen gebräunten Antlitz des Reiters blieb aber so übermüthig wie vorher; er hob die Zügel, und vorwärts ging’s.

Dann trieb die Strömung den Kahn, daß er Seite an Seite mit dem kecken Reiter war und der Schiffer mit sichtlicher Sorge steuerte. Aber jetzt blickte Ereme nicht mehr nach ihrem ritterlichen Begleiter hin. In ihren unbewegten Zügen, auf den herbe sich senkenden Mundwinkeln stand geschrieben: „Wenn Dich Dein Schicksal erreicht, was kümmert’s mich?“

Endlich waren sie am Ufer angelangt.

Ereme gab dem Fährmann seinen Lohn. „Hier ist der Obolus,“ sprach sie. „Eine Fahrt in Charon’s Nachen mag nicht viel widerwärtiger sein, als diese es war.“

Der biedere Schiffer wunderte sich nicht über ihre Worte. In kleinen Universitäten ist auch der Geringste an hohe Reden gewöhnt.

[606] Aber der Reiter lauschte auf bei dem Wohlklang ihrer tiefen Stimme.

Sie verließ mit gemessenem Schritt den Kahn, sein Pferd erklomm den Uferrand, und jetzt sahen Beide sich an.

Wie ein blauer Blitz traf sein Blick ihre schöne Gestalt, die hoch aufgerichtet vor ihm stand, den Kopf leicht über die Schulter ihm zugewandt; und unter ihren breiten dunkel umsäumten Augenlidern hervor fiel ein Eisesblick auf ihn.

Da erhob er, unbekümmert darum, daß das Wasser in Strömen von ihm und seinem Goldfuchs herabrann, mit vollendeter Curtoisie und Grazie die Hand grüßend zur Czapka, und ohne auf einen Gegengruß zu warten, der ihm auch nicht wurde, jagte er davon, während sie sich heimwärts wandte und unter langsamem Dahinwandeln das Zittern verbarg, das der Zorn über den frechen Lanzenreiter ihr erregte.

Sie hätte aller Welt kund thun mögen, welche Unbill ihr widerfahren war, und sie hatte keinen Menschen, zu dem sie mit ihrer Empörung flüchten konnte. Die gute Tante zu Haus würde sie nicht verstehen, kaum anhören; ihr Horizont war in der früchtespendenden Sommerzeit ausgefüllt mit Himbeersaft und Johannisbeergelée. Und für die Anfechtungen des täglichen Lebens hatte sie stets ein deutsches Sprichwort in Bereitschaft, mit welchem sie wie an festem Bergstock über die Steine des Anstoßes hinwegstieg. Mit Widerwillen dachte Ereme, daß sie zum Trost die Allerweltsweisheit vernehmen müßte: „Der Krug geht so lange zu Wasser, bis er bricht.“

Aber da ragten vor ihr die Stiftsgebäude auf mit ihren spitzen Giebeln und dem schiefergedeckten Thurm. Zu Melanie wollte sie gehen. Die Stiftsdame, die immer Alles zum Besten kehrte, sollte hören, wie ihre berühmten Rufer im Streit sich betrugen. Ihr Blick glitt über den Garten, aus dem plaudernde Stimmen schallten. Zwischen Lilien und blassen Rosen, die an den ehemaligen Klostergarten erinnerten, saß ein Kreis von Stiftsdamen um eine blinkende Kaffeemaschine, mit Strickkörbchen und Nähkästchen, obenan kerzengerade die alte Pröbstin, deren kleine polirte Krücke mit silbernem Griff gleich einem Krummstab in ihrem Arm lehnte. Melanie befand sich nicht unter ihnen.

Ereme schritt über den Vorhof, die steinerne Wendeltreppe hinauf, deren Stufen mit dunklem Teppichstoff belegt waren, den in gotischem Bogen sich wölbenden Corridor entlang, bis zur Glasthür, die Melanies Wohnung abschloß.

Als sie auf den Knopf der Klingel gedrückt hatte, klapperten eilig aus der Tiefe des Ganges Hackenschuhe heran; die mit dichten Musselinfältchen verhüllte Thür öffnete sich, und eine zierliche Zofe knixte vor dem Besuch. Zugleich erschien das rosenrothe Näschen eines schneeweißen King-Charles in der Luke, der als Halsband eine breite heliotropfarbige Atlasschleife trug.

„Das gnädige Fräulein haben das gnädige Fräulein kommen sehen und lassen bedauern. Sie sind bei der Toilette,“ referirte die Jungfer. „Das Musikcorps von den Ulanen giebt ein Concert im Philosophenhain. Aber sie lassen das gnädige Fräulein bitten, sie doch dahin zu begleiten. Das gnädige Fräulein würden sich ein Vergnügen daraus machen, das gnädige Fräulein abzuholen.“

„Ich lasse danken,“ gab Ereme schroff zur Antwort. „Ich habe heute schon genug von den Ulanen gehört und gesehen.“

Sie wandte sich.

„Das gnädige Fräulein werden bedauern,“ knixte abermals die Jungfer. „Ach Darling, da bist Du. Der Kleine läuft aber auch überall nach.“ Sie nahm ihn besorgt auf den Arm. „Unterthänigen guten Tag.“

Ereme ging mit streng zusammengezogenen Brauen nach Haus.

[621] Als der Abend dämmerte, legte der Philosophenhain sein Festgewand an. In den Bosquets von blühendem Jasmin, unter den Akazien glühten Lampions auf, das Borkenhaus, in welchem die Restauration sich befand, wurde mit Reihen von brennenden Lämpchen illuminirt, ein Zelt für die Musik war aufgeschlagen und mit Fahnen in den Farben Deutschlands, Preußens und des Herzogthums geschmückt. Bald schmetterten die Trompeten den Einzug der Gäste aus dem „Tanhäuser“.

Eine gewählte Gesellschaft füllte allmählich die breiten Lindengänge und nahm Platz unter den Gruppen von Silberpappeln, Edeltannen und Rotheichen, auf deren verschieden gefärbten Blättern das Licht der Lampen spielte, die auf den Tischen brannten. Kellner eilten geschäftig hin und her und trugen Limonade und Eis für die Damen, das gesellschaftsfähig gewordene Bier für die Herren auf.

Der Oberst des Ulanenregiments, eine stramme Gestalt mit rundem rothen Gesichte und klugen, etwas zugekniffenen Augen, ließ einen Feldherrnblick in die Runde gehen. Am Eingange erschien soeben der jetzige Rector Magnificus, ein namhafter Jurist, der durch seine Reden im norddeutschen Parlamente und im Reichstage die Rechtsverhältnisse des neuen Reiches hatte ordnen helfen.

Zu gleicher Zeit schritten die beiden stattlichen Herren auf einander zu und tauschten Gruß und Händedruck wie die Repräsentanten zweier Mächte, die sich alle Rücksicht erweisen, aber kein Titelchen ihrer Rechte vergeben wollen.

Dann faßte der Oberst seine jungen Officiere scharf in’s Auge. Unter den Kastanien dicht neben der Restauration schaarten sie sich eben zusammen, die Mützen keck auf das rechte Ohr gedrückt, die Schnurrbärte in den sonnenverbrannten Gesichtern lang ausgezwirbelt, mit Wespentaillen und an den Stiefeln hohe Hacken.

Ihr ungenirtes Geplauder schallte zu ihm herüber. „Wer war denn die abenteuerliche Dame, die allein im Felde herumstrich und vor Bartenstein in den Kahn retirirte? Kronheim, Sie müssen es wissen; Sie haben es mit angesehen.“

Kronheim, der hübsche schwarzbärtige Officier, der dem Reiterstücke so aufmerksam zugeschaut hatte, antwortete: „Sie würden gut thun, nicht zu laut zu sprechen. Die Dame gehört einer alten Professorenfamilie an.“

„Ich danke. Also nicht die Heroine vom Sommertheater?“

„Bewahre; die spielt heute.“

„Wie lange dauert denn der Zauber hier?“

„Um elf Uhr liegt Alles in den Federn; dann können wir immer noch das Souper der Truppe in der Theatertaverne mitmachen.“

Schalen mit duftenden Walderdbeeren, die vorüber getragen wurden, gaben dem Gespräche eine andere Wendung. „Bowle machen!“ riefen die jungen Helden wie aus einem Munde. „Sect her!“

Der herantretende Oberst vereitelte den fröhlichen Plan. „Wollen Sie hier einen Stammtisch gründen, meine Herren?“ fragte er ironisch. „Dort in der Laube sitzen die jungen Damen. Also vorwärts! wenn Sie sich auch einmal langweilen. Dafür sind Sie Officiere; das gehört zu den Pflichten Ihres Standes.“

Stumm machten die Herren „links schwenkt“. Die Säbel hochgehakt, gingen sie vorsichtig wie auf Eiern dem befohlenen Ziele zu; denn Säbelrasseln und Sporenklirren ist nicht mehr guter Ton.

Der Oberst spähte in die Laube hinein, die von Jelänger-jelieber übersponnen war, um dessen süß duftende Blüthen große graue Nachtfalter surrten. Junge Mädchen in lichten Sommertoiletten plauderten darin mit Studenten, die durch ihre dreifarbigen Bänder als Angehörige vornehmer Corps bezeichnet wurden. Sein Töchterchen fehlte in der jungen Schaar.

Dort spazierte der blonde rosige Backfisch mit einer Busenfreundin gleichen Alters durch einen dämmerigen Seitengang, und des Vaters feines Ohr vernahm: „Er ist durch den Fluß gesprengt, natürlich auf dem ‚Sturmvogel‘, dem Goldfuchs; denn dieses Kraftstück hätte keines von seinen anderen Pferden durchsetzen können. Die feinen Kunststücke, zum Beispiel, daß er die Casinotreppe hinauf reitet, führt er mit dem Mohrenschimmel, dem ‚Koh-i-noor‘ auf. Was für schöne Namen haben seine Pferde! Denke Dir: Papas neuer Brauner heißt Pomuchelskopp. Wie furchtbar!“

„Elsa!“ ries der Oberst, und ein energischer Wink wies sie in den Kreis, in dem ihre Mama saß. Er kehrte ebenfalls an den großen Mitteltisch zurück, um den sich verheirathete Officiere und Professoren mit ihren Frauen reihten.

Hier hatte auch die Stiftsdame Melanie von Seebergen Platz genommen. Das große Stufenjahr für die Jugend der Frau, das dreißigste, lag schon einige Zeit hinter ihr. Doch war sie eine der seltenen Erscheinungen, von denen das Alter sich um so bescheidener fern hält, je freundlicher es gebeten wird, näher zu [622] kommen. Das anziehende feine Gesicht mit dem matten Teint zeigte noch kein Fältchen, kein Silberfaden zog sich durch die lichtbraunen Scheitel, welche ein duftiges, mit Flieder geschmücktes Capotehütchen umschloß.

Mit einer kleinen Filetarbeit, einem Fliegennetze aus Purpurseide für Darling, beschäftigt, ließ sie das Gespräch an sich vorüber summen von Bonnen und Kleiderproben, Rennpferden und Vordermännern. Zuweilen klang auch ein interessantes Wort dazwischen.

„Nein, der Name Bartenstein ist nicht von den Barden der alten Germanen abzuleiten,“ erklärte der berühmte Mitarbeiter des Grimm’schen Wörterbuches einer jungen Amerikanerin, „und das t ist nicht alte Orthographie, sondern in seinem guten Recht. Barte heißt Beil, Streitaxt, und das Geschlecht hat gewiß zu allen Zeiten mehr vom Dreinschlagen gehalten, als vom Singen und Sagen.“

Stumm hörte Miß Smith ihm zu.

„Also von sehr altem Adel,“ flüsterte ihr ziemlich vernehmbar die Dame in’s Ohr, unter deren Schutz sie in der Gesellschaft erschien. Es war die Frau eines jungen Bankiers, die so viel Weiß, Roth und Schwarz für ihr Gesichtchen verwendete, daß sie den Spitznamen „die deutsche Fahne“ erhalten hatte.

Die Officiere lächelten über das Gespräch. Das ganze Regiment wußte, daß es für Miß Smith Sport war, einen Officier des siegreichen Kriegsheeres zu erobern, und daß sie speciell Bartenstein erkoren hatte.

Dann theilte an der andern Seite des Tisches ein viel genannter Aesthetiker mit: „Doctor Gerhard hat wieder eine scharfsinnige Abhandlung geschrieben: ‚Die Wahrheit über das Wesen der Liebe‘.“

„Ist er so erfahren in diesem Punkte?“ fragte der Oberst und blinzelte Melanie schelmisch an.

Sie lächelte gelassen. „Ich glaube, daß er die Liebe nur aus Büchern und Hörsälen kennt.“

Die Gemahlin des Obersten, eine Dame von vornehm reservirter Haltung und maßvoller Verbindlichkeit, kam weiteren Neckereien ihres Gatten zuvor. Sie sind befreundet mit ihm, Fräulein von Seebergen?“ fragte sie.

„Ja,“ antwortete Melanie. Der Verkehr mit der Jugend ist für uns alternde Frauen immer von hohem Werthe. Er erhält uns in Verbindung mit der heutigen Welt und schlägt eine geistige Brücke in die Zukunft.“

„Da kommt der Autor und wird uns gleich selbst von seinem neuesten Werke erzählen,“ sagte der Oberst. „Denn er rückt natürlich auf seinen ‚abonnirten Platz‘ los.“ So wurde der Stuhl neben Melanie bezeichnet, den Doctor Gerhard stets einzunehmen pflegte.

Die Stiftsdame wandte sich um. Da stand der junge Gelehrte vor ihr, tadellos gekleidet wie immer, die blonden Scheitel sorgfältig frisirt, einen Cylinder von neuester Façon in der Hand.

„Ich bin gespannt zu erfahren, ob ich mit Ihren Ansichten über die wahre Liebe übereinstimmen werde,“ redete Melanie ihn an.

In seine feinen blassen Züge trat ein Ausdruck von Pedanterie. „Nun, was verstehen Sie darunter?“ examinirte er, während er seinen „abonnirten Platz“ wirklich einnahm.

„Die Liebe zwischen zwei Menschen, die von Uranfang für einander bestimmt sind und einzig in ihrer Vereinigung Ruhe und Glück finden können,“ antwortete Melanie.

Er lachte überlegen. „Die veraltete Lehre von Eros und Anteros. Wie kann eine Dame sich zu derselben bekennen, die wie Sie auf der Höhe der Bildung steht und unsere modernen Schriftsteller liest?“

„Ich lese sie, aber ich lasse sie mir nicht zu nahe kommen,“ erwiderte Melanie. „Ich halte es mit den alten Dichtern, deren Worte die Seele beflügeln, während die Weisheit der neuen Schriftsteller sich uns wie ein Mühlstein um den Hals hängt.“

„Man muß die Wahrheit ertragen können, auch wenn sie schwer wie ein Mühlstein ist,“ sagte der Doctor großartig.

„Meine Herrschaften,“ rief der Oberst, jetzt streiten sich Herz und Verstand. Das ist höchst interessant,“ und er rückte seinen Stuhl herum.

Die Gesellschaft horchte auf. Die jungen Mädchen, welche mit Officieren und Studenten um das große Rosenrondell promenirten, blieben stehen.

„Die Forschungen der Wissenschaft haben ergeben,“ sprach Doctor Gerhard, „daß die Lehre von der einzigen wahren Liebe ein Hirngespinnst ist. Wir verlieben uns Alle ein Dutzendmal.“

Der Oberst lachte in seinen martialischen Schnauzbart. „Ob nicht immer solch ein solider Kauz sich gern für einen Don Juan ausgiebt!“

„Wie Flammen verlodern,“ fuhr Doctor Gerhard in seinem Vortrage fort, so erlischt die Liebe zu einem Individuum und entzündet sich auf’s Neue für ein anderes.“

„Sie meinen also,“ fragte Elsa, „daß jeder Herr sich in jede Dame verlieben kann? Wenn aber nun ein großer Altersunterschied vorhanden ist?“

Der Doctor sah sie verwirrt an.

„Zum Beispiel,“ erilärte sie. „Wenn Er schon eine Schwadron führt, und Sie soll durchaus noch die Selecta besuchen.“

„St!“ machte der Oberst.

Elsa spülte ihre Aufregung mit einem Glase Selterswasser und Himbeersaft hinunter. Der Doctor docirte, seinen tadellos gantirten Zeigefinger erhebend, weiter: „Einen bestimmten Geschmack hat natürlich jeder Mensch; aber diesem entspricht nicht nur ein Individuum, sondern Hunderte, die das Thema seiner Wünsche und Neigungen variiren. Man kann als erwiesen feststellen, daß die Gegensätze sich anziehen, um sich zu ergänzen. So werden ein Mann, dem die That näher steht, als der Gedanke, und ein Weib von feiner geistiger Organisation einander zustreben; andererseits wird der Denker eine praktische Frau suchen, wenn sie auch sonst das Capitol gerettet haben könnte.“

Melanie sah ihn mit sanften Mondscheinaugen an. „Das wäre also Ihr Fall.“

Er neigte zustimmend das Haupt. „Wir Männer der Wissenschaft suchen Ruhe, Behagen, eine warme Stube, ein gutes Diner. Geist brauchen unsere Frauen nicht; den haben wir selbst.“

Der Oberst fixirte lächelnd den jungen Gelehrten, dessen Brillengläser unverwandt auf Melanie’s sympathische Gestalt gerichtet waren:

„In der Theorie mögen Sie Recht haben. Aber solche Sätze erweisen sich stets als hinfällig, wenn man sie auf einen bestimmten Fall anwenden will.“

„Ich finde diese Auffassung sehr frivol,“ sagte die Frau des hochangesehenen Professors der Theologie, die einen groben Strumpf für eine Wohlthätigkeitsanstalt strickte. „Jede Ehe kann Gutes fördern, wenn die Gatten nur einig sind im Vertrauen auf den Herrn.“

Doctor Gerhard ließ sich auf keinen Streit mit ihr ein; denn die theologische und philosophische Facultät konnten sich nun einmal nicht mit einander verständigen.

Die Gattin eines Rittmeisters, eine ernste Westpreußin, sah ihn vorwurfsvoll an. „Und ich begreife nicht, wie man über seine heiligsten Gefühle so öffentlich sprechen kann.“

„Aber die Liebe ist ja das interessanteste Capitel im Leben,“ Lachte eine junge Wittwe, die bereits das dritte Jahr Trauer trug, weil schwarzer Krepp ihr gut stand. „Nur finde ich es komisch, daß man den Geschmack in ein System bringen will.“

„Der meinige richtet sich auf einen Großen, Schlanken, Brünetten, einen Reiter!“ verkündete Elsa.

Ihre Mutter schlug seufzend die Augen gen Himmel. Ermuthigt durch Elsa’s Vorgehen griffen auch die anderen jungen Mädchen begeistert in die Debatte ein. „Ich liebe blond!“ „Ach, blond oder schwarz, wenn ein Herr nur sonst nett ist.“ Da die Sache wissenschaftlich erörtert wurde, meinte man, daß man sich nicht zu geniren brauche.

Die jungen Herren dagegen lachten und schwiegen sich aus über die Richtung ihrer Neigungen.

Wie kann man nur so mißverstanden werden!“ rief Doctor Gerhard verzweiflungsvoll in das Gezwitscher über schlanke Gestalten, schöne Augen, weiße Zähne und Schnurrbärte hinein; aber seine Stimme verhallte ungehört.

Erst eine aufsteigende Raketengarbe machte der Erörterung ein Ende. Das Publicum wendete sich dem Feuerwerke zu, in dessen Lichtglanz lebende Bilder auftauchten, welche die verschiedenen Geschmacksrichtungen vorführten.

Ein Rudel durch einander prasselnder Schwärmer beleuchtete junge Mädchen, welche zum Zwecke besserer Aussicht, unterstützt [623] von Studenten, auf Stühle stiegen, und andere, denen die jungen Officiere eingefangene Glühwürmchen in die Locken setzten. Die besorgten mütterlichen Rufe: „Bella!“ „Stella!“ „Hedi!“ „Betty!“ wurden übertönt von dem Fauchen eines sich aufschwingenden Tourbillons, der den Lieutenant Kronheim zeigte, wie er mit kühnem Blicke Miß Smith beobachtete, welche ihrerseits die Augen unverwandt nach dem Eingange des Gartens gerichtet hatte.

Jetzt flammte bengalisches Feuer auf. Da trat plötzlich Bartenstein in den Lichtkreis und kam mit raschen elastischen Schritten heran. Einen Augenblick wandten sich Aller Augen ihm zu, als er zuerst mit unerschütterlichem Diensternste den Commandeur begrüßte und dann mit einem Augenblitze die Gesellschaft überflog und sich verneigte.

Selbst die gelassene Melanie ließ sich zu den Worten hinreißen: „Ein Wunderwerk von einem Manne! Unbändig schön und trotz der großen Schönheit interessant.“

Gerhard verbarg ein leichtes Gähnen.

Melanie bemerkte es nicht. Sie saß still wie ein Naturforscher, der das Spiel der Falter um die gefährliche Flamme beobachten will. Im Schein einer Schaar Leuchtkugeln, die, von Fallschirmchen getragen, in der Luft hängen blieben, sah sie, wie die Brillanten in den Ohren und am Chemisette von Miß Smith zu funkeln und Strahlen zu schießen begannen, wie Elsa keine Ruhe auf dem Stuhle hatte, aber von dem lachenden Vater am dicken blonden Zopfe festgehalten wurde, und wie Bartenstein, der allein stand, seine Augen gespannt, forschend von einer Gruppe zur andern gehen ließ.

„Wen er nur sucht?“ sagte sie.

„Die wahre Liebe,“ lachte ironisch der junge Gelehrte.

„Spotten Sie nur,“ antwortete Melanie. „Ich bin überzeugt, daß das Thema seiner Neigung nicht Hunderte variiren, sondern daß er die Sehnsucht nach einem großen Herzensschicksale, nach einer wahren Liebe in sich trägt.“

Gerhard wurde gereizt. „Sie sehen ihn in viel zu poetischem Lichte. Wir modernen Männer erwarten die Liebe nicht wie ein Wunder. Ein Lebemann wie Bartenstein nimmt dieselbe als eine Zerstreuung hin, über die er nicht weiter reflectirt. Ein Philosoph,“ fuhr er hochmüthig fort, „findet sein Vergnügen darin, die Kunstgriffe zu durchschauen, zu belächeln, mit denen der große Zauberkünstler Weltwille ihn zu täuschen sucht. Ueber den Kopf wächst sie Beiden nicht.“

Melanie sah ihn mit sanftem Vorwurfe an. „Wenn die Menschen wirklich dächten und fühlten, wie sie sprechen, dann hätte Ereme Clusius Recht, daß sie sich von ihnen zurückzieht.“

Mit einer stürmischen Bewegung wandte Bartenstein sich zu ihnen. „Pardon,“ sagte er, „darf ich Sie bitten, noch einmal den Vornamen zu sagen? Ich habe sie nur die Clusia nennen hören.“

Die Ueberraschung ließ Melanie einen Augenblick verstummen; dann erwiderte sie: „Ereme, die Einsame. Ihr Vater nannte sie so, weil seine junge Frau, die er sehr geliebt hat, kurz nach der Geburt des einzigen Kindes, meiner lieben Freundin, starb.“

Bartenstein horchte auf. „Sie sind befreundet mit ihr?“

Melanie sah mit Staunen die lebhafte Spannung, welche sich in seinen Zügen spiegelte.

Eine Schaar junger Mädchen fluthete an Doctor Gerhard heran. „Herr Doctor, was versteht die Philosophie unter unglücklicher Liebe?“

„Wenn sie einseitig ist?“ fragte ein blasses Blondinchen, das den ganzen Abend nach dem Senior der Westfalen mit dem großen Schmiß im Gesichte gelugt hatte.

„Wenn es am Commißvermögen fehlt?“ forschten die mit den Glühwürmchen im Haare.

„Wenn Er Pech hat und durch das Examen fällt?“ seufzte eine langjährige Studentenbraut.

Ganz entsetzt sprang Gerhard auf, um Licht in diese Geistesnacht zu bringen.

„Erlauben Sie, Herr Doctor?“ fragte Bartenstein, den frei gewordenen Stuhl ergreifend. „Sie gestatten, gnädiges Fräulein?“

Der Doctor gab mit langem Gesichte seinen „abonnirten Platz“ preis, und Melanie gestattete dem Rittmeister, denselben einzunehmen.

An der andern Seite des Tisches avancirte Miß Smith, bis sie Bartenstein gegenüber saß. Dieser grüßte stumm und schob ganz unbefangen die Lampe, die in der Mitte des Tisches stand, so, daß ihr großer Schirm ihm wieder Deckung vor ihren Blicken bot.

Was mag er wollen? fragte sich Melanie.

Ziethen kam schneller aus dem Busche heraus, als sie dachte. „Warum sieht man Fräulein Clusius nie in der Gesellschaft?“ fragte er. „Die junge Dame verkriecht sich ja wie eine Eule im Winkel.“

„Diese Bezeichnung dürfte nur deshalb gestattet sein,“ suchte Melanie seine ungebundene Redeweise einzudämmen, „weil die Eule der Vogel der Pallas Athene ist, für welche Ereme eine große Vorliebe hegt.“

„Also hat die junge Dame gelehrte Schrullen?“ lachte Bartenstein erregt. „Nun, die wollen wir schon austreiben.“

Melanie sah ihn betroffen an. „Das klang ja ganz drohend.“

„Sie hat mich beleidigt,“ erwiderte er.

„Wie wäre das möglich?“ fragte Melanie. „Haben Sie Ereme kennen gelernt?“

„Nein; aber ihr Benehmen hat mir gezeigt, daß ihr die nöthige Achtung vor dem deutschen Soldaten fehlt,“ antwortete er mit sichtlicher Gereiztheit.

„Ereme lebt im Geiste ganz in der antiken Welt,“ entschuldigte sie die Freundin. „Ihr Vater wurde ‚der letzte Hellene‘ genannt.“

„So muß man ihren Geist nach Deutschland zurückführen, wohin er gehört,“ versetzte er mit Nachdruck.

„Sie wollen also einen kleinen Eroberungskrieg anfangen,“ versuchte Melanie die Sache scherzhaft zu wenden.

Aber er ging nicht auf den heiteren Ton ein. „Es ist kein Eroberungskrieg, wenn man dem Vaterlande wiedergewinnt, was ihm gehört, mag es eine alte Provinz sein oder ein junges Mädchen,“ entgegnete er starrköpfig.

„Es wird Ihnen nicht an Zeit fehlen, Ihren Feldzugsplan zu entwerfen,“ sagte Melanie heiter; „denn Sie werden so bald keine Gelegenheit finden, meine Freundin kennen zu lernen, wenn Ihnen nicht der Zufall zu Hülfe kommt.“

„Oder ich ihm,“ antwortete er zuversichtlich lachend und klopfte mit dem einen Sporn, dessen Rädchen durch verdächtiges Klirren anzeigte, daß es im Stifte gelockert sei, an das eiserne Stuhlbein.

Eine Rakete fuhr empor: die deutsche Kaiserkrone stand in Brillantfeuer strahlend gleich einem leuchtenden Sternbild in der Luft. Mit feierlichen Klängen stimmte die Musik das „Heil dir im Siegerkranz“ an.

Ein lang anhaltender Applaus folgte. Am begeistertsten schwenkte seinen Hut ein weißhaariger Professor im altdeutschen Rock mit kleinem Stehkragen und einer Knopfreihe. Es war ein ehemaliger Burschenschafter, der in der Jugend für das einige Deutschland geschwärmt, zur Zeit der Demagogenverfolgung im Gefängniß dafür gelitten hatte, nun aber als Greis der Erfüllung seines Jünglingstraumes zujubelte.

Dann packte das Musikcorps seine Instrumente ein und marschirte ab. Die Zuhörer brachen auf.

Die jungen Officiere schlugen eiligst den Weg nach dem Sommertheater ein, die Studenten zogen in ihre Kneipen. Langsam wandelnd verließ Gruppe auf Gruppe den Garten.

Als Melanie, in ihrer grauen Hülle wie eine Silbermotte schimmernd, gefolgt vom Diener des Stiftes, den Heimweg antrat, eilte der junge Philosoph ihr mit langen Schritten nach.

„Ob Doctor Gerhard wirklich diese reife Schönheit heimzuführen gedenkt?“ sagte die Frau des Rectors der Universität zu ihrem Gatten.

„O nein,“ entgegnete dieser hoheitsvoll. „Sie ist für ihn nur das Ohr, das seine noch nicht gehaltenen Vorlesungen aufnimmt.“

„Wer weiß, meine Herrschaften!“ flüsterte eine boshafte Stimme. „Wir leben im Zeitalter der Renaissance; da stehen alle Antiquitäten hoch im Preise.“ Das scharfe Profil des Physiologen verschwand in der Dunkelheit.

„Aber Papa!“ klagte Elsa und steckte ihre Hand zutraulich in den Arm des Obersten. „Herr von Bartenstein hat den ganzen Abend nur mit der Alten gesprochen.“

Der Oberst führte sein Töchterchen hinweg. „Liebes Kind, ich kann Bartenstein nicht befehlen, mit wem er sich unterhalten soll. Die Seebergen ist allerdings hoch in die neunundzwanzig; aber erstens sieht sie noch gut genug aus, und dann wissen solche Damen die Männer viel besser zu behandeln, viel mehr auf ihre [624] Interessen einzugehen als Ihr jungen Dinger, die Ihr immer Ritterdienste verlangt und dafür nichts seid als jung. Das ist wenig mit Liebe. Uebrigens habt Ihr Mädchen Euch nicht die Herren auszuwählen, die Euch gefallen, sondern abzuwarten, bis Ihr gewählt werdet. Das kannst Du Dir so gut hinter die Ohren schreiben wie der Goldfisch, den die ‚deutsche Fahne‘ ausführt. Sie saßen heute zusammen höllisch auf dem Trocknen. Am wenigsten läßt ein Bartenstein sich erobern. Das ist ein ganzer Mann. Und ich freue mich, daß dieser schneidige Officier als Einschub in unser Regiment gekommen ist. – So, nun geh in’s Bett, Kleine, und schlafe aus. Für heute hast Du Dummheiten genug gemacht.“

„Ja, damit stimme ich ganz überein,“ seufzte seine Gattin, während sie in die dämmerigen Promenadenwege hinausschritten.

Bartenstein ging allein nach Hause.

Der weiche Westwind trug den herben Duft vom Eichenwald in die engen Straßen; über den steilen Dächern spannte sich der Sternenhimmel aus. Das Leben der Stadt verstummte allmählich. Nur aus dem Keller, wo die Rhenanen einen Commers hielten, schallte: „Deutschlands Söhne, laut ertöne Euer Vaterlandsgesang!“ und von der Straße, in der der Oberst wohnte, klang der Schritt der ablösenden Wache herüber und das Commando; „Achtung!“

Als er am Universitätsplatz angelangt war, machte er Halt vor einem Hause, das dem Standbild des Kurfürsten gegenüber lag. Im Schein der einzeln brennenden Gaslaternen glänzte der goldene Name Clusius auf der Gedenktafel und das Kreuzchen, das seinen Todestag bezeichnete. Breite Steinstufen führten zu der Hausthür empor, an welcher ein blitzender Klopfer in Gestalt des dreiköpfigen Cerberus hing. Die Fenster im Parterre waren mit zierlichen Eisengittern verwahrt, alle aber erschienen mit ihren gleichförmig niedergelassenen Rouleaux wie streng geschlossene Augen. Kein Lichtschein schimmerte an der ganzen Fronte.

„Sie scheint mit den Hühnern in’s Bett zu gehen,“ murmelte Bartenstein vor sich hin, während er an dem Haus entlang schritt bis zur Ecke, die es bildete. In der Seitenstraße, die hier hinabführte, dämmerte Lichtschein. Er bog hinein und stand vor dem Hofthor des alten Hauses, dessen Steinpfeiler mit großen Kugeln gekrönt und dessen Flügel mit eisernen Stacheln bewehrt waren. „Wie eine Festung,“ murmelte Bartenstein. Aber an das Thor schloß sich eine Mauer, über die er bei seiner schlanken Höhe hinweg sehen konnte. Aus den Parterrefenstern des Seitenflügels, der sich in den Garten hinein zog, kam der Lichtschein. Die Vorhänge waren nicht zugezogen, kein Eisengitter versperrte die Fenster.

„Echt kleinstaatlich und kleinstädtisch,“ dachte Bartenstein. „Vorn bis an die Zähne bewaffnet und befestigt und an der Rückseite Alles offen.“

Eine Dame glitt mit einer Leuchte in der Hand durch das Zimmer. Nein, sie ging nicht mit den Hühnern in’s Bett. Sie war noch ganz in Toilette.

Es kämpfte etwas in ihm. Er zögerte einen Augenblick; dann flüsterte er ungeduldig, als weise er einen Einwurf zurück: „Ach, was da!“ Noch einmal sah er sich rasch um. Im nächsten Augenblick sprang er geräuschlos über die Mauer hinweg.

Drüben blieb er stehen und recognoscirte mit scharfem Blick das Terrain. Er befand sich in einem kleinen fremdartig eingerichteten Garten. Bäumchen in Kübeln faßten symmetrisch vertheilt einen weiten glatten Kiesplatz ein. In seiner Mitte plätscherte ein Brunnen ebenfalls von Bäumen umgeben. Ein Streiflicht, das aus den erleuchtetem Fenstern fiel, zeigte ihr falbes Laub; aber es waren keine Weiden, sondern Oelbäune, wie er sie im südlichen Frankreich gesehen hatte. Sie überwölbten steinerne Bänke mit sehr steilen Lehnen. Und es roch überall wie Orangenblüthen. Ein Fenster des Gartensaales ihm gegenüber war geöffnet.

Dort stand Ereme und hob eine kleine Lampe, deren Form an die Mondsichel erinnerte, hoch empor. Das Licht fiel hell auf ihr Antlitz. Es war einer Gruppe von Palmen zugewendet, hinter der sich eine Statue halb verbarg. Die junge Dame, die er heut Nachmittag so bleich im Kahn gesehen hatte, konnte also auch rothe Wangen haben, der herb herabgezogene Mund verstand reizend zu lächeln, die Augen, deren geringschätziger Eisesblick selbst in der Erinnerung ihn empörte, waren befähigt, etwas ihr Liebes innig anzustrahlen! Und sie hatte eine brillante Figur! Der erhobene Arm, von dem der weite Aermel eines mit bunter Stickerei umsäumten, betroddelten griechischen Jäckchens zurückgefallen war, zeigte eine schön gerundete Form, der Gürtel, in Gestalt einer Spange umschloß eine schlanke Taille, und der Fuß, auf dessen türkischen goldstrotzenden Pantöffelchen das Licht der Lampe blitzte, war fein und schmal. Eine solche Toilette für das Haus konnte man sich gefallen lassen. Das sah auch nicht so großartig aus wie der in stolzem Faltenwurfe umgeschlungene weiße Plaid, in dem er sie am Flusse erblickt hatte.

Aber wen stellte die verteufelte Figur dar, die sie so verliebt anschaute? Wenn doch die verdammte Lampe hell brennte! Freilich, was konnte man von einem Beleuchtungsapparat verlangen, der gewiß schon vor zwei Jahrtausenden gebraucht worden war! Das schien das einzig annehmbare Alter hier zu sein. Jetzt meinte er zu sehen, daß das Ding einen Helm auf dem Kopfe trug. War es einer der Helden des letzten Krieges? Was saß auf dem Helm? Ein Adler? Oder eine baierische Raupe? Himmelkreuzdonnerwetter!

War er laut geworden? Hatte er sich bewegt? Oder war ein Lüftchen durch das Fenster gefächelt? Das Lämpchen erlosch. Er hörte eine Thür sich schließen und zog sich wieder zurück.

[637] Ereme schritt in fluchtähnlicher Eile nach ihrem Schlafgemach. Sie hatte im Gartensaal vor der Statue der Athene plötzlich das Gefühl gehabt, als sei sie nicht mehr allein, als trete ein Fremdes an sie heran und ziehe sie gewaltsam von ihrer Betrachtung ab.

Unheimlich berührte sie der Zwang. War es die Entrüstung über die dreiste Verfolgung des verwegenen Ulanen, die in ihren Nerven nachzitterte? War es ein drohendes Unheil, das ihre Seele ahnte? Doch was hatte sie noch zu fürchten? Was konnte ihr noch genommen werden? Sie war die Einsame, die keinen Lebenden mehr liebte und von keinem geliebt wurde.

Sie begab sich zur Ruhe.

Aber bis in den Traum verfolgten sie trübe Vorstellungen. Sie hörte klagende Stimmen. Athenerinnen waren es, die mit gramvoll gefurchten Stirnen gleich Niobiden durch die Straßen flohen. Auch ihr Herz war wie zusammengeschnürt. Lanzenstarrende Schaaren jagten unter wilden Klängen heran und schlossen die Stadt ein, und nun tönte der Jammerruf, Poseidon habe die heilige Salzquelle versiegen lassen. Laut schmetterte es in ihr Ohr: „Wehe, verlechzet und trocken sind Meerpferd’ sowohl als Delphine.“

Entsetzt fuhr sie aus dem Schlafe auf.

Es war heller Tag.

Gezeter und Getöse schallte vom Universitätsplatz herauf. Sie warf das Morgenkleid über und trat an das Fenster.

Vor ihr im rosigen Frühlicht lag das Steinbassin des Universitätsbrunnens mit seiner Gruppe von Meerungeheuern. Aber kein Wasserstrahl entsprang mehr ihren emporgestreckten Rachen. Und ringsum standen zankend die Mägde mit Eimern und Wasserbütten, und in den Fenstern lagen die Studenten, qualmten ihre langen Morgenpfeifen und lachten der Noth der Philister. Sie hatten nächtlicher Weile den uralten ewig neuen Witz gemacht, die Brunnenröhren zu verstopfen.

Ereme’s unholder Traum verflog. Sie ging an ihre Toilette.

Kaum hatte sie jedoch die schweren blauschwarzen Flechten mit goldnem Pfeil befestigt, da schallte lebhaftes Gespräch aus dem weiten Hausflur herauf. Eilig knüpfte sie die Gürtelschnur des Hauskleides und stieg die breite Treppe hinab.

In der Thür, die in den Garten führte, stand der grauhaarige Diener, die grüne Gießkanne in der Hand, vor der Tante und Dorchen, der Köchin, welche eben das Kaffeeservice nach dem Plätzchen unter den Orangenbäumen tragen wollte.

Als Ereme zwischen den geschnitzten Karyatiden, welche die Treppenpfeiler trugen, erschien, rief der Diener sehr aufgeregt ihr zu: „Gnädiges Fräulein, diese Nacht hat gewiß Einer Citronen mausen wollen im Garten. Wahrscheinlich ist der Spitzbube verjagt worden; denn es fehlt nichts. Aber an der Mauer sind Fußspuren im Kies.“

Die Krause am Morgenhäubchen der Tante richtete sich drohend gegen Dorchen: „Hoffentlich hast Du Dir nicht einen Schatz angeschafft? Du weißt, ein solcher wird hier im Hause ein für allemal nicht statuirt. Bedenke: wenn Dich die bösen Buben locken, so folge ihnen nicht.“

„Wenn es nun aber gute Buben sind?“ murmelte Dorchen im Abgehen.

Dann nahmen die Damen Platz am Frühstückstische, der unter einem nach griechischem Brauch ausgespannten Schattentuch hergerichtet war, und die Tante vertiefte sich behaglich in das Körbchen mit frisch gebackenen Waffeln.

Ereme schlürfte zerstreut aus einer kleinen Schale ihren Kaffee, der so stark, schwarz und süß für sie bereitet wurde, wie sie ihn im Café „Zum schönen Griechenland“ in Athen gewohnt worden war. Sie fühlte sich unangenehm berührt durch die Entdeckung, die wunderbar mit dem unheimlichen Gefühl übereinstimmte, das sie gestern Abend aus dem Gartensaal vertrieben hatte. Ihr Blick kehrte immer wieder zu der Fußspur zurück, die der sorgsame Diener nicht verwischt hatte. Sie war sehr energisch eingeprägt von einem schmalen Fuß mit feinem Absatz. Konnte sie von dem Geliebten eines Dienstmädchens, einem derben Sohn aus dem Volk, oder einem gewöhnlichen Dieb herrühren?

Da blitzte Etwas im Kies. Sie hob es auf.

Es war ein zierliches eisernes Rädchen mit stark gezähntem Rand und in der Mitte durchbohrt.

„Sollte dies ein altes Geldstück aus Deiner Münzsammlung sein, das mit dem Staubtuch herausgeschüttelt worden ist?“ fragte die Tante.

Ereme verneinte. „Nur die Spartaner bezahlten mit Eisen; aber es war nicht gemünzt, es lag in Barren.“

Die Tante betrachtete den Fund. „Es sieht aus wie das Rädchen zu den Fastnachtskuchen. Bewahre es auf. Wer weiß, wozu es gut ist. Vielleicht findet sich einmal, wenn wir gar nicht mehr daran denken, der Gegenstand, zu dem es gehört.“

Das Kaffeestündchen war vorüber.

Die Frau Doctor begab sich in ihr weites Parterrezimmer hinter das Wirthschaftsbuch, und Ereme beschloß, sich der Ordnung ihrer aus Griechenland mitgebrachten Kunstschätze und Alterthümer zu widmen. Sie stieg in die obere Etage hinauf. Eine Hälfte derselben nahmen die hohen kühlen Säle der Bibliothek ein.

[638] Eine mächtige braune Flügelthür führte in dieselbe. Die Wände waren mit dunkel gebeizten schlichten Eichenholzregalen bekleidet. Die Bücher, an denen eine gelehrte Familie seit zwei Jahrhunderten gesammelt hatte, reihten sich auf ihnen an einander, vom alten in vergilbtes Schweinsleder gebundenen Folianten an bis zu der Broschüre, die gestern die Druckerei verlassen hatte. Leichte transportable Treppen standen in den Ecken, um den Weg in die oberen Regionen zu vermitteln. Auf den Bücherborten leuchteten in Marmor, Gyps und Erz die Bilder von den äußern Hüllen der Denker, deren Geist die Bände unter ihnen erfüllte. Dazwischen erhob sich hier und da die schlanke Säule einer antiken Lampe, auf geflügelten Klauen ruhend, ein mit Edelrost überzogener Räucheraltar. Die mächtige Tafel in der Mitte bedeckte ein Gobelinteppich, und den Sessel davor krönte die Eule, die Gefährtin des einsamen Forschers in nächtlicher Stunde.

Ereme legte das kleine Eisenrad in eine antike Schale von gelblichem Marmor, die mit Curiositäten gefüllt war. Dann öffnete sie den reichgeschnitzten Schrank, der die Kupferwerke enthielt.

Obenauf lag die Abbildung des Giebelfeldes vom Parthenon, welches die Geburt der Athene darstellte. Die Mittelgruppe war bereits zertrümmert, als das Kunstwerk abgezeichnet wurde; aber in der einen Ecke tauchte wohlerhalten das Gespann des Sonnengottes aus den Fluthen empor, kaum gebändigt von Helios’ starker Hand, und strebte der Göttin des reinen Gedankens zu.

Und die steinernen Wellen kräuselten sich vor Ereme’s in Träumerei versinkenden Augen, Lichtfunken huschten darüber hin, und ein schlanker Reiter theilte unentwegt die Wogen und schaute mit übermüthigem Lächeln über sie hinweg.

Sie fuhr auf. Wieder war sie bei dem Punkte, wo sie seit gestern stets ankam, mochten ihre Gedanken einen Weg einschlagen, welchen sie wollten.

Sie hatte sich unzählige Mal schon gesagt, daß das Reiterstück des Ulanen für sie gar keine Bedeutung zu haben brauchte; sie war sich bewußt, daß sie kalt und stolz die empörende Dreistigkeit abgewiesen hatte, und damit konnte sie das kleine Abentener in den Lethe versenken. Aber wenn sie eben damit fertig zu sein glaubte, sah sie ihn wieder vor sich, sah sie immer wieder die schöne Bewegung, mit der er die Zügel hob, als das Wasser dem Pferd an den Hals stieg. Wie er sich dreist in ihren Weg gedrängt hatte, so drängte er sich in ihre Gedanken und war nicht daraus zu vertreiben.

Von solchen Betrachtungen unterbrochen, rückte die Arbeit langsam vor. Der lange Sommertag begann sich zu neigen, ehe jede Merkwürdigkeit an den ihr gebührenden Ort kam. Dann aber litt es sie nicht länger in dem eingeschlossenen Raume. Sie kleidete sich zu einem Spaziergang um.

Die Tante konnte sie nicht geleiten. Aus der Küche erscholl Hammerschlag, und ein Dampf von flüssigem Metall entquoll ihr, als schmiede Hephästos Waffen; es war indeß nur ein Klempner, der die Einmachebüchsen zunietete.

„Aber Tantchen, wer soll denn das Alles essen?“ fragte Ereme, die langen Reihen überblickend.

„Vorsehen ist besser denn Nachsehen,“ lautete die Antwort.

„Eine ganze Schwadron könnte davon satt werden,“ kicherte Dorchen.

Die Tante warf ihr einen strafenden Blick zu, und Ereme wandte sich mißbilligend ab.

Sie athmete auf, als das Gewühl der Stadt hinter ihr lag und der Wald seine hohen Hallen über ihr wölbte. Langsam wandelte sie bergauf.

Die Sonne vergoldete sinkend die Wipfel der alten Eichen; aber hier im Schatten der mächtigen Bäume spielten ihre Strahlen nur als matte Lichter. Wie riesige Schilde hielten die Laubkronen die leuchtenden Pfeile von den saftigen Gräsern, den blauen Blüthentrauben des Ehrenpreises und den weißen zarten Waldlilien ab, die zwischen den starken Wurzeln aufgesproßt waren. Zaunkönige, Rothkehlchen und Finken sangen mit hallenden Stimmen ihr Abendlied, und fernher tönte der Ruf des Pirol.

Mit gerötheten Wangen kam sie auf dem freien Platz an, auf dem sich das Kriegerdenkmal erhob. Noch umsäumte die Sonne mit goldenen Linien den schwarzen Adler auf der hohen Säule. Um den Sockel waren Trophäen errichtet von erbeuteten Kanonenrohren; aufwuchernder Epheu schlang sich darüber hin. Aus einem ehernen Mund, der vor nicht langer Zeit Tod und Verderben gespieen hatte, flog ein Meisenpärchen ein und aus, das ihn unschuldsvoll für ein Astloch ansah. Und ein leuchtender Tagfalter gaukelte um die Tafeln, welche die Seitenwände der Säule schmückten und die Namen der gefallenen Söhne des Stückes deutscher Erde trugen, auf die der Riesenadler herabschaute.

Erschöpft ließ Ereme sich auf einer der Ruhebänke nieder, die neben dem Denkmal aufgestellt waren. Ihr Blick glitt über das Meer von Wipfeln hinweg, das von der Kuppe des Berges überragt wurde, hinaus in das hügelige Land. In bläulichem Duft verdämmerte es in der Ferne. So nebelig verschwammen die Umrisse der Berge in Griechenland nicht. Klar, wie die röthlich angestrahlte Wolke ihr gegenüber vom Himmel sich abhob, stiegen die röthlichen Felsen, die auf ihres Vaters Grab herabschauten, aus der blauen Meerfluth. Und hatten die alten Hellenen nicht Recht, wenn sie sagten, daß die reine Atmosphäre die Sinne schärfe, den Geist erhelle, die Seele heiter stimme? Dort war der freie Flug ihrer Gedanken durch nichts gehemmt gewesen, hier schienen die Nebelschleier, welche die Thäler füllten und um die Höhen webten, auch ihre Seele zu umhüllen, daß sie sich selbst nicht mehr ganz verstand.

Da tönte in Blätterflüstern und Vogelsang ein dumpfer Hall. Ein Häher, der Wächter des Waldes, kreischte. Gespannt richtete sie sich auf und lauschte.

Jetzt hörte sie ein Pferd schnauben. Ihr Athem stockte; sie wußte, welcher Reiter im nächsten Augenblick um den Bergvorsprung biegen werde, der den heranführenden Weg verbarg.

Da hielt er schon unter der letzten Eiche.

Sie erhob sich, und auch Bartenstein fuhr überrascht empor, als er sie hochaufgerichtet neben der Siegessäule stehen sah. Aber während sie wie gebannt regungslos verharrte, schwang er sich schon leicht aus dem Sattel.

Gewaltsam faßte sie sich und stieg langsam, ohne ihn anzusehen hernieder.

Da, als sie an ihm vorüberschreiten wollte, wandte er sich schnell, ergriff einen über den Weg sich streckenden Eichenast und bog ihn kräftig herab, sodaß ihre Schritte von dem grünen, herb duftenden Zweige gehemmt wurden.

„Warum wollen Sie fliehen, gnädiges Fräulein?“ fragte er mit ehrerbietiger Verneigung.

Sie war so überrascht von seiner Kühnheit, daß sie, statt stumm auszubiegen und weiter zu gehen, erwiderte: „Ich suchte die Einsamkeit.“

„Und auch dahin folgt Ihnen der Ulan, den Sie mit Ihrem Zorne beehrt haben,“ sagte er in halb bedauerndem, halb scherzendem Tone.

Er sprach ihr aus der Seele. Aber sie antwortete kühl: „Zorn? Gegen den Fremdling?“

„Fremdling?“ wiederholte er das ungebräuchliche Wort, das ihm wie einem alten Trauerspiele entnommen erschien, und einen Augenblick spielte ein leichtes Lächeln um seine Lippen. „Fremdling? Den Sie doch geschnitten haben,“ setzte er hinzu.

„Geschnitten?“ wiederholte nun sie, als glaubte sie nicht recht gehört zu haben, da sie den Ausdruck in dieser Bedeutung nicht kannte.

„Gewiß,“ bestätigte er. „Wenn auch nur durch einen Blick. O, ein Blick kann sehr viel sagen. Er kann verletzen und auch einen magnetischen Rapport herstellen. Manchmal auch beides zugleich.“

Sie schaute ihn stolz zurückweisend an.

„Da ist er wieder, der kalte Strahl,“ fuhr er fort. „Bewundern Sie, daß ich ihm Stand halte.“

Ereme wandte empört die Augen ab. „Es bedarf keines großen Muthes der Schutzverwaisten gegenüber,“ entgegnete sie mit bebender Stimme.

Er ließ den Zweig emporschnellen. „Nein, der Stich ging zu tief für eine harmlose Plänkelei. Aber ich bin schuld, ich habe angefangen. Und ich habe mich nicht einmal vorgestellt. Gestatten Sie, daß ich das Versäumte nachhole: Rittmeister von Bartenstein.“

Sie sah ihn mißtrauisch an. Kein Zug seines Gesichtes zeigte mehr den Ausdruck von Uebermuth. Er stand vor ihr in der achtungsvollen eleganten Haltung, wie der Herr im Salon vor der Dame steht, und sie konnte nicht anders als seine Vorstellung mit einem leichten Neigen des Hauptes erwidern.

„Und nun bitte ich wegen der Störung um Gnade,“ fuhr er rasch, aber in unbefangenem Tone fort.

[639] „Ich muß ohnedies an den Heimweg denken,“ antwortete sie. „Es ist spät geworden.“

„Dann gestatten Sie wohl, daß ich Sie begleite,“ sagte er schnell. „Es wird wirklich schon dämmerig im Walde.“

Sie wollte ablehnen; aber sie fand nicht gleich die Worte dafür dem harmlosen Tone gegenüber, mit dem er seine Begleitung wie selbstverständlich antrug, und ehe sie nur einen Gedanken fassen konnte, hatte er schon sein Pferd am Zügel genommen und sich ihr ohne Weiteres angeschlossen.

Ritterlich paßte er seinen Schritt ihrem stolzen langsamen Gange an. Und wenn er gestern im hellen Sonnenlichte vor allen Menschen keck und dreist gewesen war, so ging er heute am hereindunkelnden Abend im einsamen Walde um so ehrbarer neben ihr, hob die überhängenden Zweige aus ihrem Pfade empor und ließ ihr die Mitte des Weges, während er mit seinem Rosse auf einer schmalen Linie weiter schritt, ohne den Saum ihres Schleiers oder ihr Gewand mit der leisesten Berührung zu streifen.

Die Lichter auf dem Waldboden erloschen, der rosige Schein an den dunklen Blattrosetten verglomm. Auf dem thaufeuchten Wege falteten sich die Kleeblätter zusammen, schlossen die Maßliebchen ihre weißen Wimpern. Die Vogelstimmen verstummten eine nach der andern. Schon strich eine Eule mit lautlosem Fluge vorüber; es dünkte Ereme ein schlechtes Zeichen, daß der Vogel der Athene von links kam.

Bartenstein’s Blick glitt prüfend über seine stumme Gefährtin auf dem stillen Waldpfade. Ihr weißes Kleid strich wallend über den moosigen Boden hin. Das reiche dunkle Haar lag in einem schlichten griechischen Knoten im Nacken; eine lange Locke hatte sich daraus gelöst und ringelte sich über ihre Schulter herab. Der Kopf der Gemme, die ihr Kleid schloß, war nicht reiner geschnitten, als das marmorweiße Profil.

„Woran denken Sie?“ fragte er plötzlich mit lauter Stimme, als müsse er einen Zauber brechen, der geheimnißvoll um ihn seine Schlingen zog.

Sie bezwang sich und suchte auf seinen unbefangenen Ton einzugehen. „Ich dachte daran, daß ich schon einmal von Cavallerie escortirt worden bin. Auf unserem Ausfluge von Athen nach Eleusis begleiteten uns zum Schutze gegen die Räuber griechische Husaren.“

Er sah sie überrascht an. „An griechische Husaren dachten Sie?“ forschte er gespannt. „Waren Officiere dabei?“

Sie zuckte die Achseln. „Das weiß ich nicht. Wie hätte auf jenem Wege nur ein Blick, ein Gedanke an die Menschen von heute streifen können? Wir fuhren auf der heiligen Straße hin, welche noch die Spuren der Geleise trägt, die einst für die Wagen der Götterbilder in den Felsenboden gehauen wurden. Hier und da ragte ein altes Grabdenkmal am Wege empor. Dann nahm uns der heilige Oelwald der Athene auf, dessen älteste Bäume noch die Blüthe Griechenlands gesehen haben. Auf dem steinigen trockenen Boden standen sie, vom Alter verkrümmt und verwachsen, vom graugrünen schmalen Laube nur dürftig umflattert. Fast versiegt schleppte sich der ehemals stolz rauschende Bach Kephissos zwischen ihnen dahin, und der eintönige Gesang der Cikaden erfüllte wie eine Todtenklage den Wald.“

Bartenstein hatte sichtbar gefesselt ihr zugehört; aber die unnahbare Ruhe, die aus ihren Zügen sprach, die kunstvoll gefügte Rede reizten ihn, und je mehr ihr ganzes Wesen seiner Natur einen Zwang auferlegte, um so energischer wehrte er sich dagegen.

„Da haben wir es hier freilich besser,“ antwortete er mit der größten Ungebundenheit, indem er sich fröhlich umsah. „Welch frischer grüner Rasen! Wie viele Blümchen drin! Der Teufel mag wissen, wie sie heißen. Und was sind die Eichen für stramme Kerle!“

Ereme war entrüstet über diese naturwüchsige Sprache. Abweisend entgegnete sie: „Mir erscheint diese Landschaft arm gegen die griechische.“

„Arm gegen das steinige ausgedörrte Land?“ rief er ungläubig.

„Ja, wohl dominirt dort der Stein, das Unvergängliche,“ antwortete sie, unwillkürlich in Eifer gerathend, weil ihr Heiligstes angetastet wurde. „Schroff und leuchtend steigt er aus den ewig bewegten Wellen empor, drängt er den vergänglichen Schmuck der Pflanzenwelt zurück, als wolle er sagen: Ich brauche euch nicht; in mir selbst schlummert ewiges Leben, wenn ich nur die Hand finde, die mich dazu erweckt. Und er hat sie gefunden bei einem Pheidias, einem Praxiteles. Andere Völker pflanzten Haine um ihre heiligen Stätten, die Griechen schufen Haine von schimmernden Marmorbildern um ihre Tempel.“

„Ein Hain von Statuen,“ rief er, sich schüttelnd, „von denen jede in alle Ewigkeit in derselben Pose dasteht, nur daß sie nach und nach Kopf und Glieder verlieren, die nicht wieder wachsen wie die Blätter am Baume!“ Und er murmelte noch weitere Worte für sich; ihr schienen sie zu lauten: „ich lobe mir etwas Lebendiges;“ aber sie traute ihren Ohren nicht.

Mit einer kleinen, Aufmerksamkeit heischenden Geste, wie er sie noch nie bei einer Dame der Gesellschaft gesehen hatte, und die ihm doch sehr gefiel, fuhr sie fort: „Selbst vor den letzten Ueberresten jener Schöpfungen, ja, vor dem Klange der alten Namen erscheint Alles, was unsere Zeit hervorgebracht und gethan hat, klein und epigonenhaft.“

Die Uebertreibung, die in den Worten lag, verletzte ihn wieder. „Einbildung!“ sagte er unmuthig.

„Sie wollen sagen,“ verbesserte sie ihn, „daß die Ideenverbindung die Trümmer uns schön und erhaben erscheinen läßt.“

Er lachte auf. „Ich ziehe die Schönheit vor, über die ich nicht vorher nachdenken muß, um ihre Reize zu ergründen, sondern bei der ich mir gleich etwas wünsche.“

„Wünsche wären jener versunkenen Welt gegenüber vergeblich,“ entgegnete Ereme. „Sie führt nur zu ernster Betrachtung und dient uns als Vorbild, wie wir unser Leben zu gestalten haben, daß es unter unserer Hand zu einem Kunstwerke werde.“

Jetzt riß ihm die Geduld. Vor ihnen lichtete sich der Wald, schon drang der Heuduft der Wiesen herein, und das schöne Mädchen neben ihm mit den korallenroten Lippen, zwischen denen so elfenbeinweiße Zähne schimmerten, hielt ihm noch immer einen Vortrag wie ein alter Professor einem jungen Studenten. Das war nicht die Stellung, die der Frau dem Manne gegenüber zukam.

Mit dictatorischem Ton, als ertheile er Instructionsstunde, sprach er: „Ihr Leben macht mir allerdings einen sehr künstlichen Eindruck, gnädiges Fräulein. Aber das wird nun am längsten gedauert haben. Das Schicksal, wie es der Frau bestimmt ist, wird an Sie herankommen. Dann werden Sie Ihre Lebensbildhauerei bei Seite werfen und sich dem Manne fügen, der es unternimmt, Sie zu einer deutschen Hausfrau zu erziehen.“

Mit maßlosem Staunen sah sie ihn an. Er nickte ihr bekräftigend zu und blickte tief in die schönen empörten Augen.

Da schürzten sich ihre Lippen spöttisch. „Glauben Sie, daß das einem Manne so leicht gelingen würde?“

„Leicht oder schwer,“ antwortete er hochfahrend, „ein rechter Mann setzt Alles durch, was er will.“

„Wenn seine Kraft dazu ausreicht,“ antwortete sie mit leisem Hohn.

In seinen Augen glimmte ein Funke auf.

„Das Wenn läßt sich kein Mann ungestraft bieten,“ sagte er drohend und fuhr dann in leichtem Tone fort: „Doch da sind wir am Ausgang des Waldes, Sie bedürfen meines Schutzes nicht mehr.“

Er grüßte, war im Sattel, und dort flog er auf seinem Goldfuchs dahin, als gelte es einen Siegeslauf.

Ereme starrte ihm sprachlos nach. War es Traum oder Wirklichkeit, daß ein Mann ihr mit solchem Blick und Ton zu nahe getreten war, so vermessene Worte zu ihr gesprochen hatte? Fürchtete er denn nicht das Walten der Nemesis, die jeden Frevelmuth unerbittlich straft?

O! Warum war sie nicht gestern, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, ihres Weges gegangen? Warum hatte sie ihm heute geantwortet, seine Vorstellung angenommen, seine Begleitung geduldet und endlich die Welt, die so erhaben über der seinen war wie die Iliade über dem Kutschkelied, gegen ihn verteidigt, statt stolz zu schweigen? Warum war sie überhaupt nicht zu Hause geblieben? Ja, warum?


Melanie von Seebergen bewohnte eine Flucht von Zimmern, welche, beim Umbau des Klosters zu einem Damenstift, aus einer Reihe von Zellen hergerichtet worden war, indem man Wände herausnahm und Thüren einfügte. Noch immer gaben die dicken Mauern, niedrigen Decken und tiefnischigen Fenster den Räumen [640] einen klösterlichen Anstrich, der aber durch Melanie’s Geschmacksrichtung wie verklärt erschien.

Die blauen seidenen Vorhänge warfen ein mildes Licht; vor den Fenstern wiegten sich in Muschelampeln Passionsblumen und ließen ihre graziösen Ranken mit den sammetartigen Sternenblüthen herabsinken; trauliche Gruppen von Causeusen und Fauteuils waren in den Ecken zusammengestellt; Tische und Consolen schmückten Vasen von altem Meißner Porcellan, deren fächerförmig gestaltete Kelche weiße Lilien füllten, die durch ihren Duft an dämmerige Kreuzgänge, an stillen Verzicht gemahnten.

In gutem Licht standen auf schlanken Gueridons zierliche Staffeleien mit Kupferstichen von Melanie’s Lieblingsbildern. Es waren Raphael’s Poesie, welche die Schwingen entfaltet, die Lyra an’s Herz drückt und von geflügelten Genien begleitet wird, und die Philosophie desselben Meisters, ein ernstes Weib, das auf einem sphinxgeschmückten Sessel sitzt, der, unbequem und hart wie jeder Thron, die Wolken niederdrückt, auf denen er ruht. Wie Lastträger mit geduckten Köpfchen tragen kleine Boten die Weisheit in die Welt hinaus.

Während Melanie am Frühstückstisch ihre Chocolade löffelte, dachte sie bewundernd, wie treffend der große Maler diese Gestalten charakterisirt hatte, die beide die ewige Wahrheit suchen, die eine im beflügelten Aufschwung, die andere im Grübeln und Sinnen. Sie hegte an der Zweckmäßigkeit dieses letzteren Weges, seit der Doctor Gerhard sie in sein Streben einweihte, bescheidene Zweifel.

Da weckte sie Darling aus ihren Gedanken, indem er sein Vorderpfötchen auf den gesteppten seidenen Aermelaufschlag ihres Peignoirs legte. Auch der Liebling befand sich noch im Negligé; sein seidenweiches Haar war in viele dünne Zöpfchen geflochten, selbst über seine braunen Augen, mit denen er sie auffordernd ansah, hingen solche herab. Sie verstand den Blick, band ihm die Serviette um und setzte ihm seine Morgenmilch in einer Krystallschale auf dem Fußbänkchen vor. Dann wurde Darling von der Zofe zum Frisiren entführt, und der alltägliche Kampf zwischen beiden entspann sich; denn Darling fürchtete, wie andere verzogene Lieblinge auch, Schwamm und Kamm.

Melanie streckte sich behaglich auf ihrer Chaiselongue aus. Sie nahm ein Buch, das ihr von der Zofe mit der Chocolade überbracht worden war, aus seiner Umhüllung.

Auf die erste Seite hatte Doctor Gerhard, der Autor, mit seiner gleichmäßigen saubern Handschrift – eine solche gehört jetzt auch bei den jungen Gelehrten zur guten Erziehung – eine Widmung für sie geschrieben, in welcher er sie seiner unwandelbaren Verehrung und Freundschaft versicherte. Darunter stand der Titel: „Die Wahrheit über das Wesen der Liebe.“

Sie blätterte mit einem Ausdruck von nachsichtigem Spott in dem Büchlein. Mit dem Eifer des Archäologen hatte der Verfasser zusammengestellt, was die Philosophie aller Völker über das Wesen dieser bis jetzt unüberwindlichen Macht gefabelt und ergrübelt hatte, von Uranfang an bis auf die neueste Zeit. Und er war zu dem Resultat gekommen, daß der Mensch, der unerschrocken die Tiefen des eignen Ichs durchforscht, im Stande sei, die Gewalt des Unbewußten zu brechen, das in der Liebe sich geltend macht.

Sie ließ das Buch sinken.

[653] Der gute junge Doctor! Er predigte so klug über die Liebe, als sei er der alte Rabe des Stiftsförsters, und war so unerfahren darin wie der junge Staar, der mit seinem gelben Schnabel auf dem Nußbaum vor dem Fenster sang. Was wußte er mit seinem unberührten Herzen von dem mächtigsten der Gefühle, das selbst der Mensch nicht ergründen kann, der es aus eigner Erfahrung kennen lernte!

Oder vermochte sie die einzige Liebe ihres Lebens zu erklären? Melanie war sich schon damals trotz ihrer jungen Jahre ganz bewußt gewesen, daß Arved weder ein bedeutender Geist, noch ein starker Charakter war, und dennoch hatte sie ihn geliebt mit allen seinen Schwächen.

Sie stammten beide aus Familien des Hofadels in der herzoglichen Residenz, in denen es Tradition war, ihr Vermögen im Hofleben zuzusetzen. Sie, die Tochter des Oberjägermeisters, war frühzeitig als Stiftsdame eingeschrieben worden, wenn auch Niemand daran dachte, daß sie wirklich einst werde Gebrauch von der Vergünstigung machen müssen; er, der Sohn des Obersten, der, mit dem Titel eines Generals versehen, das herzogliche Contingent commandirte, war jung ohne viel Mühe Lieutenant in demselben geworden.

Sie fühlten sich vom ersten Augenblick an zu einander hingezogen, als sie sich auf dem Parquet des Schlosses begegneten. Dann wurden sie Partner in den kleinen Lustspielen von Putlitz, die von der Hofgesellschaft aufgeführt wurden; sie gaben immer [654] das sentimentale Pärchen, für welches Niemand so gut paßte. Sie sangen zusammen aus Flotow’schen Opern, oder, wenn sie ernste Musik machten, das Duett von Mendelssohn: „Ach, wie so bald verhallet der Reigen!“ Und gleich einem Lied ohne Worte begleitete sie die Liebe, die nie ausgesprochen wurde und doch aus jedem Blick strahlte und im Klang der Stimmen ein Echo fand, durch ihre erste Jugend.

Es war zu Ende der fünfziger Jahre, und in jener Zeit schienen die Verhältnisse in den Kleinstaaten still zu stehen wie die Luft an heißen Sommertagen. Niemand ahnte, daß es die Stille vor dem Gewitter war. Wie das Staatsleben seinen monotonen Gang ging, so nahm das Gesellschaftsleben jahraus jahrein den gewohnten Verlauf.

Ihre Mutter begann bereits die großen Leinentruhen, die noch von dem längst in andere Hände übergegangenen Gut stammten, auszupacken, und ihr Vater überlegte, wie eine neue Hypothek auf das Haus aufzunehmen sei, um das obere Stockwerk zur Wohnung für das junge Paar auszubauen; denn daß Arved niemals aus der Residenz versetzt werden würde, wo er als Kammerjunker nebenher Dienst that, das stand bei Allen fest.

Eine etwas andere Schattirung trug das Benehmen seiner Familie. Seine Mutter glitt stets mit geflissentlicher Eile an Melanie vorüber, und der General sah in die Luft, wenn das junge Paar zum drittenmal mit einander tanzte. Sie hatten ja den Sohn zu vergeben, der Oberjägermeister nur die Tochter.

Da, als wieder der Herbst kam, veränderte sich das Bild. Es erschienen in der Residenz einige Familien von benachbarten Rittergütern, die ihre herangewachsenen Töchter bei Hofe und in der Gesellschaft präsentirten, um sie an den Festlichkeiten des Winters theilnehmen zu lassen.

Auf dem ersten Hofball, den sie mitmachten, tanzte Arved zum erstenmal den Cotillon nicht mit Melanie, sondern mit der weißblonden Tochter einer der fremden Familien. Seine Mutter sei mit ihren Eltern liirt, warf er wie entschuldigend hin.

Für weitere Vernachlässigungen fand er keine Erklärung mehr nöthig. Die Herzlichkeit des Tones ging in Höflichkeit über, er nahm noch die conventionelle Rücksicht; endlich war er aus ihrem Gesichtskreis entschwunden. Sie zersann sich den Kopf darüber, was ihn veranlaßt haben könnte, sich von ihr abzuwenden, und konnte den Grund nicht entdecken.

In jener Zeit fand ein großes Hoffest statt. An dem Morgen dieses Tages kam die Anzeige, daß Arved sich mit der jungen weißblonden Dame verlobt habe. Die Nachricht traf sie wie ein Blitzstrahl.

Und wie sollte das Ereigniß in ihr Leben eingreifen!

Wehmüthig richteten sich Melanie’s Blicke nach dem Schreibtisch am Fenster, über dem die Bilder ihrer Eltern hingen: der Vater in grüner goldgestickter Galauniform, die Mutter im blauen Atlaskleid, die hellbraunen Haare in kleinen Lockenbüscheln an den Schläfen mit Seitenkämmchen festgesteckt.

Die Mutter war in den Tagen vor dem Fest leicht erkältet gewesen; der Brief an den Hofmarschall, der sie vom Fest abmelden sollte, hatte schon bereit gelegen. Nach Empfang der Verlobungs-Anzeige aber trieb sie der Gedanke, vor Allem die Dehors zu wahren, der Welt eine freundlich lächelnde Miene diesem Vorgange gegenüber zu zeigen, wieder in die Höhe. Sie erschien, der Etikette entsprechend, decolletirt auf dem Hoffest, bei welchem Melanie mit entfärbten lächelnden Lippen Arved gratulirte und er wie ein Fremder und doch befangen den Glückwunsch annahm. Sie konnten sich bei ihrer Heimkehr sagen, daß sie mit vollkommener Klugheit gehandelt hatten, und daß die Hofgesellschaft dieses anerkennen müsse.

Der Trost zeigte sich aber nicht stichhaltig, als die Mutter am andern Tag in Fieberphantasien lag, als sie nach jäh verlaufendem Nervenfieber die Augen für immer schloß. Der tief gebeugte Gatte erfüllte pünktlich alle Obliegenheiten bei dem pomphaften Begräbniß. Er kam mit einer Lungenentzündung von dem zugigen Friedhof nach Haus, siechte hin, und nach halbjähriger Krankenpflege drückte sie auch ihm die Augen zu.

Es war ihr immer befremdend gewesen, wenn er in der letzten Zeit so voll Trost des Stiftes gedacht hatte. Nach seinem Hinscheiden erst gingen dem unerfahrenen Mädchen die Augen auf. Der Sitte jener Zeit gemäß, welche Erörterungen in der Familie über die pecuniäre Lage für unstatthaft und unzart hielt, war ihr der Einblick in die Vermögensverhältnisse ihrer Eltern verhüllt geblieben. Jetzt erfuhr sie, daß sie arm war.

Nun wurde ihr auch Arved’s Handlungsweise klar. Ihr kluger gerechter Sinn sprach ihn frei, und daß sie dieses vermochte, erleichterte ihr Herz. Aber doch sagte sie sich, daß es edler von ihm gewesen wäre, wenn er ein offenes Wort der Aufklärung zu ihr gesprochen hätte, statt sich nach und nach wie ein kleinlicher Diplomat aus der Affaire zu ziehen. Sie würde, wenn auch mit Schmerz, doch ohne Bitterkeit zu seinem Besten Verzicht geleistet haben.

Sie siedelte nach dem Stift über. An dem Tage, da sie ihren Hausrath einpacken ließ zum Umzug in das stille Asyl, fuhr das junge Paar in eleganter Equipage Visiten.

In dem Stift, das angefüllt war mit unverheirathet gebliebenen Töchtern aus den adeligen Familien des Landes, fand sie viele Schicksalsgefährtinnen, die sich längst damit getröstet hatten, daß ihre Stellung ihnen den Frauenrang, anständiges Einkommen, hübsche Wohnungen gab. Kritisirende Gespräche über die Deputate an Fisch und Wild, vertrauliche Mittheilungen aus der Chronique scandaleuse der Residenz und die Lectüre des Adelslexikons füllten ihr Leben aus.

Es kam eine Zeit, in der Melanie mit der Bitterkeit rang. Aber sie hatte immer einen Zug nach oben im besten Sinne. So schloß sie sich hier an die Professoren an, und im Umgang mit den Männern der Wissenschaft bereicherte sich ihr Geist mit Interessen, die sie über das eng beschränkte Loos, das ihr gefallen war, hinaustrugen, und sie fand den Frieden der Resignation, in dem die Sehnsucht nach Glück endlich entschlummert.

Als dann die politische Umwälzung in Deutschland so viele früheren Verhältnisse und Voraussetzungen zu nichte machte, wurde auch Arved unter denen genannt, in deren Leben die Vorgänge entscheidend eingriffen. Das herzogliche Militär wurde preußisch, sein Vater pensionirt, er selbst, der in der Residenz sich angekauft hatte, in eine entfernte Garnison versetzt.

Vor ein paar Jahren, als sie aus dem Seebad zurückkam, war sie ihm wieder begegnet.

Sie harrte auf dem Bahnhof einer Stadt, die einen Knotenpunkt des deutschen Eisenbahnnetzes bildet, ihres Zuges. Da sah sie ihn stehen. Sie erkannte ihn sogleich, obwohl er sein Gesicht abgewendet hatte. So pflegte er immer den Kopf ein wenig nach der rechten Schulter zu neigen. Er war mit Handgepäck beladen. An seinem rechten Arm hing seine Frau, vier Töchter umringten ihn. Jetzt, da sie längst überwunden hatte, freute es sie, ihn wiederzusehen, und sie ging auf ihn zu. Aber da er sich nach ihr umwandte, blieb sie einen Augenblick zaudernd stehen. War der Mann mit dem nervösen verärgerten Gesicht, in welchem Mund und Nase zusammen und in die Höhe gezogen waren, als drückten ihn die Stiefeln, der hübsche elegante Arved?

Ja, er war’s. Mit einem bittren Lächeln, zu dem nur die eine Hälfte seines Gesichts sich verstand, begrüßte er sie und fragte, ob sie vielleicht das Mittel entdeckt habe, wie man immer jünger werde.

Auch seine Frau war verändert, die frischen Farben in eine allgemeine Röthe verwandelt und der harmlos sichere Ausdruck des auf dem Lande natürlich aufgewachsenen Mädchens in Kleinlichkeit untergegangen. Mit neidischem Blick verglich sie Melanie’s hellen Staubmantel, die langen seidenen Handschuhe mit ihrer eigenen verdrückten Toilette. Freilich war selbst die zierliche Zofe, welche Darling nachtrug, eleganter als Arved’s Töchter in ihren schlichten Perkalkleidern, denen selbst ihre hübschen Knixchen nicht den Anstrich der Spießbürgerlichkeit nehmen konnten.

Aber Melanie begriff ihre ehemalige glückliche Rivalin doch nicht. Was hätte sie darum gegeben, wenn sie die Jüngste, die mit denselben schwärmerischen blauen Augen sie ansah wie Arved dereinst, gleich hätte mitnehmen können!

Sie erfuhr, daß er „um die scharfe Majorsecke gegangen“ war, wie er sich ausdrückte, und nun, nachdem er den Abschied erhalten, in die alte Heimath zu ziehen gedachte. Er erkundigte sich nach dem Stift und sprach davon, daß er sich um eine Stelle daselbst für eine seiner Töchter bewerben wolle. Auch nach der in Greifenberg neu errichteten Selecta für Mädchen fragte er. Sie konnte zwischen den Worten lesen, daß sein Vermögen nicht so groß war, um ihn vor Sorge zu bewahren.

Endlich nahmen sie Abschied. Da sie ihm die Hand reichte, legte er die seine so schlaff hinein, daß sie einen leeren Handschuh [655] zu umfassen meinte. Ganz verwirrt saß sie in ihrem Eisenbahncoupé. Er hatte wirklich ein Benehmen gegen sie angenommen, als habe nicht er sie, sondern sie ihn sitzen lassen, als wolle er ihr einen Vorwurf daraus machen, daß sie sich zufrieden fühlte.

Und doch war sie nicht besser daran als er. Er hatte sich den Luxus gewünscht und eine engumfriedigte Häuslichkeit gefunden, sie hatte sich einen traulichen häuslichen Herd gewünscht und Eleganz und Behagen gefunden. Solche kleine Schäkereien erlaubt sich das Schicksal.

Ach vorbei; und Gott sei Dank, daß es vorbei war!

Sie begab sich in ihr Ankleidezimmer.

Darling trippelte ihr entgegen, hoch frisirt mit gekrepptem Toupet. Die Jungfer zog die Vorhänge von grauem mit herbstlich rothem Laub übersäeten Cretonne zusammen und warf ihrer Herrill den spitzenbesetzten Frisirmantel um.

Während die Zofe die weichen langen braunen Haare strählte, mit behenden Fingern einen Zopf flocht und diesen um den Kamm aus Schildpatt legte, der wie ein Krönchen die Haartour überragte, erzählte sie: „Fräulein Clusius sind doch schnell wieder hier bekannt geworden. Gestern kamen sie mit Herrn von Bartenstein aus dem Walde. Er führte sein Pferd am Zügel. Ich sah es, als ich mit Darlingchen spazieren ging.“

„Du hast mir den Kamm ein wenig schief gesteckt, Lina,“ unterbrach Melanie sie. „So, jetzt ist’s besser.“

Trotz ihrer äußeren Ruhe war sie erschrocken. Wenn sie auch Bartenstein für einen vollkommenen Cavalier hielt, so wußte sie doch, daß selbst ein solcher im Verkehr mit den Damen so gut wie im Pferdehandel eine Schelmerei für erlaubt hält. Und wenn auch eine Dame der Gesellschaft leicht über dieselbe hinweg kam, so würde sie Ereme’s feines Gefühl doch tief verletzen. Sie empfand es als eine Pflicht, die Freundin zu warnen, die hochgebildet, aber nicht weltklug war.

„Ich will ausgehen,“ sprach sie zu ihrer Zofe, als diese fragte, welche Robe das gnädige Fräulein befehle.

„Aber es droht mit Regen,“ warnte Lina und deutete auf eine langsam heraufrückende graue Wolkenwand.

Melanie sagte sich, daß man einen Regenguß nicht erst zu Hause abwarten könne, wenn man einem Ulanen den Vorrang ablaufen wolle, und sie bestimmte danach ihre Toilette.

Als Darling den Hut sah, hob er mit hoher Stimme ein Gewinsel an. Nun ja, zu einer Freundin durfte der kleine wohlgezogene Hund mitgehen.

Sie wählte den näheren Weg durch den Stiftsgarten zur neuen Promenade.

Elegante Spaziergängerinnen wandelten auf den Fußwegen; es war ja die interessante Stunde, um welche die Collegien geschlossen wurden und die Ulanenofficiere vom Exercirplatz heimkehrten. Durch die Kastanienallee rollten Wagen. Da fuhr auch der Landauer des Bankiers. Miß Smith’s blasse Augen sahen jedem aufleuchtenden rothen Kragen erwartungsvoll entgegen. Melanie, der als Tochter einer kleinen Residenz die Gewohnheit, stets zu combiniren, geblieben war, fragte sich, ob das Goldfischchen vielleicht um diese Zeit hier Bartenstein zu begegnen pflegte. Aber der von ihr vermuthete Reiter blieb aus. Statt seiner ritt Kronheim auf seinem englischen Pferd vorbei, die Fingerspitzen an der Czapka, die Augen unverwandt auf Miß Smith gerichtet. Melanie fand. daß der junge Officier ganz in der Stille eine Beziehung zwischen sich und der reichen Dame herzustellen suchte.

Die engen Straßen der Altstadt nahmen sie auf. Dort ging Elsa neben ihrer jungen Busenfreundin, beide mit Büchern beladen.

Es wurde Melanie nicht schwer, zusammenzureimen, warum Elsa von dem Schulgebäude, das die Selecta enthielt und am anderen Ende der Stadt lag, hier auf den Pfad der Lanzenreiter kam, auch nicht, warum sie ihren rosigen Mund wie ein kleines Kind verdrossen herausschob. Aber da kamen Studenten, die Mappen unter dem Arm. Die beiden hübschen Backfischchen erblicken und einen Gänsemarsch hinter ihnen her machen war das Werk eines Augenblicks. Lachend retteten sich Elsa und die Freundin in eine Conditorei. In der Privatstube des Conditors erschienen sie alsbald mit Stachelbeerkuchen vergnügt am Fenster.

Das Leben bot freundlich Ersatz: Confect und jugendliche Neckerei, einen annehmbaren Reservemann, eitlen wohlbestellten Haushalt; man durfte nur nicht zu anspruchsvoll sein, lächelte Melanie wehmüthig.

In Ereme’s kühlem Haus kam ihr die Frau Doctor entgegen.

„Gut, daß Sie da sind, liebes Fräulein von Seebergen. Ich kann gar nicht mehr mit Eremechell fertig werden. Sie ist so aufgeregt und wird gleich so heftig. Ich denke mir, sie hat sich in Griechenland den Magen verdorben mit dem vielen Oel. Das ist keine feine Küche, mit Oel zu schmalzen, und ich begreife nicht, warum die alten Griechen ihrer Göttin so dankbar für den Oelbaum gewesen sind. Ereme sitzt im Gartensaal. Bitte, treten Sie ein. Ich habe noch in der Küche zu thun.“

Melanie öffnete die Thür des Salons. Orangenblüthenduft wehte ihr entgegen. Die Flügelthür nach dem Garten stand offen. Ueber die breiten Stufen, welche hinausführten, glitten die Schatten der Lorbeer- und Orangenbäume, die zu beiden Seiten derselben standen. Es war kühl und dämmerig in dem Raume, den Melanie in dieser Ausstattung kannte, so lange sie nun in dem Clusiushaus verkehrte. Immer waren die Wände pompejanisch roth gemalt gewesen, an dem Platz in der Tiefe des Salons hatte immer das Sopha gestanden, dessen rothe Kissen in geradlinige weiße Holzrahmen eingefaßt waren; so hatten stets die steiflehnigen hohen Stühle mit den kleinen Fußschemeln davor sich um die Tafel gereiht, die hohen weißen Tischchen zu beiden Seiten des Sophas die enghalsigen eckig gehenkelten Vasen getragen. Und hinter der Palmengruppe hatte sich ewig gleich, weiß, kühl, lächelnd die Statue der Pallas Athene erhoben.

In der Thür saß Ereme, das Antlitz hinaus und emporgerichtet. Nur die jugendlich gerundete Wange, nur die dunklen Wimpern des Auges vermochte Melanie zu erschauen; aber sie meinte, den Blick, der sich an denselben hinausspann in sonnenferne Weiten, sehen zu können. Darling trippelte zu ihr hin und stieg an ihr empor.

Mit leisem Erschrecken wandte sie sich um. Sie schien sich erst aus ferngelegenen Gedankengängen wieder zurückfinden zu müssen. Dann bot sie Melanie die Hand, und beide nahmen neben einander im Sopha Platz, während Darling sich auf Ereme’s Fußkissen zusammenknäulte und mit einem Seufzer einschlief.

„Ich habe sehr bedauert, daß ich Sie neulich nicht annehmen konnte,“ sagte Melanie, „und daß Sie es ablehnten, mich in das Concert zu begleiten. Wollen Sie nicht wieder ausgehen?“

„Nein; ich würde mich nicht zurechtfinden in der Gesellschaft, wie sie sich jetzt zusammensetzt,“ antwortete Ereme abwehrend.

„Wäre es nicht doch besser, Sie schlössen sich an?“ warf Melanie hin. „Sie verlieren so gut wie ich leicht die Fühlung mit der Gegenwart. Wir sind beide in ganz anderer Atmosphäre groß geworden, als die ist, welche heute herrscht. Sie im Geist der antiken Welt, ich in den Anschauungen der antiquirten Welt eines kleinen Hofes. Und ich finde,“ fuhr sie eindringlicher fort, „daß die Frau, die sich freiwillig zurückzieht, sich eines Vortheils begiebt. Die Gesellschaft bildet eine schützende Mauer um Jeden, der zu ihr gehört; der alleinstehenden Frau aber begegnet selbst der ritterliche Mann kecker, schon weil es seine männliche Eitelkeit nicht ertragen kann, wenn wir uns einbilden, auch ohne Schutz unsern Weg durch’s Leben zu finden.“

Ereme wußte sofort, was Melanie andeuten wollte. Sie hob stolz das Haupt. „Ich werde nicht die Hülfe der Gesellschaft anrufen, um einen Mann, der mir keck begegnet, in seine Schranken zurückzuweisen. Und ich denke, mein Name steht so rein da, daß ich auch einmal Außergewöhnliches thun darf, ohne daß selbst nur der Schatten eines Verdachtes auf mich fällt.“

Da Melanie sah, daß sie von Ereme verstanden wurde, fragte sie in dem leichten Gesellschaftston, der so flüchtig über gefährliche Stellen hinzugleiten versteht: „Wie kam es doch?“

„Er redete mich im Walde an,“ erwiderte Ereme, und eine Pupurgluth stieg in ihren Wangen auf.

Er? schon Er? dachte Melanie erschreckt.

Ereme fuhr erregt fort: „Er drängte mir seine Begleitung auf, und ich kann Ihnen mein Erstaunen darüber nicht verhehlen, daß Männer in solcher Stellung sich so ungebildet ausdrücken.“

„Ungebildet?“ fragte Melanie befremdet.

„Ich bin gewöhnt, die Sprache als das Gewand zu betrachten, welches der Geist des Menschen sich schafft,“ antwortete Ereme. „Herr von Bartenstein bedient sich einer Barbarensprache, die nur darum nicht unedel klingt, weil er die Worte so scharf ausprägt, daß sie neben einander stehen wie Soldaten – er würde sagen: wie stramme Kerle.“ Sie mußte das Wort, das sie förmlich verfolgt hatte, einmal nennen, als werfe sie es damit zum Haus hinaus.

[658] Melanie lächelte. „Auch ich bin oft über den modernen Verkehrston betroffen; denn in meiner Jugend wählte man unter den Worten bis zur Ziererei. Jetzt wird das Pathos gänzlich vermieden. Seit ein etwas derber Humor unserem Heer im Kriege beigestanden hat, ist demselben als Nationalbelohnung ein festes Heim in unserem Volk zu Theil geworden.“

„Ich habe nur den wohlfeilen Tageswitz herausgehört, mit dem eine untergeordnete Natur sich aushilft,“ widersprach Ereme.

„Sie unterschätzen ihn,“ warnte Melanie nachdrücklich. „Gerade weil er eine bevorzugte Persönlichkeit ist, überschreitet er mit souverainer Machtvollkommenheit die herkömmlichen Formen.“

„Das mag den Damen seiner Kreise gegenüber angemessen sein, die den engen Horizont der Gesellschaft haben,“ entgegnete Ereme. „Aber er soll sich hüten, mit seiner Keckheit an Persönlichkeiten sich zu wagen, deren hohen Culturstandpunkt er offenbar gar nicht begreift; sonst wird er ebenfalls mit souverainer Machtvollkommenheit zurückgewiesen werden. Ich für mein Theil,“ setzte sie nachlässig hinzu, „werde dafür sorgen, daß der tollkühne Ulan mich nicht wieder mit seinen Trivialitäten über die wahre Stellung der Frau behelligen kann, und es wird mir eine Freude sein, ihm klar zu machen, daß auch seinem starken Willen nicht Alles erreichbar ist.“

In diesem Augenblick wurden im Hause Stimmen laut, Sporen klirrten. Die Frau Doctor begrüßte sich mit einem Herrn.

Ereme und Melanie erstarrten zu Bildsäulen. Dann begann Melanie zu lachen. Die Thür öffnete sich und zeigte ein lebendes Bild.

Die Tante knixte artig vor Bartenstein, indem sie mit der einen Hand ihn zum Eintreten aufforderte, mit der andern, welche einen zierlichen Schaumbesen hielt, entschuldigend nach der Küche winkte.

Bartenstein, die Czapka in der Hand, stand in ehrerbietiger Haltung vor ihr und trat dann sporenklirrend über die Schwelle, während die Tante, sich zurückziehend, hinter ihm die Thür zudrückte.

Funkelnd vor Uebermuth verbeugte er sich vor den beiden Damen, indem er Ereme fragte: „Meine Gnädigste, ich weiß nicht, wie der Gruß der Griechen lautete?“

Vollständig aus der Fassung gebracht durch diesen Ueberfall geschah es ihr, daß sie Auskunft gab: „Freude sei mit Dir.“

„Ich danke, gleichfalls,“ erwiderte er lachend. „Ich konnte mir nicht versagen, nach dem gestrigen für mich so interessanten Spaziergang Ihnen einen Besuch zu machen, und ich hoffe, nicht hinausgeworfen zu werden, da die Gastfreundschaft den alten Griechen heilig war.“

Ereme deutete mit einer ihrer großen langsamen Bewegungen auf den hochlehnigen Sessel neben Melanie. Doch vermochte sie nicht ein leises Zittern der Fingerspitzen zu bemeistern und sein an dieselben sich heftender Blick bewies, daß er es wohl bemerkt hatte.

[669] Indem Bartenstein Melanie begrüßte, sagte er: „Ueberzeugen Sie sich, wie man dem Zufall zu Hülfe kommen kann.“

„Ich verstehe,“ lächelte Melanie, „wie die Franzosen dahin gekommen sind, zu glauben, die Ulanen stünden mit einer über- oder vielmehr unterirdischen Macht im Bunde.“

„Im Kriege bilden sich immer Mythen,“ sagte er. „Unsere Mannschaften haben sich indessen doch gegen die Annahme, daß sie unverwundbar seien, durch den schönen Vers gewehrt:

‚Ulanen werden in der Schlacht
Wie andre Leute umgebracht.‘

Aber gestatten Sie, gnädiges Fräulein,“ wandte er sich wieder an Ereme, „daß ich mir einmal den Cameraden dort ansehe.“ Er drehte sich nach der Statue um und rief überrascht: „Eine Minerva! Nun, ich hätte es mir eigentlich denken können.“

„Pallas Athene,“ verbesserte Ereme, ihm langsam folgend. „Der Versuch eines jungen Künstlers, eine Athene nach der Beschreibung von der ehernen des Pheidias, die man die Athene Promachos nannte, zu schaffen.“

„Promachos?“ wiederholte Bartenstein.

„Ja, Vorkämpferin,“ erklärte Ereme.

„Für eine Kämpferin hat sie den Helm zu weit nach hinten gesetzt, ohne das Sturmband herunter zu schlagen,“ kritisirte er. „Sie steht überhaupt da, als habe Vater Zeus ‚ohne Tritt‘ commandirt. Und ihre Uniform sitzt auch nicht reglementmäßig.“

„Vom Standpunkte des Ulanen,“ erwiderte Ereme spöttisch.

Er schien den Spott zu überhören. „Gewiß, vom Standpunkte des Ulanen, der als deutscher Soldat sich bewußt ist, daß Wort, Raum, Kleid und Zeit ihm knapp zugemessen sind. Von dem Standpunkte des deutschen Soldaten aus muß ich Ihnen auch sagen, daß mir diese antike Jungfrau von Orleans sehr mißfällt, und noch mehr das Volk, das Frauen darzustellen beliebte, die mit eingelegter Lanze zu Felde ziehen.“

Ereme sah ihn hochmüthig an. „Es war das edelste Culturvolk der Erde. Und es ist eine hohe Genugthuung für uns Frauen, daß es einem Mädchen die einzig unbesiegbare Waffe verlieh, vor der die größten Helden zurückwichen.“

„Die Lanze,“ neckte er muthwillig, „die wir Ulanen führen.“

„Nein, den Gedanken,“ entgegnete sie schroff, „der ihr so hohe Kraft giebt, daß es ihr ein Leichtes ist, auch den Kriegsgott im Kampfe zu besiegen.“

Eine helle Röthe flog bei ihren Worten über seine Stirn. Er strich sich das kurzgelockte braune Haar zurück, als werde es ihm plötzlich heiß. „In welchem Kampfe?“

„In dem, welchen die Iliade schildert.“

„Sie müssen meinem Gedächtnisse noch weiter zu Hülfe kommen,“ sagte er. „Es ist lange her, seit ich die Iliade gelesen habe. Mir ist nur die Erinnerung geblieben, daß Achilles um einer Sclavin willen seinem Kriegsherrn den Gehorsam verweigert und dennoch nicht vor ein Kriegsgericht gestellt wird. Das ging mir schon über den Spahn. Also dann besiegt auch noch eine Dame den Kriegsgott?“

Ereme neigte bestätigend das Haupt. „Sie verschmäht dem Ungeberdigen gegenüber die feinen Waffen. Mit einem Feldsteine schlägt sie ihn zu Boden, und mit jauchzendem Laute spricht sie die geflügelten Worte: ‚Thörichter, nie wohl hast Du bedacht, wie sehr ich an Kraft Dir vorzugehen mich rühme, daß Du voll Trotz mir begegnest.‘“ Es lag etwas wie eine strenge Warnung in dem Blicke, der ihre Worte begleitete.

Auch seine Augen verdunkelten sich, und er rief ungestüm: „Das ist stark - von der Pallas Athene,“ setzte er in leichtem Tone hinzu. „Der griechische Kriegsgott würde bei uns für untauglich zum Militärdienst erklärt worden sein.“ Er streifte den weißen Handschuh ab und legte seine schön geformte kräftige Hand neben die der Pallas, welche plötzlich puppenhaft erschien. „Ich bezweifle,“ fuhr er fort, „daß dieses Händchen es mit meiner deutschen Faust aufnehmen könnte; aber ich weiß, daß es mir selbst einer so ausgezeichneten Dame gegenüber,“ – dabei hob er die Hand zu der Statue empor – „mitten im Kampfe ein Leichtes sein würde, zu gebieten: Bis hierher und nicht weiter. Sie würde trotz aller holden Gedanken meiner schlichten Willensäußerung sich unterordnen.“ Damit senkte er die erhobene Rechte und bot sie mit einer Bewegung voll Eleganz Ereme, um diese nach dem Sopha zu geleiten, wo Melanie saß.

Obgleich Ereme der Zorn siedend heiß zum Herzen stieg, blieb ihr doch nichts übrig, als auf dem Sopha Platz zu nehmen.

Melanie hatte rothe Wangen und glänzende Augen vor Schreck über die Scene bekommen. Sie suchte zu vermitteln. „Sie würden den Griechen unrecht thun, Herr von Bartenstein, wenn Sie glaubten, daß dieselben nicht verstanden hätten, in ihren Dichtungen der Frau die rechte Stellung zu geben. Kann das Wesen einer solchen schöner bezeichnet werden, als in den Worten der Antigone: ‚Ich bin ein Weib, zum Hassen nicht geboren; nur mitzulieben zwingt mich die Natur.‘“

[670] „Die Natur und der betreffende Herr und Meister,“ bestätigte Bartenstein, in dem die Kampflust tobte, und sah Ereme herausfordernd an.

Diese aber blickte über ihn hinweg, als seien er und seine Rede für sie gar nicht da.

„Ich fürchte, der Ignorant hat schon wieder Ihren Zorn erregt,“ sprach er weiter, nachlässig die Knöpfe seines Handschuhs wieder schließend.

„Wer das Eiserne Kreuz erster Elasse trägt, darf sich schon einen Ignoranten nennen,“ beschwichtigte Melanie.

„Man thut auch als Kanonenfutter seine Schuldigkeit,“ antwortete er aufstehend, ohne den Blick von Ereme zu wenden. „Und was Anderes bin ich nicht: ein Mensch, der alles Angelernte nicht hoch schätzt, gelehrte Bücher nicht ansieht, Kunstwerke nicht versteht, und dessen Wahlspruch ist: Einen Säbel in die Faust und frisch auf’s Pferd.“

„Ein Spartaner, um in Ereme’s Sprache zu reden,“ antwortete Melanie mit einem Versuche zu scherzen.

„Nein, ein Deutscher, ein echter Sohn der Mark,“ widersprach er fast heftig, „der gar nicht mit einem andern Volke verglichen sein will. Mir ist der tiefe Sand meiner Heimath theurer als aller Marmor Griechenlands, und ich bilde mir ein,“ schloß er, muthwillig wieder lachend, „daß ich als Altmärker und nicht als Spartaner über die Pallas Athene triumphiren werde.“

Er nahm die Czapka, verneigte sich mit einem schalkhaften Lächeln tief vor Ereme wie vor einer Fürstin und grüßte mit Ehrerbietung Melanie.

„Sag’ Adieu, Darling,“ suchte Melanie in ihrer Verlegenheit den Kleinen zu ermuntern.

Darling rührte sich nicht.

„Darling!“ rief Bartenstein mit seiner klingenden Stimme.

Da rappelte sich Darling auf, trippelte langsam mit hängendem Köpfchen zu ihm, steckte sein rosenrothes Naschen in seine Hand, leckte ihm den Handschuh, wedelte demüthig und warf einen respectvollen Blick unter seinem Toupet hervor auf ihn.

„Dem Manne wird einmal lieber gehorcht, als den Damen,“ lachte Bartenstein, und fort war er.

Als sich die Thür hinter ihm geschlossen hatte, faltete Melanie die Hände. „Aber, liebe Ereme, wie konnten Sie ihn mit diesem Citat attakiren?“

„Er hat mich angegriffen,“ widersprach Ereme, „und muß nun die Streiche hinnehmen, die ein Kampf mit sich bringt.“

„An solche ist er besser gewöhnt als Sie,“ warnte Melanie. „Sie fachen durch Ihr Verhalten den Streit nur immer heftiger an.“

„Mag es sein,“ antwortete Ereme, und ein heißer Strahl brach aus ihren Augen. „Ich weiche nicht zurück. Er soll erfahren, daß eine Frau auch zu kämpfen vermag und an stolzem Muthe ihm nicht nachsteht.“

Melanie war sprachlos. Ihr Blick folgte Ereme, die mit glühenden Wangen und blitzenden Augen im Gemache auf- und abschritt. Dabei schien der Stiftsdame ein neues Licht aufzugehen. Sie wehte mit dem duftenden Spitzentuche über die Stirn, als wolle sie einen leichten Nebel verjagen. Dann sagte sie: „Man ist doch manchmal recht blind. Sie werden kämpfen, und ich hätte mir sagen können, daß ich Sie nicht davon zurückzuhalten vermag. Ebenso gut könnte ich mich dem Blitze entgegenstellen wollen. Doch möchte ich Ihnen noch rathen: Werden Sie sich klar über das, was Sie wollen. Wenn Sie mit Grazie kämpfen, ihm immer eine Chance lassen, ein wenig necken und ein wenig nachgeben, dann wird Alles gut endigen. Aber hüten Sie sich, ihn zu beleidigen. Denn in dem Kampfe, den Sie führen, würden Sie erst recht die Verlierende sein, wenn Sie ihn ernstlich verletzt hätten.“

Sie bekam keine Antwort. Ereme hatte sichtlich nicht auf ihre Rede gehört, sondern war ihren eigenen Gedanken gefolgt, die erregt genug sein mochten, dem düster glühenden Blicke nach zu urtheilen, mit dem sie vor sich hinstarrte. Melanie sah ein, daß alle Warnungen und Rathschläge in den Wind gesprochen waren, und empfahl sich.

Ganz erfüllt von dem eben Erlebten ging sie nach Hause. Es war eine schwüle Luft, einzelne Regentropfen fielen, Darling trottete müde hinter ihr her.

Da wurden ihre Gedanken in andere Bahnen gelenkt. Doctor Gerhard kam ihr entgegen unter einem höchst eleganten Regenschirm.

Sie seufzte. Denn es stand ihm im Gesicht geschrieben, daß er erwartete, von dem Eindrucke zu hören, den sein Essai über die Liebe auf sie gemacht hatte. Er besaß ja den ganzen Egoismus, mit dem die jüngere Generation stets die ältere ausbeutet, ohne ihre Schuld auf andere Weise abzutragen, als daß sie selbst wieder von der nächsten Generation sich ausbeuten lassen muß.

Er grüßte athemlos und erröthend und bot ihr seinen Schirm an; denn sie wurde nur durch einen kleinen Entoutcas geschützt.

Sobald Darling des Doctors ansichtig wurde, drückte er sich dicht an Melanies rechte Seite und zog den Schweif ein; denn die Erfahrung hatte ihn gelehrt, daß der Doctor in seiner Zerstreutheit auf denselben trat.

„Ihr Werk interessirt mich sehr,“ begann Melanie, mütterlich nachsichtig seinen Wünschen entgegenkommend; „aber ich glaube, Sie sind zu einem Trugschluß gelangt. Der Mensch ist nicht mehr im Stande, mit klarem Blick die Tiefen seines Ichs zu erforschen von dem Augenblick an, da er liebt. Die Liebe macht nach allen Seiten hin blind. Ich habe dafür ein ganz bestimmtes Beispiel vor Augen.“

„Natürlich, Damen haben ja immer Beispiele,“ lächelte Gerhard herablassend und gesellte sich an ihre linke Seite.

„Ich meine,“ fuhr Melanie fort, „eine geistig hoch beanlagte Persönlichkeit, welche sich in jenem leidenschaftlichen Zustand der Verwechselung der Gefühle befindet, den man mit dem Worte ‚Liebehaß‘ bezeichnet.“

„Der Liebehaß,“ antwortete Gerhard, indem er docirend den Finger hob, „entspringt bei einer sehr selbstbewußten Natur einem Gefühl der Empörung darüber, daß ein anderes Individuum sie zwingt, sich mehr mit ihm als mit sich selbst zu beschäftigen. Die Wichtigkeit des Ichs wird nie ohne Kampf aufgegeben.“

„Mein Gott!“ seufzte Melanie, „nun betrachten auch Sie die Liebe als einen Kampf und werfen mit schrecklichen Worten wie Zwang und Empörung um sich, und sie allein vermag doch unsere Seele mit einer Ahnung von schrankenloser Seligkeit zu erfüllen.“

Er schüttelte nachsichtig das kluge Haupt wie einem lieben Kinde gegenüber. „Der denkende Mensch weiß, daß er keine Seele hat, und daß mit den sogenannten Ahnungen der Weltwille ihn betrügt.“

Melanie lächelte. „Ich muß es ertragen, daß Sie mir das Zeugniß geistiger Reife nicht geben wollen.“

„O,“ erwiderte er in einem tröstenden warmen Tone. „Sie sind eben eine echte Frau. Und Gott, um in Ihrer Sprache zu reden, erhalte Sie so! Wir Männer haben leider mit der Illusion über die Gefühle auch Manches eingebüßt, was uns, wenn wir es bei Ihnen wiederfinden, wie ein Märchen aus der Kindheit angenehm berührt.“

Sie waren am Stiftsgebände angelangt. Er zog den Hut. Dann sagte er lachend: „Adieu, Darling; Du weißt, daß das kein Liebehaß ist, den Du für mich entpfindest.“

„Rrrrr!“ knurrte Darling und brachte sein Schweifchen in der Hausthür in Sicherheit.

Melanie stieg in heiterer Stimmung in ihre Wohnung hinauf. Sie mußte sowohl über Ereme’s Kampflust als über die große Selbstschätzung des jungen Doctors lachen. Das waren nun beides ein Paar kluge junge Menschen, aber man sah, daß es auch in den hellsten Köpfen dunkle Ecken gab.


Ereme rang indessen danach, Aufklärung in diese Verfinsterung zu bringen. Wie war es möglich, daß einem übermüthigen Mann die Gewalt gegeben war, den Frieden ihres Lebens so unablässig zu beunruhigen? Womit hatte sie es verschuldet, daß ein solches Geschick über sie hereinbrach? Und wo war das Mittel zu finden, durch das sie sich von dem Friedensstörer befreien konnte?

Brütend über diesen Problemen saß sie an ihrem Nähtische; die feinen alten Spitzen, die sie auszubessern gedachte, lagen, über das dunkle Sammetkissen gebreitet, vor ihr. Die Aussicht auf den Universitätsplatz mit den ab- und zuströmenden jungen Studenten, den würdigen Professoren war so altvertraut, die Arbeit, die sie vorgenommen hatte, so einförmig; aber die Umgebung wirkte nicht nervenberuhigend auf sie. Sie sah gar nicht, wie der Professor der Geschichte, der Freund ihres Vaters, heraufgrüßte, und das Spinnennetz, das sie in eine durchlöcherte Spitze weben wollte, [671] kam so wenig zu Ende wie die Weberei der Penelope. Der kleine vergoldete Fingerhut rollte unbeachtet zu Boden, und wie sie finster mit der blinkenden Scheere spielte, schien auf der Stirn sich der Gedanke zu spiegeln: könnte ich doch, gleich der strengen Parze, alle Fäden abschneiden, die verwirrend sich um mich spinnen!

Da dröhnte kriegerische Musik zu ihr herauf, als blase Kalliope selbst mit vollen Wangen einen Kriegsgesang auf ihrer Drommete.

Sie fuhr erschreckt empor und schaute hinaus. Sie sah gerade in die gespannt an ihren Fenstern hängenden Augen Bartensteins, der seine Schwadron vorüberführte und jetzt, den Säbel senkend, heraufgrüßte mit einem Blick des Dankes dafür, daß sie auf das Signal wie gerufen sich zeigte, und mit einem Lächeln, das ihrer Bereitwilligkeit zu spotten schien.

Sie mußte wohl oder übel seinen Gruß erwidern, wenn sie auch die Brauen finster zusammenzog.

Zitternd vor Zorn über diesen neuen Ueberfall schaute sie der lanzenstarrenden Schlange, die sich die Straße hinabwand, nach, ohne darauf zu achten, daß die folgenden jungen Officiere lächelnd und erstaunt herauflugten nach der schönen jungen Dame in dem phantastischen Jäckchen, von dem sie nicht wußten, ob es ihnen imponirte, oder ob sie sich darüber moquiren sollten.

Als Ereme sich in das Zimmer zurückwandte, stand die Frau Doctor mit bedenklichem Gesicht vor ihr. „Fensterparaden würde ich an Deiner Stelle nicht annehmen, Eremechen,“ warnte die alte Dame liebevoll.

Ereme errötete und erwiderte entrüstet: „Es ist unerhört. Nachdem ich ihm meine Mißachtung so unverhüllt gezeigt habe, nimmt er eine Miene an, als sei mein ehrlicher Zorn eine fröhliche Neckerei. Ich werde ihn studiren müssen, um seine Achillesferse zu entdecken.“

Die Tante sah sie mit äußerstem Erstaunen an. „Du willst ihn studiren? Das überlege Dir reiflich. Ein Mann ist kein Buch, das sich nicht wehren kann. Bedenke das Wort: Wer sich in Gefahr begiebt, kommt darin um.“

Nun traf auch die Tante ein düsterer Blick, vor welchem sie sich mit ihrem Schlüsselbund in das sichere Versteck der Vorrathskammern flüchtete.

Ereme wandte sich den Spitzen wieder zu; aber die Finger zitterten so, daß sie die feine Nadel nicht mehr zu halten vermochten.

Es war, als hätte sich Alles gegen sie verschworen. Selbst die Natur schien im Bunde gegen sie zu sein. Die wundervolle Johanniszeit, die sie zum ersten Mal seit Jahren wieder zu Hause verlebte, übte ihren Zauber aus. Mit Rosen bekränzt zogen die Stunden auf und schienen bunte Falter aus den Aermeln zu schütteln.

Es war eher eine Zeit zum Träumen als zum Kämpfen, das sagte sich Ereme, als sie an einem der warmen Sommerabende unter den Oelbäumen ihres Gartens saß.

Blättersäuseln und Wassermurmeln, fernes Grillengezirp und traumhafter Vogelgesang klang zu einem leisen Accord zusammen, dessen Grundton das ferne Brausen des Eichwaldes bildete. Ueber den Bergen zogen schwere Wolken hin, in denen es von Zeit zu Zeit hell aufleuchtete. Das Gewitter war fern; nur die Luft kam auf feuchten Schwingen heran, nur gedämpft rollte der Donner über den Eichen.

Warum konnte das einlullende Lied der warmen Sommernacht nicht auch ihr den Frieden geben, in dem Alles rundum sich wiegte? Warum mußte sie der mächtigeren Stimme in ihrem Innern lauschen, die ihr beim Anblick der zackigen Blitze die Worte des Aeschylos zuraunte: „Des Mannes allzu kecken frechen Geist, wer schildert den? Eher das Flammenmeteor, das hoch im Aether sproßt.“

Da tönte in das ferne Donnern und das nahe Geplätscher ein leiser weit herkommender Hall, kaum vernehmbar zuerst, aber gleichmäßig, scharf das Geflüster der Nacht durchschneidend; immer näher dann, immer lauter, immer schärfer. Dort jenseit der Gartenmauer tauchte wie ein Schatten ein schlanker Reiter auf und glitt vorüber.

Und wie sie genau wußte, wer der Reiter war, so hatte auch er ihre Gestalt unter den Bäumen erkannt; sie sah, wie er die weiß behandschuhte Rechte zum Gruße erhob. Und wie dann das schmale Gesicht, das hell aus der Dunkelheit sich abhob, ihr zugewendet blieb, während das Pferd ihn rasch vorüber trug, meinte sie den Blick zu fühlen, der durch die nächtliche Dämmerung zu ihr drang, und der sie zwang, ihm mit den Augen zu folgen.

Athemlos lauschend verharrte sie, bis der letzte Hufschlag geisterhaft in dem Gesäusel der Nachtluft verklungen war.

Dann war es auf einmal, als erwache sie. War sie denn eine so sclavische Natur, daß sie immer wieder dem Willen dieses frevelmüthigen Tyrannen sich fügte? Sie reckte sich hoch auf und schritt, stolz sich abwendend, in das Haus hinein.

Warum hatte sie das nicht vorhin gethan, da er noch in ihrem Gesichtskreis war? Ja, warum?


Zu einem Zusammentreffen bot sich für das junge Paar in der Saison morte wenig Gelegenheit.

Nur der Rector Magnificus kam seinen Verpflichtungen gegen die an ihn empfohlenen Studirenden durch einen Thé dansant nach.

Auch auf Ereme’s Pfeilertischchen lag eine Einladungskarte. Unschlüssig stand sie davor. Es war ihr fester Entschluß gewesen, derartige Feste nicht wieder zu besuchen; aber es zog sie Etwas unwiderstehlich hin, obgleich sie wußte, daß sie das ganze Officiercorps der Ulanen dort treffen werde. Sie erklärte es sich damit, daß ihr Gefühl den Besuch des Festes, das die höchste Person der Universität gab, wie die Erfüllung einer Standespflicht von ihr heischte. Sie sagte zu.

Eine gewisse Genugthuung spiegelte sich in ihren Zügen, als sie einen aus Griechenland mitgebrachten orientalischen Stoff seinem Carton entnahm und entfaltete. Es war ein weißes durchsichtiges Gewebe, von seidigen Blumen und Goldfäden in zartem Gerank durchzogen. Die Schneiderin empfing gemessene Befehle, das Untergewand nicht durch kleinliches Gekrause zu entstellen und den Ueberwurf als Peplos zu arbeiten.

Dann öffnete sie die kleine mit Elfenbein ausgelegte Truhe in der Bibliothek, welche die kostbarsten Stücke ihrer Sammlung enthielt, und wählte eine Haarspange von mattem Gold aus, deren schlichte antike Form nur ein tadelloses Profil wagen konnte. Und so ernst auch der Grundton ihrer Stimmung war, zeigte sie sich doch ganz erfinderisch darin, die Flechten und Locken so zu ordnen, daß der Kopfschmuck anspruchslos und hoheitsvoll zugleich aussah. Ein Perlenhalsband hatte ihr Vater ihr geschenkt im Gedenken an seine erhabene Schutzpatronin Pallas Athene, die mit solchem Halsschmuck abgebildet wurde. Es mußte harmonisch zu der Toilette stimmen.

Sie brauchte viel Zeit an dem Festabend, ehe sie damit fertig wurde, sich zu schmücken.

Die Wagen rollten schon lange, welche die Officiere und Professoren zu dem Feste brachten; im eleganten Coupé fuhr der berühmte Operateur und in der Miethskutsche der große Kanzelredner vorüber, und Ereme brachte immer noch eine kleine Verschönerung an. Die Tante, die, mit grauseidenem Kleid und Blondenhaube angethan, in ihrer Stube harrte, und der alte Diener, der, in seiner hechtgrauen Livrée mit silbernen Litzen einem Bücherwurm gleichend, an der geöffneten Wagenthür stand, wurden auf eine starke Geduldsprobe gestellt.

Die Damen Clusius fuhren als die letzten in das gastlich geöffnete Thor ein. Die teppichbelegte Treppe stieg kein Gast mehr empor.

Aber als der Diener die Wagenthür öffnete, trat aus dem Schatten des Treppenpfeilers Bartenstein mit tiefer Verneigung hervor.

„Militärische Pünktlichkeit, gnädiges Fräulein,“ rief er, nachdem er der Tante beim Aussteigen Ritterdienste geleistet hatte, „ist auch eine Tugend, die Sie sich noch aneignen müssen. Um acht Uhr sollte angetreten werden; jetzt wird gleich Retraite geblasen.“

Er bot ihr die Hand; aber sie neigte dankend das Haupt und schritt, ohne dieselbe zu berühren, an ihm vorüber.

Es schlug ihn nicht darnieder. „So steigt Pallas von ihrem Piedestal herab,“ sagte er, indem er den Blick bewundermd an ihre Gestalt heftete. „Und ich muß ihr bei der Kritik das Lob ertheilen, daß sie mit der Toilette ausgezeichnet zu kämpfen versteht.“ Unentwegt geleitete er sie die Treppe hinauf und trug ihr ritterlich das bunte persische Seidentuch nach, dessen Echtheit der türkische Stempel und die strickartig gedrehten, mit Seidenflöckchen durchflochtenen Fransen bezeugten.

[672] Eine Wolke orientalischen Rosenduftes stieg aus dem fremdartigen Gewebe auf; aber sie vermochte nicht, ihm den klaren praktischen Sinn zu umnebeln.

„Darf ich um den ersten Walzer und den Cotillon bitten, gnädiges Fräulein?“ fragte er.

„Ich bedaure, ich tanze nicht,“ war die kühle Antwort.

Einen Augenblick sah er sie erstaunt an. Dann erwiderte er: „Ich verstehe; der Kothurn ist keine bequeme Ballchaussüre. Kann ich dann den Vorzug haben, Sie zu Tisch zu führen? Ich hoffe, daß Sie nicht auch sagen werden: Ich bedaure, ich esse nicht.“ Er ahmte ihre majestätische Bewegung der Hand nach, mit der sie ihn abgewiesen hatte.

Sie erröthete unwillig und fand doch keinen Ausweg. Sie mußte das Engagement annehmen.

„Wie werden Sie sich nun amüsiren, während wir tanzen?“ fragte Bartenstein.

„Das Wort ,amüsiren‘ kenne ich nur dem Klange, nicht dem Begriffe nach,“ wehrte Ereme ab.

„Dann geht es Ihnen mit dem Amüsiren wie mir mit dem Imponiren,“ entgegnete er gleichmüthig. „Mir imponirt nichts. Das Bizarrste können die Leute sagen und thun, ich weiß, es steckt darunter ein Mensch, wie wir Anderen auch sind, der im Grunde ebenso fühlt und ebenso denkt wie ich, wenn er sich auch ein noch so großartiges Air giebt.“

Bei diesen Worten öffneten sich vor ihnen die Flügelthüren, die in das Vorzimmer der Festräume führten, das gleich den übrigen von Gästen erfüllt war.

Als sie zwischen den beiden Bronzecandelabern des Eingangs erschienen, stockte einen Augenblick die Unterhaltung. Es trat jene Stille ein, welche das Erscheinen ausgezeichneter Personen begleitet.

Während dann der Hausherr die beiden Damen begrüßte und sie zu seiner Gemahlin geleitete, begann es in den Gruppen zu summen, und mit dem Aroma des Thees und dem Dufte der natürlichen Blumen, welche die Damen als Ballschmuck trugen, zog flüchtiger vorsichtiger Gesellschaftsklatsch durch die Räume.

„Seit wann kennt Herr von Bartenstein Fräulein Clusius?“ wandte sich „die deutsche Fahne“ verblüfft an Lieutenant Kronheim.

Miß Smith, welche ihr mattblondes Haar zu einem Knötchen zusammengedreht und mit silbernem Speer auf den Wirbel gesteckt hatte, schaute mit geöffneten Lippen ihn fragend an. Kronheim sah zwischen den beiden Damen durch mit dem concentrirten Blicke eines Mannes, der gewohnt ist, zwischen den Ohren eines directionslosen Pferdekopfes hindurch sein Ziel im Auge zu behalten.

„Er muß ihr schon lange vorgestellt sein; er grüßt immer nach ihrem Fenster, wenn er seine Schwadron vorüberführt. Kann ich die Ehre haben, Lancier mit Ihnen zu tanzen, gnädiges Fräulein?“ fragte er dann.

Die Miß überließ ihm die Tanzkarte, auf die er sich mit goldenem Griffel einschrieb.

„Welche sonderbare Toilette trägt Fräulein Clusius!“ moquirte sich die Frau des Bankiers, deren geblümter Kleiderstoff in kleine Falbeln zerschnitten nur halslose Blüthen und kopflose Stengel sehen ließ. „Sie sieht aus wie eine Odaliske. Das ist gar nicht modern.“

Sie war an die Unrechte gekommen: die Gattin des Professors, der Sanscrit las, erwiderte hochmüthig. „Wer einen alten berühmten Namen trägt, braucht nicht die neueste Mode zu tragen.“

Melanie stockte trotz ihrer Gewandtheit in der Unterhaltung, als sie Ereme und Bartenstein erblickte. Die Freundin hatte doch kaum noch den großartigen Entschluß gefaßt, von der Gesellschaft fern zu bleiben und den kühnen Verehrer in die Flucht zu schlagen. Nun machte sie es wie alle jungen Mädchen: sie benutzte die nächste Gelegenheit, um Ihm zu begegnen, und putzte sich Ihm so schön in die Augen, als es in ihren Kräften stand.

Da gesellte sich Elsa zu ihr wie zu einer Leidensgefährtin, stieß einen herzbrechenden Seufzer aus und klagte: „Da rückt ja Herr von Bartenstein gleich mit einer Dame ein, Nun ist mir mein neues rosaseidenes Kleid auch Wurscht.“

„Wurscht sagt keine Dame,“ rügte ihre Mutter, sich nach ihr umwendend.

Melanie aber erwiderte tröstend dem Backfischchen: „Wissen Sie, daß die junge Erlaucht, der Senior der Rhenanen vortanzt? Sehen Sie, da läßt er durch seinen Diener Sträußchen und Orden für den Cotillon in den Ballsaal tragen.“

Elsa’s Augen richteten sich neugierig auf die Blumen und Schleifen. Der junge Graf hatte den Blick bemerkt. Er suchte ein zierliches Rosenbouquet heraus, bot es Elsa und fragte: „Wollen Sie die Gnade haben, mir den Cotillon zu geben?“

Elsa knixte purpurroth und „viel zu tief“, wie ihr Vater hinter ihr brummte. Sie aber flüsterte vergnügt Melanie zu: „Nun bin ich doch froh, daß ich ein rosaseidenes Kleid habe.“

„Ein tadelloses Skelet,“ murmelte der Anatom, als Bartenstein grüßend an ihm vorüber durch die Gruppen schritt.

„Das kann Ihnen ganz gleichgültig sein, mein verehrter Herr Professor,“ lachte der Oberst. „Diese Knochen gehören dem König. Aber was hat Bartenstein sich da Apartes ausgesucht?“

„Das kann nun Ihnen gleichgültig sein, Herr Oberst,“ erwiderte ebenfalls lachend der Professor. „Die Dame gehört zur Universität. Sie könnte den Lehrstuhl der griechischen Sprache, Geschichte, Kunst besteigen, wann sie wollte.“

„Was Teufel! Stellen Sie mich ihr vor,“ ersuchte ihn der Oberst.

Wie auf ein Commando rückten die jungen Officiere ihm nach. Von Bartenstein vorgestellt, defilirten sie, nur ganz leise mit den Tanzsporen klirrend, an Ereme vorüber.

Die Tanzmusik begann, die Jugend eilte paarweise in den Saal, dessen Gardinen im leisen Abendwinde vor den geöffneten Fenstern wehten und dem letzten Schimmer des Tages gestatteten, sich mit dem hellen Gaslicht zu mischen.

Ereme richtete die Bitte an Melanie, sie den ihr noch unbekannten Damen vorzustellen.

Melanie hatte ihre Freude an der eigenartigen Erscheinung ihrer Freundin. Wie nüchtern erschien der Rahmen, in dem sie sich bewegte, so elegant auch die schön gemaserten Nußbaummöbel, die niedrigen, mit pensée Plüsch bezogenen und mit langen seidenen Fransen und QUasten garnirten Sesselchen waren; wie verwirrend berührten die beFalbelten und gepufften Toiletten der Damen das Auge neben ihrem schlichten Gewande; wie lächerlich wirkten die tiefen Knixe, bei denen die ganze Erscheinung in einer Versenkung zu verschwinden schien, neben ihrer edeln Neigung. Es gab also eine absolute Schönheit, die unabhängig war von Zeit und Raum.

Sie wandte sich an Bartenstein, der, statt zu tanzen, in der Thür stand, halb verdeckt von der Portière, und dem Vorgange unverwandt mit den Augen folgte, ob auch kein Blick von Ereme nach seiner Seite flog.

„Ist es meiner jungen Freundin zu verdenken,“ sagte sie, „wenn sie ihre Welt, die noch im letzten Abglanze, den sie wirft, so veredeln und verschönen kann, hoch über Alles schätzt?“

Bartenstein lachte. „Glauben Sie, daß sie ihre Schönheit und ihr apartes Wesen den Figuren mit zerbrochenen Nasen verdankt? Da müßten ja alle die gelehrten Herren so aussehen, die griechisch verstehen.“

Ein später Gast brach sich zu Melanie Bahn: Doctor Gerhard. „Ihre Bemerkung neulich über die Verwechselung der Gefühle hat mich zu einer neuen Abhandlung angeregt,“ begann er eifrig die Conversation. „Doch beschäftigt mich weniger der Liebehaß, als der Unterschied zwischen Liebe und Freundschaft.“

„Den finde ich riesig,“ lachte Bartenstein.

„Ich auch,“ antwortete Gerhard, mißgestimmt durch dieses Lachen. „Der Naturzweck fällt ja bei der Freundschaft gänzlich weg. Dennoch giebt es Fälle, welche die einfache Sache complicirt machen, und bei denen man sich an die Symptome halten muß, um die Natur der Empfindung zu ergründen. Zu diesen gehört, daß die Liebe nicht auf einem Punkte stehen bleibt, sondern sich steigert oder erlischt, während Freundschaft jahrelang denselben Wärmegrad behalten kann. Liebe ist eben eine acute Krankheit, Freundschaft ein chronisches Leiden.“

Bartenstein lachte hell auf und ging davon, hinter Ereme her in den nächsten Salon.

Melanie schüttelte leise den Kopf. „Nun sehen Sie wieder das schöne Gefühl der Freundschaft unter dem Bilde eines Leidens.“

„Diese Dinge bereiten uns auch große Qualen,“ seufzte Doctor Gerhard, „bevor wir uns über ihre Begriffe ganz klar werden. Dann wird uns aber auch so wohl, wie mir in diesem Augenblicke ist. Darf ich Ihnen meinen Arm bieten? Die Gesellschaft geht zu Tische.“

Die Tanzmusik schwieg.

[685] Die Gesellschaft ordnete sich zu einem langen Zuge nach dem Speisesaale. zuerst der Rector Magnificus mit der Gemahlin des Obersten am Arme, und der Oberst, die Hausfrau führend, die Anderen schlossen sich an: die Professoren mit den geneigten Denkerstirnen und dem in sich gekehrten Blicke, die Officiere mit den scharfen, jede Situation sofort erfassenden Augen. Ihnen zur Seite schritten die Damen, dann kamen die jungen Mädchen in blau, rosa und gelb getaucht, als wollten sie Vergißmeinnicht, Röschen und Butterblümchen darstellen, von jungen Officieren geleitet, welche schon leise darüber räsonnirten, daß sie an dem „Trompetertisch“ sitzen würden, und junge Studenten im ersten Semester, die in Folge ihrer Schüchternheit nur Mädchen im letzten Semester der Ballfähigkeit erlangt hatten und sich heimlich etwas von „ledernen Damen“ zuraunten.

Als Ereme an Bartenstein’s Arm sich einreihte, ging abermals ein Aufsehen durch die Gesellschaft.

Miß Smith blickte ihre Gastfreunde an, die vor ihr standen wie Geschäftsleute, die Etwas auf Accord übernommen haben und nicht zu liefern im Stande sind. Da trat Kronheim heran, bot ihr den Arm und began so gewandt und gleichgültig, wie er Alles zu thun pflegte, englisch zu sprechen. Neuere Sprachen hatte er als Specialstudium für die Kriegsakademie gewählt.

Elsa flog auf Melanie zu, drückte ihr krampfhaft die Hand, während ihre Augen dem schönen Paare folgten, und sprach mit schwerer Betonung: „Und mich führt ein junger Ratz.“

„Wer?“ fragte Melanie, schon an Gerhardt’s Arm.

„Heißen denn die ganz jungen Studenten nicht so, die Gegensätze zu den Moosköpfen?“ fragte Elsa.

„Fuchs und bemoostes Haupt,“ belehrte Melanie sie noch eilig und schloß sich dem Zuge an.

Dieser umkreiste die mit Blumen und Fruchtschalen geschmückte Tafel; dann rückten die Stühle auf dem glatten Parkett; die Damen legten ihre langen Schleppen zierlich um die Füße wie Kätzchen ihre Schweife; die Gesellschaft ließ sich nieder.

Melanie hatte ihren Herrn so zu dirigiren gewußt, daß sie Ereme gegenüber saß; sie konnte sich das Vergnügen nicht versagen, das interessante Paar zu beobachten.

Während Ereme die langen Handschuhe abstreifte, breitete Bartenstein ihren Fächer aus und betrachtete das Bild auf demselben, das den Zephyros darstellte, einen Jüngling mit einem blumengefüllten Mantel.

„Selbst der Fächer ist griechisch,“ tadelte er. „Da gefällt mir der von Fräulein von Seebergen besser. Ich sehe, wenn ich nicht irre, einen Kalpak darauf.“

Melanie entfaltete ihn, und es zeigte sich ein bezopfter Ziethenscher Husar, der seinen Arm um die Wespentaille eines sich sträubenden Dämchens schlang, die mit einer Rose und einer Perlenschnur im gepuderten Haar geschmückt war.

„Er macht das Recht des Stärkeren geltend,“ rief der Hausherr heiter herüber.

Die Herren lachten, Melanie schob ihren Fächer zusammen, und Bartenstein, den Ereme’s gehaltenes Wesen stets zu neuer Neckerei antrieb, sagte: „Die alten Griechen würden die Dame dargestellt haben, wie sie den Husaren mit einem Feldstein niederschlägt. Bei uns siegt natürlich immer der Mann.“

„Sind Sie dessen so gewiß?“ fragte Ereme von oben herab. „Im ersten Ansturme mag die rohe Kraft Vortheile erringen, den letzten entscheidenden Sieg trägt stets die höhere Bildung davon.“

Der Professor der Geschichte, ein kleiner Herr mit großem Haupte, um das sich dicke graue Locken bauschten, lachte hinterhaltig und fragte seinerseits: „Sind Sie dessen so gewiß, Fräulein Clusius? Bedenken Sie: Als die Cultur der Griechen so hoch gestiegen war, daß ein Archimedes durch Brennspiegel Krieg führen wollte, wurden die viel plumperen Römer, die aber die ursprüngliche Kraft für sich hatten, Herr über sie, und ein gemeiner Soldat stieß den großen Rechenkünstler nieder.“ Und er verspeiste eine pikante Kaper aus seinem Muschelragout.

„Denken Sie, Herr Professor,“ entgegnete Ereme, „an das hochgebildete äolische Volk, das ein wildkräftiger thessalischer Reiterstamm überfiel, seine der Athene geweihten Altäre umstürzte und es unterjochte –“ Bartenstein’s brauner Bart kräuselte sich unter einem muthwilligen Lächeln. Er schenkte Ereme’s Glas voll und sah ihr dabei in die hoheitsvoll blickenden Augen. Doch ernst wie eine Verkündigerin der ewigen Gerechtigkeit führ sie fort: „Aber allmählich richtete sich das Culturvolk auf. Mit den feinen Waffen der Bildung begann es den Kampf gegen die rohe Gewalt; unmerklich drängte es dieselbe zurück und unterwarf den siegestrunkenen Eroberer.“

Melanie erschrak über die leise bebenden Lippen Ereme’s und den Uebermuth in Bartenstein’s Zügen. „So führte die Vereinigung zum Segen für beide,“ bemerkte sie. „Die Thatkraft brachten die Thessalier, die Aeolier die Bildung. Sie konnten zufrieden sein.“

[686] Auch die Majorität der Gesellschaft war zufrieden, als nun über das äolische Volk zur Tagesordnung übergegangen wurde.

Nur Bartenstein war der Aeolier noch nicht überdrüssig. „Ich Naturkind,“ sagte er, „habe den Sinn Ihrer gelehrten Auseinandersetzung ergründet. Unter den Thessaliern ist ein thatkräftiger Mann zu verstehen, unter dem äolischen Volk eine feine Frau, die ihm gehorchen muß, und der er dafür gestattet, seine rauhen Gewohnheiten zu glätten.“

„Ihre Erklärung würde passen,“ antwortete Ereme, „wenn man sich das Verhältniß zwischen Mann und Weib wie zwischen Tyrann und Sclavin denken wollte. Das vermag freilich nur Derjenige, der keine Ahnung von Frauenwürde hat.“

Bartenstein wurde ernst. „Bitte, gnädiges Fräulein. Frauenwürde weiß ich zu ehren: ich habe eine Mutter. Und ein Tyrann bin ich auch nicht. Aber ich verstehe zu herrschen. Auch mich selbst beherrsche ich, was manche hochgebildete, zartbesaitete Seele nicht kann,“ fuhr er wieder lächelnd fort. „Das haben wir im Cadettencorps geübt, während Sie in griechischer Sprache auswendig lernten, wie der Kriegsgott von einer Dame besiegt wurde.“

„Dicht an der Grenze der Selbstbeherrschung beginnt die Verstellung,“ entgegnete Ereme. „Und ehe ich mich vor mir selbst so weit erniedrigte, daß ich diese Grenze überschritte, will ich es ertragen, daß Sie mich um meines ehrlichen Zornes willen gering schätzen.“

„Ich schätze Sie im Gegentheil sehr hoch,“ antwortete Bartenstein rasch, „nur nicht so hoch , daß Sie unerreichbar für mich würden. Gleiches Niveau, das ist das beste Feld für einen heißen Kampf, wie wir ihn führen, – und der schließlich doch mit einem schönen Frieden enden wird.“

„Sie sind sehr zuversichtlich,“ antwortete sie ernst. „Ich aber bin eine Kassandranatur. Ich sehe den Tag kommen, an dem wir an einander vorübergehen werden, als hätten wir uns nie gekannt.“

Er sah sie betroffen an. „Das klang ja ganz tragisch. Sie zürnen mir, weil ich Ihnen eine kleine Belehrung gegeben habe? Sie lassen es an solchen mir gegenüber auch nicht fehlen, und ich nehme sie immer ganz gern hin. Aber Sie dürfen mich nicht ernstlich beleidigen. Sonst könnte allerdings Ihr Wort wahr werden und Alles aus sein.“ Er sah ihr mit eindringlichem Blicke in die Augen.

Eine dunkle Gluth stieg in ihre Wangen.

Er nahm ihre äußerste Entrüstung als Eingeständniß ihres Unrechts und winkte nun versöhnlich mit den schöngebogenen Augenwimpern, indem er beruhigend sagte: „Nun Waffenstillstand! Es bleibt ja vorderhand beim Alten. Sie erziehen mich und gestatten mir, daß auch ich Ihnen diesen Dienst hin und wieder erweise. Und was die Zukunft betrifft, so bin ich überzeugt, daß nicht die düsteren Prophezeiungen der Kassandra, sondern der frohe Glaube des Ulanen Recht behält.“

Der Hausherr erhob sich mit dem ersten Glase Champagner in der Hand und toastete auf das gute Einvernehmen zwischen Wehrstand und Lehrstand.

Melanie, die das junge Paar nicht aus den Augen ließ, schüttelte leise den Kopf dazu.

Ereme hielt ihr Glas lässig in der Hand, aber Bartenstein stieß muthig an.

Von den Tischen der Jugend tönte lautes Jubeln. „Prosit, Erlaucht, ich komme Ihnen eins,“ rief ein junges Mädchen.

„Meine Gnädigste, ich lege mich zu Füßen,“ lautete die Antwort.

Elsa rief: „Hurrah!“ und hob ihr Spitzglas hoch empor.

Ihre Mutter warf der Hausfrau einen flehenden Blick zu, worauf diese die Tafel aufhob.

Als die Gesellschaft aus dem Speisesaale zurückgekehrt war, zog Ereme ihre Fingerspitzen von Bartenstein’s Arm hinweg und erwiderte seine tiefe Verbeugung mit einer flüchtigen Bewegung des Hauptes, die eher einer stummen Verneinung als einem Gruße glich.

Da hörte sie eine warme Stimme an ihrem Ohr: „Ihnen gönne ich ihn; denn Sie sehen reizend zusammen aus. Wissen Sie, wie er mit dem Vornamen heißt? Witold.“ Es war Elsa, die ihr durch den Schaumwein geöffnetes Herzchen vor Ereme ausschüttete.

Ereme sah sie verwundert und unwillig an; aber Elsa’s Großmuth wurde gelohnt; denn als Bartenstein sie so zärtlich an Ereme geschmiegt sah, engagirte er sie.

Im raschesten Tempo flog er mit ihr durch den Saal. Unwillkürlich folgte ihm Ereme mit dem Blicke nach. Wie schön sah er aus! Wie energisch markirte der schmale Fuß den Beginn jedes neuen Walzertactes! Da fiel ihr plötzlich die Fußspur im Garten ein.

Sollte es möglich sein?

O, ihm war auch diese Keckheit zuzutrauen. Er fürchtete selbst eine Entdeckung nicht.

Sie mußte an den schönen Athener denken, der durch einen wilden Tanz sein Glück, die Hand einer Königstochter, die ein Reich zu vergeben hatte, verscherzte und sich darüber mit dem leichtfertigen Worte tröstete, das in Hellas zu einem geflügelten wurde: Was macht sich Hippokleides daraus? Was macht sich Witold daraus? übersetzte sie.

Im nächsten Augenblicke überwallte sie heiß der Zorn, daß sie den Namen gemerkt hatte. Sollte derselbe sie nun auch verfolgen, wie Alles, was mit diesem selbstbewußten Mann zusammenhing, ihrem Gedächtniß eingebrannt schien?

Elsa tanzte glückselig in Witold’s Arm vorüber. Ein Gefühl von Widerwillen stieg in Ereme gegen das junge Mädchen auf. Sie suchte die Ursache desselben darin, daß Elsa ihr den Namen aufgedrängt hatte. Mit düsterem Ausdrucke sah sie dem Paare nach.

Da zuckte sein Blick plötzlich zu ihr herüber, und er lächelte zufriedengestellt, als er ihren Augen begegnete.

In tiefster Empörung über ihn und über sich selbst wandte Ereme sich ab.

Warum hatte sie ihm nachgesehen? Das mußte ja den eitlen Mann immer wieder von seiner Unwiderstehlichkeit überzeugen.

Die Perlmutterstäbe ihres Fächers rauschten klappend zusammen.

Sie suchte ihre Tante auf und empfahl sich mit dieser der Hausfrau.

Mit vom Champagner gerötheten Wangen kam Gerhard zu Melanie, die dem Tanze zusah.

„Wie der wiegende Rhythmus die Paare beherrscht!“ sagte er, in den Saal hineinschauend. „Selbst ein so ungebundener Naturmensch wie dieser Herr von Bartenstein fügt sich, wenn auch unbewußt, diesem ästhetischen Gesetz.“

Der Oberst, der neben Melanie stand, blinzelte ihn schlau an. „Wollen Sie nicht auch einmal dasselbe mit Bewußtsein über Ihren Gliedmaßen walten lassen?“

Gerhard knöpfte die Händschuhe zu und eilte in den Saal.

Da er Thusnelda, die Tochter des Professors der Geschichte engagirte, leuchteten die Augen ihrer Mutter auf, als steige ein Hoffnungsstern empor. Sorgfältig breitete sie die blonden gekreppten Haare der Tochter auf dem blauen Grenadinekleid aus, bevor diese dem Doctor folgte.

Sobald er seine ersten Pas machte, entfaltete Melanie ihren Husarenfächer und war nicht zu bewegen, über denselben hinweg einen Blick nach ihrem jungen Freund zu werfen.

Der Oberst lachte und murmelte: „Ein sehr verdienstvoller junger Gelehrter, dieser Herr Doctor Gerhard. Aber keine Spur von wiegendem Rhythmus. Er zieht vor, staccato zu tanzen.“

„Nichts ist so schwer in der Jugend, als über sich selbst in’s Klare zu kommen,“ entschuldigte Melanie.

Der Oberst nickte ihr schelmisch zu. „Ich glaube, er tappt noch nach mancher andern Seite hin im Finstern. Aber es werden ihm schon die Augen aufgehen.“

Gerhard kam nach seiner Extratour mit strahlendem Gesicht zu Melanie zurück und setzte sich neben sie.

„Fräulein Thusnelda ist eine sehr hübsche junge Dame,“ bemerkte sie.

„Wer?“ fragte er.

„Sie haben ja eben mit ihr getanzt.“

Gerhard lachte. „Das weiß ich gar nicht. Wer kann diese jungen Mädchen von einander unterscheiden, die sämmtlich geistig nichts sind!“

Melanie drohte ihm mit dem Fächer. „Sagten Sie nicht, daß ein Mann der Reflexion Geist bei den Frauen nicht suche?“

Er erwiderte ihr Lächeln mit einem zärtlichen Blick. „Ja; aber ich sehe ein, daß alle diese Sätze unendlichen Modificationen unterworfen sind.“ Er rückte näher und flüsterte ihr zutraulich zu: [687] „Ich bin zu der Ueberzeugung gekommen, daß ich doch keine Frau brauchen kann, die mir geistig nicht ebenbürtig ist. Bei der ätzenden Kritik, die ich der Beschaffenheit meines Geistes nach üben muß, bedarf ich durchaus einer Frau, welche dieselbe durch Klugheit, Milde und Schonung mit dem Bestehenden zu versöhnen strebt.“

„Ich glaube eher,“ erwiderte Melanie, „daß diese Versöhnung in Ihnen selbst durch einen Läuterungsproceß sich vollziehen wird und Sie, wie jeder edel beanlagte Mensch, zu der Milde gelangen werden, welche die höchste Auffassung des Lebens, die klarste Beurtheilung der Menschenseele mit sich bringen. Denn Sie sind mit Ihren jungen Jahren noch lange nicht am Ende Ihres geistigen Wachsthums.“

Bartenstein kam aus dem Saal zurück. „Wo ist Fräulein Clusius?“ fragte er Melanie.

Die vorübergehende Hausfrau antwortete lächelnd: „Die Damen Clusius haben uns leider schon verlassen. Sie sind eben nach Haus gefahren.“

Sein Gesicht verfinsterte sich.

„Reizen Sie Ereme nicht unaufhörlich,“ sprach Melanie. „Ich warne Sie. Ein Mädchen wie sie ist doch nicht ein Feind, den man nicht zur Rnhe kommen lassen darf.“

„Ach, gönnen Sie uns doch unseren lustigen Krieg,“ entgegnete er, wieder lachend. Und ohne von der übrigen Gesellschaft, die sich eben zum Cotillon arrangirte, Notiz zu nehmen, begab er sich in das Rauchzimmer, wo die älteren Herren bei Cigarren und baierischem Bier abwarteten, bis der letzte Ton verklungen war.

Dann erlosch das Gaslicht, die Blumen des Ballschmuckes zerflatterten, die leichten Roben wanderten zerdrückt und von den Tanzsporen arg verwüstet in die Ecken der Garderoben, und die jungen Köpfe mit den blonden und braunen Bärtchen verschliefen die Erinnerung an alle die süßen Lügen, deren sie sich schuldig gemacht hatten.




Nur ein Eindruck blieb in den Theilnehmern des Festes haften: die Beziehung, in welche die hochmüthigste Professorentochter und der schneidigste Officier zu einander getreten waren. Und das Interesse, welches hervorragende Liebespaare immer erregen, heftete sich an die beiden ausgezeichneten Menschen.

Miß Smith saß ganz verblüfft mit ihren Gastfreunden auf dem Balcon, welcher, der neuesten Mode entsprechend, mit grün blühenden Petunien und rothen Blattgewächsen besetzt war. Ihre blaßblauen Augen starrten Ereme an, welche unten durch die Akazienallee wandelte, als könne sie ihr absehen, wie sie es angefangen habe, Bartenstein zu erobern.

Ihre Freundin flüsterte etwas von „flirtation“, und der Hauch des Windes mußte das Wort Ereme zugeweht haben; denn sie sah geringschätzig an ihrer feinen Nase herab, als sie langsam vorüber schritt.

Der Banquier tröstete die Damen: „Etwas Anderes als flirtation ist es auch nicht. Denn dieses Fräulein Clusius ist keine Partie. Sie besitzt meiner Schätzung nach ungefähr ein Capitalvermögen von dreißig- bis vierzigtausend Thalern. Wir wissen aber, daß bei der Cavallerie erst hunderttausend Thaler für anständig gelten. Und wenn er auch ein Gut hat, so verwöhnen unsere jungen Herren sich jetzt viel zu sehr, als daß sie nicht eine Frau mit großem Zuschuß sehr gut brauchen könnten.“

In dem nächsten Professorium, einer intimen Geselligkeit der Universitätslehrer und ihrer Familien, hielt der Professor, welcher deutsche Literaturgeschichte las und als Goethe-Kenner bedeutenden Ruf genoß, einen Vortrag über die „Iphigenie“ seines Lieblingsdichters. Als er die Werbung des Thoas berührte, sprach er:

„Iphigenie mußte vor ihm zurückschaudern; denn in ihr krystallisirte der hellenische Geist, und er war der Barbar. Allerdings aber,“ fügte er mit einem Lächeln um die feinen bartlosen Lippen hinzu, „gehörten er und seine Taurier einer Bevölkerung an, der noch eine große Zukunft bevorstand. Es war die cimmerische, von welcher die Cimbern, die Urväter des deutscheu Volkes, abstammen. Wer weiß, ob ein Goethe unserer Tage die Iphigenie nicht eine andere Entscheidung hätte treffen lassen,“ schloß er mit einem Blick nach der Seite, wo Ereme saß.

Aller Augen hefteten sich auf sie und bemerkten, wie sie die Farbe wechselte, so unbewegt auch ihre Miene blieb.

In den Damencafés wurde von nichts gesprochen als von der auffallenden Art, in welcher Bartenstein Ereme auszeichnete.

„Sagen wir lieber: er compromittirt sie,“ verbesserte die Mutter von Betty und Hedi, während sie geärgert ihren Mandelkuchen in den Kaffee tauchte.

„Alle seine Pferde führt er ihr täglich vor,“ erzählte die Hausfrau, die als Nachbarin Ereme’s genau unterrichtet war; „und er weicht nicht eher vom Universitätsplatz, bis sie sich am Fenster zeigt, was oft recht lange dauert.“ Dazu präsentirte sie die Windbeutel mit Schlagsahne.

„Sie versteht es die Männer zu behandeln,“ sagte empört die Mama von Bella und Stella, ihren Kirschkuchen verspeisend.

„Es war auch zu viel, daß er der Frau Doctor zu ihrem Geburtstag ein Ständchen bringen ließ: einen Choral, ein Lied, einen Tanz,“ rügte die junge Wittwe im dritten Trauerjahr und nippte einmal auf die Alteration an der Resedabowle.

„Sein Bursche hat zwei radgroße Bouquets hingetragen: Heliotrop und Pelargonien für die Frau Doctor, für Ereme die kostbarsten Rosen,“ klagten die jungen Mädchen und beluden ihre Krystalltellerchen mit Eistorte.

Dann verschob man die Heimkehr noch eine Stunde, um eine der Fensterparaden zu belauern, ging endlich mit verdorbenem Magen und verdorbener Laune nach Haus und machte seiner Bosheit wenigstens dadurch Luft, daß man die Köpfe von Ereme, die an ihrem Fenster saß, abwendete, als habe sie das Recht auf einen Gruß verwirkt.

Auch die alten Freunde der Clusius’schen Familie fühlten sich verstimmt.

Als der Professor der Geschichte mit Frau und Tochter von einem Gegenbesuch, den sie bei Ereme gemacht hatten, heimkehrte, bemerkte die Frau Professorin: „War das ein Gewühl von Officieren, die Visite machten und in der Bibliothek umhergingen, als seien sie da einquartiert. Ich konnte auch gegen Ereme die Bemerkung nicht unterdrücken, was wohl ihr seliger Vater dazu sagen würde, wenn er sein Haus von diesem militärischen Hauch überzogen sähe.“

„Was antwortete sie darauf?“ fragte Thusnelda, indem sie sich noch einmal im Spiegel darauf ansah, welchen Eindruck sie bei dem Zusammentreffen mit den jungen Officieren gemacht haben könnte, und nachträglich eine verbogene Feder auf ihrem Hut ordnete.

Die Mutter erzählte verdrießlich: „Sie erwiderte mir ganz großartig: ‚Es ist altes Herkommen in unserer Familie, jedem Fremden unsere Sammlungen zugänglich zu machen!‘ Aber sie fühlte sich doch getroffen, das sah ich ihr an.“

„Sie hat doch unerhörtes Glück,“ meinte Thusnelda neidisch, „gerade Einer von den Ulanen, der famosesten Truppe.“

„Ach, es sind ganz junge Regimenter,“ knurrte ihr Vater. „Erst 1808 wurden sie aus den polnischen Towarczys formirt, und diese waren wieder aus den Bosniaken Friedrich’s des Großen gebildet worden. Der Name kommt zuerst in der ehemaligen polnischen Armee vor und soll von einem tatarischen Anführer Ullan stammen. Daher wird ja wohl auch der Spectakel rühren, den sie den ganzen Tag machen. Pferdetrappeln, Commandiren, Schießen, Blasen, Klirren, Rasseln, Stöpselknallen!“ Er stieg kopfschüttelnd in seine Studirstube hinauf; denn er arbeitete emsig an einer Geschichte der Befreiungskriege.

Und er fuhr fort, die Schlacht bei Leipzig zu beschreiben. Er ließ die Armeen aufmarschiren, die Kanonen donnern, die Cavallerie rasseln, die Infanterie stürmen. Und seine Familie ging auf den Fußspitzen; denn das kleinste Geräusch störte Papa.

Unterdessen verließen auch die jungen Officiere in langer Reihe das Clusius-Haus, als logire dort ein hochstehender Vorgesetzter. Aber sie sprachen nicht von Thusnelda’s Hut, sondern waren ganz „baff“ über die Gelehrtheit der hochinteressanten Dame, hofften, daß Bartenstein ihr die übertrieben großartigen Mucken austreiben werde, und beschlossen, das Werk: Clusius über Hellas zu kaufen, da dieser berühmte Name doch demnächst in Beziehung zu dem Regiment kommen werde.

Auch der Oberst hatte um Erlaubniß zur Besichtigung der Sammlungen gebeten und war mit Frau und Tochter bei Ereme gewesen. Als sich die Hausthür wieder hinter ihnen schloß, bot er seiner Gemahlin den Arm und sagte mit vergnügtem Angenblinzeln: „Die Kleine hat mir sehr gefallen, und ihr Chierwein war vorzüglich.“

Elsa’s Eifersucht auf Ereme war nach Backfischart in Schwärmerei für sie umgeschlagen. „Und sie hat mir auch das Recept zu dem [688] süßen trichterförmigen Gebäck versprochen,“ rühmte sie sich. „Es stammt aus Griechenland, ist Blätterteig mit Hymettoshonig bestrichen; sie bereitet es stets selbst, ebenso wie die Lukumia, die Confiture aus Rosenwasser und Zucker.“

Ihre Mutter schien nachdenklich. „Es war sehr anziehend, zu sehen, wie sie mit Würde die Hausfrau spielte, den Wein in die griechischen Schalen schenkte und dann wieder wie eine Gelehrte die verschiedenen Athenebilder erklärte. Es hat mich Alles interessirt; ich schaute in eine reiche Welt, die mir bis dahin verschlossen war.“

Der Oberst strich sich vergnügt seinen langen Schnauzbart. „Ein Hauptspaß wird’s, wenn wir den allergrößten hochmüthigsten Blaustrumpf in’s Regiment bekommen. Sie wird eine vornehme Frau, die sich auch für die höheren Grade eignet.“

„Triumphire nicht zu früh,“ warnte seine Gattin. „Ob es ihr möglich sein wird, in die Interessensphäre eines Officiers sich hinein zu denken, erscheint mir fraglich. Sie ist zu durchdrungen von der Wichtigkeit der classischen Bildung, um ganz in einem Mann aufzugehen, der durch und durch deutscher Soldat ist. Du hörtest, daß sie ihr Museum noch ausbauen will. So bereitet man sich nicht zur Frau eines Officiers vor. Uebrigens war es von Dir, Elsa, unpassend, daß Du sie fragtest, ob sie ihre Bibliothek mitnehmen wolle, wenn sie einen Herrn heirathete, der öfters versetzt werde.“

Elsa zog schmollend ihren Mund zusammen.

Der Oberst antwortete: „Na, thu’ mir den einzigen Gefallen. Mit dem Museum, das war Spiegelfechterei. Lehre mich die Frauen nicht kennen. Einem Bartenstein widersteht keine. Du kannst Dich darauf verlassen, der weiß sie zu cajoliren und zahm zu machen. Auf unserem Fest, das wir am Tag von Vionville ihm zu Ehren geben, weil er damals bei den altmärkischen Ulanen stand, wird er wohl die letzte Attake machen, und sie wird sich ergeben.“

„Wir werden sehen,“ sagte die Oberstin sanft. Sie widersprach nicht mehr. Das hatte sie sich in der Ehe abgewöhnt. Und sie wußte, daß bei den Männern ein blinder Glaube an ihre Unwiderstehlichkeit vorhanden ist, den nie eine Warnung, sondern nur eine Erfahrung erschüttern kann.

[701] Die Ruhe des Clusius-Hauses war durch Bartenstein’s Annäherung gänzlich verstört.

Als Melanie eines Tages mit gerötheten Wangen aus Ereme’s Stube kam, trat ihr im Hausflur die Tante entgegen. „Ach, liebes Fräulein von Seebergen, wohin soll das führen? Ich rede früh und spät auf Eremechen ein. Er hat ja ein Gut; aber in der Mark werden nur Lupinen gebaut, und was das Kiefernholz für jämmerliches Zeug ist, weiß jede Hausfrau. Entweder kocht Alles aus den Töpfen heraus, oder es bleibt kein Fünkchen auf dem Herde. Und statt der armseligen Wirthschaft aufzuhelfen, zieht er im Land umher und wohnt alle neuen Häuser trocken. Der kann gewiß niemals still sitzen. Und dieses Zigeunerleben soll Eremechen mitmachen, während wir hier Alles haben, wie sich’s gehört, von dem Wäschpfuhl bis zur Spicknadel. Bleibe im Lande und nähre dich redlich!“

„Liebe Frau Doctor,“ entgegnete Melanie ganz erregt, „ich möchte Ihnen doch sehr rathen, nicht in dieser Weise auf Ereme einzuwirken. Das Glück des Lebens hängt nicht von einem Waschkessel oder Kochtopf ab. Ich habe ganz im Gegensatz ihr gesagt, daß sie ihre Handlungsweise gegenüber Herrn von Bartenstein, der ein Officier von hohen Verdiensten und ein Ehrenmann ist, wohl erwägen, daß sie mit großem Sinn über kleinliche Anstöße hinaussehen soll, damit sie nicht einst mit bitterer Reue dieser entscheidenden Zeit gedenken muß. Es ist etwas ganz Anderes, ob uns die Welt um unser Glück betrog, oder ob wir uns dasselbe durch Verblendung und Starrsinn verscherzten.“

Die Tante lächelte ein wenig. „Liebes Fräulein von Seebergen! Wenn Sie verheirathet gewesen wären, würden Sie keine so großartige Meinung von der Ehe haben. Es ist nicht Alles Gold, was glänzt. Das predige ich jetzt unaufhörlich; aber es hilft nichts, wie Figura zeigt.“

Sie deutete auf die Hausthür, in welcher Dorchen vertraulich plaudernd mit Bartenstein’s Burschen stand, der sie bei allerlei Ausrichtungen hatte kennen lernen und nun gleich einer Ehrenwache sich allabendlich dort aufstellte, bis Retraite geblasen wurde und der leichtsinnige Courmacher sich in einen pflichttreuen Soldaten verwandelte, der im Laufschritt davon rannte.

Ereme’s classische Ruhe war vor den fortwährenden Aufregungen geschmolzen, wie ein Kunstwerk vom Feuer verzehrt wird.

In den Kreisen, denen sie angehörte, wurde sie bereits als eine Abtrünnige betrachtet; man colportirte dort, wie gute Freundinnen ihr erzählten, das Wort des Physiologen: „Die Clusia ist die erste moralische Eroberung, welche die Preußen bei uns machen.“

Die Officiere betrachteten sie als eine Zugehörige, und die Gattin des Majors sah sie bereits mit erstaunten Augen an, wenn Ereme bei gesellschaftlichen Begegnungen nicht den Fauteuil für sie räumte.

Jeder wagte sich an sie heran mit einem Lächeln, einer Neckerei.

Und so quälend diese Betrachtungen waren, sie erschöpften die Marter nicht, die sie empfand: sie hatte ja immer auf das Urtheil der Welt herab gesehen. Aber was sie in tiefster Seele. ängstigte und empörte, war der unheilvolle Zauber, den Witold’s Persönlichkeit auf sie ausübte. Sodald er ihr gegenüber stand, war ihr Wille gelähmt.

Es wurde ihr dunkel vor den Augen vor Zorn, wenn sie seines selbstbewußten spöttischen Lächelns gedachte, das ihr sagte, er war sich seiner Macht über sie bewußt.

Sie fühlte, daß sie gewaltsam den Bann brechen mußte, wenn sie sich nicht ganz verlieren wollte. Es war die höchste Zeit.

Selbst ihre Sammlungen waren in Unordnung gerathen bei dem vielen Beschauen, und ihre Zeit so in Anspruch genommen von den Besuchen, daß Wochen vergingen, ehe sie die Kunstschätze wieder an ihre richtige Stelle bringen konnte.

Kaum hatte sie aber die Silbermünze mit dem Athenebilde und der Eule in die Münzsammlung zurückgelegt, die antike Vase, auf welche ein Amor gemalt war, der auf einem Krebse zum Fischfang ausritt, in den Schrank gestellt, da erschien schon wieder der alte Diener und meldete: „Herr Rittmeister von Bartenstein.“

Wohlan! es mußte ein Ende gemacht werden.

Mit fester Stimme gab sie den Befehl, Herrn von Bartenstein hereinzuführen.

Aber sie vermochte nicht zu verhindern, daß ihr das Blut brennend in die Wangen stieg, und als sie die ovale Schale aus gelblichem Marmor auf den Sims setzen wollte, zitterten ihre Finger so heftig, daß ein kleiner Gegenstand heraus fiel und dem eintretenden Bartenstein vor die Füße rollte.

Er hob denselden auf und sagte: „Ist es ein gutes Omen, daß mir das Rad eines Sporns entgegen kommt?“

„Das Rad eines Sporns?“ rief sie aus.

Also wirklich! Und einen finstern Blick auf ihn richtend, fuhr sie langsam fort wie ein Inquisitor: „Er ist vor einiger Zeit in meinem Garten gefunden worden. Ein Eindringling, der nicht [702] einmal den geheiligten Frieden des Hauses ehrte, hat ihn zurück gelassen.“

Ein dunkles Roth färbte seine Stirn. „So dürfen Sie einen überkecken Streich nicht auffassen, der schon heiß bereut worden ist,“ bat er erschrocken.

Er wollte das Spornrädchen in die Schale legen. Sie zog dieselbe zurück. „Es wird mit hinausgekehrt,“ sagte sie geringschätzig.

Er zuckte zusammen; aber er faßte sich. „Ich muß die Strafe hinnehmen; ich sehe ein, daß ich sie verdient habe. Aber das Plätzchen, das Sie ihm zwischen den Muschelchen angewiesen hatten, war doch schon bescheiden genug,“ versuchte er zu scherzen.

Sie ließ die Schnur von zierlichen Muscheln, die wie Tritonenhörner im Kleinen gestaltet waren, durch die Finger gleiten. „Das sind Muscheln vom Schlachtfeld von Marathon,“ sagte sie wichtig.

„Nun, das ist doch schon recht lange her,“ antwortete er, und es klang ein Vorwurf in seine Stimme hinein.

„Ja, es war in der zweiundsiebenzigsten Olympiade, am 12. September 490 vor Christus.“

„Wer weiß,“ erwiderte er mit leisem melancholischen Lächeln, „ob nicht dieses Spornrad Schlachten mitgemacht hat, die für Sie bedeutungsvoller sind als die von Marathon.“

Sie zuckte die Achseln und deutete mit kühl einladender Bewegung auf einen Sessel.

„Streiten wir heute nicht mehr, gnädiges Fräulein,“ sagte er. „Ich kam, um Ihnen eine Bitte vorzutragen. Wir geben ein Fest im Casino, zu dem die ganze Gesellschaft eingeladen wird. Natürlich ist es mein großer Wunsch, daß auch Sie und Ihre Frau Tante unsere Gäste sein mögen.“

Es glimmte in ihren Augen auf. „Ich danke Ihnen für Ihre freundliche Absicht; aber ich muß die Einladung ablehnen.“

Er wurde ungeduldig und zog leicht die Brauen zusammen.

„Ich weiß, Sie besuchen nicht gern Gesellschaften. Aber diesmal müssen Sie um des Tages willen eine Ausnahme machen.“ Er wollte bitten; aber es lag ein schwer bezähmter Unmuth in seiner Stimme, und ohne es zu wollen, forderte er.

„Um welches Tages willen?“ fragte Ereme.

Seine Augen vergrößerten sich. „Es ist der 16. August,“ antwortete er, und da sie ihn verständnißlos ansah, fuhr er fort: „Der Tag von Vionville, den ich die Ehre hatte mitzumachen.“

„Vionville?“ wiederholte sie gleichgültig.

Er war einen Augenblick sprachlos. Dann sagte er langsam: „Sie wissen den Tag, an welchem die Schlacht von Marathon stattfand, und stellen sich, als gingen die Kämpfe Ihrer Landsleute Sie nichts an? Wollen Sie mich doch nicht glauben machen, daß Sie eine so schlechte Patriotin seien.“

Sie sah, wie das siegesgewisse Lächeln aus seinen Augen, von seinen Lippen geschwunden war. Sie fühlte, daß es zum ersten Mal in ihrer Macht lag, ihn zu treffen, wie er sie so oft gekränkt und verletzt hatte, und sie verfolgte schonungslos ihren Vortheil. Glühend von losbrechender Leidenschaft sprach sie: „Ich bin das echte Kind dieses Hauses, in dem zwei Jahrhunderte hindurch die akademische Bildung gepflegt wurde. Unser Vaterland ist die große Republik des Geistes; wir kennen keine Scheidewand zwischen Ländern und Ständen; für uns steht der Grenzpfahl da, wo die Bildung, in der wir leben, aufhört.“

Er fuhr empor. Sein Blick loderte über sie hin.

„Und Sie rühmen sich noch dieser kaltherzigen Welt, in der es schon eine That ist, einen zerbrochenen Marmorarm an den verwitterten Rumpf zu passen? Einstweilen haben meine Vorfahren die eigenen Knochen auf den Grenzen unseres Vaterlandes zerstreut, mit unserem Blut haben wir die Schutzmauer gekittet, hinter der Sie und die Ihrigen sicher saßen und Tinte vergossen.“

Sie zitterte innerlich vor Zorn. Aber äußerlich eiskalt antwortete sie: „So erkennen Sie endlich, wie weltenweit Ihre Anschauungen von den meinen entfernt sind, und daß keine Brücke sie je verbinden kann?“

Sie sahen sich an, und unter den Blicken erblaßten Beide bis in die Lippen. Nur eine Narbe an Witold’s linker Schläfe, die Ereme jezt zum ersten Mal bemerkte, wurde brennend roth.

Eine Weile blieb es still. Sie hörten deutlich den Holzwurm in den alten Büchergestellen ticken.

Beiden fehlte der Athem zu einem ferneren Wort. Endlich war es Ereme, als vernehme sie ein heiseres: „Aus.“

Er tappte ein paarmal unsicher nach der Czapka, um sie aufzunehmen. Dann verbeugte er sich stumm und ging.

Ereme hörte ihn langsam die Treppe hinabgehen.

Die Thür fiel zu. Der Thürklopfer schlug noch einmal auf, als bekräftige der Cerberus diesen Ausgang für immer.

Dann war es todtenstill.

Sie hatte gesiegt! –

Warum sank sie nun leichenblaß auf den Eulenstuhl nieder, schloß die Augen und hatte nur den einen Wunsch: wenn sie sie nie, nie wieder aufthun müßte! Warum? Ja, warum?


Mit schwerem Herzen war Melanie zu dem Fest gefahren, das die Officiere in den Casinoräumen gaben.

Bei der Toilette hatte ihr die Jungfer erzählt, daß Dorchen verdrießlich im Bäckerladen gesagt habe: „Nun wird’s nichts mit dem Brautputz. Unser Fräulein hat den Herrn Rittmeister mit seiner Einladung abgelehnt.“

So war der Bruch unwiderruflich erfolgt.

Die Wehmuth, die den Menschen immer beschleicht, wenn er, altbekannte Stätten bis zur Unkenntlichkeit verändert wieder findend, an die Vergänglichkeit seines Daseins erinnert wird, kam heute doppelt über die Stiftsdame, als sie das alte Schlößchen betrat, das, in eine Caserne umgewandelt, im Gartenflügel die Casinoräume enthielt.

In den Erzählungen ihrer Großmutter und alter Freunde ihrer Eltern hatte es eine Rolle gespielt. Ein apanagirter Prinz des Hauses sollte dort im vorigen Jahrhundert in einem verschwenderischen Hofleben eine unglückliche Jugendliebe vergessen oder übertäubt haben.

Jetzt war seine Devise „Vive la joie“ auf dem verschoben geformten Schild über dem Eingangsthor von grauen Flechten überwachsen; ein riesiges W aus blitzenden Pistolen gebildet und von einem grünen Eichenkranz umschlungen, erhob sich darüber. Aus den Ställen, wo sonst die berühmten Isabellen ihr behütetes Leben geführt hatten, tönte das Gewieher der Ulanenpferde, in den Remisen standen statt der vergoldeten Kutschen Fouragewagen.

Neues Leben pulsirte in dem verschnörkelten Gehäuse; aber der uralte Begleiter des Menschengeschlechtes ging auch heute noch darin um: der Schmerz.

Das sagten ihr das bleiche Gesicht, die düsteren Augen Bartenstein’s, der sichtlich nur mit äußerster Selbstbeherrschung den Zwang der gesellschaftlichen Rücksichten ertrug. Er hatte wohl die Erfüllung eines großen Herzenswunsches von diesem Fest erwartet. Aber das kokette Rococoschlößchen hatte es einmal an sich, daß es nur leicht geschürzte Freuden spendete. Auch heut gab es hübsche Damen, Leckerbissen, perlenden Wein – aber kein Glück.

Sie athmete auf, als das Diner zu Ende war, die Thüren nach der Terrasse sich öffneten und die Gesellschaft hinaus trat in die milde Abendluft, um im Freien den Kaffee zu nehmen.

Zwei schnurgerade Reihen von Pappeln zogen sich von den Ecken des Schloßflügels, die Terrasse flankirend, hinab bis zu dem Ufer des Flusses und eröffneten wie in einem geschlossenen Rahmen den Blick auf das blaue Gebirge, in dem derselbe entsprang. Zarte Nebel webten schon über Wiesen und Wasser; aber durch das raschelnde Pappellaub blinkten noch die rothen Strahlen der sinkenden Sonne.

Die zierliche Mokkatasse in der Hand trat Melanie vor bis an die Rampe, deren hier und da zerbröckelte Balustrade von einer Reihe durch Guirlanden verbundener Ulanenlanzen ersetzt war.

Zwischen den schlanken Schaften, deren schwarz-weiße Wimpel lustig im Wind flatterten, erhob sich als Ueberbleibsel des früheren Schmuckes von Sandsteinbildwerken ein kleiner bausbackiger Amor, der durch seine Pelzmütze anzeigte, daß er eine Personification des Winters war.

Auf einer Steinbank zu seinen Füßen nahm sie Platz, und ihr Auge überflog die Gesellschaft, die in fächelnden und lächelnden Gruppen durch einander schwirrte.

Drüben unter den alten Pappeln stand Bartenstein und schaute in die von der untergehenden Sonne durchleuchtete Ferne. Wie melancholisch konnten die sonst so übermüthigen Augen blicken! Zwischen den Lanzenschaften sammelten sich junge Officiere und steckten die Köpfe zusammen.

[703] „Was macht nur Bartenstein für einen Trara darüber, daß die langweilige Schultante nicht ausgehen will!“

„Reden Sie keinen Kaff! es ist ihm Ernst gewesen. Er hat keinen Bissen gegessen.“

„Wenn sie doch nur tanzte. Da könnte man sie zur Strafe einen ganzen Winter sitzen lassen!“

„Die Clusia ist also nicht eingeladen,“ kicherten die jungen Mädchen.

„Es ist eine furchtbare Blamage für sie,“ sagte mit schwerer Betonung die junge Wittwe in schwarzem Krepp.

Und die Mama von Stella und Bella schloß das weibliche Vehmgericht: „Sie versteht die Herren nicht zu behandeln. Was hilft ihr nun alle Gelehrsamkeit? Wollt Ihr nicht ein wenig auf der Terrasse promeniren?“ wandte sie sich an ihre Töchter und legte ihnen die langen braunen Zöpfe zurecht, während ihr Blick die Distance zwischen ihnen und dem stumm in das Abendroth blickenden Bartenstein maß.

Betty und Heddi schlossen sich an; allmählich schlugen noch mehr Damen den Weg ein; es zog ein Corso von jungen Schönheiten an Witold vorüber.

Wie viele Vergißmeinnicht- und Veilchenaugen sah Melanie verstohlen ihn anlugen! Alle die klopfenden Herzen unter den duftigen Spitzenfichus und Mullblousen waren bereit, ihn zu trösten. Und ließen sich unglücklich Liebende nicht so gern trösten?

Eine Gruppe von Professoren trat auf der andern Seite zusammen.

Die Blicke des Physiologen folgten den jungen Damen, und während er einen Chartreuse nahm, sagte er mit seinem satirischen Lächeln: „Man merkt, daß der Löwe der Gesellschaft wieder vacant ist. Der Chor der Mütter rüstet seine Schaaren zum Kampfe um den Mann.“

Der Weltumsegler lachte. „In China setzt man die überflüssigen kleinen Mädchen aus, in der Türkei bietet man sie aus, hier führt man sie aus. Ueberall dieselbe Sache, nur eine andere Form.“

Der Rector Magnificus war weniger gut gelaunt. Während er sich eine Cigarre anzündete, bemerkte er sichtlich verstimmt: „In Sachen der Clusia contra Bartenstein hätte ich doch gewünscht, daß die unserem Kreise angehörige Dame etwas vorsichtiger zu Werke gegangen wäre. Sie hat unser gutes Einvernehmen mit dem Militär, das doch einmal allseitig gewünscht wird, auf’s Spiel gesetzt. Ein kühler Hauch ist nicht zu verkennen.“

Mit dem Oberst war heute nicht zu scherzen. Unwirsch verdarb er auch dem Doctor Gerhard sein Vergnügen, der eben Melanie sein Compliment machen wollte. Er setzte sich selbst neben sie auf die Steinbank.

„Gott sei Dank!“ sagte er, „Bartenstein ist glücklich curirt. Das fehlte noch, daß wir diesen unausstehlichen Blaustrumpf in’s Regiment bekommen hätten mit ihren großartigen Manieren und dieser Häuslichkeit, wo Alles festgemauert in der Erde steht. Sie kann sich nun mit ihrer steinernen Pallas Athene trösten, der ebendige Mars läßt sie sitzen.“

Melanie schüttelte leise das Haupt, an dessen braune lockige Scheitel blasse Theerosen sich schmiegten. „Ich glaube nicht, daß wir den Vorgang so bezeichnen dürfen. Auch zur Ehre des Herrn von Bartenstein nicht. Ich halte ihn zu hoch, um anzunehmen, daß er ein leichtsinniges Spiel getrieben hat. Die beiden ausgezeichneten Menschen haben sich nicht verstanden, und daher kam der unbesonnene Angriff und die ebenso unbedachte Abweisung.“

Der Oberst bekam einen noch rötheren Kopf und rückte ungeduldig hin und her. „Meine Gnädigste, lassen Sie die Haarspaltereien nach dem Diner. Und ich muß unterthänigst und entschieden betonen: einen Korb hat er nicht bekommen. Aber aus ist die Sache allerdings.“ Und er zog mit der ausgestreckten Hand einen horizontalen Strich durch die Luft, als hiebe er einen Strick durch.

Melanie hielt den Fächer ruhig gesenkt wie ein Engel des Friedens das Palmenblatt und sagte nur: „Schade!“

„Ja, schade für sie,“ entschied der Oberst voll Energie. „Mich ärgert nur meine Frau,“ brummte er weiter. „In ihrem Gesichte steht geschrieben: ich habe wieder einmal Recht gehabt. Sagen wird sie’s nicht. Das habe ich ihr längst abgewöhnt. Aber, weiß der Henker! selbst beim strammsten Regimente finden die Frauen einen Weg, ihre Meinung kund zu thun. Da kommt Bartenstein. Wahrscheinlich will er Ihnen auch seine Meinung über Ihre liebenswürdige Freundin sagen. Geben wir ihm Gelegenheit dazu. Den Doctor, der schon lange um Sie herum courbettirt, nehme ich auf mich. Thut ihm ganz gut, wenn er warten lernt. Er hat so wie so einen Ansatz zum Größenwahn.“

Er erhob sich, und den wiederum heranschießenden Gerhard, der in der Uniform eines Reserve-Officiers anwesend war, mit sich nehmend, sagte er lachend: „Heute ist einmal Abonnement suspendu, bester Herr Doctor. Sie müssen sich gedulden.“

Melanie dachte: „So ist die Gesellschaft. Daß zwei seltene Menschen das Glück ihres Lebens verfehlen, darum kümmert sich Niemand. Der Oberst ist nur besorgt, den Verdacht abzuwenden, als habe einer seiner Officiere einen Korb davongetragen; der gute Rector hegt die Befürchtung, von seiner Regierung eine Nase zu bekommen, wenn Frictionen zwischen den beiden Gewalten hier entstünden; die anderen Collegen des seligen Clusius benutzen die Gelegenheit, sich von der geistreichen Seite zu zeigen, und die Damen sind bestrebt, aus der Verblendung der Jugendbekannten Vortheil zu ziehen. Wo ist denn noch ein unverfälschtes menschliches Gefühl zu finden?“

Da stand Bartenstein vor ihr. „Es ist unendlich öde heute,“ sagte er mit müder Stimme.

„Nicht anders als sonst,“ entgegnete Melanie. „Die Jugend scheint vergnügt zu sein.“ Sie deutete auf eine tiefere Terrassenstufe, wo Kronheim ein Croquetspiel arrangirte.

„Ja, wer daran noch Freude findet!“ antwortete er; „aber ein kluges fesselndes Wort habe ich heute noch nicht gehört.“

Sie sah ihn sanft an. „Sie sind verwöhnt. Ein Mädchen wie Ereme ist freilich nicht unter den lachenden rosigen Kindern.“

Seine Augen flammten zornig auf. „Auch keine, die es wie sie versteht, einen Mann bis in die Seele zu kränken, vor seinen Augen das mit Füßen zu treten, was ihm das Heiligste ist. Und ich habe sie doch so gern gehabt!“ stöhnte er, indem er den Kopf sinken ließ.

„Also nur gern gehabt?“ fragte Melanie.

Er wurde roth und wendete das Gesicht ab.

Sie neigte, als werde ihr eine lange Gedankenfolge bestätigt, das Haupt. „Gern gehabt nennen Sie es,“ sprach sie, „weil Sie nicht sagen wollen: ich habe sie geliebt. Es gilt ja für lächerlich bei unseren jungen Herren, einer edlen Empfindung edlen Ausdruck zu geben. Sie rechnen es sich als Verdienst an, das, was höheren Flug nimmt, in den Staub der Alltäglichkeit zu ziehen. Diesen Ton haben Sie auch Ereme gegenüber angeschlagen und dadurch jede Verständigung mit ihr von Anfang an unmöglich gemacht. Statt einzusehen, daß, um eine Ereme zu gewinnen, auch ein tüchtiger Mann seine besten und edelsten Eigenschaften einsetzen muß, haben Sie sich viel oberflächlicher gezeigt, als Sie sind. Sie sind ihr zuerst entgegen getreten wie einer Abenteurerin, und als Sie längst wußten, daß sie ein außergewöhnlich hochbegabtes Mädchen ist, haben Sie sie doch behandelt wie eine von den vielen jungen Damen der Gesellschaft, welche mit einem Bouquet und einem Ständchen zu erobern sind, die weibliche Würde darin suchen, nie ohne Ehrendame auszugehen, und es als höchste Weisheit erachten, Beleidigungen lieber mit lächelnder Miene hinzunehmen, als einen Eclat herbeizuführen. Es war natürlich, daß Ereme sich von einer solchen Behandlung verletzt fühlte, und Sie können sich nicht wundern, daß sie dem Spiele, welches ihrer ernsten Natur frivol erscheinen mußte, ein strenges Ende gemacht hat.“

Er ließ sich geduldig den Text lesen. Jetzt sah er sie vorwurfsvoll an. „Sie muß doch herausgefühlt haben,“ murmelte er, „daß hinter der Neckerei ein tiefer ehrlicher Ernst stand.“

„Glaubten Sie denn zu fühlen, daß hinter Ereme’s Widerstand doch eine Sympathie für Sie sich barg?“ fragte Melanie, theilnahmsvoll in die schönen bewegten Züge blickend.

Eine lichte Röthe stieg ihm bis unter die Augen.

„Ja,“ rief er mit schmerzbebender Stimme. „Ich hatte stets das Gefühl, wenn wir uns begegneten, daß auch für sie Niemand auf der Welt war, als ich. Sie antwortete auf jeden Gedanken, jede Handlung, wenn auch abweisend. Wie hätte ich denken können, daß sie einem gleichgültigen oder gar ihr widerwärtigen Menschen bis auf jeden Blick folgen würde, um sofort darauf zu reagiren – zum Donnerwetter!“ schloß er in heller Verzweiflung.

[704] „Vielleicht hat Ihr Gefühl Sie nicht betrogen,“ suchte Melanie zu begütigen, „und der Fehler liegt nur darin, daß Sie Beide nicht verstanden haben, sich richtig zu behandeln, und daß Sie in der Leidenschaft des Kampfes sich haben zu weit hinreißen lassen. Dann wäre eine Aussöhnung immer noch möglich.“

„Nein,“ antwortete er schwermüthig, „es ist, wie sie selbst sagte: unsere Anschauungen sind so weltenweit von einander entfernt, daß keine Brücke sie je verbinden kann. Sie hat kein Herz für das Vaterland, und das trennt uns für immer.“ Er schwieg einen Augenblick, dann fuhr er traurig fort: „Ich kann mir gar nicht denken, wie es in einem Menschen aussieht, der keine Vaterlandsliehe hat. Ich habe sie mit der Muttermilch eingesogen. Jedem Bartenstein ist das Bewußtsein angeboren, daß er mit Gott für König und Vaterland kämpfem und, wenn es nöthig ist, sterben muß. Und ich ginge zu Grunde neben einem Wesen, das in dieser Gesinnung nicht Eins mit mir wäre. Ja, wenn ich sie hätte umwandeln können! Aber es ist Alles vergeblich und Alles, Alles aus. Ich weiß nur nicht, wie ich es ertragen soll!“ schloß er mit versagender Stimme und starrte über die Gesellschaft hinweg in den rosigen Abendhimmel, den die Schwalben leise pfeifend durchschwärmten. „Ich muß mich versetzen lassen, daß ich sie nicht mehr sehe.“

„Glauben Sie, daß Sie Ereme dann vergessen werden?“ fragte Melanie.

„Ich muß,“ erwiderte er rauh. „Es hilft nichts. Hier heißt es: Durch! es koste, was es wolle.“

Er erhob sich.

Kronheim benutzte die Unterbrechung des Gesprächs, um ihn zu fragen, ob er sich an dem Spiele betheiligen wolle.

Bartenstein winkte verneinend.

Da vertrat ihm der Banquier den Weg. Melanie hörte ihn sagen: „Es ist merkwürdig, wie Gold immer Gold anzieht. Unsere Freundin hat heute Nachricht bekommen, daß sie zu ihrer Million auch noch die drei Millionen eines Onkels in Californien geerbt hat. Allerdings macht es sich nöthig, daß sie bald nach Amerika zurückkehrt, um die Angelegenheit zu ordnen. Was sagen Sie dazu?“

Melanie dachte: „Man hofft auf eine Verlobung par dépit. Das ist auch schon oft dagewesen.“

Aber Witold’s Blick glitt über den jungen Geldmann hin. Er zuckte lässig die Achseln. „Sie müssen besser wissen als ich, wann das nächste Dampfschiff abgeht.“ Er ließ ihn stehen.

Melanie drückte den Fächer vor das Gesicht. Ja wohl hieß es: Durch! Sie sah, wie der Banquier mit einer verzweifelten Armbewegung zu seinen Damen zurückkehrte und gleich darauf Kronheim die Miß zum Spiele führte.

Jetzt endlich konnte Doctor Gerhard sich nähern. „Ist das belagernde Kriegsheer abgezogen?“ fragte er gereizt. „Ich hade Sie bedauert.“

„Dazu war keine Ursache,“ antwortete sie gelassen.

„Ich möchte wissen,“ erwiderte er spöttisch, „was Sie an diesen Leuten finden, die mit jeder Miene zu sagen scheinen: ,Geist ist das Ding, das wir Euch Anderen nicht streitig machen wollen. Ihr müßt doch auch Etwas haben.‘“

„Theilen Sie das Vorurtheil der Herren vom Civil gegen das Militär?“ fragte Melanie verletzt.

„Oder Sie die Schwäche der Damen für dasselbe?“ fuhr er heraus.

„Sie haben uns klar gemacht,“ antwortete sie geärgert, „daß Menschen der Reflexion von solchen der That sich angezogen fühlen.“

Er klopfte nervös den Amor auf das warnend erhobene steinerne Händchen. „Seien Sie auf der Hut, gnädiges Fräulein,“ sagte er mit bebenden Lippen, „auf daß Sie nicht das Echte lassen und das Fade fassen.“

Thusnelda erschien. „Herr Doctor,“ bat sie, „es fehlt noch eine Person zum Croquet. Helfen Sie aus.“

„Warum nicht?“ antwortete Gerhard. „Wenn man den ganzen Tag die Gehirnfaser so angestrengt hat wie ich, kann die Beschäftigung, der man sich am Abend hingiebt, um auszuruhen, gar nicht thöricht genug sein.“ Er folgte Thusnelda.

Melanie fühlte sich beleidigt, daß Gerhard gänzlich den Respect vergaß, den er ihr schuldig war, und sich unterstand, sie wie ein junges Mädchen zu behandeln. In ihrer milden Art sagte sie sich aber dann, daß dem sonst immer so mäßigen Gelehrten der Sect in den Kopf gestiegen sei, so gut wie dem braven ausgepichten Oberst, und sie vergab und vergaß es.

Noch einmal glitt ihr Blick über das Schlößchen, dessen mit zersprungenen steinernen Blumenguirlanden überladene Façade im ersterbenden Abendschein wie ein graues Bild hinter der bewegten Gesellschaft stand, gleich einer Mahnung, daß auf jede lustig verlebte Jugend ein entsagungsvolles Alter folgt; über die rasigen Terrassenstufen, wo Gerhard zwischen den Spielenden unmuthig herumfuhr und mit seiner Kugel eine gänzliche VerwirruNg anrichtete, und hinüber auf die in bläulichem Thau schimmernde Wiese, durch die Bartenstein auf seinem flüchtigen „Sturmvogel“ in die dämmernde Nacht hineinjagte, der verlorenen Ruhe nach.

Mit einem tiefen Seufzer verließ sie die Terrasse und fuhr nach Hause.

Auch die übrige Gesellschaft verlor sich allmählich. Es wurde still und leer.

Gerhard stieg zum Fluß hinab und wandelte am Ufer auf und nieder, die Arme über einander geschlagen, das Haupt in schwere Geistesarbeit versenkt. Denn er wußte nicht, wie ihm war und was er wollte.

Unerschrocken, wie er es in seinem Werke von dem Denker verlangte, suchte er in den Tiefen seines Ichs zu forschen. Aber er fand nur den einen klaren Gedanken: Melanie hatte ihn um Anderer willen vernachlässigt.

Das war ihm in seinem Leben noch von keinem der Menschen geschehen, die ihm nahe standen. Seine Lehrer hatten ihn stets als Musterschüler zu oberst gesetzt, seine Examinatoren auf der Universität ihm die besten Zeugnisse ausgestellt, und seine Mutter lag vollends auf den Knieen vor dem vorzüglichen Sohn, der nicht rauchte, nicht trank, keinen Pump anlegte, keine Liebschaften anbändelte.

Nein; auch das Letztere nicht! Woher hätte er dazu die Zeit nehmen sollen in seiner mit Studien überbürdeten Jugend? Melanie war die einzige Dame, mit der er näher verkehrte.

Der Zorn über die Kränkung, die sie ihm angethan hatte, übermannte ihn von Neuem. Wie konnte sie sich zur Entschuldigung ihres ausschließlichen Verkehrs mit den beiden Officieren auf seine Theorie berufen, daß ein Mann der That und eine feingeistige Frau sich von einander angezogen fühlen müssen? In ihm schrie etwas dagegen. Ehe er es ertrug, daß das Leben seiner Theorie auf diese Weise Recht gab, wollte er sie lieber fallen lassen.

Vielleicht war es nicht so schlimm. Der pessimistische Zug seiner Natur ließ ihn wohl zu schwarz sehen. Noch einmal wollte er hinauf zu Melanie, um aus ihren gleichmäßig heiteren Zügen Beruhigung zu schöpfen.

Als er droben ankam, war Alles leer. Auf der Bank, wo sie gesessen hatte, schimmerte etwas Helles. Er bückte sich und hob es auf. Es war eine von den blassen Rosen aus ihrem Haar. Er drückte die kühlen Blätter an seine heiße Stirn.

Als er sich aufrichtete, sah er dem Amor mit der Pelzmütze in das mondbeschienene Gesicht. Es lag wie Spott in den verwitterten Zügen.

Da wurde plötzlich dem armen Doctor eine ganz andere Wahrheit über das Wesen der Liebe klar, als er in monatelangem angestrengten Studiren und Grübeln erforscht zu haben glaubte. Er sah ein, daß er sich verliebt hatte, so einfach und natürlich, wie es ein Confirmandenbruder auch nicht simpler hätte zu Stande bringen können.

Er barg die blasse Rose auf seinem laut klopfenden Herzen.

Und der junge Philosoph stieg nicht in die Tiefen seines Ichs hinein, sondern sein Ich stieg aus der Tiefe der Philosophie heraus, wie aus einer Maske, der das warme Leben die Nase eingedrückt hat. Da stand nun das arme Ich hülflos wie ein neugebornes Kind, verlegen über sich selbst, voll Sehnsucht nach einem warmen Blick aus sanften Frauenaugen, voll bescheidener Wünsche nach einem traulichen Heim, in dem eine altmodische wahre Liebe sich einrichten konnte, voll Hoffnungen und Befürchtungen und voll der Einsicht, daß nicht er über der Liebe, sondern diese über ihm stand.

[717] So wenig der junge Doctor schlafen konnte in dieser Nacht, so wenig Bartenstein den Frieden erritt: so wenig fand Ereme Ruhe.

Die türkischen Pantöffelchen waren rastlos den ganzen Tag durch das alte Clusius-Haus geklappt, während die Wagen zum Feste und dann wieder heimwärts rollten und die Insassen derselben fragende oder schadenfrohe Blicke zu den Fenstern hinauswarfen. Als sie spät Abends auf dem Smyrnateppich still neben einander standen, starrte ihre Trägerin mit weit geöffneten Augen in die Nacht hinaus und sann darüber nach, wie sie es anzufangen habe, daß sie sich endlich ihres Sieges zu freuen vermöchte. Aber wie sie auch sann, kein Ausweg fiel ihr ein.

Nur sein Bild stand unablässig vor ihrem innern Auge, wie sie ihn zuletzt erschaut hatte: hoch aufgerichtet, mit lodernden Blicken, die dunklen Brauen, die wie Adlerfittiche sich ausbreiteten, finster zusammengezogen, und jedesmal blieb ihr der Athem dabei aus.

Nun, allmählich mußte ja auch diese Erinnerung schwinden hinter dem Schleier, welchen die vorüberwandelnden Stunden davor webten.

Uebermüdet schloß sie die Augen, um sie mit dem ersten Sonnenstrahl unter dem Eindruck eines tiefen Schreckens wieder zu öffnen. Was war ihr nur Furchtbares geschehen?

Und sie hörte wieder seine Stimme sprechen: „Wir vergossen unser Blut, damit Sie in Ruhe Tinte vergießen konnten“. Ach, wenn sie doch in diesem Augenblick vor seinen Augen ihr Leben einer großen Sache hätte opfern dürfen! Wie gern hätte sie es hingegeben! Wie werthlos war es!

Sie ging aus einem Zimmer in das andere, die Treppe auf und ab.

„Willst Du nicht Deine Spitzen fertig ausbessern?“ fragte die Tante. „Das Kleid sollte doch damit garnirt werden, welches Du bei dem feierlichen Rede-Actus am Geburtstag des Herzogs anziehen willst.“

Ereme erstickte fast; sie wußte nicht, ob bei dem Gedanken an den Rede-Actus oder an die Spitzenstopferei. Sie öffnete, nach einem frischen Athemzug schmachtend, das Fenster.

Drückende Hitze drang herein, die Sonnenstrahlen lagen grell auf den Pflastersteinen.

Da schlug auf der Universitätsuhr die Stunde, um welche er sonst seine Schwadron vorüberzuführen pflegte. Ferne Musik erschallte. „Ich bin ein Preuße, kennt Ihr meine Farben?“ bliesen die Trompeten.

Mit stockendem Athem lauschte sie den Tönen. Sie wußte, wie sie näher und näher kommen mußten.

Aber sie wurden schwächer und verhallten.

Er mied den Weg an ihrem Haus vorüber; das war wenigstens erreicht. Aber der spießbürgerliche Platz mit den kleinstädtisch am Brunnen klatschenden Mädchen den bartlosen Studenten und den alten gebückten Professoren war auch gar zu langweilig. Sie schloß das Fenster.

Als es dämmerte, saß sie in ihrem Garten inmitten der Kübelbäumchen, die symmetrisch auf dem glatt geharkten Kies standen.

Die schöne Johanniszeit war längst vorüber. Schon begann ein Heimchen zu zirpen, das hinter dem warmen Herd hockte.

Alter Gewohnheit folgend, streifte ihr Auge über die Mauer und die Straße hin von wo der flüchtige Hufschlag seiner schönen Pferde so oft erklungen war.

Sie sah ihn im Geist herankommen. Seine Blicke flammten zu ihr herüber, und wenn sie mit ernstem Gruß ihm dankte, dann ritt er vor Uebermuth in wildem Galopp einen Ring.

Hörte sie nicht plötzlich deutlich das Trappeln des Pferdes?

Sie fuhr empor.

Ach nein, es war nur Täuschung gewesen, aber ihr Herz klopfte so heftig, daß sie es hörte.

„Es ist recht schön still heute,“ sagte die Tante, die ein Windlicht auf den Tisch stellte und mit ihrem Strickzeug neben Ereme Platz nahm. „Kein Ulan hat sich blicken lassen, gerade als wären sie schon zum Manöver ausgerückt. Es hat doch gute Früchte getragen, daß Du Herrn von Bartenstein einen Wink gegeben hast.“

„Ich bitte Dich, Tantchen,“ rief Ereme mit schwer bezähmter Heftigkeit, „schweige von dieser ganzen Angelegenheit.“

Die Tante ließ vor Schrecken eine Masche fallen. Sie hob das Strickzeug in die Höhe und gabelte darin herum. „Warum Du nur immer jetzt so heftig wirst? Nun nimm auch die Masche wieder auf. Beruhige Dich nur; er wird sich schon trösten. Der heirathet einmal so ein Mädchen wie die Elsa, ein resolutes Weibchen, das sich überall leicht zurecht findet. Wie eine Einquartierung war sie gleich zu Haus bei uns. Da wird er sich glücklich fühlen. Aber was machst Du? Jetzt ziehst Du die ganze Nadel heraus. Du hast wahrhaftig in dem Heidenlande verlernt, wie man mit einem Strickzeug umgeht.“

Ereme legte die Arbeit hin. „Liebe Tante, mit der heruntergefallenen Masche werde ich nicht fertig. Ich habe heut so eiskalte [718] Hände. Uebergeben wir sie der Vergessenheit. Gute Nacht.“ Sie überließ die Tante ihrem Entsetzen darüber, daß eine herunter gefallene Masche vergessen werden sollte, und zog sich in ihr Schlafgemach zurück.

Heute beunruhigte sie das Bild des zürnenden Mannes nicht. Statt dessen sah sie Elsa, wie sie ihr einmal bei einem Besuch aus der Küche entgegengekommen war, gleich einer kleinen Hausfrau in der weißen Schürze, die auf der Rückseite des blauen Kleides große Schleifen schlossen, mit einem Quirl in der Hand.

Und wunderbar! Diese Erscheinung quälte sie noch viel mehr als die vorige.

Am andern Tag trat Ereme’s Stimmung in ein neues Stadium. So erhaben auch ihre Weltanschauung war, sie empfand doch wie alle jungen Mädchen. Wenn sie ihren Kopf durchgesetzt haben, befällt sie eine ängstliche Neugierde, die Folgen ihrer Handlungsweise kennen zu lernen.

Wie eine Erlösung kam ihr der Gedanke, zu Melanie zu gehen. Die hatte gewiß das Fest im Casino besucht.

Es war wirklich nicht nur Einbildung von Ereme, daß die Welt anders aussah seit ein paar Tagen. Verändert trat ihr Alles entgegen.

Die jungen ihr begegnenden Officiere, die sonst mit so viel Zuvorkommenheit gegrüßt hatten, blinzelten sie von Weitem mit zugekniffenen Augen an, als wüßten sie nicht, wer sie sei, und erhoben dann nur lässig die Hände zum Gruß.

In der Promenade flog der Wagen des Bankiers vorüber. Miß Smith starrte sie nicht mehr wie früher mit mißgünstigem Staunen an. Ihre ganze Aufmerksamkeit war von Kronheim in Anspruch genommen, der ihr gegenüber saß und durch die Vertraulichkeit, mit der er ihren Schirm für sie entfaltete, bewies, daß er noch vor dem Ausrücken zum Manöver ein festes Recht auf die blaßblonde Dame und ihre Millionen erworben hatte.

Ereme erreichte ihren Zweck, sich vertraulich mit Melanie auszusprechen, nicht. Sie fand schon Besuch vor.

Die alte Pröbstin, eine kleine vom Alter gebeugte Dame mit harten hochmüthigen Zügen, die aus Altersschwäche mit dem Kopfe wackelte, saß im Sopha. Ihr gegenüber der Oberst mit einem rothen Gesicht, das noch eine Schattirung dunkler sich färbte, als Ereme eintrat. Er grüßte sie wie eine gänzlich Fremde.

Melanie war sichtbar erschrocken über das Zusammentreffen und drückte ihr die Hand wie bei einer Condolenz.

Nur Darling empfing sie freudig, indem er sein blauseidenes Kissen verließ und, mit seinem Schweifchen wedelnd, ihr entgegen ging.

Die Pröbstin nahm den Oberst gleich wieder in Anspruch und half so über die erste Verwirrung hinweg. „Vier Herren, die sechszehn Ahnen haben,“ sprach sie, brauchen wir zu der Aufschwörung einer neuen Stiftsdame. Sie müssen die sechszehn Ahnen derselben bezeugen. Nun ist der alte Major von Ebra gestorben. Udo von Ebra, ein Zeitgenosse von mir. Habe ich Ihnen erzählt, wie er 1823 Officier wurde? Das war höchst amüsant. Ich habe es mit erlebt. Ich that damals Dienst als Hofdame der hochseligen Herzogin. Er war das enfant gâté bei Hofe. Eigentlich sollte er die diplomatische Carrière machen; aber er hatte nach alter Weise studirt, und man examinirte ihn auf moderne demagogische Weise. Eh, er bestand nicht. Da half ihm die Herzogin in ihrer feinen capriciösen Art. Beim Thee behauptete sie vis-à-vis ihrem Gemahl, daß man auch eine Sonnenblume im Haare tragen könne. Und da er sie auslachte, versprach sie es zu thun. Dafür mußte er sein Wort geben, wenn ihm die extravagante Coiffure gefiel, Herrn von Ebra zum Officier zu ernennen. Der joviale Herr willigte lachend ein. Am nächsten Theaterabend erschien die Herzogin und trug auf der Frisur eine Rosette von schwarzen Spitzen, in deren Mitte die Sonnenrose lag. Sie sah superbe aus und hatte gewonnen. Herr von Ebra wurde Officier.“

„Aber gnädigste Frau,“ wollte der Oberst, dem vom Anhören dieser Widersinnigkeiten die Perlen auf die Stirn getreten waren, sie unterbrechen.

Sie wehrte mit der Hand. „Revenons à nos moutons! Haben Sie nicht einen Bartenstein unter den Officieren? Das ist Uradel. Es kommt nur darauf an, ob die Stammtafel rein ist.“

„Der Stamm ist rein, nur die Tafel zeigt kleine Unregelmäßigkeiten,“ durchbrach der Oberst ihren Redefluß. „Im Bauernkrieg hat ein Bartenstein ein Landmädchen geheirathet, das mit Lebensgefahr Hülfe für ihn gegen die stürmenden Haufen herbeirief, und zu den Zeiten des siebenjährigen Krieges hat ein solcher mit einer Pfarrerstochter ein Stück aufgeführt wie ,Leonore‘, nur mit glücklichem Ausgang.“

„Oh, oh,“ machte die Pröbstin, als habe sie sich an eine Ecke gestoßen. „Dann ist kein Gedanke daran, daß wir ihn zur Aufschwörung zulassen können.“

Der Oberst wurde bläulich im Gesicht. „Gnädigste Frau, jede Dame müßte es sich zur Ehre schätzen, wenn Bartenstein für sie nach irgend einer Seite hin mit seinem Wort eintreten wollte. Einen vornehmeren Charakter, ein braveres Herz, einen helleren Kopf finden Sie in der ganzen Welt nicht. Und was für ein Officier ist er! Der geborne Führer im Kampf, tollkühn in der Attake, dabei voll Geistesgegenwart, Ruhe, Entschlossenheit, nie kriegsmüde und genügsam wie der ärmste Soldat. Ich bin überzeugt, daß ihm eine große Carrière offen steht. Und ich fann es ihm nicht verdenken, daß er vor allen Dingen wieder aus diesem kleinen Nest hinaus will, wo ihn die Engherzigkeit zur Verzweiflung treibt.“

Er hatte, während er sprach, Ereme fürchterliche Augen gemacht, und diese auch jedes Wort wie einen Dolchstich empfunden.

Aber die Pröbstin meinte, daß die ganze Rede nur an sie gerichtet sei. Sie begegnete derselben, wie es bei Hofe Sitte war, indem sie vornehm jedes Echauffement als nicht salonfähig zurückwies. „Ich hatte nicht die Intention,“ erwiderte sie, „mich über die Meriten dieses Herrn von Bartenstein unterrichten zu lassen, für den ich mich durchaus nicht interessire; aber“ und sie hob die Krücke empor, wie eine Wahrsagerin den Zauberstab, und sprach feierlich: „Denken Sie an mich. Wenn den Zuständen, in welchen wir jetzt leben, nicht bald ein Ende gemacht wird, dann wird der Tag kommen, an dem nicht vier Cavaliere mehr zu finden sind, welche eine Ahnentafel beschwören können.“

Der Oberst fuhr von seinem Stuhle empor. „Auf Wiedersehen, meine Gnädigste, nach dem Manöver,“ sagte er zu Melanie. Und mit einem malitiösen Lächeln fuhr er fort: „Uebermorgen rücken wir aus der Pyramide, Greifenberg geheißen, aus und wünschen den – Bewohnern derselben, welche allerdings gleich den Mumien kostbare Gewürze statt eines Herzens in der Brust zu tragen scheinen, angenehme Ruhe. Aber in drei Wochen kommen wir wieder und werden schon nach und nach frische Luft in die Grabkammern bringen.“ Er verbeugte sich kurz und stramm gegen die Pröbstin und Ereme und klirrte fort.

Ereme saß ganz niedergeschmettert in ihrem Fauteuil. War es denn möglich, daß sie als Parteigenossin der vorurtheilsvollen beschränkten alten Dame aufgefaßt werden konnte? Ja, er hatte sie beide unter die Mumien gerechnet; es ließ sich nichts daran ändern, und das Schlimmste war: der Hieb hatte gesessen. Fühlte sie sich nicht auch gleich einer Mumie eingeschnürt, eingemauert, von todten Steinen und tiefsinnigem Schriftwerk umgeben?

Die Pröbstin fauchte: „Ein Cavalier wie ein Revolver.“

Während sie, geleitet von Melanie, fortging, sprach sie vertraulich zu ihr: „Dieser gute Oberst war aigrirt, daß wir ihn nicht zur Aufschwörung verlangten. Aber das verbietet sich von selbst. Sein Urgroßvater hat von der Pike auf gedient und ist von Friedrich dem Zweiten nobilitirt worden. Daher die brüsken Allüren. Der Salon ist ihm nichts Besseres als die Manège.“

Sie krückte fort.

Melanie drückte Ereme die Hand. „Es thut mir leid, daß Sie diese Scene erleben mußten. Aber Sie dürfen die barsche Art des Oberst nicht übelnehmen. Im Grunde ist es doch schmeichelhaft, daß das Regiment so ungern den Gedanken aufgiebt, Sie zu seinen Damen rechnen zu dürfen. Auch mir ist es schmerzlich, daß Sie Bartenstein’s Gefühle nicht erwidern. Wenn Ihre Neigung ihm entgegen gekommen wäre, hätte sich wohl die Verschiedenheit Ihrer Anschauungen ausgleichen lassen. Er fühlt sich tief unglücklich; denn er hat Sie sehr geliebt.“

Es war das erste Mal, daß offen vor Ereme ausgesprochen wurde, was nur als Ahnung in ihr gedämmert hatte.

Sie stand wie geblendet, fassungslos, wortlos vor Melanie. Mit großen hülfesuchenden Augen sah sie die Freundin an. Aber [719] die sonst so milde Stiftsdame, die gern über Seelenzustände sich erging, mußte keinen Rath mehr wissen. Ihr Schweigen bestätigte Ereme, daß der Bruch zwischen ihr und Bartenstein für immer feststand.

Sie ging, wie von schwerem Traume bedrückt, heimwärts.

In der Vorstadtstraße stürzte plötzlich Elsa heran, faßte ihre Hand und fragte tief vorwurfsvoll: „Warum haben Sie ihm das gethan? Ich hätte es nicht über das Herz gebracht, ihn so abfallen zu lassen.“

Ihre Mama kam dazu, aus einem neuen Haus heraus, vor dem noch Kalkkübel standen und allerhand Baustücke lagen. Sie war früher nicht zu entgegenkommend gewesen und brauchte nur ihr reservirtes Wesen Ereme gegenüber beizubehalten, um der Ehre des Regimentes weder durch Freundlichkeit, noch durch Empfindlichkeit etwas zu vergeben.

Die drei Damen nahmen den gleichen Weg.

Die Oberstin sagte: „Ich hoffte, sobald das Regiment in’s Manöver ausgerückt sein würde, zu meinen alten Eltern gehen zu dürfen. Daraus wird nichts. Das Haus, in dem wir wohnen, ist verkauft; wir müssen umziehen, und ich habe eben hier gemiethet. Das Logis ist freilich kleiner als unser bisheriges.“

Ereme sprach ein herkömmliches bedauerndes Wort.

Die Oberstin lächelte ein wenig. „Ob wir nun unsere Möbel in diesen oder in jenen Salon stellen, darauf kommt’s nicht an. Wir Soldatenfrauen werden beweglich. Wir würden sogar in einem Zelte wohnen, wenn es einmal nicht anders ginge. Und so schlimm ist’s nicht. Die Empfangsräume sowohl als die Wohnräume sind ausreichend; nur bleibt kein Platz für meine Staffelei. Landschaftsmalerei ist nämlich eine kleine Passion von mir, die ich mir aus meiner Jugendzeit erhalten habe. Die muß ich nun freilich für jetzt aufgeben.“

„Da würde ich lieber einen Empfangssalon opfern, als mein Recht auf die künstlerische Beschäftigung,“ warf Ereme hin.

„Eine gewisse Pflege der Geselligkeit gehört zu unseren Pflichten,“ antwortete die Oberstin, „und die Pflichten haben natürlich den Vortritt vor den Rechten.“

„Aber unser Geist macht den Anspruch sich auszuleben,“ entgegnete Ereme, „und ich halte es für ein Unglück, wenn er darin gehemmt wird.“

Die hellen stillen Augen der Oberstin ruhten prüfend auf ihr. „So haarscharfe Begriffe von Unglück habe ich nicht. Was ist denn der Verzicht auf eine sogenannte geistige Forderung gegen den Verlust eines Menschen, den wir lieb gehabt haben? Auch Sie würden ebenso denken, wenn Sie, wie ich, einen jungen schönen Bruder gehabt hätten, der beim Sturm auf Montbeliard zu Asche verbrannte, daß kein Knöchelchen zu uns kam, und einen Sohn wie meinen lieben Kuno, der frisch und roth von uns fortging und beim ersten Treffen fiel, ehe er nur einen einzigen Sieg erlebt hatte. Und Sie würden nicht fordern, daß Ihr Geist sich auslebe, wenn Sie sich hätten versagen müssen, einen solchen gerechten Schmerz auszuweinen, um des Mannes willen, der nach harter Kriegsarbeit, die Seele überbürdet von entsetzlichen Erinnerungen, nach Hause kam, und dessen erstes Wort war: Nun nur um Gotteswillen keine Thränen mehr! Da heißt es: sich überwinden. Und dazu hilft uns die neue Pflicht, die an uns herantritt, den Verwilderten sanft wieder zu milderen Sitten zurückzuführen. Das ist kein leichtes Loos. Aber es ist den Frauen ja einmal beschieden, sich aufzugeben, und Gott hat uns den Trieb dazu in die Seele gelegt.“ Sie blieb stehen. „Hier trennen sich unsere Wege,“ sagte sie und bog grüßend mit Elsa in eine andere Straße ein.

Ereme ging ganz betäubt von Allem, was sie erlebt und gehört hatte, nach Haus.

Als die Thür mit dem blitzenden Cerberus hinter ihr zuschlug, vernahm sie die rügende Stimme der Tante: „Dorchen, der Schöpftopf ist nicht an seinem Platz.“

„Frau Doctor, er steht neben den Wassereimern,“ war die Antwort.

„Dorchen, der kupferne Schöpftopf hat seit fünfundzwanzig Jahren an dem eisernen Haken über der Eimerbank gehangen, und so muß es bleiben, wenn nicht Alles zu Grunde gehen soll. Ach, Eremechen, Du hast Dich bei Deinem Besuch recht verspätet. Es sind zehn Minuten über die Stunde des Mittagsmahles.“

„Die Manöveradler sind fast verbrannt,“ bemerkte Dorchen, die gebratenen Tauben anrichtend. Sie trug den Kopf hoch dazu; man wußte nicht, ob über die nach der Caserne schmeckende Bereicherung ihrer Sprachkenntnisse oder darüber, daß sie ihren Schatz noch besaß, während das Fräulein den ihrigen eingebüßt hatte.

Ereme schaufelte geistesabwesend mit ihrer Gabel auf dem Teller herum.

Die Tante that den Tauben und Zuckererbsen alle Ehre an und plauderte gemüthlich dazu: „Was ich sagen wollte! Ja, was war es doch? Es war etwas Wichtiges. Richtig! Laß doch ein Spargelbeet anlegen. Sieh ’mal, der Garten ist doch sonst zu nichts nütze, und in vier bis fünf Jahren haben wir dann unseren Bedarf an Spargel selbst.“

Ereme schauderte über die Aussicht, daß sie in vier Jahren hier noch Spargel essen sollte.

Mit der Gewandtheit alter Leute, die Jugend zur Verzweiflung zu bringen, fuhr die gute alte Dame fort: „Und Du mußt einen Professor heirathen. Da könnt Ihr hier in dem schönen Hause wohnen bleiben, wo Alles eingerichtet ist. Und was Deine Vorfahren gesammelt haben, das kommt noch Deinen Kindern und Kindeskindern zu Gute. Immer wird das Wort gelten: Gleich und gleich gesellt sich gern. – Da Du nichts weiter essen willst, so wünsche ich Dir gesegnete Mahlzeit.“

Die Tante zog sich zu einem Mittagsschläfchen zurück, und Ereme begab sich in den Gartensaal.

Auf dem Tische lag die soeben angekommene neue Lieferung eines großen Prachtwerkes über Hellas. Gedankenlos schlug sie es auf. Das erste Blatt zeigte die Abbildung des Frieses, der die Festzüge darstellt, welche zu Ehren der Göttin Pallas Athene nach der Akropolis sich bewegt hatten.

An der attischen Reiterei blieb der Blick haften. Sie ritt in Gliedern, voraus der Führer.

Zum ersten Male drängte sich Ereme diesem Anblicke gegenüber eine Kritik auf. Waren die gedrungenen, kurzhalsigen, kleinköpfigen Pferde nicht dieselben, welche noch jetzt in Athen vor den Wagen gingen? Auch der Führer erschien ihr nicht mehr als die Offenbarung ewiger Schönheit. Er saß dem Pferde zu nahe auf dem Halse in gebückter Haltung, die Zweifel an seiner Herrschaft über die niedere Creatur erweckte, und die Fußspitzen hatte er so sehr nach unten gestreckt, als sei es seine Hauptaufgabe, den Boden mit denselben zu erreichen. Und vor Allem fehlte ihm die vorwärtsstürmende Energie.

Sie warf das Blatt hin und wandte sich ab.

Und da sie aufblickte, sah sie in das starre weiße Gesicht der Pallas Athene, sah sie die Puppenhand an der Lanze, und es tauchte daneben die dunkle Gestalt des deutschen Reiters auf, an dem Gott gezeigt hatte, wie ein wahres Heldenbild im Leben sich darstellt.

„Er hat Sie sehr geliebt,“ hörte sie Melanie sagen, und: „Wie konnten Sie ihm das thun?“ Elsa fragen.

Sie hätte aufschreien mögen vor innerer Qual.

Da tönte ein leises Brausen von dem Eichberge herüber. Und mit dem Brausen kam es wie die Erinnerung an eine selige Zeit über sie, wo in dieselben Töne leichter Hufschlag klang. Es zog sie mit unbezwingbarer Gewalt hinaus auf die Höhe, wo der Adler sein stolzes Haupt erhob.

Sie nahm Hut und Handschuhe und stürmte fort.

Sie eilte durch die Straßen. An allen Thüren standen Ulanen, mit den Mädchen plaudernd; es gab viel betrübte Gesichterchen, viel tröstende Worte. „Uebermorgen rücken wir aus,“ hallte es in ihr wieder.

Der weite Exercirplatz war öde. Auf der Wiese lag der zweite Graswuchs in langen Schwaden und hauchte seinen letzten süßen Duft aus; in der Luft schwebten schon einzelne weiße Sommerfäden darüber hin. Verloren zirpte noch hier und da eine Grille.

Aus einem Garten schallte der Gesang fröhlicher Studenten: „Ich liebte Dich immer, ich lieb Dich noch heut’, ich werde Dich lieben in Ewigkeit.“ –

[733] Unter den ersten Bäumen des Waldes trat Ereme der weißhaarige Professor im altdeutschen Rocke entgegen. „Wollen Sie auch hinauf an die Siegessäule?“ rief er. „Ja, in diesen Tagen drängt es uns dahin. Ich komme von dort, hab’ meinen Hut gezogen vor den Gedenktafeln und ein ‚Gut Heil‘ in den deutschen Eichwald hinein gerufen. Ich altes Haus kann ihnen nichts weiter zu Gute thun dafür, daß sie so herrlich ausgeführt, was wir geträumt haben. Nun, der Eine erliegt auf dem Wege nach dem großen Ziel, der Andere nimmt ihm die Arbeit ab und bringt das Werk zu Ende. Selig der, welcher scheidend noch den anbrechenden Tag erblicken darf. Und dafür dank’ ich meinem alten Gott.“ Er schwenkte seinen breitrandigen Hut und wanderte fürbaß der Stadt zu.

Ereme hatte zu Boden geblickt. Sie wagte nicht, dem Greis in die verklärten Augen zu sehen.

Kein Vogel sang mehr im Walde; nur das Brausen der Wipfel erfüllte die Luft. Kein bunter Blumenteppich breitete sich aus, das Waldesdunkel freundlich erhellend; die zarten Waldlilien waren verwelkt, die blauen Blüthen des Ehrenpreis verweht. Die hohe Zeit des Jahres war vorüber, die Sonnenrosse lenkten abwärts; nun ging’s dem kalten öden Winter zu.

Da stand bei einer Biegung des Weges vor ihren trostlosen Augen Melanie. Ihre Wangen waren rosig angehaucht, in der Hand hielt sie einen Strauß von Heckenrosen und Hagebutten an denselben Zweigen, die sie auf einer lichten Stelle des Waldes von einem wilden Rosenstrauche gebrochen hatte.

Die Stiftsdame erschrak. Sie hatte nach den stürmischen Tagen sich erholen wollen. Nun folgte ihr auch in die Waldesstille das Verhängniß.

Sie ergab sich darein. „Ich liebe diese herbstliche Stimmung über Alles,“ sagte sie, Ereme begrüßend. „Der Wald hebt ein Schlummerlied an, das mir zu lauten scheint: ‚Die Blüthen sind verwelkt, die Blätter müssen fallen; so vergeht Alles: Freud und Leid.‘“

„Und mir klingt das Brausen der Wipfel,“ erwiderte Ereme, „wie die Klage der Natur, die nach dem Worte stöhnt, das sie erlösen soll.“

„Jeder hört aus der Stimme der Heimath das heraus, was seine Seele bewegt,“ antwortete Melanie. „Sie ringen noch mit den Aufgaben des Lebens, ich habe abgeschlossen und sehne mich nach Ruhe.“

Stumm gingen sie weiter. Das Kriegerdenkmal stieg vor ihnen auf.

Ereme stand unter dem Zweige, den Witold damals über den Weg gespannt hatte. Leise strich sie über die herb duftenden Blattrosetten. Um die Kanonenrohre flatterte eine ganze Meisenfamilie und sang voll Schabernak ihr: „Sitz ich doch!“ Der Epheu hatte neue Ranken zu den ehernen Tafeln emporgesendet und sie mit grünem Kranze umschlungen.

Melanie ging der Siegessäule zu. Ereme blieb stehen. Es war ihr, als dürfe sie diesen Boden nicht betreten.

Da erhob sich neben dem Denkmal auf der Stelle, wo sie in der Johanniszeit geruht hatte, plötzlich eine Gestalt. Er war es.

Und so wie sie damals herabgeschritten war, ernst und kalt, so kam er langsam an sie heran. In seinen bleichen Zügen lag keine Herausforderung, kein Uebermuth, kein dreister Scherz. Ein fester düsterer Ernst stand auf seiner Stirn geschrieben, dessen sie ihn nie für fähig gehalten hatte.

Nun war der von ihr prophezeite Augenblick gekommen, da sie an einander vorübergehen konnten, als hätten sie sich nie gekannt.

Warum wurzelte nun ihr Fuß am Boden, während er mit stummem ernstem Gruße weiter schreiten wollte?

Melanie konnte die Quälerei nicht mit ansehen; ihre Natur suchte für Alles friedlichen Ausgleich; selbst wo ein Abschied das Ende war, sollte ihm das Herbe genommen sein. Sie redete ihn an. „Wir wollen Sie nicht vertreiben, Herr von Bartenstein. Wenn einen tapferen Officier in diesen erinnerungsreichen Tagen sein Herz an die Stätte treibt, wo den Waffenthaten unseres Volkes ein Denkmal gesetzt wurde, dann ziemt es uns, die nichts leisteten, seine Empfindungen zu ehren und uns zurückzuziehen.“

„Ach, es wäre besser, gnädiges Fräulein, man brauchte sich nicht zu erinnern, sondern könnte Alles schnell vergessen,“ sagte er mit bitter zuckenden Lippen im Vorüberschreiten.

Die Stiftsdame schloß sich ihm an und wandte sich ebenfalls zum Heimweg. Während Ereme zitternd zu ihrer Rechten ging, richtete Melanie über ihre linke Schulter den Blick auf Bartenstein, der zaudernd stehen bleiben wollte.

„Das wäre traurig. Wie gering wiegt das Leid, eine persönliche Kränkung nicht vergessen zu können, gegen die hohe Gnade, daß wir die glorreichen Thaten unseres Volkes im Gedächtniß bewahren dürfen! Würden Sie die Erinnerung an den Todesritt von Vionville hingeben wollen?“

[734] Was weder ihre bittenden Blicke, noch Ereme’s traurige Augen vermocht hatten, vollbrachte die großartige Ausdrucksweise Melanies. Der natürliche Widerwille Bartenstein’s gegen Lobpreisungen zwang ihn, sich anzuschließen, um sich gegen dieselben zu wehren.

„Todesritt!“ stach er ganz entrüstet das Wort auf, indem er an Melanies linker Seite weiter ging. „So nannten die Franzosen in ihrer Uebertreibung unsere Attake. Wir führten ganz einfach nur den Befehl aus, den wir erhalten hatten.“

Melanie ließ sich nicht einschüchtern. Mit aufrichtiger Bewunderung sagte sie: „Es war die erhabenste Heldenthat des Krieges.“

Witold zog die Augenbrauen unmuthig zusammen. „Solche hochtrabende Worte müßten durch einen Armeebefehl verboten werden. Meiner Meinung nach giebt es keine Heldenthaten. Wenn ein Mensch für seinen König und sein Vaterland,“ betonte er, „seine Kraft und sein Leben einsetzt, dann thut er nichts als seine Pflicht und Schuldigkeit. Und die thaten alle Regimenter, die damals die Aufgabe zu lösen hatten, dem Marschall Bazaine den Rückzug in’s Innere abzuschneiden, um ihn zu verhindern, daß er sich mit Mac Mahon’s Armee vereinige.“

„Aber die Attake Ihres Regimentes war doch das größte Wagestück des Tages von Vionville,“ trieb Melanie ihn in die Enge.

„Ach, sie war gar nichts,“ bemühte er sich, die seiner Meinung nach höchst überspannten Vorstellungen auf ein vernünftiges Maß zurückzuführen. „Aber das war qualvoll, als wir ruhig in gedeckter Stellung in der Thalmulde halten und zusehen mußten, wie die Bajonnette der Infanteriecolonnen auf den Höhen blitzten, die reitenden Batterien vorüber jagten, die Husaren die Schluchten hinabflogen, Alle dem Feinde entgegen. Und als vollends die Dragoner mit Hurrah abschwenkten und triumphirend auf den Feind losstürmten, dachten wir: Verfluchte Kerle, wer doch mitreiten könnte!“

Er nahm die Mütze ab. Noch jetzt wurde ihm die Stirn heiß, wenn er an jene Stunden dachte.

Aber Melanie hatte Recht gehabt: die große Erinnerung drängte den Schmerz um das eigene Leid zurück.

„Was habe ich ausgestanden,“ fuhr er fort, anfangs wie nur das Gespräch weiterspinnend, dann aber von dem Gegenstande sich hinreißen lassend, „als ich mit einer Patrouille ausritt, um zu recognosciren. Mit dem Fernglas sah ich, wie unsere Truppen auf dem kahlen Plateau, über das die große Straße sich zieht, zusammengeschossen wurden, während auf den Höhen ringsum der Feind immer mehr Batterien auffuhr, die Wälder sich mit seiner Infanterie füllten, Reiterregimenter in den Thalmulden sich sammelten und ferner dumpfer Kanonendonner noch den Zuzug neuer Colonnen ankündigte. Da endlich kam die Erlösung für uns. General von Voigts-Rheetz sprengte heran und brachte den Befehl, daß wir – die altmärkischen Ulanen und halberstädtischen Kürassiere – die Batterien an der Römerstraße zum Schweigen bringen sollten. Unsere Regimenter hatten zusammen nur noch sechs Schwadronen; zwei waren ausgeloost worden, die Trouviller Büsche zu säubern. Uns gegenüber mußten unserer Schätzung nach dreizehn Regimenter stehen.“

Witold’s Züge hatten sich belebt. Er sah nicht, wie Ereme erbebte. Er war jetzt ganz Soldat. Melanie schaute ihn mit Bewunderung an. Begeistert, mit Augen, die in die Höhe und in die Ferne gerichtet waren, erzählte er weiter: „Nun ging es vorwärts durch Schluchten und Thäler, über zertretene Felder, die in Garben gestanden hatten, zerstampfte Wiesen, Ackerstücke, die von den Geschossen zerpflügt waren, und überall bezeichneten die Leichen der Gefallenen den Siegesweg, den unsere Cameraden genommen hatten. Endlich kamen wir an den Linien an, die am weitesten vorgeschoben waren. Gegenüber an der alten Römerstraße stand der Feind.

Wir nahmen in entwickelter Linie Stellung, links die Kürassiere, rechts wir.

Dann schallte das Commando: ,Zur Attake!‘ Es wurde ‚Fanfaro‘ geblasen und nun ging’s los.

Die feindlichen Batterien donnerten uns entgegen – wir flogen durch den Grund und durch das hereinprasselnde Feuer die Höhe hinauf. Das hatte der Feind nicht erwartet. Die Bedienungsmannschaften der Geschütze waren wie betäubt und wurden niedergemacht. Wir hielten uns nicht dabei auf. Immer vorwärts durch die französischen Jäger zu Fuß. Was in den Bereich der langen Schwerter der Kürassiere kam, mußte dran glauben, unsere Lanzen räumten unter den Feinden auf, die vor Verblüffung sich nicht besinnen konnten. Das zweite Treffen versuchte es gar nicht, unserem Ansturme Stand zu halten. Die Batterien protzten ab und wendeten sich zur Flucht. Wir sausten ihnen nach durch die Thalmulde, die von der Römerstraße nach Rezonville sich hinabzieht. Unsere Schwadronen waren weit aus einander gekommen; aber die Wuth riß uns dem Feinde nach.

Da tauchten plötzlich vor uns rothe Casquettes auf: die Chasseurs d’Afrique; in dem Gehölze blitzten die Kupferhelme der französischen Dragoner, und in geschlossenen Reihen fielen uns Kürassiere in die Flanke. Wir waren rings vom Feuer umschlossen. Die Geschütze donnerten, die Mitrailleusen grollten und knatterten, in der Luft platzten die französischen Shrapnels mit singendem Tone, die preußischen Granaten detonirten mit scharfem Knall; die französische Infanterie hatte sich wieder erholt und überschüttete uns mit ihrem Bleiregen. Dazwischen schrieen die Kämpfenden, wimmerten die Verwundeten. Immer lichter wurden unsere Reihen, immer dichter schichteten sich die Leichen. Jeder von uns kämpfte gegen eine fünffache Ueberzahl.

Da wurde plötzlich zum Sammeln geblasen. Das Signal verdoppelte unsere Kräfte.

Ich schlug mich durch und mein braver Rappe ‚Vorwärts‘, der dafür noch heute das Gnadenbrod auf unserem Gute frißt, trug mich der Stelle zu, von der das Signal ertönte.

Keuchend vom athemlosen Ritte kamen die Unsrigen von allen Seiten; Pferde ohne Reiter sprengten auf den gewohnten Klang herbei. Verwundete suchten sich zu erheben um wieder zusammen zu brechen, Sterbende schlugen die Augen zu uns auf“ – er brach kurz ab. Seine Hand ballte sich einen Augenblick zur Faust. Ereme’s Augen hingen in qualvoller Spannung an ihm; es war, als wolle sie ihm in überströmender Theilnahme die Hand reichen. Er sah es gar nicht.

„Auch da heißt’s: Durch!“ fuhr er in gepreßtem Tone fort, als er in Melanies erregtes Gesicht blickte und ihre Augen mit höchster Spannung auf sich gerichtet sah. „Es ging zurück in dichtem Knäuel, feindliche Reiter zwischen den unsrigen, über stehen gebliebene und umgeworfene Geschütze, stechend, hauend, schießend. Man fühlte nichts mehr. Ein paarmal war mir’s, als fahre ein Blitz an meinen Augen vorbei; dann streifte es heiß wie ein Licht an meiner Schläfe hin mit zischendem Laut. Aber weh that’s nicht. Rückwärts ging’s, den Berg hinab, Freund und Feind zu kämpfendem Knäuel geballt. Das Gedränge wurde so arg, daß wir die Arme nicht rühren und uns nur wüthend ansehen konnten.“ Er lachte laut und wild auf.

„Als wir endlich an dem Orte ankamen, von wo wir ausgeritten waren, fand sich kaum die Hälfte von uns zusammen. Unser Major fehlte. Wir schrieen nach der Standarte, die Standarte war fort. Wir zogen dem brennenden Flavigny zu. Meine Wunden fingen an zu schmerzen, vor den Augen wurde es mir dunkel, ich hielt mich mit Anstrengung aufrecht. Da tönte uns lautes Hurrah! entgegen. Aus einer Schlucht kam noch eine Abtheilung Ulanen mit unserer geretteten Standarte. So viel Kraft hatte ich noch, sie mit einem Schrei zu begrüßen. Dann sank ich vom Pferde auf den Rasen. Ich schlug die Augen noch einmal auf. Neben mir stand ein Bildstock. Die Mutter Gottes sah mit einem kummervollen Gesicht auf mich herab. Wie ein Stich, der tiefer ging, als alle meine Wunden, traf mich der Gedanke an meine Mutter. Ich wußte, wie sie sich um mich ängstigte. Sie war immer sehr zärtlich gegen mich,“ sprach er leise, fast verschämt, „und ich hatte mich, wie es ungezogene Bengel machen, immer gegen ihre Liebkosungen gesträubt, weil sie mir so sentimental vorkamen. Wenn ich hier meinen Wunden erlag, konnte ich nie nachholen, was ich versäumt hatte. – Ich habe es aber gut machen können und meine Strafe auf anderem Wege bekommen. Ich mußte selbst empfinden, was es heißt: darben, wenn man mit warmem Herzen um Liebe wirbt.“

Melanie fühlte, wie Ereme plötzlich ihren Arm ergriff und sich schwer darauf stützte, als trügen sie ihre Füße nicht weiter.

Witold aber hatte die weiche Regung schon überwunden. „Das war nur ein Moment,“ sagte er, rasch fortfahrend, „dann verlor ich das Bewußtsein. Als ich wieder zu mir kam, fand ich [735] mich ganz weich auf Stroh gebettet in einer Stube, rings umgeben von Verwundeten. Der Morgen dämmerte; vor dem Fenster wehte eine weiße Fahne mit rothem Kreuz. Der Kopf that mir weh; da ich die Hand hob, um ihn zu befühlen, war sie verbunden, und um den Kopf hatten sie mir auch ein Tuch gewickelt; überall war mir ein Pflaster hingeklebt worden. Ich fühlte mich wie zerschlagen und gelähmt. Aber ich konnte natürlich nicht liegen bleiben. Ich nahm mich zusammen und stand auf. Ein barmherziges Schwesterchen erklärte mir zwar, ich müsse mich still verhalten, aber ich versicherte ihr, daß sie mich gehen lassen müsse, wenn sie nicht wolle, daß ich hier vor Ungeduld wie eine Granate platzen solle.“

„Mit Ihren vielen Wunden, von denen neulich der Oberst erzählte?“ fragte Melanie.

„Wenn man jeden Ritz mitrechnet,“ widersprach Witold. „Etwas duselig war mir allerdings zuerst zu Muthe. Aber nachdem ich mir das Gesicht an einem Brunnen gewaschen hatte, sah ich wieder ganz klar. Ich war in Flavigny, das noch rauchte. Gepäckstücke, Tornister, zerschlagene Gewehre, Käppis lagen in den Straßen; dazwischen sterbende Franzosen und Deutsche. Träger mit der weißen Binde um den Arm, katholische Priester mit dem Rauchfaß, lutherische im schwarzen Talar eilten an mir vorüber. – Da wieherte es hinter mir. Als ich mich umwandte, stand ich vor meinem ‚Vorwärts‘. Ich fiel ihm natürlich um den Hals und – der Teufel weiß, wie es zuging – ich glaube, ich habe geweint. Er hatte es gut gehabt; denn er war an eine Linde angebunden, vor ihm ein Brunnentrog, neben ihm ein umgestürzter Heuwagen. Ich schwang mich mühsam auf und ritt hinaus, um zu erfahren, wie der gestrige Tag ausgefallen war.

Als ich auf dem Plateau von Vionville ankam, traf ich auf einen Ordonnanzofficier. Ich fragte, und er antwortete: ,Der Angriff Ihrer Brigade hat Luft geschafft. In der Nacht hat der Feind alle Stellungen geräumt. Bazaine ist abgeschnitten. Guten Morgen, Herr Camerad.‘ Fort war er. Ich blieb zurück. Im Osten hatte sich der Himmel geröthet, jetzt ging die Sonne auf. So weit ich sehen konnte, war rings um mich ein ungeheures Leichenfeld. Ueberall waren unsre Leute beschäftigt, Massengräber zu graben; die Gefallenen wurden zusammen gesucht. – Wenn man Appell halten könnte,“ fuhr er mit tief bewegter Stimme fort, „über die Todten, die dort ruhen! Eine stattliche Armee würde auferstehen. Ganze Bataillone von unsren Musketieren und Füsilieren waren vernichtet worden und nichts von ihnen übrig geblieben als der zersplitterte Fahnenstock. Brandenburger und Hannoveraner, Ostfriesen und Braunschweiger lagen dort neben einander und hörten es nicht, daß wir gesiegt hatten. Da nahm ich meine Czapka ab und betete ein stilles Vaterunser für die gefallenen Cameraden.“

Er schwieg. Melanie weinte leise. Ereme ging todtenblaß, fest an Melanies Arm geklammert, wie mit brechenden Knieen nebenher.

Es war derselbe Pfad, auf welchem sie ihm damals erzählt hatte von der Todtenklage der Cicaden im Walde der Athene. Wie klein erschien sie sich nun mit all ihren hohen Gedanken gegen ihn, der nicht reflectirte, sondern aus seinem großen starken Herzen heraus handelte! Und ihn hatte sie in ihrer Verblendung schonungslos von sich gestoßen.

Sie waren aus dem Walde herausgetreten und quer durch die Wiesen der Stelle zugegangen, wo der Kahn die Ueberfahrt vermittelte.

Ganz wie an jenem Tag, da Witold ihr in den Fluß nachsprengte, kam der Fährmann aus seinem Häuschen und stieg hinab, um den Kahn loszuketten.

Witold brach das Schweigen, indem er wieder in leichtem Tone sprach: „Es war eine tolle Attake. Aber das ist nun einmal Ulanenart. Dort, wo es sich um die Ehre des Vaterlandes handelte, ist unser kühnes Reiterstück geglückt; hier, wo ich um mein Lebensglück spielte, hat mein verwegenes Vorwärtsgehen eine Niederlage gefunden. Immer besser so, als ich hätte hier gesiegt, und wir wären im Felde geschlagen worden. Besser, daß eine Deutsche einen der Sporen, die ich bei der Attake trug, auf den Kehricht geworfen hat, als wenn ihn ein Franzose zu triumphirendem Andenken aufbewahrte.“

Melanie starrte ihn verständnißlos an. Er aber blieb am Kreuzweg stehen und wandte sich an Ereme, die unter seinen letzten Worten erbebte. „Gestatten Sie, gnädiges Fräulein, daß ich diese Gelegenheit benutze, mich Ihnen zu empfehlen. Ich glaube nicht, daß der Zufall mich noch einmal mit Ihnen zusammenführen wird. Ich sehe Sie schwerlich wieder. Uebermorgen rücken wir in’s Manöver aus, dann gehe ich auf Urlaub zu meinen Eltern, und dann hoffe ich versetzt zu sein.“ Er verbeugte sich zum Abschied.

Da richtete Ereme sich plötzlich aus ihrer gebrochenen Haltung auf und trat ihm in den Weg. „Nein“, sagte sie, und ihre Stimme tönte jetzt voll und klar, „nein, nicht Sie sollen gehen. Sie haben Ihr Leben für das Vaterland auf’s Spiel gesetzt, Sie sollen frei und ungehindert auf jedem Stückchen Erde in demselben leben können. Ich aber habe mich gegen die Heimath versündigt. Ich verstand nicht, was in den Eichen brauste, was der Fluß murmelte, was die sprießenden und fallenden Blätter verkündeten. Jetzt weiß ich es; jetzt verstehe ich die Stimme der Heimath; aber ich habe das Recht verwirkt, die Harmonie mit ihr zu genießen. Ich habe mich versündigt gegen das Volk, dem ich angehöre; ich habe es zurückgesetzt, gering geachtet gegen ein fremdes. Jetzt weiß ich, daß ich stolz darauf sein dürfte. Erst nachdem ich die hohen Güter, die das Schicksal mir bot, verspielt habe, ist das eherne Band gesprungen, das meinen Sinn gefesselt hielt, und ich sehe ein, wie bettelarm ich bin. Nur Eins habe ich gerettet: die Fähigkeit, mein Unrecht zu erkennen und zu sühnen. Wie der Feind Ihre kühne Attake mit verzweifelter Kraftanstrengung zurückwies und doch dann seine Positionen verließ, so habe auch ich mir einen Augenblickserfolg erkämpft und räume nun das Feld. Ich gehe nach Griechenland zurück. In die versunkene Welt gehört die Einsame.“ Das Wort tauchte aus einer Fluth von Thränen auf und erstickte ihre Stimme.

Sie wandte sich dem Kahne zu.

Witold und Melanie wollten sie aufhalten; aber mit unabweisbarer Geberde winkte sie beide zurück. Und wenn bisher er es gewesen war, der ihren Willen in Banden zu schlagen vermochte, so war er jetzt so ganz in ihrer Macht, daß sie mit dem Blick ihrer großen ernsten Augen ihn an seinen Platz bannte, während der Kahn vom Ufer abstieß.

Da fuhr sie hin, geisterhaft bleich, vom weißen Kleide und Schleier umwallt.

Noch einmal wandte sie die Augen zurück. So blicken die Schatten, die in Charon’s Nachen steigen, noch einmal nach dem Gestade der Lebenden ohne Furcht und ohne Hoffnung.

Melanie schaute ihr nach, die Hände faltend und klagend: „Das war nun der lustige Krieg. Ich habe das Ende kommen sehen und Sie Beide gewarnt. Warum haben Sie nicht darauf gehört? O, daß wir das Beste und am schwersten Erworbene, unsere Erfahrungen, nicht auf Andere zu übertragen vermögen!“

Als sie sich nach Witold umblickte, war er nicht mehr an ihrer Seite. Sie sah ihn schon eine Strecke entfernt in raschem Schritte zwischen den Wiesen davon gehen.

Sie ging nach Hause. Wie stiller Friede kam es über sie, als die Pforte des Stiftes sich hinter ihr schloß. Im weiten Hofe, dessen alte Pflastersteine wie abgeschliffen in grünen Grasfränschen lagen, girrten weiße Tauben, die von den Damen gefüttert wurden.

In ihrem Zimmer sprang ihr Darling vergnügt entgegen. Die Hängelampe erleuchtete den zierlich gedeckten Theetisch, in dem silbernen Kessel summte das Wasser, und durch die offenen Fenster zog der Duft von Reseda aus dem Garten herauf.

Mit wiederkehrendem Behagen ordnete sie den mitgebrachten Rosenstrauß in dem Blumenkorbe aus Eichenborke und Eichelnäpfchen, einem Producte der Greifenberger Industrie. Sie entließ die Jungfer und bereitete den Thee, von welchem der kleine Gourmand Darling einen schwachen Aufguß bekam.

Die anmuthige Stiftsdame war innerlich älter, als sie äußerlich erschien, und mit dem Ruhebedürfniß, das die fortgeschrittenen Jahre im Gefolge haben, sagte sie sich: „Gott sei Dank, daß die Stürme, welche Jugend und Liebe mit sich bringen, für mich vorüber sind.“

[749] Während Melanie in behaglicher Ruhe beim Summen des Theekessels ihren Gedanken nachhing, erklang ein Stapfen auf dem Corridor. Die Zofe öffnete die Thür und meldete die Frau Pröbstin.

„Ich wollte Sie davon avertiren, liebes Fräulein von Seebergen,“ sagte sie hereinkrückend, „daß wir den vierten Herrn zur Aufschwörung häben. Der Oberceremonienmeister des Herzogs kommt selbst. Der feierliche Act soll morgen vor sich gehen.“

Melanie wußte, daß die Pröbstin dieser Mittheilung wegen nicht selbst zu ihr herüber kam. Da mußte noch eine andere Absicht vorliegen. Mit einem leisen Bangen sah sie, wie die alte Dame sich auf dem Sopha niederließ.

Ihre Ahnung hatte sie nicht betrogen. Wie ein Bischof seinen Krummstab lehnte die Pröbstin ihre Krücke neben sich, und wie ein solcher einen jungen Geistlichen abkanzelt, der nicht auf dem rechten Wege geblieben ist, sprach sie zu Melanie: „Ich halte es für meine Pflicht, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß Sie etwas vorsichtiger im Umgange mit den Herren sein müssen. Eh, eh,“ wehrte sie mit der Krücke, als Melanie sich aufrichtete, „wenden Sie mir nicht ein, daß man in Ihren Jahren sans consequence mit denselben verkehren könne. Au contraire! Sie sind im gefährlichsten Alter und sehr gut conservirt. Man flüstert sich im Stifte zu, daß der junge Mann auffallend viel vor unserem Garten promenirt, sogar noch im Mondenschein unter den Bäumen der Allee steht, um von Weitem Ihr Fenster zu observiren. Und als ich gestern in dem Stiftswagen Visiten fuhr, lief er förmlich, um in das Fenster zu sehen. Da er mich erblickte, war er ganz stupéfait. Das Alles ist mauvais genre. Aber was kann man von einem jungen Manne erwarten, der so etwas ist wie ein Hofmeister, die zwar mit am Tische aßen in unseren Familien, aber zum Beispiel beim Hasenbraten das sogenannte Informatorstückchen – wissen Sie, das Schwarze, Verschrumpfte am Halse – erhielten. Ich weiß, daß Sie nicht an eine Mesalliance denken. Es flattirt nur, von einem jungen Manne adorirt zu werden. Aber auch schon, wenn eine Seebergen einem Informator einen Korb ertheilte, würde das ridicule sein. Und ich wünsche nicht, daß dem Stifte etwas Ridicules anhafte.“

Melanie war blaß geworden. „Gnädigste Frau,“ antwortete sie, „Sie können ganz ruhig sein. Durch mich wird dem Stift nichts Lächerliches angeheftet werden. Ich kann die niedrige Gesinnung nur bedauern, die Ihnen über meine Beziehung zu dem Doctor Gerhard, dem viel jüngeren Mann, in so entstellter Weise berichtet hat. Die Empfindungen und Eitelkeiten der Jugend liegen gleich weit hinter mir, und ich erachte es in jedem Falle als schlechtes Zeichen für das Zartgefühl einer Frau, wenn sie es bis zu einer wirklichen Abweisung kommen läßt. Aber im Namen des Fortschrittes, der die Menschheit über morsche Vorurtheile hinausführt, protestire ich gegen die Auffassung, als sei es nicht auch für eine Freiin von Seebergen eine Ehre, wenn ein deutscher Gelehrter um sie wirbt.“

„Eh, eh,“ klapperte die Pröbstin, „Fortschritt, Menschheit! Das sind demokratische Schlagworte, welche die augenblickliche Zeitströmung mit sich bringt, und die binnen Kurzem ihre Bedeutung wieder verloren haben werden.“

„Eher wird das Stift seine Bedeutung verloren haben,“ entgegnete Melanie.

„Nous verrons,“ sagte die achtzigjährige Greisin, mit einer Zuversicht, als habe sie noch eine Ewigkeit zu leben, und empfahl sich.

Melanie blieb in großer Aufregung zurück. Aber bevor sie noch die Demüthigung, die ihr widerfahren war, nach allen Seiten hatte ermessen können, schlüpfte schon wieder die Zofe herein und überreichte einen Brief, der soeben abgegeben worden war. Der Diener, der ihn gebracht hatte, wartete auf Antwort.

Melanie erkannte nicht ohne Beklemmung die Handschrift des Doctor Gerhard. Sie entfaltete den Brief und las:

 „Gnädiges Fräulein!
Das lang erstrebte Ziel ist erreicht. Ich bin als ordentlicher Professor der Philosophie an jene süddeutsche Universität berufen, von der ich Ihnen immer sprach. Und zwar habe ich diesen Ruf dem Erfolg zu danken, den meine Broschüre ‚Die Wahrheit über das Wesen der Liebe‘ gehabt hat. Die Ironie des Schicksals hat es so gefügt, daß ich für meine Arbeit Anerkennung in dem Augenblick ernte, in welchem ich einsehe, daß ich von falschen Voraussetzungen ausging und zu falschem Schluß gelangte. Ich weiß jetzt aus Erfahrung, daß kein Forschen und Wissen uns gegen die Macht der Liebe schützt. Und einmal unsicher geworden in meinen Combinationen, traue ich mir nicht mehr zu, eine Frage allein lösen zu können, die jetzt mein ganzes Sein erfüllt, und bitte Sie, mir hierin beizustehen.

Glauben Sie, daß man die Hoffnung hegen darf, von einer Frau geliebt zu werden, wenn diese sich stets selbstlos in unsere Interessen mitversenkt? Die Natur des Weibes bedingt ja, sich für den Mann, den sie liebt, zu opfern, während wir bestrebt sind, der Geliebten die Signatur unseres Geistes aufzuprägen.

[750] Mit einem Herzklopfen, das mich zum Denken gänzlich unfähig macht, sehe ich Ihrer Entscheidung entgegen und frage Sie, wann ich dieselbe mir holen darf.
Doctor Max Gerhard.“ 

Melanie ließ erstarrt das Blatt sinken.

Konnte es möglich sein? Hatte sie es richtig verstanden?

So hatte also die alte Pröbstin Recht gehabt! Und sie, die in Bezug auf Andere Hellsehende, war blind gewesen in dem, was sie selbst betraf.

Die Zofe erschien wieder und erinnerte: „Der Diener wartet auf Antwort.“

Melanie raffte ihre Gedanken zusammen. „Ich lasse dem Herrn Doctor sagen,“ bestimmte sie, „daß ich leider nur die Zeit von halb elf bis elf Uhr morgen zur Verfügung habe, da alsdann eine Aufschwörung im Capitelsaale stattfinden wird.“

Die Zofe ging.

Melanie sank erschöpft in einen Fauteuil.

Das waren nun die vielgepriesenen Forschungen der Neuzeit. Die berühmten Aerzte ergründeten die Ursache jeder Krankheit, und der Tod würgte Jung wie Alt; die Geologen stellten die Zeit fest, wann das Erdfeuer erloschen sein würde, und es brach aus und verzehrte sie und ihre Berechnungen; die Philosophen belauschten die Kunstgriffe des Weltwillens, und dieser betrog einen der scharfsinnigen Denker so, daß er eine ältere Dame, die keinen Wunsch als den nach Ruhe hatte, mit einer Liebeserklärung bedrohte, die sie in die peinlichste Verlegenheit brachte.

Ein heftiger Kopfschmerz, die Folge aller aufregenden Erlebnisse, stellte sich ein und zwang sie, sich niederzulegen.

Die Zose mußte die Gardinen in ihrem Schlafzimmer zuziehen, Darling’s blauseidenes Himmelbett hinausschaffen, da Melanie keine Unruhe ertragen konnte, ihr die Stirn mit Eau de Cologne waschen und kalte Umschläge auf den Kopf machen.

Spät erst schlief sie ein, indem sie sich zur Beruhigung sagte: „Bartenstein wird versetzt, Ereme geht nach Griechenland, der arme junge Doctor besteigt seinen Lehrstuhl viele Meilen weit von hier – und ich bekomme Ruhe.“


Als Gerhard am andern Morgen anlangte, fand er das Stift zu der feierlichen Handlung gerüstet, derentwegen Melanie ihm nur eine halbe Stunde bewilligen konnte.

Das große Eingangsthor war geöffnet, die Dienerschaft in Galalivrée. Auswärtige Stiftsdamen und die Herren, welche die reine Stammtafel der neuen Schwester beschwören sollten, fuhren ein.

Er wurde in Melanie’s Salon gesührt.

Sie hatte ihre gelassene Haltung vollkommen wieder gewonnen, und ihre Erscheinung stimmte in ihrer milden Ruhe harmonisch zu der Stiftskleidung. Das schwere schwarze Seidenkleid rauschte ihr nach, auf der Brust funkelten am veilchenblauen Bande die Diamanten des Ordenskreuzes. Ueber den hellbraunen Scheiteln lag der schwarze Schleier.

„Verzeihen Sie, lieber Freund,“ sprach sie, „daß ich Sie hierher bemühte, obgleich mir die Zeit knapp zugemessen ist; aber ich wollte Ihnen doch gern selbst meine Freude aussprechen, daß ein so ehrenvoller Ruf an Sie ergangen ist. Die Zeit, da ich, die Alternde, Ihnen rathen konnte, ist vorüber. So lange der junge Baum schwankt, bedarf er des stützenden Stabes; sobald er selbstständig und fest geworden ist, fällt derselbe morsch von ihm ab, und er schützt dann wieder eine zarte junge Ranke, die sich an ihm emporschlingt.“

Sie wollte ihn freundlich ansehen.

Da stand er vor ihr mit den feinen Zügen, die in angestrengter geistiger Arbeit blaß geworden waren. Die grauen Augen, die so scharf blicken konnten, sahen sie mit einem Blick voll des tiefsten Wehes an.

„Ich muß erkennen,“ antwortete er, „daß uns das Schicksal wohl einmal gestattet, ein ersehntes Ziel zu erreichen, aber nur, um uns zu zeigen, daß es Macht hat, noch im letzten Augenblick dem Glück die Krone auszubrechen.“

Es zuckte schmerzlich um seine Lippen.

„Glück?“ wiederholte sie langsam. „Wenn es Ihnen ein Trost in dieser Stunde ist, eine Genossin zu haben, so lassen Sie mich Ihnen gestehen, daß ich nie im Leben das Gefühl gehabt habe, ich sei glücklich. Ich kann nur sagen: ich habe mich oft zufrieden gefühlt, und zwar nicht dann am meisten, wenn mir ein Wunsch erfüllt wurde, viel eher, wenn es mir gelungen war, auf etwas Ersehntes, welches das Schicksal mir verweigerte, ohne Bitterkeit zu verzichten.“

Sie hatte die Zeit gut berechnet. Die Capitelglocke begann zu läuten, und zugleich klappten nahe und ferne Thüren. Sie reichte ihm die Hand, die er an seine Lippen drückte.

Dann schritt sie an ihm vorüber. Er folgte ihr nach.

Aus der Tiefe des Ganges, der durch das Stift führte, kam das Stapfen der Krücke heran. Jetzt schloß Melanie sich dem Zuge der Damen an, der sich langsam die Wendeltreppe hinab wand.

Er sah sie dahin schreiten im dämmerigen Kreuzgang; ihr wehender Schleier hob sich dunkel ab von den grauen Grabsteinen. an der Wand, welche die Ruhestätten früherer Aebtissinnen des Klosters bezeichneten, die nun schon ein paar Jahrhunderte von ihrem stillen Leben ausschliefen.

Das Stapfen verklang, die rufende Glocke verstummte, die Thür des Capitelsaales schloß sich hinter der letzten Stiftsdame.

Nun denn! er durfte nicht schwächer sein als das zarte Weib, das zu stiller Resignation sich durchgerungen hatte.

Er schritt aus den Stiftsmauern hinaus in das Leben.

Die Stiftsdamen richteten erstaunte und fragende Blicke auf Melanie, als sie des Doctor Gerhard ansichtig wurden; aber diese erzählte mit lächelnder Unbefangenheit: „Der junge Professor – ja, das ist er jetzt – hat mir seinen Abschiedsbesuch gemacht.“

Im Capitelsaale, während der vielen umständlichen Ceremonien fand sie Zeit, ihrer innern Wehmuth Herr zu werden über das Schicksal der Menschheit im Allgemeinen und über das ihres jungen Freundes im Besondern. Sie sagte sich zum Troste: Er wird’s verwinden. Denn was vermöchte der Mensch nicht zu vergessen?


Im Clusiushaus war diese Nacht keine Ruhe geworden. Als Ereme am Abend heimkehrte, theilte sie ihren Entschluß zu reisen den Hausgenossen mit.

„Unverhofft kommt oft,“ rief die Tante, die Hände zusammenschlagend.

Der alte Diener ließ kummervoll das Haupt hängen, und Dorchen kündigte sofort den Dienst.

Aber Ereme blieb unerschütterlich bei ihrer Entscheidung. Dorchen wurde der Abschied bewilligt, der Diener damit getröstet, er solle Ereme nur nach Athen geleiten und dann zurückkehren, um seine alten Tage in Greifenberg in Ruhe zuzubringen, die Tante darauf hingewiesen, daß ihr der lebenslängliche Insitz im Haus gesichert sei.

Die Sammlungen sollten nach wie vor allen Besuchern offen stehen, die Zimmer ihres Vaters unangetastet bleiben. Die Pallas Athene wollte sie der Universttät schenken. In der Aula würde ihr vielleicht ein Platz eingeräumt werden zum Gedächtniß des alten Clusius, des „letzten Hellenen“.

Dann wünschte sie Allen gefaßt eine Gute Nacht und zog sich in die Bibliothek zurück, um die nöthigen schriftlichen Vorbereitungen zu treffen: einen Paß zu verlangen, Abschiedsanzeigen aufzusetzen, einen Anmeldungsbrief an die Freunde in Athen zu verfassen.

Der Diener zündete stumm die Lämpchen an, die an der antiken auf Löwenklauen ruhenden Säule hingen.

So lange sie schrieb, gelang es ihr, die Gedanken fest auf den einen Punkt zu richten, dem sie zustrebte. Nur einmal, da von der Straße herauf lustiger Lärm schallte und ihr anzeigte, daß ausgelassene Studenten einen Nachtwächter neckten und sein Horn zur Ruhestörung mißbrauchten, hielt sie verwundert inne. Gab es denn nur wirklich auf der Erde frohe Menschen? Hatte sie auch einmal lachen können? Es dünkte sie, als liege diese Zeit eine Ewigkeit zurück.

Endlich war die Arbeit gethan. Sie erhob sich. Aber schlafen konnte sie nicht. Sie begann langsam auf- und abzuwandeln.

Die Fenster waren geöffnet, und der hereinziehende Nachtwind suchte des leisen Moderduftes Herr zu werden, den alte Bücher aushauchen, daran gemahnend, daß die Pflanzenfaser des Papiers gleich allen irdischen Dingen keine ewige Dauer besitzt.

[751] Der Schein des flackernden Lichtes, das der Luftzug leise bewegte, huschte über die Büsten und Statuen hin. Er vermochte kein Leben in ihnen zu wecken. Wie graue Gespenster standen sie da und starrten mit todten Augen in’s Leere.

Tiefe Stille herrschte in den feierlichen Räumen; nur ganz leise tönte zuweilen ein Ticken und meldete, daß der Holzwurm an seinem unheimlichen Werk war.

Ihr zukünftiges Leben stieg vor ihr auf.

Einmal im Jahre würde sie frische grüne Gräser sehen. Ein paar Monate lang im Lenz, bevor die Sonnenstrahlen allzu sengend wurden, war es dem Gärtner im Schloßgarten von Athen möglich, einen Rasenplatz herzustellen durch Samen, den er aus Erfurt kommen ließ. Dann würde sie hingehen, ihn anschauen und denken: „Der schöne grüne Rasen und die vielen Blümchen darin, ‚der Teufet mag wissen wie sie alle heißen‘!“ Und wenn sie ausfuhr und der Kutscher an den Schänken seinen Mastixschnaps trank, dann erschaute sie das bunte Bild der Schlacht von Marathon, mit dem jedes Schild bemalt war, und sie würde Ihn sprechen hören: „Sie wissen den Tag der Schlacht von Marathon und nicht den von Vionville?“

Ihr graute vor sich selbst, vor ihrer Verblendung und vor ihrem Loos, das unabwendbar an ihre Versündigung geknüpft war.

Und die Nacht wollte kein Ende nehmen.

Sie wandte sich wieder einer Beschäftigung zu und begann die werthvollsten Stücke ihrer Sammlung einzupacken. Die Muschelkette, die sie einst so wichtig dünkte, kam ihr unter die zitternden Finger. Sie schleuderte sie von sich wie eine Schlange.

Da funkelte es sie wie ein glänzendes Aeuglein an. Es war das Spornrädchen, das sich vor dem Auskehren in eine gut gedeckte Stellung unter Papiere zurückgezogen hatte und sie so keck anblitzte, als wolle es sagen: „Nun wirf mich auch hinaus, wenn Du das Herz dazu hast.“

Da war es vorbei mit Ereme’s Fassung. In beide Hände faßte sie den Sporn von Vionville und, auf den Sessel niedersinkend, drückte sie ihn an die Augen, überfluthete ihn mit ihren Thränen, daß sein heller Glanz erblich.

Und die Eule auf dem Sessel schaute bedenklich an ihrem krummen Schnabel herab auf das Gebahren des letzten Kindes der alten gelehrten Familie.

Draußen dämmerte der Morgen. Ein kühler Luftzug ging durch das Gemach. Die griechischen Lämpchen flackerten noch einmal auf, gespenstisch den Raum erhellend. Dann erloschen sie.

Allmählich wurde es lebendig im Hause. Verdrossen schlurrte Dorchen auf den Steinfliesen, das Feuer begann in der Küche zu knattern. Ereme richtete sich auf. Still öffnete sie ihren Schmuckkasten. In das Sammetetui, das ihr kostbares Perlenhalsband, das letzte Geschenk ihres Vaters, barg, legte sie das Rädchen. Dort sollte es für immer seinen Platz haben.

Die Tante, die mit einem Gesicht umherging, in welchem Jammer und Empfindlichkeit um die Herrschaft stritten, wollte sie zum Frühstücke abholen. Ereme wehrte ab. Eine Tasse starker Kaffee war das Einzige, was sie zu genießen vermochte, während sie durch den alten Diener, der seit gestern eine Leichenbittermiene angenommen hatte, die großen Koffer vom Boden holen ließ. Sie trugen noch die griechischen Buchstaben und Stempel.

Da flog plötzlich die Hausthür stürmisch auf, Sporen klirrten, eine Stimme erschallte.

Ereme kannte diesen Commandoton.

Zitternd, fassungslos, verwirrt sank sie in einen Sessel.

Eine Ewigkeit schien es zu dauern, bis der alte Diener anlangte und meldete: „Herr Rittmeister von Bartenstein.“

„Ich bedaure, ich bin mit Reisevorbereitungen beschäftigt,“ hauchte Ereme.

Wieder verging eine Ewigkeit. Jetzt mußte die Hausthür sich hinter ihm schließen.

Statt dessen kam Dorchen geflogen. „Der Herr Rittmeister lassen das gnädige Fräulein bitten, die Reisevorbereitungen aufzuschieben,“ berichtete sie athemlos mit einem Hoffnungsstrahl in ihrem verweinten Gesicht.

„Sage, ich sei noch bei der Toilette,“ befahl Ereme mit bebenden Lippen.

Dorchen verschwand enttäuscht, erschien aber sogleich wieder und verkündete triumphirend: „Der Herr Rittmeister werden warten, bis das gnädige Fräulein die Toilette beendet haben.“

Ereme rang die Hände. „Einen zweiten Abschied ertrage ich nicht. Ach Tante, hilf mir doch!“ flehte sie diese an.

Die Tante rückte ihre Haube zurecht und ging würdevoll die Treppe hinab.

Ereme wartete mit klopfendem Herzen.

Endlich erschien die Tante wieder, höchst verlegen.

„Ich versuchte ihm klar zu machen,“ sagie sie, „daß es zu früh sei; aber er rief mir gleich entgegen: ‚Morgenstunde hat Gold im Munde, gnädige Frau.‘ Dagegen läßt sich nichts einwenden. Ich sagte ihm, Du wolltest verreisen. ,O, ich habe alle Ausgänge im Auge,‘ antwortete er, ,und durch die Luft fliegen kann sie nicht; denn wenn das erfunden wäre, hätten wir es schon in der Armee.‘ Da sagte ich endlich, Du wolltest ihn nicht sprechen. Er erwiderte getrost: ‚Ich werde warten, bis sie mich sprechen will.‘ Was soll man nur thun? Höre nur, wie er auf- und abrennt.“

Sie hörte es wohl. Jeder Schritt dröhnte, ihre Gedanken verwirrend, bis in ihre schmerzenden Schläfen.

„Nimm ihn an,“ redete die Tante zu. „Denke: der Klügste giebt nach.“

„Nun, es muß sein; er mag kommen.“

Die Frau Doctor raschelte schleunigst hinaus, ehe Ereme einen andern Entschluß fassen konnte.

Einen Augenblick später erschien Witold in der Thür. Sie standen sich gegenüber, wortlos, athemlos, Auge in Auge.

Dann sagte er fast mitleidig: „Wie konnten Sie nur denken, daß ich mich abweisen ließe? Sie kennen mich doch noch immer recht schlecht.“

„Ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen,“ sprach Ereme tonlos, „und keinen Wunsch weiter, als nur: fort – fort.“

Ein leises Zucken lief über sein Gesicht; seine Augen flogen über die geöffneten Reisekasten die auf der Tafel zum Einpacken bereit gelegten Gegenstände. „Wahrhaftig! es ist schon das Unterste zu oberst gekehrt,“ murmelte er ganz verstört. Da fiel sein Blick aus das Spornrad in dem Sammetetui, und ein helles Leuchten strahlte in seinen Augen auf. „Meinen Sie wirklich, dem Ulanen entfliehen zu können?“ fragte er, und sein Blick heftete sich an ihr blasses Antlitz, als wolle er ihrer Seele bis auf den Grund sehen. „Und Sie wissen doch, daß er Ihnen unentwegt überall hin folgt. Auch nach Athen. In Gedanken für’s Erste, wenn er keinen Urlaub bekommt, was in jetziger Zeit immer fraglich ist. Sie werden ihn niemals los,“ versicherte er mit fester Betonung und richtete sich zu seiner schlanken Höhe auf. „Wie sich mein unverschämter Sporn dort bei den echten Perlen einquartiert hat, so wird das Bild des deutschen Reiters, der unter den strammen Eichen Ihnen entgegentrat, in Ihren Gedanken sich verschanzen, Sie mögen noch so viele Marmorbilder unter den Oelbäumen hervorgraben lassen.“

Er hatte immer herrischer gesprochen, je mehr das Herzklopfen in seine Stimme hinein bebte. Dann sah er, selbst erschrocken über seine Herausforderung, auf die sonst so streitbare Ereme.

Aber diese kämpfte heute nicht. Sie nickte bestätigend und sagte mit dunkler weicher Stimme:

„Sie haben Recht. Ich werde Ihrer immer gedenken. Denn wir sind aus gleichem Stoff geschaffen, und wo solche Menschen sich begegnen, da stürzen wie morsche Trümmer die Schranken zusammen, die Verhältnisse und Erziehung zwischen ihnen aufgerichtet haben, und das feindliche Wort, das der Lippe entflieht, verweht wie Spreu vor der mächtigen Sprache, welche die Seelen mit einander reden. Vielleicht wird auch in Ihrer Erinnerung zuweilen die Einsame auftauchen. Aber Ihre schöne Aufgabe, für Großes zu leben und zu wirken, unsterbliche Thaten zu vollbringen, wird Sie über diese Episode in Ihrem Herzensleben hinausheben.“ Leiser fuhr sie fort, und ihre Lippen zuckten, als sträubten sie sich gegen die Worte: „Ein echtes deutsches Weib mit warmem Herzen und demüthigem Sinne werden Sie finden und an ihrer Seite mich vergessen.“

„Fällt mir nicht ein,“ rief er ganz wild und stieß den Säbel auf, daß es klirrte. „Ich möchte auch wissen, warum. Ich habe freilich neulich in der Hitze des Gefechtes lose Reden über Ihre Vorfahren geführt. Das war sehr unrecht; denn wenn die meinen die Grenzen des Vaterlandes schützten, so erweiterten die Ihrigen den geistigen Horizont unseres Volkes, und der Kukuk mag entscheiden, wer mehr geleistet hat. Und über die weltenweite Entfernung zwischen unseren Anschauungen haben Ihre schönen Worte [752] gestern eine Brücke geschlagen, der ich mich getrost anvertraue zur letzten Attake auf Ihr Herz.“ Er streckte die Arme nach ihr aus.

„Gönnen Sie mir Zeit,“ bat Ereme verwirrt; aber es leuchtete ein Lächeln in ihrem Antlitz auf wie Sonnenschein, der aus düsteren Wolken bricht.

„Nein,“ entgegnete er wieder mit dem alten sorglosen Lachen; „da könnten wir altersschwach werden, wenn ich Ihnen Zeit ließe, sich zu besinnen, ob Sie glücklich sein wollen oder nicht. Donnerwetter, Ereme,“ fuhr er ungestüm fort, „siehst Du denn nicht ein, daß wir wie närrisch in einander verliebt sind? Zum Teufel mit Deinen Bedenken! Jetzt wird nicht Halt, sondern ‚Fanfaro‘ commandirt.“

Sie wollte antworten, da versagte ihr die Stimme, sie wollte die Augen aufschlagen, da sah sie durch einen Thränenschleier, sie wollte einen Schritt ihm entgegen thun, da lag sie in seinen Armen.

Die Tante drückte die Thür leise zu, an der sie gelauscht hatte, und sagte zu dem sie gespannt anschauenden Dienstpersonal: „Was Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden.“


Anmerkungen (Wikisource)