Zum Inhalt springen

Federzeichnungen vom Congreß

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Georg Horn
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Federzeichnungen vom Congreß
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 29, S. 476–479
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[476]
Federzeichnung vom Congreß.[1]

Paris hat seine Ausstellung von Rohproducten, von Kunst- und Industriegegenständen, Berlin seine Ausstellung von europäischen Staatsmännern. Dort ist das dem Mars, das heißt den Uebungen des Krieges gewidmete Feld zum Terrain des Friedens geworden. Wird hier, auf dem friedlichen Terrain in der Wilhelmsstraße der blutige Krieg da unten im Südosten Europas sich erneuern? Das ist die Frage, mit welcher Deutschland, Europa, ja die Welt auf jene beiden Genien blicken, welche im Giebelfelde des neuen Reichskanzlergebäudes über dem Wappen des deutschen Reiches die Palmen des Friedens halten. Hoch über ihnen flattert die deutsche Fahne, das schwarz eingefaßte Kreuz mit weißem Grunde, in seiner Mitte der schwarze preußische Adler auf rundem Schilde, in der Ecke links oben am Flaggenstab drei Streifen: oben schwarz, dann weiß und roth, und auf allen drei Streifen ein kleines eisernes Kreuz. Das ist die deutsche Staatsflagge. Der Ostwind hebt sie in die Lüfte, und was die Gedanken der hier unter diesem Banner versammelten Männer bewegt, kam auch aus Osten – die orientalische Frage.

Noch ehe auf unsern Kaiser Wilhelm die Mordwaffe des ersten Attentats gezückt war, hatte er seinen Thronerben, den Kronprinzen, nach England geschickt; dort sollte dieser im Interesse des Friedens bei der Königin, seiner Schwiegermutter, und deren leitendem Minister thätig sein. Dann empfing der Kaiser in Berlin die Abgesandten, die Kaiser Alexander zu wiederholten Malen nach Berlin geschickt hatte, und vermittelte durch sie nach St. Petersburg hin bei seinem Neffen im nämlichen Sinne, wie er in England vermitteln ließ. Gleichzeitig suchte er Oesterreich von unbedachten Schritten zurückzuhalten. Sein Kanzler, als politischer Pfadfinder so oft und so glänzend bewährt, stand ihm bei diesem Friedenswerke hülfreich und fördernd zur Seite. Und so nahmen denn sämmtliche europäische Mächte den Vorschlag des deutschen Kaisers, sich in Berlin am 13. Juni 1878 zu einem Congresse zu versammeln, um hier die schwebenden Fragen zu discutiren und ihre Streitigkeiten zu begleichen, dankbar und einstimmig an. Als die Bevollmächtigten der großen europäischen Cabinete in Berlin eintrafen, konnte sie der Kaiser nicht empfangen, konnte nicht durch die milde Macht seiner Persönlichkeit das Werk fördern, das er mit so hohem innerem Eifer begonnen. Die Unthat eines Ruchlosen hatte die Hand gelähmt, welche für Europa zu diesem Friedenswerke so dringend nöthig war!

Fürst Bismarck inspicirt den Congreßsaal.
Originalzeichnung von H. Lüders.

Von seinem Krankenlager aus sah er seine Gala-Equipagen vorüberfahren, welche die Bevollmächtigten zu Hofe brachten, wo der Kronprinz sie als sein Stellvertreter empfing. In feierlichem Schritte, als wollten sie die Gewichtigkeit ihrer Insassen andeuten, fuhren die dunkelbraunen, reich mit Silber verzierten, im Innern mit weißer Seide ausgeschlagenen Gala-Equipagen in den Hof des königlichen Schlosses ein. Hoch vom dunkelroth-sammtnen, mit dem massiv-silbernen preußischen Wappen, mit Quasten und Schnüren geschmückten Sitze lenkte der Hofkutscher in seiner dunkeln, über und über mit silbernen Wappengalons bedeckten Livrée die edlen Braunen, deren Mähnen mit rothseidenen Schnüren eingeflochten waren, und deren Geschirre vom hellsten Silberglanze den Schein der Junisonne widerspiegelten. Auf dem Trittbrette standen zwei Lakaien in der großen Livrée und rosaseidenen Strümpfen, auf dem Kopfe jene schwarzsammtne, den Jockeymützen ähnliche Kopfbedeckung tragend, das Zeichen der höchsten Gala.

Der Erste, der in dieser Weise auffuhr, war der Bevollmächtigte der französischen Republik, der Minister der auswärtigen Angelegenheiten William Henry Waddington. Auf dem Rücksitze saß der Vice-Oberceremonienmeister von Roeder, [477] dessen Amt es ist, die Gesandten bei Hofe einzuführen. Wenn nicht Fürst Bismarck, in seiner Beantwortung der Interpellation im Reichstage über seine auswärtige Politik, die Eigenschaft eines ehrlichen Maklers sich selbst zugeeignet hätte, so hätte man sie wohl diesem französischen Sohne eines englischen Vaters zutheilen können. Einem Manne mit diesem frischen Gesichte und so hellen Augen voll offenen Ausdruckes, mit dem graublonden Cotelettenbarte begegnet man zu jeder Stunde in der City von London oder auf dem Jungfernstieg in Hamburg. Wenn der Mann nicht die breiten Stufen in dem monumentalen Baue der Wendeltreppe des Berliner Kaiserschlosses hinaufstiege, wenn er nicht über der dunkeln, goldgestickten Uniform das breite amarantrothe, gewässerte Band des belgischen Leopoldordens trüge, würde man den Ort seiner Thätigkeit eher in einem Kaufmannscomptoir als im Ministerhôtel am Quai d’Orsay in Paris suchen. Plaudernd und ab und zu einen Blick nach der vornehmen Pracht der großen Treppe werfend, ging der Minister des großen Nachbarstaates die Stufen hinan, bis zur zweiten Etage des Schlosses, wo die Empfangsgemächer und Festräume liegen.

St. Vallier und Waddington vor dem französischem Botschaftshôtel.
Originalzeichnung von H. Lüders.

Man kann wohl, ohne paradox zu erscheinen, eine Charakteristik der Menschen nach der Art und Weise geben, wie sie die Treppen hinansteigen – in solchem Augenblicke namentlich. Wie ganz anders geschah das von dem Träger der englischen Politik ! Der alte Benjamin Earl Beaconsfield erschien hier wie ein Schauspieler auf der Scene; man sah es diesem feierlich-bedächtigen Gange der hagern Mittelgestalt an, daß er das beabsichtigte, was man „eine Miene aufsetzen“ nennt. An gewissen Bewegungen ließ der englische Premier erkennen, daß seine Art der Bewegung eine andere ist, wenn er den weiten Paletot und die zimmtbraunen Beinkleider trägt, als hier, wo er in der dunkeln, übrigens sehr bescheiden mit Gold geflickten englischen Ministeruniform erschien. Er machte vor allen übrigen Bevollmächtigten eine Ausnahme dadurch, daß er kein Ordensband trug; auch sein englischer College nicht, der Minister der auswärtigen Angelegenheiten Marquis von Salisbury. Er ging hinter dem Premier wie ein Famulus hinter seinem Meister. Salisbury mag ungefähr dreiundvierzig Jahre alt sein; sein ganzes Aussehen hat etwas Akademisches, und wäre er unser Landsmann, so würden wir hinzufügen: etwas Doctrinär-Nationalliberales. Eine zähe Energie drückt sich in dem Gesichte des Premiers aus, dieselbe, die Shylock auf seinen Schein bestehen läßt, und dieser Schein

Auf dem Gartenbalcon des Reichskanzlerpalais: Beaconsfield, Gortschakoff, Bismarck, Andrassy.
Originalzeichnung von H. Lüders.

[478] ist die Politik Englands, der hier auf dem Congresse Geltung verschafft werden sollte. Man hätte denken sollen, der Romanschriftsteller Disraeli würde hier in dem Schlosse des preußischen Königshauses von so Manchem interessirt, was ihm neu und eigenthümlich erscheinen möchte. Aber der Mann vertrat hier die Politik des Inselreiches und hatte sich, wie man aus Allem sah, vorgenommen, nicht rechts noch links zu sehen, sondern nur auf sein Ziel loszusteuern. Man fühlte aus Allem heraus, daß er den Eintritt in dieses Schloß wie ein Recht betrachtete. Sein Nachfolger dagegen, der italienische Minister des Auswärtigen, Graf Corti, schien die Ermächtigung, den Fuß auf das Parquet des Schlosses zu Berlin zu setzen, wie eine Gunst – eine Artigkeit anzusehen, die man ihm erwies. Der kleine Mann mit der etwas plattgedrückten Nase und den zwei großen Bändern um die Schultern konnte eine gewisse Verlegenheit über den feierlichen Apparat, mit dem er hier empfangen wurde, nicht verbergen. Er deutete in seinem ganzen Behaben die zweite Rolle an, die er auf dem Congresse spielen würde, wie man Disraeli die erste anmerkte.

Voll erregten Interesses dagegen an Allem, was sich hier in der Erscheinung des Schlosses ihm darbot, betrat Graf Andrassy den stolzen Königsbau. Er sprang wie ein Bräutigam, der zur Trauung fährt, aus dem Wagen. Seine Miene war heiter belebt, und das Selbstbewußtsein des österreichisch-ungarischen dirigirenden Ministers verewigte sich mit der nationalen graziösen Lebendigkeit. Er war die glänzendste Erscheinung von Allen, die da vorhin in die Gemächer eingetreten waren. Zu dem gebräunten, vom schwarzen Bart umsäumten Gesichte stand vortrefflich die rothe und goldene Husarenuniform, der weiße mit goldenen Schnüre besetzte Dolman und unter diesem das orangene Band des schwarzen Adlerordens über dem rothen Attila. So erschien er als ein Repräsentant der zur Action auf eigene Faust drängenden Politik, zu der seine Landsleute ihn fortreißen wollten, während der neben ihm erschienene zweite Bevollmächtigte, Baron Haymerle, in seiner unscheinbaren, fast farblosen Persönlichkeit, in seinem leisen, vorsichtigen Auftreten der Ausdruck der Haltung war, welche Oesterreich-Ungarn, in die Mitte zwischen England und Rußland gestellt, vorwärts gedrängt durch die Nothwendigkeit eigener Bestimmung und durch die deutsche Politik in Zügel gehalten, den an seinen Grenze tobenden Kämpfen gegenüber in der Wirklichkeit eingenommen hat.

Wer den Nestor der europäischen Politik noch vor mehreren Jahre in Waidbad und Baden-Baden sah, der mußte an diesem Juninachmittage den Fürsten Alexander Michaelowitsch Gortschakoff sehr verändert finden. Wie frisch war da noch sein Aussehen, wie elastisch waren seine Bewegungen, wie heiter glänzten diese kleinen dunklen Augen unter der goldene Brille hervor, wenn sie einen Ruhepunkt in einer schönen Frauengestalt gefunden hatten, wenn ihm zarte jugendliche Lippen Complimente über sein Aussehen machten! Und nun saß er, ein müder, kranker Mann, wie zusammengekauert in der Ecke des Wagens, und trüb und glanzlos starrten die Augen hinaus über den leeren Schloßplatz. Aus seiner Wohnung in St. Petersburg, aus jenem gewaltigen Gebäude der Reichskanzlei, dem Winterpalais gegenüber, hatte man ihn krank in den Eisenbahnwaggon gebracht und krank kam er in Berlin an, um hier die Sache Rußlands und seines Kaisers zu führen, an welcher er vom Beginn an geistig keinen Theil hatte und auch wenig Freude. Für die Ersteigung der Stufe reichte seine Kraft nicht aus. Der Wagen fuhr an der Stelle vor, wo ein Aufzug in die zweite Etage des Schlosses geht, und dieser übernahm die Weiterbeförderung. Um so flinker war Gortschakoff’s junger College und Adlatus, vielleicht auch später sein Nachfolger, Graf Andreas Schuwalow. Er nahm zwei Stufen auf einmal, um dem Fürsten nachzukommen. Obwohl bereits in der Mitte der Fünfziger stehend, hat sich der Generaladjutant und Botschafter in London, der persönliche Freund seines Souverains, in den Bewegungen seiner eleganten Gestalt die Elasticität der Jugend erhalten. Die kleidsame Uniform der russischen Generaladjutanten, die er trug, der kurze, dunkelgrüne Waffenrock mit den Auszeichnungen in Gold, darüber das gelbe, weißgeränderte Band des rothen Adlerordens, hob die Frische jener zweiten Jugend, die sich der früher so mächtige Chef der bekannten „dritten Abtheilung“ der Sicherheitspolizei des ganzen russischen Reiches trotz seines grauen Haares und grauen Schnurrbartes erhalten hat. Die vorhergegangenen Bevollmächtigten waren mehr ober minder Fremdlinge in dem Königshause: Graf Schuwalow erschien hier, als ob er zu Hause wäre. Er kam wie ein alter Hausfreud, der eines freundlichen Empfanges gewiß ist, und den Russen ward auch der längste Empfang zu Theil.

Die türkischen Bevollmächtigten kamen erst zwei Tage später, „durch widrige Winde verschlagen“. Karatheodory Bey, einer griechische Familie aus dem Phanar entstammend, welcher der Leib der Sultane zum Curire anvertraut war, und der Magdeburger Mehemed Ali Pascha gaben in ihrem Aeußeren gerade nicht das Bild von Persönlichkeiten ab, denen das Unglück ihres Vaterlandes am Herzen genagt hatte. Sie zeigten sich darin als echte Orientalen, die das Geschick in seiner ganzen Unerbittlichkeit mit fatalistischer Ruhe hinnahmen. „Die Türken sind darum die vornehmsten Leute,“ pflegte der alte Graf Prokesch zu sagen, und die Wahrheit des Gesagten erwies sich auch in dem Behaben dieser Abgesandten.

Oben an der Treppe wurden die Vertreter der Großmächte vom Grafen Perponcher, als dem Marschall des Palastes, empfangen, weiter vom Ober-Haus- und Hofmarschall, Grafen Pückler. Im Vorzimmer standen die General- und Flügeladjutanten, der Adjutant des Kronprinzen, und dann führte Graf Stillfried, in seiner Eigenschaft als Einführer der Botschafter, die Bevollmächagten in einen Saal, der im alten Theile des Schlosses liegt und mit rothsammtnen goldgestickten alten Turiner Tapete bekleidet ist. Hier stand der Kronprinz in Stellvertretung seines kaiserlichen Vaters und nahm die Anrede der Bevollmächtigten in französischer Sprache entgegen, die auch während der Debatten des Congresses gebraucht wird. Es war gewissermaßen, trotz der entfalteten Pracht, ein Privatempfang, und darum war auch Fürst Bismarck, wie das sonst dem Minister der Auswärtigen Angelegenheiten zukam, nicht zugegen.

Der große Empfang sämmtlicher Bevollmächtigter mit dem ganzen Generalstabe, den sie mitgebracht hatte, erfolgte erst am anderen Tage im Rittersaale des königlichen Schlosses vor dem Galadiner, welches ihnen zu Ehre der Kaiser gab. Hier war der Fürst-Reichskanzler an seinem Platze. Man mußte sich aus dieser Hünengestalt, die zwar die bekannte Kürassieruniform trug, aber an Leibesumfang bedeutend zugenommen hatte, auf diesem mit einem schneeweißen Vollbart umrahmten Gesichte die historische Bismarck-Erscheinung erst heraussuchen, so sehr hatte sich das Aeußere des Fürsten verändert. Jede Spur von Krankheit aber war verschwunden; der Fürst schien an körperlicher Frische zugenommen zu haben und zeigte im Verkehr mit den ministerpräsidentlichen Collegen seine ganze Liebenswürdigkeit; er hatte an diesem Tage, wie die Franzosen sagen, la bouche d’or. Man hatte bei dieser Gelegenheit allen Glanz des Hofes herausgekehrt. Am Fuße der Wendeltreppe stand eine Ehrencompagnie; die Garde du Corps und die Krongarde gaben in den Sälen die Wache; das große neue Silberzeug des königlichen Hauses war aufgestellt; die Nationalfarben der verschiedenen Großmächte waren durch natürliche Blumen in großen silbernen Schalen hergestellt. Aber es wollte in der ganzen großen Gesellschaft, die da unter den Krystallkronleuchtern des Weißen Saales in goldgestickten Uniformen und Ordenssternen saß, keine rechte festliche Stimmung Platz greifen. Der Gedanke an den Kaiser war in allen Gemüthern lebendig. Man hatte ihn an der Seite der Kaiserin so oft in diesem Saale sitzen sehen im ganzen Glanze seiner Würde, in der Weihe seines begnadigten Greisenalters. Der Platz, den er sonst einzunehmen pflegte, war durch sein lebensgroßes Bild ausgefüllt, aber auch ohne dieses wäre er Allen im Geiste gegenwärtig gewesen, und Jeder empfand einen Theil der Schmerzen, die er in seinem einsamen Krankenzimmer litt – der Kronprinz und die Kronprinzessin voran. Die Großherzogin von Baden zeigte unverkennbar, daß sie lieber zu Hause geblieben wäre. Den Kindern schwebte gegenüber diesem Kaiserbilde die gebrochene Kaisergestalt vor, die sie noch vor einer Stunde gesehen hatten, und als vom Orchester die Töne der Musik erklangen, sah man es der Tochter an, wie dieselben den Schmerz der Seele lösten und wie ihre Augen sich mit Thränen füllten.

Eine Macht war noch in diesem Saale vertreten, von der [479] bisher nicht die Rede gewesen, und die auch keine officielle Einladung zum Congresse erhalten hatte. Ich meine nicht Griechenland in seinem Ministerpräsidenten, nicht die Minister Rumäniens, Serbiens und Montenegros, die das Schauspiel von Leuten abgeben, welche vor einer geschlossenen Thür stehen und durch das Schlüsselloch um Einlaß rufen. Nein – die Großmacht, von der ich spreche, tritt stolzer und bewußter auf. Es waren Abgesandte der öffentlichen Meinung Europas, die Vertreter der europäischen Presse. Was wären die Diplomaten unserer Tage, was die Politik ohne die Oeffentlichkeit! Es war aus allen Richtungen der Windrose die leicht mit Feder oder Crayon gewappnete Schaar gekommen, die mit jenen heiligen vierundzwanzig Zeichen des Alphabets wie Puck einen Zauberkreis um den ganzen Erdkreis zieht und unseren Antipoden auf der anderen Hemisphäre verkündet, was zwölf Stunden vorher, während sie in süßem Schlaf begraben waren, Bismarck oder Beaconsfield, Gortschakoff oder Andrassy in der Wilhelmsstraße gesprochen, vorgeschlagen, discutirt haben über die schwebenden Fragen – Alles bis auf das, was die Regierer Europas am Büffet genossen haben. Das Büffet darf in unserer Zeit bei einer derartigen Verhandlung nie fehlen. Alle Details, bis auf die Prisen, die Einer aus der Dose des Anderen genommen hat, und wie oft sie geniest haben – das Publicum will das Alles wissen, wie das Große so das Kleine; es will den Wein wie das Gefäß kennen. Vom Hofe kam man diesen nicht-officiellen Vertretern in der ehrendsten Weise entgegen. Ein Hofbeamter in Uniform führte die Herren in höherem Auftrag die große Wendeltreppe hinan, durch sämmtliche Festsäle des Schlosses, und geleitete sie auf ihre Plätze, von denen sie die volle Uebersicht über die Festlichkeit des Hofes hatten und über manchen Collegen, der durch die schwarze Kunst des Schreibens und Druckens da unten auf die vornehmen Plätze gerückt war.

Da ist in der Wilhelmstraße, dicht neben dem Hause, in dem der Fürst-Reichskanzler bisher gewohnt hatte, und gegenüber dem alten Johanniterhause, jetzigem Palais des Prinzen Karl, ein großes, vornehmes Gebäude gelegen, mit einem zurückliegenden, zwei Etagen hohen Mittelbau. Von diesem springen zwei einstöckige Seitenflügel auf, die einen Vorhof bilden, der nach der Straße zu durch ein eisernes Gitter abgeschlossen ist. Es ist ein Palais, wie man deren im vorigen Jahrhundert baute, im Raum sich breit auslegend, prunklos und darum so aristokratisch. Von der anderen Seite stößt an dieses Haus ein prächtiger Park mit Jahrhunderte alten Bäumen, wie man ihn mitten in Berlin nimmer suchen würde. Fast ein Säculum lang war dieses Haus im Besitz der fürstlichen Familie von Radziwill. Bis zum Tode der beiden Brüder Boguslaw und Wilhelm wohnten deren beide, zahlreiche Familien einträchtig beisammen und führten gemeinsame Wirthschaft, bis das Haus vor wenigen Jahren um den Preis von sechs Millionen Mark in den Besitz des deutschen Reiches überging, um zur Wohnung des Reichskanzlers eingerichtet zu werden. In der Mitte des Corps de logis markirt sich ein pavillonartiger Ausbau, drei hohe Fenster zwischen vier Pilastern, die von einem Giebelfelde mit dem Wappen des deutschen Reiches gekrönt werden.

Das ist der Saal, in welchem das deutsche Reich den europäischen Staaten Hausrecht angeboten und eingeräumt hat. Hier finden die Sitzungen an einem in Hufeisenform aufgestellten Tische statt. Die Mitte desselben nimmt der Fürst-Reichskanzler als Vorsitzender des Congresses ein, an ihn reihen sich rechts und links die Bevollmächtigten der europäischen Großmächte, die Türkei mit eingeschlossen.

Zu den schon genannten Bevollmächtigten kommen für das deutsche Reich der deutsche Botschafter in Paris Fürst von Hohenlohe-Schillingsfürst und der Staatsminister von Bülow, für Oesterreich – die Staaten folgen nach dem französischen Alphabet – der österreichisch-ungarische Botschafter in Berlin Graf von Carolyi, für Frankreich der französische Botschafter in Berlin Graf St. Vallier, für Großbritannien der englische Botschafter in Berlin Lord Odo Russell, für Italien der italienische Botschafter in Berlin Graf Launey, für Rußland der russische Botschafter in Berlin Graf von Oubril, für die Türkei der türkische Botschafter in Berlin Saadoullah Bey. Die beiden Enden des Tisches nehmen die beiden Secretäre, der älteste Sohn des Reichskanzlers Graf Herbert Bismarck und Graf Muy von der französischen Botschaft, ein; sie führen das Protokoll in französischer Sprache. Außer diesen nehmen an den Sitzungen noch Theil der deutsche Gesandte von Athen Herr von Radowitz und als Vorstand des Bureaus Geheimer Legationsrath Dr. Bucher.

Dieser Verein auserlesener geistiger Kräfte befindet sich gegenwärtig in voller Arbeit, um die Festsetzungen des Vertrags von San Stefano zu discutiren, die russischen Ansprüche zu mäßigen und England wie Rußland die Möglichkeit zu geben, mit Ehre abzurüsten, dabei den Bestand der Türkei zu erhalten, für Oesterreich die Besetzung von Bosnien und der Herzegowina in Erwägung zu ziehen und ebenso die Forderungen Rumäniens, Serbiens und Montenegros zu prüfen. Die Sitzungen finden von zwei zu zwei Tagen statt, gewöhnlich in den Nachmittagsstunden von zwei Uhr ab bis vier oder viereinhalb Uhr. Bei der ersten Sitzung waren die Bevollmächtigten in Uniform, bei den nachfolgenden erschienen sie im einfachen Civilanzuge.

Vor Beginn der Sitzung und während derselben belebt ein zahlreiches Publicum die Zugänge zu dem Reichskanzlerpalais, das heißt soweit das die Schutzleute erlauben. Mit Interesse folgt es den einzelnen der am Congreß theilnehmenden Bevollmächtigten; mit leicht erklärlicher Neugierde gehen die Blicke hinüber nach den Fenstern, wo niedergelassene gestickte Vorhänge die Geheimnisse der Verhandlungen verhüllen, und mit Sehnsucht richten sich, wie gesagt, Wünsche aufwärts, daß die im Giebelfelde zu beiden Seiten des Reichswappens schwebenden Genien mit den Friedenspalmen ihre friedenverheißende Bedeutung erfüllen möchten.

Georg Horn.
  1. Bei dem Interesse, welches die Berliner Conferenz in allen Kreisen der internationalen Leserwelt erweckt hat, dürfte obiger Artikel, dessen Abdruck durch die zeitraubende Herstellung unseres Blattes leider verzögert wurde, auch nach dem muthmaßlich inzwischen erfolgten Schluß jener Diplomatenversammlung unseren Lesern nicht unwillkommen sein.
    D. Red.