Fern der Welt
„Du wirst Dich sehr einsam fühlen! Dreißig Jahre zu früh, Günther!“
„Sage lieber, wenn auch nicht dreißig, doch ein halbes Dutzend Jahre zu spät, Gebhard.“
Der Freund lachte. „Dann wärst Du gleich vom Studenten Einsiedler geworden, ganz recht! Indessen, wenn Du es so nimmst, wäre auch das schon zu spät gewesen. Du hättest, noch ehe Du die wilde und freie Universität bezogst, in den Jahren süßer Kindlichkeit schon, wo möglich ohne erst in Berührung mit den verderbten Sprößlingen moderner Civilisation, welche die Schulbänke füllen, zu kommen, diese wald- und sumpfumgürtete Eremitage aufsuchen sollen. Freilich hättest Du dann das Glück meiner Bekanntschaft entbehrt, indessen ein Freund der Neuzeit ist ein sehr zweifelhaftes und zweideutiges Wesen; jene hohen, edlen Menschen aus Jean Paul’s Zeit sind ausgestorben und ihre Reste nur noch als Fossilien anzutreffen – Du hättest an mir auch nichts verloren. Daß ich Dich hier aufgespürt habe, geschah weniger aus idealer Freundschaft, als aus brennender Neugier und vielleicht auch aus Malice gegen eine gewisse Abneigung –“
„Halt, Gebhard!“ unterbrach ihn Günther. „Was Du sagen willst, erspare uns. Ueber mich kannst Du Deinen vollen Humor ausgießen, aber – Du weißt, was ich nicht dulden kann.“
„Es fällt mir auch gar nicht ein, Deine loyale Treue erschüttern zu wollen. – Wahrhaftig, Günther,“ fuhr er, plötzlich den Ton wechselnd, fort, „Du verkennst mich, wenn Du glaubst, ich könnte Dein kindliches Gefühl verletzen wollen. Ich denke. Du mußt mir das Zeugniß geben, daß ich über dies auch mir heilige Verhältniß nie gespottet habe.“
„Aber Du sagtest doch eben selbst, aus Malice gegen eine gewisse Abneigung – auf wen konnte ich das anders beziehen –?“
„Als auf die Dame, welche dort kommt?“ ergänzte Gebhard. Günther sah sich schnell um und hörte kaum noch des Freundes flüchtige Worte: „Wähnst Du, das sei die einzige Abneigung in der Welt, mit welcher ich unseliger Erdenpilger zu kämpfen hätte?“
Ohne diese Aeußerung, die ihn doch einigermaßen befriedigte, zu beantworten, eilte er der schönen Frau entgegen, welche in der geraden Kirschallee des Gartens daher geschritten kam. Gebhard konnte nicht anders, sein Blick aber flog dem Freunde voraus.
Es war in der That eine schöne Frau, die er heute, wie bekannt sie ihm auch war, zum ersten Male sah. Das einfache Morgenkleid ohne allen übrigen Ballast der Mode, das sie trug, hob die Vorzüge ihrer edlen Gestalt vortheilhaft in’s Licht, ein leichtes Häubchen, schneeweiß, mit wenig Band, umschloß ihr Gesicht von zarten Farben, über dessen Stirn ein schmaler, gescheitelter Streif ihres dunkeln Haares erschien. Ihr Auge – Gebhard fühlte seinen Blitz – traf schon aus der Ferne den Fremden, den sie zu ihrer Ueberraschung erblickte.
„Ist das möglich?“ sagte sich Gebhard. „So habe ich sie mir nicht gedacht! Das ist ja wahrhaft ein Märchen, ein Zauber von ewiger Jugend! Man hat sie mir wohl geschildert, aber wie matt und falsch!“
„Wer ist das, Günther?“ fragte die Dame rasch und leise, als sie von dem Nahenden, doch nicht von dem Gaste, gehört werden konnte.
„Gebhard Hallstein – er hat mich aufgesucht – er wünscht Dir vorgestellt zu werden.“
Bei der Nennung des Namens zuckte es ein wenig um den Mund der Dame – Günthers scharfem Blicke, der gewohnt war, in ihren Mienen zu lesen, konnte es nicht entgehen. Aber sie sagte nichts, sondern faßte Gebhard nur fester in das Auge, als er, seinen Schritt um etwas beschleunigend, näher kam. Er grüßte sie ehrerbietig, als Günther ihn vorstellte; er bat um Entschuldigung, daß er dem Drange, seinen Freund wiederzusehen, nachdem er einmal Nachricht von ihm erhalten, nicht habe widerstehen können. Sie antwortete leicht und höflich, wie es der gute Ton nur verlangen kann; ihre Miene war freundlich und lächelnd, ihre Stimme klang durchaus angenehm, aber Gebhard konnte sich doch dabei eines Gefühls nicht erwehren, das er im zeitigen Frühling in den lombardischen Seethälern gehabt, wo er durch die lauen wohlthuenden Lüfte doch zuweilen hindurchwehend einen kältenden Hauch von dem ewigen Schnee und Eis der Alpen gefühlt hatte.
„Sie hat ein Vorurtheil gegen mich!“ dachte er. „Sie muß es haben. Aber sie soll sich dessen noch schämen – das gelobe ich mir.“
Als sie auf den einfachen Bänken, welche vor der Thüre des Hauses unter drei jungen, unlängst gepflanzten Bäumen standen, Platz genommen hatten und ein leichtes Gespräch von wenig Inhalt durch die Dame in Gang gebracht war, fand Gebhard Gelegenheit, seine Beobachtungen fortzusetzen. Er verglich seinen Freund mit der schönen Frau, welche neben ihm saß – wenn er die Verhältnisse nicht gekannt hätte und sie ihm als Günther’s Gemahlin genannt worden wäre: wahrlich, er würde nicht viel dagegen einzuwenden gehabt haben. Zwar hatte sie die erste Jugendblüthe – das sah er nun [258] wohl in der Nähe und in der unerbittlich klaren Morgenbeleuchtung – vielleicht schon seit einiger Zeit hinter sich, aber wenn er Günthers Gesicht mit den ernsten, scharf geschnittenen Zügen betrachtete, in denen keine Spur eines jugendlichen Ausdrucks mehr war, so konnte er kein Mißverhältniß in jener Annahme finden. Aber sie war seine Mutter! Nicht seine Stiefmutter, sondern seine rechte und wahre Mutter! Wie alt mußte sie danach sein? Günther, das wußte er genau, hatte sein siebenundzwanzigstes Lebensjahr kürzlich zurückgelegt; wenn die Mutter auch in frühester Jugend, angenommen wie eine Südländerin mit vierzehn Jahren, sich vermählt hatte, so mußte sie heute doch in den Vierzigen sein und wer sie sah, der hielt sie wenigstens für zehn Jahre jünger, während man ihrem Sohne wohl ebensoviel mehr gegeben hätte. War Frau von Aßberg denn unvergänglich, wie Ninon de l’Enclos?
Er sah ein feines Lächeln um ihren Mund spielen, er bemerkte des Freundes verwunderten Blick – zum Bewußtsein kam es ihm plötzlich, daß er, von seinen Gedanken mächtig befangen, eine Frage nicht recht beachtet oder falsch beantwortet habe, welche die Dame an ihn gerichtet, und er erröthete. Mit Unwillen und Staunen fühlte er, daß er, was ihm seit Jahren nicht mehr geschehen war, wie ein blöder Knabe erröthete, und dies Gefühl gab ihm, gleich einem elektrischen Schlage, seine Kraft zurück, aber es reizte ihn zugleich und machte ihn böse.
„Ich bitte um Verzeihung, gnädige Frau,“ sagte er. „Ich war zerstreut. Ein Gedanke, der mich plötzlich überfiel, wie ein Lämmergeier, trug mir den Geist fort. Ich habe darum nicht recht gehört, was Sie mich fragten, und bitte für meine gewiß alberne Antwort um Nachsicht.“
„Sie war im Gegentheil nur zu treffend, Graf Hallstein,“ erwiderte Frau von Aßberg und das Lächeln um ihren Mund kämpfte, dem guten Tone zum Trotz, um sein besseres Recht, sich in ein helles Lachen zu verwandeln. „Aber Sie gebrauchen ein schreckliches Bild – und es freut mich, daß Ihr Geist sich den Fängen des Unholdes gleich so kräftig entrungen hat. Hoffentlich hat Ihre jetzige Umgebung denselben nicht herbeigelockt?“
„Ich mußte – warum, weiß ich nicht – an meinen ältesten Bruder denken, gnädige Frau,“ erwiderte HMstein und richtete sein Auge fest auf die scherzende Dame. „Sie haben ihn gekannt und entschuldigen mich nun wohl.“
Ihr Lächeln schien einen Moment zerrinnen zu wollen, aber sie bannte es auf ihren Lippen, nur nahm es jetzt einen anderen Charakter an.
„Sein Sie nicht unwahr, Graf Hallstein,“ sagte sie sanft. „Wenn Sie wissen, daß ich Ihren Bruder gekannt habe, so wissen Sie auch, warum Sie an ihn denken mußten, und ich finde es ganz natürlich, daß Sie von diesem Gedanken befangen mir eine Antwort gaben, die ich – jetzt erst verstehe. – Es ist nicht gut, Graf Hallstein,“ setzte sie hinzu, als sie seinen betroffen fragenden Blick bemerkte, „Verhältnisse, welche zwischen denen, die sie berühren, weder geheim, noch unklar geblieben sind, mit Anspielungen zu behandeln; müssen sie besprochen werden, dann offen und ehrlich.“
„Gnädige Frau,“ versetzte er, zu seiner eigenen Erbitterung ziemlich fassungslos, „dieser Vorwurf, diese – Belehrung –“ er stockte, denn er fühlte mit Schrecken, daß ihm mit einem solchen Worte der Empfindlichkeit der feste Boden seines gesellschaftlichen Taktes unter den Füßen wich. Hatte er denn so lange Jahre das Parket der Salons umsonst getreten?
„Eine ältere Frau,“ erwiderte Frau von Aßberg mit einem milden und schonenden Lächeln, indem sie ihm ihre schöne Hand reichte, „eine ältere Frau, die Freundin Ihres verewigten Bruders, hat wohl Anlaß, Sie um ein offenes Wort zu bitten, wenn Sie es auf dem Herzen haben. Mein Sohn kennt alle Verhältnisse, wie Sie wahrscheinlich schon wissen, wir können also ganz offen sprechen.“
„Aber, gnädige Frau,“ rief der Graf, „was habe ich denn wahrlich ohne es selbst zu wissen – gesagt, welchen Ausdruck denn in voller Geistesabwesenheit gebraucht, daß ich in Verdacht komme, Sie durch versteckte Anspielungen verletzen zu wollen? Günther, ich fordere Dich auf, mir es zu sagen, denn ich gebe Dir mein Wort, daß ich keine Ahnung davon habe.“
„Wenn das der Fall ist,“ sagte Frau von Aßberg rasch für ihren Sohn, „so bedarf es keiner weiteren Rede! Sie haben absichtslos ein Wort gesagt, das nur zufällig eine Bedeutung, die wir erst hineingelegt, haben konnte. Es war dann freilich, als Sie aussprachen, welcher Gedanke Sie von unserm Gespräch abgezogen hatte, von unserer Seite erklärlich, daß wir eine Absicht zu finden glaubten. – Mißverständnisse, sagt Shakespeare, kommen daher, daß man sich nicht versteht,“ setzte sie heiter, mit einer Rückkehr zum leichten Tone hinzu, „und so wollen wir denn nicht weiter davon sprechen, ja ich wünsche ausdrücklich, lieber Günther, daß Du Deinen Freund nun auch in der Neugier, was er denn Hochgefährliches gesagt, nicht befriedigst – mag es eine kleine Strafe für Sie sein, Graf Gebhard, daß Sie eine Dame, die mit Ihnen spricht, so beschämend ignoriren.“
Sie begleitete diese Worte mit einem so freundlichen Blicke, daß Gebhard vor der siegreichen Gewalt ihres schwarzen Auges kein Wort mehr fand und er nicht umhin konnte, die Hand, welche ihm vorhin gereicht worden war, noch einmal zu ergreifen und zu küssen.
Der Frosthauch, den er in den ersten Momenten ihres Gesprächs zu fühlen geglaubt, schien von dem warmen und erquickenden Wehen der Freundlichkeit völlig überwunden zu sein.
Erst nach einiger Zeit, als Frau von Aßberg sich entfernt hatte, um ihrem Hauswesen und auch wohl ihrer Toilette gerecht zu werden, kehrte dem Grafen eine ruhigere Besonnenheit zurück, und wie es in seinem Charakter lag, zugleich eine Reaction gegen das Gefühl, dem er sich hingegeben hatte.
„Sie ist doch eine herzlose Coquette – wie sie gegen meinen armen Bruder gewesen ist!“ klang es in ihm. „Und so glaube ich auch nicht, wenn ich ihr, wie sie von jeher fürchten mag, den Sohn auf Abwege führe, daß es auf sie einen tiefern Eindruck machen würde. Es mag nur die Sorge sein, daß ihre souveraine Herrschaft über ihn durch Oppositionsgelüste, die ich ihm einflößen konnte, zu erschüttern wäre, welche mir eine verwundbare Seite an ihr zeigt. Soll ich sie benutzen?“
„Du schweigst, Gebhard, und siehst mit einem ironischen Lächeln vor Dich nieder?“ begann Günther nach einer Weile, in welcher er den Freund, der stumm neben ihm saß, beobachtet hatte.
„Ironisch? Du hast verlernt, meine Gedanken zu errathen, wie Du Dich sonst rühmtest! Ich lächle eher wehmüthig, und zwar über mich selbst, der wie ein Schiffbrüchiger auf einer Klippe sitzt und die Trümmer seines schönen Bootes treiben sieht. Ohne Bilder gesprochen – es war der dümmste Streich meiner letzten Jahre, daß ich hierher gekommen bin.“
„Gebhard!“ rief Aßberg verletzt.
„Was wollte ich hier? Dich wiedersehen, der doch mit Absicht auch vor mir seine Spur verwischt hat? Mich mit eigenen Augen überzeugen, wie Du lebst, nachdem Du Dich ganz des eigenen Willens begeben hast? Dich vielleicht aufreizen gegen eine Autorität, welche ich wenigstens in dieser Ausdehnung nicht begreifen konnte, im glücklichen Falle Dich vielleicht im Triumphe, wie ein Adler ein geraubtes Kind, entführen, aber nicht um Dich zu tödten, sondern Dich wieder auf die Sonnenhöhen des Lebens zu stellen, wo Dein Platz und Dein Pfad ist, Günther – sieh, das waren so ungefähr meine Gedanken, als es mir gelang, Deine Solitüde zu erfahren. Und ich muß jetzt bei nüchterner realer Betrachtung gestehen, daß es sehr dumm war. Denn Du wirst Dich doch nicht mehr losreißen, Du wirst Dich keineswegs, auch nur in der geringfügigsten Kleinigkeit, wie zum Exempel, daß Du mir nicht sagen sollst, welches ungeschickte Wort ich vorhin im Traume gesprochen habe, gegen den Wunsch und Willen Deiner Mama auflehnen und ich fühle, daß ich selbst Gefahr laufe, –“ hier unterbrach er seine Rede plötzlich, die gegen seinen Willen wahrer Ernst geworden, doch vor dem Blicke des Freundes, der vorwurfsvoll auf ihm ruhte, sich verhärtend, fuhr er gleich fort: „Gefahr laufe, wollte ich sagen, wie auf einer bezauberten Insel auch meiner Freiheit beraubt zu werden. Ich helfe Dir gar nichts und schade mir selbst. Gestehe, daß ich Recht habe, mit meiner Entdeckungsreise sehr unzufrieden zu sein.“
„Gestehe Du mir lieber,“ entgegnete Aßberg, „daß es Dir leid thut, meiner Mutter weh gethan zu haben, und daß Du, wie gewöhnlich, wenn Du weich bist, Dich hinter eine Maske birgst.“
„Wenn ich deiner Mutter weh gethan habe, sie hat es mir auch und meiner armen Mutter noch mehr!“ sagte Hallstein, von des Freundes Aeußerung vielleicht gereizt.
„Ich weiß Alles,“ erwiderte Günther sanft. „Meine Mutter hat mir, seit ich gereifter bin, kein Geheimniß mehr aus diesen traurigen Verhältnissen gemacht. Darum weiß ich aber auch, daß sie kein Vorwurf trifft. Sie fühlt sich rein von aller Schuld, denn [259] sie hat die unselige Leidenschaft Deines Bruders, die sich zu ihr, der verheiratheten Frau, verirrte, nie aufgemuntert, im Gegentheil Alles gethan, um sie abzuschrecken, bis zur Unfreundlichkeit und absichtlicher Annahme von äußern Dingen, die einem Manne von seinem Gefühle nicht gefallen können.“
„O ja, das hat sie gethan und ich will sie nicht verdächtigen, wie es nahe liegt, daß sie ein herzloses Spiel getrieben habe, um sich an dem ohnmächtigen Ankämpfen der Leidenschaft gegen alle Hindernisse, selbst gegen äußere Fehler der Geliebten, zu ergötzen. Ich will das nicht thun, aber die Thatsache liegt nackt und klar da, daß Alles nur dazu gedient hat, diese Leidenschaft zu steigern, bis zu dem Ende, das sie genommen hat. Mein Bruder ist nun todt und meine Mutter ist auch todt, Deine Mutter aber blüht in unvergänglicher Schönheit und kann mit Waldemar’s Bruder scherzen!“
„Daß sie das kann, Gebhard,“ erwiderte Günther, „muß Dir beweisen, wie rein und lauter sie sich fühlt. Seit jener traurigen Zeit sind zwanzig Jahre vergangen, und wenn Dir von den Deinigen so rückhaltlos die Wahrheit, – die ganze, volle Wahrheit, Gebhard! – gesagt worden ist, wie mir, so mußt Du meine Mutter achten, mußt es anerkennen, daß sie Dir hell und freundlich in das Auge sehen kann.“
„Was meinst Du?“ fuhr Hallstein auf. „Die ganze, volle Wahrheit? Weiß ich sie etwa nicht?“
„Auch in Bezug auf die Versuchung, die meiner Mutter, jung und harmlos, wie sie war, genaht ist, die Versuchung, ihr Eheband zu lösen, das ihr ein Leben in Dürftigkeit und Entsagung, an der Seite eines Greises, dem sie die Hand nur aus Pflichtgefühl für den Willen ihres Vaters gereicht, bereitete, während ihr dafür – verkenne mich nicht, Gebhard, wenn ich Dir jetzt Alles sage, was meine Mutter nur mir, nach langen Jahren, erst in dieser Abgeschiedenheit vertraut hat! Ich sage es Dir nur, um meine Mutter, welche Du verkennst, in Deinen Augen leuchtend zu rechtfertigen!“
„Sprich!“ bat Gebhard mit bebender Stimme.
„Du hast Deinen Bruder Waldemar wohl nicht gekannt, wie er einst war, in Fülle seiner männlichen Schönheit und Geistesgaben! Dir schwebt sein Bild nur vor, wie Du, der so viel jünger ist, ihn in seinen letzten verdüsterten Jahren gesehen hast –“
„Was will Du damit sagen?“ rief Gebhard. „Hab ich ihn auch in seiner blühenden Jugend nicht gekannt, so weiß ich wohl davon und das Miniaturbild aus jener Zeit, das über dem Bett meiner Mutter hing und ihren letzten Blick empfangen hat, ist jetzt mein Eigenthum –“
„Nun wohl, Gebhard, so nimm von Deinem Freunde, als ein theures Vertrauen und verwahre in Deiner Brust, was ich Dir jetzt sage: Meine Mutter hat Waldemar geliebt!“
Aufzuckend ergriff Gebhard Günther’s Hand und seine Wange zeigte ein flüchtiges Erblassen, das aber schnell einer jäh aufflammenden Gluth wich.
„Die ritterliche Erscheinung Deines Bruders, die zarte und tiefe Neigung, die er zu verhüllen und zu bekämpfen strebte, und die ihn dennoch mit verhängnißvoller Gewalt immer wieder in ihre Nähe zog – konnte meine Mutter gleichgültig dagegen bleiben? Sie war, noch ein halbes Kind, dem strengen alten Krieger verlobt worden, der ein Waffengefährte ihres Vaters gewesen war, sie hatte ihm, der bald kränklich wurde, zwar ihre volle und treue Sorge geweiht, aber – ihr Herz? Ich kann Dir nicht sagen, wie Alles gekommen ist, da ich natürlich nur flüchtige Andeutungen über dies zarte Geheimniß erhalten habe – ein Geheimniß, verstehe mich recht, auch für Deinen Bruder! Nie hat er errathen, was in dem Herzen meiner Mutter für ihn lebte –“
„Das weiß ich!“ versetzte Gebhard düster. „Der geringste Strahl von Hoffnung würde ihn uns erhalten haben. War es nicht grausam, der erlöschenden Fackel seines Lebens diese Wohlthat vorzuenthalten?“
„Gebhard! Eine Vertröstung auf den Tod des Gatten – ein Geständniß des Gefühls, das ein Unrecht war –“
Der Graf schwieg und blickte vor sich nieder; in seinen ausdrucksvollen Zügen malte sich eine Bewegung. Zwischen Beiden waltete eine minutenlange Stille und Günther hoffte das Gespräch, das ihm so peinlich war, ganz beendigt zu sehen. Aber Gebhard begann mit der ihm eigenen Consequenz, wo es galt, eine Sache bis zu ihren äußersten Spitzen zu verfolgen, von Neuem: „Die ganze volle Wahrheit hast Du mir versprochen. Wie konnte mir meine Mutter von dieser Versuchung sagen, wenn sie nur im eigenen Herzen vorgegangen und Jedermann, selbst Waldemar, ein nie geahntes Geheimniß geblieben ist?“
„Von dieser Versuchung rede ich nicht, ich meine die, welche ihr von außen genaht ist. Man sah wohl, daß sie nicht glücklich sein konnte – das muß der Sohn von seinem Vater sagen, Gebhard, aber ich bin es meiner Mutter schuldig. Der Vater war krank und hinfällig, und darum wohl herber, als er selbst wußte; das Vermögen, das er besessen hatte, war durch Unglücksfälle und Sorglosigkeit verloren gegangen – meine arme Mutter hatte ja damals von Geschäften keinen Begriff, sonst würde sie auch hier rathend und warnend eingegriffen haben, sie that nur treu ihre Pflicht als Hausfrau und Pflegerin des kranken Gatten und trug das Loos der Verarmung, die Verlassenheit, als die falschen Freunde sich zurückzogen, mit Ergebung. Da nahete sich ihr die Versuchung, von der ich sprach. Es wurde ihr die Möglichkeit eröffnet, ihr Eheband gelöst zu sehen, für den Gatten wurden ihr ein sorgenfreies Asyl, im Ueberflusse, bei aller Sorge für seine Gesundheit durch die Kunst berühmter Aerzte, in Aussicht gestellt – den Grund der Scheidung wähnte man auf die schonendste Weise gefunden, den Spruch selbst schon gewiß zu haben, zu der Zeit, wo es noch leicht war, das heilige Band nach Gefallen zu lösen.“
„Und wer hat diesen Antrag gemacht? Wen klagst Du hier gegen mich an?“ fragte Gebhard, indem er sein großes blaues Auge fest, beinahe drohend auf den Freund richtete.
„Ich habe kein Recht zur Anklage, wo ein Leben auf dem Spiele stand. Auch diese Andeutung wurde meiner Mutter nicht erspart. Welche Kämpfe sie nun bestanden, das weiß nur Gott, der in ihr Herz gesehen hat. Mein Vater wurde endlich, als Alles fruchtlos blieb, in das Spiel gezogen.“
„Das ist zu viel!“ rief Gebhard. „Du brandmarkst uns, um alle Schuld von dem einen Haupte zu nehmen.“
„Welches Wort, Gebhard! Wo ein theures Leben bedroht war, die Seelenangst, die nach einem Lichtschein in der Finsterniß blickt, mag es auch ein Irrlicht sein – o, ich verstehe und entschuldige Alles! Auch ist, das weiß ich, kein unedles Motiv bei meinem Vater benutzt worden, keine Verdächtigung etwa, man suchte im Gegentheil sein treues Weib so hoch in seinen Augen zu stellen, daß er selbst, von Achtung und Mitleid ergriffen, sich entschließen sollte, ihr ein besseres Loos durch einen raschen Entschluß zu bereiten. Aber ein Wort meiner Mutter genügte, um den Moment vorüberzuführen. Und so blieb sie bei ihrer Pflicht – was geschehen ist, fällt nicht auf ihr Haupt.“
Das war nun freilich zwanzig Jahre her und Gebhard fühlte keine Unzufriedenheit, als das Gespräch durch die Dazwischenkunft eines Dritten unterbrochen wurde. Es hatte eine Wendung genommen, welche ihm, der sonst so fest zu stehen wähnte, den Boden unter den Füßen unsicher machte; wozu sollte es also führen, die Vergangenheit von zwanzig Jahren wieder zurückzurufen? Die Aufschlüsse, die er soeben erhalten hatte, neu und unerwartet, wie sie waren, gaben ihm zu denken genug, und er hieß Günther’s Entschuldigung, als dieser durch einen kleinen dicken Mann abberufen wurde, sehr willkommen, denn er blieb sich nun eine Weile selbst überlassen, wo er Alles in seinem Geiste verarbeiten konnte.
Frau von Aßberg hatte also seinen Bruder Waldemar geliebt! Die junge bildschöne Frau, wie sie ihm, der sie bis heut nicht gesehen hatte, geschildert worden war, die Gattin eines alten kranken Mannes, der ihr Großvater hätte sein können, hatte ein freudloses Leben in Armuth und Sorgen dem Loose vorgezogen, das ihr an der Seite des Geliebten winkte, welcher ihr mit einer glühenden und starken Leidenschaft zugethan war und sie auf Händen getragen, auf Rosen gebettet haben würde, während sie von ihrem Gatten eine harte und unfreundliche Behandlung zu dulden hatte und nur Dornen auf ihrem verödeten Lebenspfade fand. Wie hoch stand ihm diese Frau jetzt und welches Unrecht hatte er ihr im Geiste abzubitten! Was aber mußte er von einer Andern denken, die ihm bis auf diesen Moment als das Bild jeder Frauentugend erschienen war! Konnte seine Mutter im Ernst der Frau, welche ihr Herz der Pflicht opferte, jene Versuchung bereitet haben, von welcher Günther gesprochen? Sie war damit gescheitert und Waldemar hatte sich, unheilbarer [260] Schwermuth verfallen, in die Einsamkeit einer entlegenen Besitzung zurückgezogen, wo er nach einigen Jahren gestorben war. Die Mutter hatte Alles aufgeboten, was in ihren Kräften stand, um ihn diesem abgeschiedenen Leben, das ihn seiner Leidenschaft zur wehrlosen Beute gab, zu entreißen – vergebens! Diese Leidenschaft, die sein Dasein allmählich untergrub, war stark genug, ihre Beute auch nach außen zu vertheidigen. Der Oberst von Aßberg, auf dessen Tod vielleicht – konnte Gebhard den Bruder darum verdammen? – Waldemar’s letzte Hoffnung gestanden hatte, war trotz seiner Hinfälligkeit, die ihn zuletzt hülflos wie ein Kind gemacht, erst drei Jahre nach Waldemar gestorben, und seine Wittwe, mit ihrem damals vierzehnjährigen Knaben, aus der kleinen Stadt, wo sie zuletzt gelebt hatte, fortgezogen – wohin, das hatte Gebhard’s Mutter, die ihrem Sohne später diese traurige Geschichte erzählt hatte, nicht erfahren, vielleicht auch gar nicht danach geforscht. Graf Gebhard war bedeutend jünger als sein Bruder, und zu jener Zeit fern von der Heimath, in einer berühmten Erziehungsanstalt gewesen, hatte auch, als er erwachsen war, lange Zeit nichts von Allem erfahren, bis er auf der Universität mit Günther von Aßberg zusammengetroffen und bald innig befreundet worden war. Da erst hatte es seine Mutter für passend erachtet, ihn mit dem Schicksale seines Bruders bekannt zu machen, um durch ihn zu erfahren, wo Frau von Aßberg jetzt lebe und welcher glückliche Wechsel in ihren äußern Verhältnissen jetzt eingetreten sei, daß ihr Sohn in augenscheinlich guter Lage eine der kostspieligsten Hochschulen Deutschlands besuchen und dort unter die reicheren Musensöhne gezählt werden konnte.
Gebhard hatte mit einer leicht erklärbaren Aufregung seinen Freund, nachdem die Ferien vorüber, in denen er bei seiner Mutter jene Mittheilungen erhalten hatte, gleich über dieselben befragt, anfangs aber keinen nähern Aufschluß erhalten, weil Günther von der Vergangenheit nichts wußte. Ein Brief an Frau von Aßberg, welchen der Sohn über eine so zarte Angelegenheit nicht in eine gerade Frage kleiden konnte, war ohne den gehofften Erfolg für Gebhard geblieben; sie hatte auf die Wünsche ihres Sohnes, von ihrer früheren Bekanntschaft mit der Familie seines Freundes etwas zu erfahren, nur mit einer Vertröstung auf das nächste Wiedersehen geantwortet, wo sie ihm lieber mündlich erzählen wolle, was er zu wissen wünsche, doch werde ihr das vielleicht schon durch seinen Freund, der offenbar um die früheren Beziehungen zu wissen scheine, erspart werden; sie selbst, schloß die Stelle, halte eine Besprechung derselben für sehr überflüssig, habe jedoch keinen Grund, sie zu verweigern. Gebhard wußte jedoch von seiner Mutter nichts weiter, als daß sein ältester Bruder Waldemar sich sehr für Frau von Aßberg interessirt und vielleicht gehofft habe, einst, wenn sie durch den Tod von ihrem kranken Manne befreit werde, ihre Hand zu erhalten; ob er von ihr in dieser Hoffnung bestärkt worden sei, hatte die Gräfin unklar gelassen, sein Dahinsterben aber mit düstern Farben geschildert und manche bittere Bemerkung daran geknüpft. Da er nun durch Günther auch, nachdem dieser bei nächster Gelegenheit Rücksprache mit seiner Mutter genommen hatte, nicht viel mehr erfuhr, als was die Thatsache bestätigte und die herben Anspielungen der Gräfin Hallstein wenigstens nicht ganz zu entkräften geeignet war, so hatte sich in ihm über die Frau, welche mit seinem Bruder ein herzloses Spiel getrieben hatte, eine Ansicht festgestellt, die erst jetzt durch die Eröffnungen Günther's erschüttert werden war. Günther hatte aber selbst erst vor wenigen Wochen, erst hier in der Abgeschlossenheit, in welcher er mit seiner Mutter lebte, ihr volles Vertrauen über die traurige Vergangenheit und damit auch Kenntniß von der gefährlichen Versuchung gewonnen, welche ihr die Gräfin Hallstein, um ihren Lieblingssohn, den sie vergehen sah, zu retten, bereitet hatte, eine Versuchung, gefährlich nur, weil sie in ein Bündniß mit dem eigenen Herzen der armen jungen Frau trat.
So war in jener Zeit akademischer Freundschaft durch gegenseitiges Uebereinkommen das Verhängniß, das Gebhard’s Bruder einem frühen Tode geweiht hatte, nicht mehr berührt worden, und die Gräfin Hallstein hatte nur über ihre Nebenfrage nach den günstigern Vermögensverhältnissen der Frau von Aßberg Auskunft erhalten, daß nämlich eine Erbschaft, nicht ihr, sondern ihrem Sohne zugefallen sei, die ihn nicht nur wohlhabend, sondern in jeder Beziehung unabhängig gemacht habe. Sie hatte dann nicht für gut befunden, Gebhard weiter in die Bestrebungen einzuweihen, die sie fruchtlos sogar bei dem alten Obersten von Aßberg angestellt hatte, und war, nachdem ihr Sohn bereits einer Gesandtschaft im Auslande als Cavalier beigegeben war, auf einer Reise in Italien gestorben.
Gebhard, der mit Günther auch in spätern Verhältnissen immer in brieflicher Verbindung blieb, hatte von diesem bei Gelegenheit der Kunde von dem Todesfall, die er ihm mittheilte, die erste Verletzung ihres früheren Abkommens erfahren, indem Günther in seinem Mitgefühl für die Betrübniß des Freundes geäußert hatte: „möchte die Verklärte meiner Mutter das Leid vergeben haben, welches sie ihr ohne ihr Verschulden zugefügt hat!“
Als sie sich darauf einmal wiedergesehen hatten, und zwar in Wien, wo Günther den Grafen besuchte, der nun als Legationssecretair bei der dortigen Gesandtschaft seines Hofes angestellt war, da hatte allerdings auch Gebhard die alte Zeit noch einmal berührt, und gefragt, ob seine Mutter vielleicht seitdem davon gesprochen habe. Das war aber nicht der Fall gewesen. Seitdem hatten sich die Freunde mehrere Jahre nicht mehr getroffen: Graf Hallstein war durch eine Mission bei der Pforte längere Zeit fern von Deutschland gehalten worden und Aßberg unterdessen auch auf Reisen gewesen. Ihre Correspondenz hatte dadurch eine gänzliche Unterbrechung erfahren und als der Graf heimgekehrt war, um in dem Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten eine Stelle zu übernehmen, war es ihm erst nach längerer Bemühung gelungen, von Günther, der keine Verbindungen gerade mit Hallstein’s Bekannten hatte, einige Nachrichten zu ermitteln.
Durch Damen, welche der Diplomat immer mit großem Vortheil für seine Zwecke zu interessiren weiß, hatte er endlich die rechte Auskunft erlangt; sie lautete, daß der arme Herr von Aßberg gänzlich unter der absoluten Herrschaft seiner Mutter stehe, die ihn von der „Gesellschaft“, in der er doch in jeder Hinsicht berechtigt sei, eine Rolle zu spielen, fern halte und so weit gebracht habe, daß er sich in einer von aller Verbindung mit der cultivirten Welt abgeschnittenen Gegend ein Gut gekauft habe, um dort ganz ihrem Willen zu leben. Sie selbst, welche wohl ihre Ursachen haben müsse, die Kreise, zu welchen sie durch ihre Geburt gehöre, zu vermeiden, solle in jeder Beziehung eine widerwärtige Frau sein, die schon durch ihre äußere bäuerische Erscheinung von guten Häusern ausgeschlossen werden müsse, und wahrscheinlich auch sonst irgend eine schwere Verschuldung trage, von welcher jedoch Niemand etwas Bestimmtes anzugeben wisse.
[273] Auf diese Nachrichten hin hatte es Graf Hallstein unternommen, seinen Freund, ohne sich anzumelden, in seiner Abgeschiedenheit zu überfallen und sich mit eigenen Augen zu überzeugen, ob die Frau, deren geheime Schuld er zu kennen glaubte, wirklich dem Bilde gleiche, das man ihm von ihr entworfen hatte, das aber zugleich ganz unbegreiflich machte, wie Frau von Aßberg einst das Herz seines Bruders mit so dämonischer Gewalt habe fesseln können. Er hatte sie nun gesehen und Alles, was er soeben über jene verhängnißvolle Zeit vernommen hatte, beschäftigte seinen Geist, während er allein vor der Thüre unter den drei jungen Linden saß, mit unablässigen Gedanken, wie sich das Schicksal der ihm Nahegestandenen anders gefügt haben würde, wenn Oberst Aßberg früher gestorben und seine Wittwe dem Zuge ihres Herzens gefolgt wäre, dann lebte sein Bruder gewiß noch und Günther hätte sich, wie er den edlen Waldemar gekannt, nicht über den Stiefvater zu beklagen gehabt, der seine Mutter glücklich gemacht hätte. Jetzt aber – noch hatte Gebhard nicht zu ergründen vermocht, wie weit sich die Herrschaft der Frau von Aßberg über ihren Sohn, von welcher ihm eine wahrhaft beängstigende Schilderung gemacht worden war, erstreckte, doch glaubte er daran; ihr ganzes Wesen, selbst gegen ihn, den Mann von dreißig Jahren und einer Stellung in der Welt, hatte ihn überzeugt, daß es nicht leicht sei, einen Widerspruch gegen ihre Wünsche durchzusetzen. Und diese Macht, wie er auch bekennen mußte, bestand nicht in einer nur entfernt an die ihm entworfene falsche Schilderung streifenden, äußern Entschiedenheit des Auftretens, sondern mehr in einer feinen Unnahbarkeit, in der sieghaften Gewalt ihres schönen Auges. –
Es ruhte in diesem Moment auf ihm, er mußte aufblicken und sah in diesem Moment Frau von Aßberg, welche, ein Körbchen am Arm, wiederum den Gang aus dem Garten daher geschritten kam, wo er sie kurz zuvor, als er mit seinem Freunde nach seiner Ankunft kaum einige Worte gewechselt, zum ersten Male gesehen hatte. Damals hatte sein Auge mit Vorurtheil mehr kritisch, als wohlwollend ihr entgegen geschaut, er hatte sie, befangen von den Mittheilungen, die er früher und jetzt über sie erhalten hatte, gemustert, halb entschlossen, ihr als Feind entgegenzutreten – wenn auch nicht, der Diplomat hielt es für gerechtfertigt, mit offenem Visir; er hatte gemeint, es sei keine schlechte Vergeltung, wenn er ihr auch den Sohn raube, den er zu seinem eigenen Heil einem freiern und würdigern Loose zuführen wolle, als im Mannesalter unter entnervender Botmäßigkeit einer Frau zu stehen. Aber dieser Gedanke war nicht aufgekommen und sein Vorurtheil schon erschüttert worden durch ihren äußern Anblick, welcher gleich die boshafte Schilderung desselben Lügen strafte. Jetzt aber konnte er sie nicht einmal mehr mit der weltmännischen Ruhe kommen sehen, die ihn doch sonst über alle „Emotionen“ zu stellen pflegte.
Frau von Aßberg hatte aus der Kirschallee in einen Nebenpfad biegen wollen, zu einer weitern Partie des Gartens, wo die Fenster eines Gewächshauses blitzten, als sie aber den Gast allein vor der Thüre sitzend erblickte, gab sie ihr Vorhaben auf und kam zu ihm her: er stand rasch auf und ging ihr entgegen. Auch jetzt musterte er sie und waffnete sich absichtlich mit scharfem Blick für die Mängel, die er an ihrer Erscheinung suchte. O, sie war nur von Weitem noch jugendlich, weil sie eine elegante Haltung, einen schnellen und leichten Gang hatte, wie konnte er die Spuren der Jahre auf ihrem wenn noch so gut conservirten Gesicht übersehen!
„Sind Sie allein, Graf Hallstein? Was müssen Sie von uns denken?“
„Daß Sie mich als einen Freund des Hauses betrachten, gnädige Frau, und darum keine Störung durch mich eintreten lassen. Günther – ich darf ihn doch auch gegen Sie so nennen? – wurde durch einen kleinen, starken Herrn abgerufen, und ich rüstete mich eben zu einer Promenade, die nähern Umgebungen des Schlosses kennen zu lernen.“
„Des Schlosses!“ wiederholte Frau von Aßberg lächelnd, indem sie mit einer anmuthigen Handbewegung auf das Wohnhaus deutete. Es war nur einstöckig, mit einem unschönen, giebelartigen Mittelbau, der ein paar Oberstuben enthielt, gelb angestrichen, und machte dem Geschmacke des früheren Erbauers wenig Ehre. „Mein Sohn hat aber wirklich die Absicht,“ fuhr die Dame fort, „noch in diesem Sommer den Bau eines Schlosses zu beginnen, an einer andern Stelle natürlich, da wir sonst obdachlos wären. Er hat sehr schöne Risse dazu gezeichnet, denn Sie wissen wohl, daß er mit Vorliebe architektonische Zeichnungen entwirft. Vielleicht rathen Sie ihm, damit er unter seinen verschiedenen Plänen den besten wählt.“
„Ich habe darin wenig Urtheil, und würde vielleicht sehr unpraktisch rathen. Gewiß hat auch wohl Günther schon Ihre Entscheidung gesucht.“ Er sagte das leicht hin, aber mit voller Absicht, es war der erste Schritt, den er auf das unsichere Terrain, das er untersuchen wollte, that, und er fühlte Kopf und Herz in diesem Momente ganz kalt. Sein Auge ruhte sogar prüfend auf ihren Zügen und forschte nach den schärfern Linien, welche die Zeit doch unbestritten um Kinn und Mund gezogen haben mußte.
„Meine Entscheidung, Graf Gebhard?“ erwiderte Frau von [274] Aßberg harmlos. „O ja, wenn es die Anlage des Gartens betrifft, welcher noch darauf wartet, wie Sie sehen, oder die Einrichtung des Hauses für Blattpflanzen und Blumen dort“ – sie zeigte nach den blitzenden Fenstern desselben – „da sucht mein Sohn meine Entscheidung, wie Sie sagen. Denn ich liebe die Blumen und bilde mir ein, von ihrer Pflege etwas zu verstehen. Aber für Bauwerke, ich meine deren praktische Seite, habe ich kein Verständniß; ich kann wohl sagen, ob es mir gefällt, kann auch, wenn ich mich recht anstrenge, den Baustyl unterscheiden, den mir einige schöne Gebäude aus alter und neuer Zeit, die ich gesehen habe, anschaulich gemacht, und –“ setzte sie lächelnd hinzu – „ich kann auch ein wenig tadeln, aber rathen, wo Günther gewiß zehn verschiedene und wenigstens nach meinem Geschmack ganz hübsche Entwürfe gezeichnet hat, das geht über meine Kräfte. Ich wünsche nur, daß es behaglich zum Wohnen sein möge, und das kann ich dem Plane nicht ansehen.“
„Wir wollen eine gemeinschaftliche Sitzung als Baucommission darüber halten,“ sagte der Graf. „Sie haben also fest beschlossen, hier immer zu wohnen? Ich hoffte, Günther werde sich in unserer Nähe ankaufen und nicht ganz mit der Gesellschaft brechen, die er sonst, ich weiß es, nicht ungern suchte. Aber er hat mir gesagt, daß er vollkommen zufrieden sei, und so kann ich nichts einwenden.“
Sein Auge hatte bei der gleichmülhig gesprochenen Rede auf Frau von Aßberg ganz in der unabweisbaren Manier geruht, die er sich zu eigen gemacht hatte. Auf einmal erröthete Frau von Aßberg, eine leichte Purpurfarbe wallte in ihrem Gesichte auf und dunkelte schnell zur tiefen Gluth: die Vierzigjährige erröthete, wie ein junges Mädchen vor dem Blicke des Weltmannes; wenigstens legte er sich die überraschende Erscheinung so aus. Sie aber begegnete jetzt mit ihrem dunkeln, frei aufgeschlagenen Auge dem seinigen, und ein seltsames Gefühl der Befangenheit überkam ihn bei diesem leuchtenden Strahl.
„Wollen Sie wahr gegen mich sein, Graf Hallstein?“ fragte Frau von Aßberg.
„Gnädige Frau!“
„Kommen Sie hierher in Frieden? –“
„Welche Absichten legen Sie meinem Hiersein unter, wenn Sie mir doch ein Recht auf Günther’s Freundschaft zuerkennen?“
„Es ist besser, wir sprechen uns aus,“ sagte Frau von Aßberg, mit dem leisen Beben ihrer Stimme kämpfend. „Sie sind hierher gekommen aus Freundschaft für meinen Günther, ich erkenne das an und weiß, daß Sie ihm theuer sind – aber Sie haben auch mich sehen wollen, der Sie nicht freundlich sein können. Ich meide gern jede Heimlichkeit, alles versteckte und verblümte Wesen – ja, Graf Gebhard, Sie haben Ursache, mir, obgleich ich die Mutter Ihres Freundes bin, mit Abneigung zu nahen, doch, wie ich keine Schuld trage –“ hier legte sie ihre schöne weiße Hand betheuernd auf die hochemporwallende Brust – „so nehme ich auch keinen Anstand, den Namen Ihres Bruders Waldemar vor Ihnen auszusprechen. Gott hat ihm Frieden geschenkt – lassen Sie uns denn auch Frieden schließen!“
Sie reichte ihm die Hand, der Strahl ihres Auges erlosch in den aufquellenden Thränen, welche ihre Wimper netzten. Gebhard nahm die Hand, die ihm nun heut zum zweiten Male geboten wurde, und sagte mit einer Bewegung, die seiner Stimme einen ihm selbst fremden Klang gab:
„Frieden mit uns Allen!“
Nach kurzem Schweigen hatte sich Frau von Aßberg gefaßt.
„Und lassen Sie mir auch meinen Günther!“ begann sie mit einem halb ernsten, halb scherzhaften Tone. „Ich täusche mich selten, leugnen Sie es mir also nicht, daß Sie Günther gern wieder entführen möchten.“
Sie sah ihn dabei so prüfend an, daß er nicht umhin konnte, zu gestehen, wie er bei der Reise durch die von aller Verbindung abgeschnittene Gegend und besonders durch den Gürtel von Wald und Bruchland, in welchem Berga gelegen sei, die Möglichkeit für Günther, hier zufrieden zu sein, bezweifelt habe, und daß es ihm, nun er die Ehre gehabt, Frau von Aßberg kennen zu lernen, auch für diese unbegreiflich scheine.
„Was mich betrifft,“ erwiderte sie lächelnd, „so sind Ihre Zweifel ganz unbegründet. Ich habe hier Alles, was ich mir wünsche, mir fehlt nichts –“
„Als Menschen!“ warf Hallstein rasch ein.
„Im Sinne der großen Welt, meinen Sie natürlich – diese fehlen hier allerdings: die sogenannte Nachbarschaft ist dürftig. Im Umkreise von sechs bis acht Meilen, und das ist bei hiesiger Landesart schon das Unerreichbare, finden sich überhaupt nicht viele Dörfer, weil Alles Wald und, wie Sie ganz richtig bemerkt haben, Bruchland ist; von diesen Dörfern sind nur wenige einst Herrensitze gewesen und jetzt, bis auf zwei, nicht mehr in adeligen Händen. Ich gebe Ihnen noch mehr zu. Die andern Besitzer der Rittergüter in unserer Gegend und ihre Familien, die wir alle kennen gelernt haben, sind ihrer Bildung und ihren Interessen nach für uns nicht zum Umgange geeignet, auch wir nicht für sie, wir würden ihnen nur herzlich störend sein. Die beiden adeligen Häuser, von denen ich sprach – ich sage es mit Bedauern – kämpfen nur noch mit letzter Kraft gegen die Ungunst der Zeit, und scheuen darum allen Umgang mit Andern, der ihnen ihre Lage nur noch drückender machen könnte. So haben Sie Recht: uns fehlen in Ihrem Sinne Menschen. Ich will Sie auch nicht mit philanthropischen Ideen über unsern Verkehr mit einer andern Classe von Gottesgeschöpfen, die Sie doch am Ende auch als Menschen ansehen müssen, langweilen. Ich sage Ihnen einfach: ich bedarf des sogenannten geselligen Umganges nicht, wenn ich meinen Sohn, meine Blumen und Bücher habe. Und damit Sie mich nicht egoistisch nennen und mir, wie ich Ihnen ansehe, den Vorwurf machen, daß ich Günther, um ihn ganz mein eigen zu haben, aus allen Verbindungen mit der Welt gerissen und hier in einer Art Gefangenschaft, gefesselt durch seine kindliche Liebe, halte, so muß ich Ihnen sagen, daß der Vorschlag, uns fern von den großen Städten niederzulassen, von ihm ausgegangen ist, daß er diese Gegend, die ich gar nicht gekannt habe, gewählt, Berga gekauft hat, ohne daß ich es zuvor je gesehen.“
„Dann muß er einen Grund haben, das Leben in Einsamkeit zu suchen!“ rief Hallstein.
Frau von Aßberg sah ihn einen Moment erwägend an und sagte dann ruhig: „Ja.“
„Wahrhaftig!“ rief Gebhard und des Freundes ernstes Gesicht, mit den scharf eingeschnittenen Zügen, deren Linien, seit er ihn nicht gesehen hatte, viel tiefer geworden waren, trat ihm lebendig vor die Seele, während er erwartungsvoll auf die Mutter blickte, welche Erklärung sie ihrem kurzen Worte geben werde.
Aber diese blieb aus. Frau von Aßberg fuhr fort:
„Ich bitte Sie darum herzlich, wenn Sie Günther lieb haben, so stören Sie den Frieden, den er gefunden hat, nicht, verleiden Sie ihm die Freistatt, die er schon lieb gewonnen hat, nicht durch eine Kritik derselben. Ich halte Sie bei dem Wahlspruch fest, den Sie selbst gegeben haben: Frieden mit uns Allen!“
Nach einer Stunde kam Günther mit dem kleinen, dicken Herrn zurück: es war der Verweser des Gerichtsamts aus der benachbarten kleinen Stadt, welcher zugleich Patrimonialrichter von Berga war und in Sachen der Justiz mit dem Gutsherrn eine Rücksprache genommen hatte. Er blieb zur Tafel und gab dem Grafen, dessen Lebenskreis ihn nie mit den Mittelclassen, am wenigsten kleiner Städte, in nähere Berührung gebracht hatte, Gelegenheit zu merkwürdigen Betrachtungen. Der Mann, mit dem er hier an einem Tische saß, erschien ihm zwar im Ganzen sehr lächerlich, weil er gegen die sociale Rangordnung, die ihm doch nicht im Entferntesten fühlbar gemacht wurde, durch ein seltsam gespreiztes, anmaßendes Wesen Protest einlegte, auch kam die ängstlich überwachte Form bei Tisch, die Handhabung von Messer und Gabel, Glas und Serviette, die mit jenem Indiebrustwerfen einen wunderlichen Contrast machte, dem Grafen wie eine komische Studie aus „Knigge“ oder „Alberti“ vor, aber er mußte doch bei mancher Aeußerung des Mannes scharfen und hellen Verstand und sein gesundes Urtheil anerkennen, und fand gegen Ende der Tafel sogar Geschmack an seiner Unterhaltung, als sie auf einen Boden kam, wo er auf festen Füßen stand, nämlich auf die zunehmende Demoralisation und die Mittel, ihr Einhalt zu thun. Hier zeigte der kleine Herr auch so viel Takt, gewisse Rücksichten gegen die vornehmem Schichten der Gesellschaft, die er vorher wenig geachtet hatte, nicht zu verletzen, und sprach sich nicht als bloßer Jünger der Themis, der nur mit dem Richtschwert bessern will, aus, sondern vielmehr mit solcher Humanität, daß ihm der Graf seine Achtung nicht versagen konnte.
[275] Aber es ist nun einmal der Fluch äußerer Lächerlichkeit, daß sie gute Eindrücke nur zu leicht wieder verwischt: hätte der gute Gerichtsverweser nur nicht gemeint, als Reiter imponiren zu können, so würde er das beste Andenken bei seinem neuen Bekannten, wie er den Grafen schon nannte, hinterlassen haben. Als er sich aber nach genossenem Kaffee empfahl, ein schweifklemmender, dicker Falber mit einer bunten Phantasie-Chabraque vorgeführt wurde, der kleine, starke Herr schulgerechten Tempos aufsaß, und nochmals die Mütze, an welcher jetzt ein Sturmriemen hing, im Halbkreise gegen die Zurückbleibenden schwenkend, im Galopp – leider über Kreuz angesprungen – vom Hofe ritt, da war bei der Frivolität einer Diplomatenlaune Alles vergessen, was diese Groteske vorher Würdiges und Achtungswerthes zu Tage gefördert, und selbst die wohlwollende Frau von Aßberg hatte sich des Lächelns nicht enthalten können. Der Gerichtsverweser lebte aber der festen Ueberzeugung, daß er seiner guten Bekanntschaft durch das Reiterstücklein die Krone aufgesetzt habe, und wußte des Abends in der Apotheke, wo die Honoratioren des kleinen Städtchens sich zu einer stehenden Partie Casco oder Deutsch-L’Hombre zusammenfanden, viel von „Hallstein,“ wie er nach Sitte seines Kreises den Grafen kurzweg und familiär nannte, zu erzählen und pries ihn als einen „charmanten Kerl.“
In Berga gedachte man seiner übrigens auch nicht mehr im Spott, sobald nur erst sein Hufschlag verhallt war. Günther rühmte ihn als einen rechtschaffenen[WS 1] und gegen die niederen Classen menschenfreundlichen Mann, was man, wie er behauptete, den Rechtspflegern nicht immer nachrühmen könne; Frau von Aßberg erzählte dazu einige Thatsachen und entschuldigte seine Schwäche, sich für einen guten Reiter zu halten, mit dem Mangel an Vorbildern in hiesiger Gegend, die ihn zur Selbsterkenntniß führen könnten. Der Graf richtete einen fragenden Blick auf seinen Freund. Dieser war einst der kühnste Sportsman gewesen; schon als Student hatte er Wagestücke zu Pferd gemacht, welche die ganze Stadt, besonders die weibliche Bevölkerung, in schaudernde Bewunderung gesetzt hatten. Sollte er auch dieser Neigung entsagt haben?
Günther ließ mit der Antwort nicht lange warten.
„Ich habe gar kein Reitpferd – mir geht es, wenn auch ohne Gelöbniß, wie Götz von Berlichingen, der kein Roß mehr besteigen und keine Nacht mehr außerhalb seiner Burg zubringen durfte.“
„Bravo!“ sagte Gebhard und forderte keine Erklärung mehr. Er fühlte sich in diesem Momente dem Freunde plötzlich so gänzlich fremd geworden, daß es ihm lächerlich vorkam, alte Beziehungen, an die nur er noch glaubte, wieder beleben zu wollen. Auch klang das Wort der Mutter, mit welchem sie ihr heutiges Gespräch beendigt hatte, von Neuem in seiner Seele und er kam sich wie ein Mephistopheles vor, der den kaum gewonnenen Frieden zu stören trachtete. Günther hatte Grund gehabt, das Leben in der Einsamkeit zu suchen und das: „Ja!“ seiner Mutter war nur zu bezeichnend, daß es ein gar schmerzlicher Grund gewesen sei. Sein „Bravo!“ dagegen – es klang so ironisch! Frau von Aßberg richtete ihr Auge auf ihn und er mußte diesem Blicke begegnen: welch’ eine Innigkeit rührender Bitte lag in ihm! Er verstand sie und rasch ihren Wunsch erfüllend, suchte er den Eindruck, den sein Ton offenbar auf den Freund gemacht hatte, zu entkräften.
„Was man will im Leben, muß man auch ganz durchführen!“ sagte er. „Du hast Deinen freien Entschluß gefaßt, willst hier im Sinne unserer Vorfahren, welche dem Lande erst deutsche Cultur gebracht, weiter wirken und nichts hierher verpflanzen, was Deinem jetzigen Schaffen fremd ist. Blutpferde, wie sie eigentlich nur Freude am Reiten gewähren – was sollten sie Dir hier? Und zu einem ehrlichen Landklepper hast Du Dich noch nicht entschließen können. Es wird aber kommen. Freund Günther, und ich sehe Dich schon auf einem cousin germain jenes Falben neben dem Herrn Gerichtsverweser dahin sprengen, der dann rapide Fortschritte in der Equitation machen wird. Du wolltest mir aber Deine Marken zeigen, so fahren wir wohl?“
Aßberg hatte bereits Befehl gegeben und ein leichter Wagen mit einer Gabel, in welcher nur ein Pferd, aber von edler Race ging, fuhr vor.
„Sieh, das verspricht schon etwas!“ sagte der Graf, indem er das tadellose, schön gebaute Thier musterte. „Du wirst hier die alten Heroenzeiten wieder heraufbeschwören. Homer’s Helden ritten auch nicht, sie fuhren. Wohlan, ich vertraue mich Dir an.“
Beide verabschiedeten sich von Frau von Aßberg und der Wagen rollte mit ihnen vom Hofe; kein Diener begleitete sie.
Im raschen Trabe fuhr Günther, nachdem er die beiden Steinpfeiler, welche den Eingang des nie verschlossen Thorweges bezeichneten, hinter sich hatte, längs der Hecke des Dorfes dahin, dessen ärmliche, mit Rohr gedeckte Hütten vereinzelt zwischen Bäumen und dichten Sträuchern liegen. Es war kein erfreuliches Bild, aber für einen starken Willen bot sich gewiß hier die reichste Gelegenheit, bessere Zustände zu schaffen. Denn auf der andern Seite, wo in strömender Ueppigkeit sich Weizenfelder mit dichten Halmen und schweren Fruchtähren ausstreckten, lag die Gewißheit, daß der Boden des Landes nicht schuld sei, wenn die Menschen in Armuth verkümmerten. Ein schmaler Weg, welchen Günther dann einschlug, führte die Freunde in vielen Krümmungen durch diese gesegneten Fluren zu einer sanft ansteigenden Lehne, wo die Fruchtbarkeit allmählich aufhörte; oben breitete sich sandiges Land weithin und ein dunkler Kiefernwald begrenzte die Aussicht.
Hier ließ Günther das edle Gestütpferd, das er zum Einspänner degradirt hatte, Schritt gehen und Gebhard erwartete, daß der Freund sich nun gegen ihn aussprechen werde. Er sah sich aber bald darin getäuscht, denn kein Wort, als nur über die Oertlichkeit und die Pläne, welche er für Verbesserungen und neue Anlagen hatte, kam über Günther’s Lippe. Zum ersten Male fand er ihn langweilig – wie hatte er sonst in seiner Geist und Witz sprühenden Unterhaltung die köstlichsten Stunden verlebt! Was war ihm denn geschehen, das ihn so ganz gebrochen, fast konnte man sagen, zerschmettert hatte? Auf der Seele brannte es Gebhard, ihn offen zu fragen, aber er hatte Frau von Aßberg gelobt, seinen wohl schwer errungenen Frieden zu ehren – und so ergab er sich und achtete kaum auf seine Worte, verlor sich vielmehr mit seinen eigenen Gedanken, welche von Neuem in immer engern Kreisen den Flug nahmen, von welchem er sie heute schon gewaltsam zurückgerufen hatte.
Sie waren unterdessen an den Wald gelangt.
„Noch immer Dein?“ fragte Hallstein zerstreut.
„Ich will Dir noch meine Pracht zeigen, nachdem wir lange durch trostlose Wüstenei gefahren sind.“
„Schöne Bauplätze, nicht wahr? Unschätzbar zu verwerthen, wenn nur Communicationen, Eisenbahnen, Canäle – wie?“
„Du schnellst einen Pfeil mit vergifteter Spitze, Gebhard – warum?“
Das klang wieder, wie ein Verständniß suchen, und Gebhard hätte es gern benutzt, aber er bezwang sich und gab nur seine beschämende Ignoranz in land- oder forstwirthschaftlichen Dingen als Grund der spottenden Neckerei an.
„Ich hoffe, Dich zu aufrichtiger Bewunderung zu bekehren,“ erwiderte Günther und das feurige Roß brauste nun, seiner Freiheit mehr überlassen, in schneller Gangart mit ihnen durch den Wald dahin. Dieser veränderte allmählich seinen Charakter. Zwischen die braunen, mächtigen Kiefern, welche allerdings Bauholz von unschätzbarem Werthe geliefert hätten, drängten sich einzelne junge Eichen ein, deren wurden mehr und immer ältere; die Kiefern verschwanden endlich ganz und ein Eichenwald nahm jetzt die Freunde auf, dessen ernste Pracht und Majestät den Grafen wirklich ganz übermannte. Er erinnerte sich nicht, je etwas Aehnliches gesehen zu haben, und gab seinem Staunen, seiner Bewunderung laute Worte.
Mitten im Forste gelangten sie zuletzt an einen Weiher von beträchtlichem Umfange. Die Riesenbäume, die ihre Wurzeln in seine Ufer geschlagen hatten, spiegelten sich in seiner unbewegten Fluth; ein goldner Glanz von der untergehenden Sonne füllte das niedere Gebüsch, das sich hier drängte mit zauberischen Lichtern. Es war eine Stätte von ganz eigenthümlicher und wunderbarer Schönheit, welche auf Jeden, der sie zum ersten Male sah, einen tiefen Eindruck machte; Hallstein war verstummt und ließ, während Günther am Rande des stillen Gewässers das Pferd anhielt, seine Blicke über dies geheimnißvoll abgeschlossene Waldgefild schweifen. Hier begriff er, wie dem Einsiedler die Abgeschiedenheit von der Welt ein wahres Genügen im Herzen geben kann, hier konnte er sich einen heiligen Hain altgermanischen Götterdienstes denken, ja die Naturverehrung der Urzeit, ehe sie hellenische Gestaltung in sinnlich schönen Formen gewonnen hatte. Sein Auge bemerkte endlich am jenseitigen Rande, zwischen den tiefhängenden Zweigen halb versteckt, den weißen Streif eines angefangenen Gemäuers, das sich jedoch bis jetzt nur wenig über den Grundstein erhoben zu haben schien. Günther ließ eben den Wagen wieder leise angehen – [276] auf Gebhard’s Lippen schwebte eine Frage nach dem begonnenen Gebäude, aber er sprach sie nicht aus. Ihm war so seltsam feierlich zu Muthe, wie er sich dessen kaum mehr aus langvergangenen Knabentagen erinnerte und bald genug – wieder schämte. Eine nüchterne Frage, was dort gebaut werde, ein Fischerhaus, ein Jagdschlößchen oder gar nur ein Eiskeller, erschien in diesem Momente gehobener Stimmung allzu elend: er schwieg und Beide fuhren wohl eine halbe Stunde stumm neben einander sitzend durch den Wald, in welchem die Dämmerung allmählich den unscheinbaren Weg fast unerkennbar machte.
„Wir haben uns wohl verirrt?“ fragte der Graf endlich, als er bemerkte, daß Aßberg mit gespannter Aufmerksamkett nach Wahrzeichen suchte, die er verloren zu haben schien.
„Auf meinem eigenen Grund und Boden – es wäre eine Schande,“ erwiderte Günther, mit einer gewaltsamen Rückkehr aus dem fremden Reich der Träume in die Wirklichkeit. „Aber ich stehe nicht dafür, denn ich kann den Grenzstein nicht finden, der nach meiner Meinung hier unter den beiden verwachsenen Eichen stehen müßte.“
„Ein habgieriger Nachbar hat ihn vielleicht in aller Stille verrückt,“ scherzte Gebhard.
Günther erwiderte nichts, sondern ließ das Pferd, das ohnehin unruhig geworden war und sich im Zwielicht vor jedem fremdartig blickenden Strauche scheute, im starken Trabe den immer breiter werdenden Weg verfolgen. Der Eichenwald hatte aufgehört, und die knorrigen Stämme der Kiefern gaben dem edeln Blute des Renners, wie sich Hallstein ausdrückte, noch mehr „Ombrage“ – da glaubte er auf einmal ferne Glockenklänge zu hören und ehe er noch Günther darauf aufmerksam machen konnte, sagte dieser lebhaft: „Das sind die Glocken von Allweide! Wie sind wir dahin gekommen?“
Nach kurzer Fahrt gelangten sie in das Freie. Aßberg hatte dem Freunde erklärt, daß Allweide eine Meile von Berga entfernt sei und einem Herrn von Nidau gehöre, der mit keinem Menschen Umgang hege und auch ihn, als er mit seiner Mutter einen nachbarlichen Besuch beabsichtigt, nicht angenommen habe; ein Gegenbesuch sei eben so wenig erfolgt, nur der Schäfer von Allweide habe einmal von seinem Herrn eine Art von Entschuldigung gebracht. Während dieser Erzählung fuhren sie am Rande des Waldes dahin, wo sich Günther nun leicht zurecht fand. Im Freien war es noch hell genug, wenn auch im Westen das Abendroth bereits im Erlöschen war. Drüben, wo die hohen spitzen Pappeln sich erkennen ließen, ging der Weg von Nidau nach Berga, es kam nur darauf an, dorthin zu gelangen. Quer durch das Korn zu fahren, wäre doch selbst dem rücksichtslosesten jungen Menschen bedenklich gewesen, es blieb daher nichts übrig, als sich dem Dorfe mehr und mehr zu nähern, wo die Glocke unter ihrem hölzernen freistehenden Thürmlein fort und fort gezogen wurde.
„Das kann doch kein Abendläuten mehr sein,“ bemerkte Günther. „Die Sonne ist ja längst untergegangen.“
„Mir klingt es eher wie ein Armsünderglöcklein,“ sagte der Graf. „Wahrhaft nervenangreifendes Bimmeln!“
„Dort steht ein Mensch am Baume,“ rief Günther. „Der wird uns Bescheid geben über den Weg und das Läuten.“
Im Zwielichte zeigte sich wirklich ein hagerer Mann, der auf einen langen Stab gelehnt unter einem Baume stand und beim Nahen des Wagens den Hut zog. Günther hielt vor ihm an.
„Guten Abend! Kann ich nicht von hier auf den Weg nach Berga kommen oder muß ich in das Dorf fahren?“
„Ich werde Sie einen Rain weisen, gnädiger Herr,“ antwortete der Mann, und auf Günther’s Frage, ob er ihn kenne, bejahte er dies und gab sich als den Schäfer zu erkennen. Kurz vorher war von ihm die Rede gewesen.
„Was bedeutet denn das Läuten?“ fragte Günther – eben verhallten die letzten Klänge.
„Ach, Du lieber Gott!“ erwiderte der Schäfer, und man hörte seiner Stimme an, daß er mit dem Weinen rang. „Unser armer gnädiger Herr ist zu Abende gestorben.“
„Wie?“ rief Aßberg betroffen. „So plötzlich? Oder war er länger krank?“
„Ich habe ihn nicht krank gesehen und kein Mensch nicht. Gefehlt muß ihm schon was haben und wenn er auf mich gehört hätte – aber er hörte auf keine Seele! Nun, gnädiger Herr, hier geht der Rain, Sie können nicht mehr fehlen; ich muß nach der Stadt zum Herrn Amtmann, der Herr Pastor meint, es muß sein.“
Günther hatte nur noch eine Frage.
„Wer ist bei der armen Tochter?“
„Der Herr Pastor – gute Nacht, gnädiger Herr.“
Damit blieb er stehen; Günther lenkte sein etwas widerstrebendes Pferd in den Feldrain, welcher sie nun gerade nach dem Bergaer Wege führte.
„So haben wir noch ein trauriges Erlebniß gehabt,“ sagte der Graf. „Wenn ich nicht irre, sprach Deine Mutter davon, daß die beiden adeligen Familien der Nachbarschaft keineswegs in glänzenden Umständen lebten – hinterläßt dieser Herr von Nidau nur die Tochter, von welcher Du sprachst?“
„Nur sie, und so viel ich weiß, ist sie noch sehr jung. Wer wird ihr mit Rath und That beistehen?“
„Gewiß hat sie Verwandte,“ erwiderte der Graf. „Vor der Hand steht ihr der Geistliche tröstend zur Seite und die Geschäfte wird unser Freund von heute Mittag ordnen, den Du ja einen rechtschaffenen und intelligenten Mann genannt hast. Er ist doch der Amtmann, zu welchem der Schäfer geschickt wird?“
„Sie nennen den Gerichtsverweser Hassel in der Gegend noch immer mit dem Titel, der unter der frühern Landeshoheit üblich war. Was er thun kann, wird er gewiß für das arme Mädchen thun, aber ich fürchte, daß nun der längst vermorschte Bau zusammenstürzen und die Unglückliche bitterer Noth Preis geben wird.“
Auf dem Heimwege, der nun in einer kleinen Stunde zurückgelegt wurde, sprachen sie noch viel über diese Angelegenheit, nur war Günther von den Verhältnissen zu wenig unterrichtet, um ein bestimmtes Urtheil zu haben. Frau von Aßberg erwartete sie unterdessen mit wachsender Sorge; sie war von ihrem Sohne kein unbestimmt verlängertes Ausbleiben gewohnt, er kehrte stets eher zurück, als er ihr vorher gesagt hatte, sie mußte daher, wenn heute nichts Besonderes vorgefallen war, die Schuld auf Hallstein schieben und seine Zusage, Günther’s Frieden nicht stören zu wollen, tröstete sie wenig, besonders, weil sie mit Bestimmtheit glaubte und auch hoffte, daß Günther endlich sein Herz gegen ihn erleichtern werde. Denn, wenn Günther sich aussprach, was war natürlicher, als daß der Freund von seinem Standpunkte aus ihn von Neuem verwirrte und zweifelhaft machte, ob er auch das bessere Theil erwählt habe? Aber, abgesehen von Allem, konnte Beiden auch ein Unfall begegnet sein! Sie war eine klare, ruhige Frau, die sich nicht so leicht unbestimmten Befürchtungen hingab, doch schien, seit Gebhard’s Eintritt in dies Haus, ein fremdartiger Tropfen in ihr Blut gefallen zu sein, der es erregter pulsiren ließ, als sonst. Durfte das Wunder nehmen, da er Waldemar’s Bruder war und ihm in Manchem so ähnlich? Sie fühlte sich erleichtert, als sie endlich, nachdem es schon ganz finster geworden, den Wagen auf den Hof rollen hörte, und eilte selbst vor die Thüre, wo sie des Sohnes Namen fragend den Ankommenden entgegen rief. Wie klang ihre Stimme so liebevoll und auch so jugendlich! Graf Hallstein hätte sie eher für die einer besorgten Braut, als der Mutter gehalten!
„Wir sind es, Mama!“ gab Günther zur Antwort und erklärte zugleich ihr längeres Ausbleiben.
Im Zimmer, wo bereits die Lampe brannte, war Gebhard überrascht, wie verändert Frau von Aßberg erschien, so daß er ihr im ersten Moment schuld gab, sie habe während ihrer Abwesenheit alle Geheimmittel aufgeboten, um die letzten Spuren der Jahre von ihrem Gesicht zu vertilgen. Er hatte in den Regionen der Höfe, welchen er angehört hatte, schon manches glänzende Beispiel von der Macht künstlicher Beleuchtung, verbunden mit großer Toilette, kennen gelernt, aber ohne die Hülfe der letzteren in dem Maße wie hier noch niemals. Er glaubte jetzt wirklich an die Möglichkeit ewiger Jugend, und die Gedanken, die schon heute früh in ihm lebendig geworden waren, erwachten von Neuem und hielten ihn fest, während Günther seiner Mutter die Nachricht von dem plötzlichen Tode des Herrn von Nidau erzählte, welche er durch den Zufall erfahren hatte. Frau von Aßberg hörte sie mit großem Antheil.
„Das arme Kind!“ rief sie. „Wenn ich etwas helfen kann, thue ich es mit Freuden. Fremder Zuspruch ist nur in so trüben Stunden zu lästig – leider bin ich auch ganz unbekannt mit den Verhältnissen der Familie, weiß nicht, ob und welche Verwandten sie hat, und wie sie es aufnehmen würde, wenn ich ihr nahen wollte. Herr Hassel ist zum Glück auch dort Sachwalter und [277] wird Alles ordnen, wie es nur möglich ist; er kann mir auch wohl sagen, ob von meiner Seite ein Beweis der Theilnahme dem armen Kinde lieb sein würde.“
Günther versprach, am andern Tage in der Stadt bei dem Gerichtsverweser Erkundigungen einzuziehen, und das traurige Ereigniß wurde noch im Laufe des Abends vielfach besprochen. Graf Hallstein suchte dann die Unterhaltung auf andere Dinge zu ziehen und lobte, was er bei der Rundschau von der Besitzung gesehen hatte, besonders die herrlichen Waldpartien um den Weiher. Dabei fiel ihm der angefangene Bau wieder ein und er fragte jetzt nach dessen Bestimmung. Frau von Aßberg blickte auf ihren Sohn und sagte dann ruhig: „Es soll eine Kapelle werden.“
„Eine Kapelle?“ fragte Hallstein etwas verwundert. „Wohnen viele Katholiken in hiesiger Gegend?“
„Sollen nur die Katholiken das schöne Vorrecht haben, außerhalb ihrer Wohnplätze geweihte Stätten zu besitzen, wo sie ihre Andacht verrichten und ihre Herzen erleichtern können?“
Dem echten Weltmanne ist nichts so peinlich, als ein Gespräch über religiöse Dinge, wenn es ernst geführt wird – frivol weiß er allerdings darüber zu reden, er witzelt dabei nicht gerade über das Heilige selbst, wohl aber richtet sich sein Humor gern gegen die Diener der Kirche. Graf Hallstein machte darin keine Ausnahme und gab sich mit der erhaltenen Erklärung zufrieden, da irgend eine Einwendung von konfessionellen Standpunkte ihm nicht am Herzen lag.
Als er sich später auf das ihm angewiesene Zimmer zurückgezogen hatte und Günther, der ihn begleitet, wieder zu seiner Mutter kam, fragte diese sanft: „Hast Du Dich ausgesprochen, mein Sohn?“
„Nein, Mama,“ erwiderte Günther ruhig, „was könnte es mir helfen?“
Sie schüttelte leise den Kopf und sah ihn mit einem unendlich liebevollen Blicke an.
„Gefällt Dir Gebhard?“ fragte er.
„Er ist ein angenehmer und gebildeter Mann und scheint Dein wahrer Freund zu sein.“
„Das ist er auch!“ sagte Günther lebhaft. „Er könnte mir jedes Opfer bringen.“
„Dann – hat er doch ein Recht auf Dein Vertrauen, mein Sohn.“
„Warum wünschest Du, daß ich noch einem Dritten erzähle, was am besten in einer Brust verwahrt geblieben wäre?“
„Weil es dieser Brust Heilung bringen würde!“
Er küßte die Mutter und sagte:
„Ich bin mir aller Verhältnisse vollkommen klar bewußt. – Gute Nacht, Mama.“
Sie trennten sich und Frau von Aßberg konnte heute noch lange den Schlummer nicht finden.
Hallstein begleitete am andern Morgen seinen Freund nach der Stadt, wo dieser einige landwirthschaftliche Angelegenheiten zu besorgen hatte, und zugleich bei dem Gerichtsverweser Hassel Erkundigung über die Lage der Dinge in Allweide einziehen wollte. Diesmal war es nicht das gestrige Gespann, sondern ein geräumiger, mit zwei stattlichen Kutschpferden bespannter Wagen, der die Freunde nach der Stadt brachte, allerdings auch keine Carosse, die bei den schlechten Wegen der Gegend kaum zu benutzen gewesen wäre, sondern ein offener Holsteiner, welcher dem Grafen nach allen Seiten freien Umblick gestattete. Das Städtchen lag in einer Niederung, deren Anbau in alter Zeit wohl nur durch unermüdlichen Fleiß deutscher Colonisten dem Sumpfboden abgerungen worden war; bei nasser Jahreszeit mußte der Zugang noch immer schwierig sein, das bewiesen die vielen Stellen, auf denen sich Knüppeldämme fanden, die jetzt trocken lagen und die Fahrt unbequem machten. Um die Stadt her sah es wohlthuend frisch und grün aus, ihr langer Häuserstreif lag in Bäumen halb versteckt, und der einzige Thurm mit seinem niedrigen Kegel ragte kaum über die Wipfel hinweg.
Graf Hallstein, der wohl seit Jahren keine Gelegenheit mehr gehabt hatte, ein kleines Provinzialstädtchen in der Nähe zu sehen, da die Eisenbahnen dieselben nur streifen, war erstaunt, als sie in die offene Gasse einfuhren, welche, in mehreren Krümmungen sich dahin streckend, den ganzen Ort bildete. So elende Häuschen, einen solchen Mangel an jeglichem Comfort des Wohnens, hatte er heut zu Tage nicht mehr für möglich gehalten; ein holpriger Steindamm mit tief ausgefahrenen Löchern nahm die Mitte der schmalen Gasse ein, an den Häusern gab es kein Pflaster, wohl aber lag hier und da ein Düngerhaufen, der auf gelegentliches Abfahren harrte, und zwischen ihnen standen verwitterte, grüne Bänke, auf denen die Bewohner ihre Feierabendstunden zu verbringen pflegten. An den Häusern selbst rankten sich zuweilen nie verschnittene Weinreben mit undurchdringlicher Blatterfülle empor, deren Trauben selten reif werden konnten; meist aber zeigten sich hohe Rosenstöcke, welche gerade in voller Blüthe standen und trotz der unerquicklichen Umgebung einen reizenden Anblick gewährten. Noch mehr als diese Schönheit fiel dem Grafen die Schönheit der jungen Mädchen auf, die sich hier und da blicken ließen, theils neugierig beim Rollen des herrschaftlichen Wagens aus den Hausthüren schauend, theils auf der Gasse – es war, als gäbe es hier kein häßliches Mädchengesicht; auch die Männer, denen man hier begegnete, hatten ein kräftiges, wohlgebildetes Ansehen.
„Ursprünglichkeit in unverdorbener Reine!“ sagte Gebhard. „Wenn ich mir gegen diese wandelnden Rosen unsere Aschpflanzen im Carneval denke!“
Auf dem Markt – so hieß eine geringe Ausweitung der Gasse, wo der Hauptbrunnen und das Spritzenhaus stand – zeigte sich nun der einzige Gasthof, „zum blauen Löwen,“ wo die Nachbarschaft an Markttagen einkehrte: Reisende verirrten sich wohl niemals hierher. Dicht daneben, im Schatten zweier geköpfter Pappeln, lag die schon gerühmte Apotheke, welche, um zu zeigen, daß man auch hier nicht hinter der Zeit und ihren weltbewegenden Interessen zurückgeblieben sei, „die Börse“ genannt wurde: sie war, wie Abends, so auch gegen eilf Uhr Vormittags, der Sammelplatz der Honoratioren, welche dann die neuesten Zeitungsnachrichten bei einem Glase Doppelbier oder an Festtagen bei gutem Rheinwein, den der Apotheker von der Quelle kommen ließ, besprachen und, wie nicht zu leugnen, oft mit sehr gesundem Urtheil, wenn es innerhalb der Tragweite ihrer Anschauungen lag. Auch heut waren sie bereits versammelt und Aßberg erkannte unter ihnen den Gerichtsverweser. Dieser stand auf, als der „Bergaer“ vor dem blauen Löwen anhielt, und begrüßte die absteigenden Herren. Günther fragte sogleich nach den Verhältnissen in Allweide.
„Ach, das ist ein Elend, Herr von Aßberg. Wenn nur der Alte erst unter der Erde wäre, daß man die Tochter fortnehmen könnte! Es geht Einem an’s Herz, wenn man ihren Jammer mit ansieht, und das Schlimmste kommt erst nach, wovon sie noch keine Ahnung hat. Sie behält nichts, auch gar nichts. Der liebe Nachbar, der die Geschichte, so lange der Alte lebte, durch Darlehne noch gehalten hat, legt nun die Hand d’rauf; die pure Menschenliebe, aus der er’s gethan, macht sich bezahlt – so ’n Capitalist kann rechnen! Wir Einheimischen witterten den Fuchs, als er sich hier bei uns ankaufte – verzeihen Sie, Herr von Aßberg, auf Sie geht das nicht, Sie sind ein Cavalier, der bei uns leben will, der aber will bei uns nur noch reicher werden, und wenn er den andern Herrn, dem das Wasser auch schon an den Hals geht, ausgekauft hat, dann spielt er auf dem Kreistage die erste Violine und unsere ehrlichen Gutsbesitzer müssen danach tanzen.“
Aßberg unterbrach diesen Ausbruch des Unwillens durch eine neue Frage.
„Ja, das Lenchen, was soll aus ihr werden? Dort kann sie nicht bleiben, wo Alles versiegelt ist, und ich ihr auf meine Verantwortung nur ein bischen mehr, als sie eben braucht, herausgelassen habe. Eine Mutter hat sie nicht mehr – nahe Verwandte auch nicht. Wenn sie nicht das Unglück mit ihrem Bräutigam gehabt hätte, wäre sie versorgt, nun weiß ich vor der Hand keinen andern Rath, als daß ich sie zu mir nehme, im Stich lassen kann ich das arme Ding doch nicht.“
[285] Graf Hallstein fühlte in diesem Augenblicke nur des Mannes redliche Gesinnung und sprach ihm seinen Beifall aus – Günther aber fragte nach dem angedeuteten Unglück des Fräuleins, von dem er noch nichts gehört hatte.
„Ja, das glaube ich wohl, Herr von Aßberg. Es weiß es auch Niemand, als ich, und ich mag nicht weiter davon reden, da er todt ist und es nun doch weiter nichts hilft. Setzen Sie sich nicht etwas zu uns in den Schatten, meine Herren? Sie können hier einen Rüdesheimer trinken, wie Sie ihn bei keinem Weinhändler finden.“
Hallstein wunderte sich, daß sein Freund die Einladung annahm, gewiß wollte er sich vollständig hier naturalisiren, und wenn er ihn etwa nach fünf Jahren wieder besuchte, fand er ihn gewiß als Stammgast, vielleicht gar als Eidam eines dieser würdigen Familienhäupter, welche das Patriciat der Stadt bildeten. Er konnte es zwar über sich gewinnen, die zuvorkommende Aufnahme, die er mit Günther in der kleinen Versammlung unter den Pappeln fand, nicht durch übel angebrachte vornehme Kälte zu erwidern, im Gegentheil war er so freundlich und gesprächig, als es in seinen Kräften stand, und bestätigte dadurch den Ruf, den ihm Herr Hassel schon bereitet hatte, aber innerlich widerstrebte doch seiner Natur die Formlosigkeit, die sich ihm selbst in jeder Beziehung hier fühlbar machte, zu sehr, und er dachte nun schon an seine Abreise. Was konnte ihn, da er nun wußte, wie Günther sein Leben gestaltet hatte, und daß er für ihn doch nicht mehr das alte offene Herz habe, was konnte ihn noch länger hier fesseln? Als er sich diese Frage stellte, war es ihm, als wecke er damit eine räthselhafte Unruhe, die mehr und mehr in ihm aufwallte – er spottete bitter darüber und das ironische Lächeln, das auf seine Lippen trat, galt nicht, wie Günther besorgt wähnte, den harmlosen Kleinstädtern um ihn her, sondern dem eigenen Selbst. Es mahnte aber den Freund zum Aufbruche.
„Charmant, ich begleite Sie, wenn Sie es erlauben,“ sagte Hassel. „Ich reite dann den Fußsteig nach Allweide, wo mich der Pastor erwartet. Den sollte sie heirathen, der nimmt sie gleich.“
Diese Aeußerung traf das aristokratische Gefühl des Grafen wie ein elektrischer Schlag, und nur die rasche Unterbrechung des Gesprächs durch Günther hinderte eine Entgegnung in diesem Sinne, welche ihn hier lächerlich gemacht haben würde: er dankte, zur Besinnung gekommen, dem Freunde später selbst dafür. Der Gerichtsverweser eilte, seinen Falben satteln zu lassen, Aßberg ging, seine übrigen Geschäfte zu besorgen, und Hallstein begleitete ihn, wobei er Gelegenheit hatte, sich das Bild der Physiognomie dieses vom großen Weltverkehr in fast märchenhafter Abgeschlossenheit liegenden Gemeinwesens zu vervollständigen. Leugnen konnte er trotz aller Vorurtheile nicht, daß er hier einen so gesunden und achtungswerthen Kern des Volkslebens fand, wie er ihn in der großen Strömung vor allen Krystallisationen, die sich um ihn angesetzt haben, nicht mehr zu erkennen vermochte.
Herr Hassel erschien jetzt hoch zu Roß und ritt hinter dem Wagen des Bergaers aus der Stadt, draußen, sobald der Weg breiter wurde, sprengte er aber an den Schlag. Auch heute war kein Kutscher mitgenommen worden, die Unterhaltung konnte also ganz ungestört geführt werden.
„Ich wünschte noch Ihre Meinung zu hören,“ sagte Günther, „ob meine Mutter vielleicht etwas für Fräulein von Nidau thun kann. Sie fürchtet, nur ihren Schmerz noch mehr aufzuregen, sonst würde sie, wenn auch unbekannt, schon selbst nach Allweide gefahren sein.“
„Na, dazu würde ich auch nicht rathen. Das würde die Lenchen nur in Verlegenheit setzen. Aber sonst darf sich die gnädige Frau nicht geniren. Brauchen kann sie Alles, denn ihr fehlt nicht mehr als Alles. Wenn Ihre Frau Mutter mir anvertrauen will, was sie zu spenden gedenkt, so werde ich es schon mit Manier anbringen, daß es nicht wie’n Almosen aussieht. Am Ende braucht sie gar nichts davon zu wissen, denn sie hat keine Ahnung, wie weit ihr Vater heruntergekommen ist, und kann es dann in Gottes Namen für das Ihrige, was etwa aus der Masse gerettet ist, halten. Ihrer Frau Mutter, wie ich sie kenne, wird es nicht darauf ankommen, für ihre Wohlthat einen großen Dank zu ernten – ich habe schon Beweise, was sie im Stillen für die Armen gethan hat, wie eine echte christliche Dame. Gestern, in der ersten Rathlosigkeit, was nun aus der Lenchen werden sollte, dachte ich schon daran, daß vielleicht Ihre Frau Mama sie als Gesellschafterin oder so etwas zu sich nähme, aber nachher fiel mir ein, daß Sie noch ledig sind, Herr von Aßberg, und ich nicht Ursache geben möchte, mir später Vorwürfe von der gnädigen Frau zuzuziehen.“
„Herr Gerichtsverweser!“ entgegnete Aßberg unwillig. Graf Hallstein sah den kleinen dicken Herrn, der bei dieser Naivetät ganz ruhig mit seinem Zügel spielte, eher belustigt an.
„Na, in allen Ehren natürlich!“ erwiderte Hassel. „Wenn Sie die Lenchen gesehen hätten, würden Sie es nicht so weit wegwerfen, und sie ist doch immer, wenn auch noch so arm, Ihnen ebenbürtig.“
[286] Ebenbürtig! Dies Wort der Anerkennung eines Rangunterschiedes, das der Graf in den Kreisen seiner Bekanntschaft noch nie aus dem Munde eines Unadeligen gehört hatte, war geeignet, ihn die vorige Aeußerung über den Pastor, der das Fraulein gleich nehmen würde, vergessen zu lassen.
„Sie ist also sehr liebenswürdig?“ fragte er mit Antheil.
„Eine sehr angenehme Person – unter Ihren Hofdamen haben Sie gewiß keine, die ihr das Wasser reicht, im Aussehen, meine ich. Bildung – Du lieber Gott, wo sollte sie die her kriegen? Was sie als Kind bei dem seligen Pastor gelernt hat, ist nicht viel gewesen, in Gesellschaften ist sie niemals gekommen.“
„Aber sie war doch verlobt, sagten Sie?“
„Ja, das wohl. Das war ein reiner Zufall, sehen Sie. Bei dem Herrn in Reinsdorf drüben war vor zwei Jahren einmal ein Vetter aus dem Thüringischen, ein reicher junger Herr, der muß die Lenchen wohl einmal in der Kirche oder auf dem Felde gesehen haben, wie es dann weiter gekommen ist, wissen wir nicht, aber es hieß bald in der Gegend, sie wären verlobt. Er reiste ab und ich gratulirte, das wurde auch angenommen, aber ich erfuhr von dem Alten weiter nichts und von der Lenchen erst recht nichts. Leider kam dann das Unglück und so ist Alles wieder vorbei.“
„Sie hat also doppelten Gram, das arme Mädchen,“ bemerkte der Graf, welcher jetzt für Aßberg die Forschung weiter fortsetzte.
„Na, das ist auch eine eigene Geschichte. Zuerst gab es freilich einen großen Schreck, aber wie ich nach einem Vierteljahre wieder herauskomme, finde ich die Lenchen munter und lustig, wie einen Vogel. Sie hat sonst ein sehr weiches und gefühlvolles Herz – also muß sie den Bräutigam wohl nur auf Befehl ihres Vaters und wegen des Geldes genommen haben.“
„Starb er so plötzlich?“
„Sehr plötzlich, Herr Graf, er wurde im Duell todtgeschossen.“
Hallstein fühlte bei diesem Worte, wie Günther neben ihm zusammenzuckte, ein Seitenblick ließ ihn bemerken, daß er jählings erblaßt war. Ein plötzliches Ahnen wunderbarer Fügung überkam ihn und ließ ihn für einen Moment verstummen.
„Die näheren Umstände hat mir der alte Nidau erzählt,“ fuhr Hassel fort, „aber ich mußte ihm versprechen, sie für mich zu behalten – hätte es auch aus Gründen von selbst gethan. In der Gegend wurde nur bekannt, daß er gestorben sei. Ihnen, meine Herren, da sie sich einmal für das gute Mädchen interessiren und die gnädige Frau etwas für sie thun will, auch Sie, Herr Graf, ihr vielleicht bei Ihren Connexionen zu einem Unterkommen, einer Stiftsstelle oder so etwas verhelfen können, habe ich nur allein davon erzählt. Ich recommandire mich nun, hier geht ein Fußsteig ab!“
Er zog die Mütze und lenkte seinen Falben von dem Wagen in einen Seitenpfad ein, in welchem er nun in einem stürmischen Galopp davonsprengte.
Die Freunde saßen eine lange Zeit stumm neben einander. Gebhard überließ es Aßberg, ob er eine Erklärung des ungewöhnlichen Eindrucks, welcher sich bei ihm bemerklich gemacht hatte, geben wolle.
„Er hat den Namen nicht genannt?“ begann Günther endlich mit unsicherer Stimme.
Gebhard verneinte es auch, äußerte aber, daß er wohl in der ganzen Gegend, welche um die Verlobung gewußt, bekannt sein werde. Als Günther wiederum eine geraume Weile schwieg, fragte ihn der Graf, den diese Zurückhaltung kränkte, in einem plötzlichen Uebergange zu alltäglichen Dingen: was er für die beiden Braunen gezahlt habe? Das traf denn endlich.
„Gebhard, Du hast ein Recht, mir auf diese Weise fühlbar zu machen, wie ich mich an unserer Freundschaft vergangen habe! Auch meine Mutter fand es unrecht, daß ich Dir mein volles Vertrauen vorenthielt – willst Du es noch von mir annehmen?“
Er war in mächtiger Bewegung, völlig der Haltung beraubt, welche ihm sonst eigen war, und Gebhard hielt es für unedel, von dieser Aufwallung, die den Freund vielleicht bei ruhigerem Blute wieder gereuen konnte, Vortheil zu ziehen. Er bat ihn daher, sich erst zu fassen und, was er ihm vertrauen wolle, auf eine gleichmütige Stimmung zu verschieben: er danke es ihm schon von Herzen, daß er ihm das Recht der Freundschaft zugestehe.
„Nein, Gebhard. Es tritt mir zu mahnend von Neuem in den Weg und ich sehe doch, daß ich mich getäuscht habe, als ich mich stark genug wähnte, Alles allein zu tragen. Ich habe eine Blutschuld auf meiner Seele.“
Hallstein wandte sich betroffen nach ihm um, aber er sagte, schnell verständigt:
„Im Zweikampfe, das ist ein Unglück, aber wer wollte das so nehmen oder nennen, wie Du sagst? Wir können die Gesetze der Ehre nicht ändern.“
Aßberg schüttelte düster den Kopf.
„Die Welt hat es einen Zweikampf genannt, aber die Umstände, unter denen es vorgefallen ist, haben ihn zum Mord gestempelt. Wenn ich Dir sage, daß mein Gegner ein Rittergutsbesitzer aus Thüringen, daß er, wie mir später gesagt wurde, glücklich verlobt war, daß er vor zwei Jahren von meiner Hand gefallen ist – begreifst Du, daß ich zittere vor Gottes gerechter Vergeltung, die mich hierher geführt hat, um ein Zeuge des Elendes zu sein, das ich verursacht habe?“
„Ich bitte Dich, Günther, gib Dich nicht dieser erschütternden Aufregung hin! Hat Dich wirklich der Zufall – oder Gottes wunderbare Fügung, wenn Du es annehmen willst – gerade in diese Gegend geführt, wo Du, ohne es zu ahnen, die hinterlassene Braut des Mannes, der im ehrlichen Zweikampfe gefallen ist, finden mußtest, so hast Du auch zu glauben, daß es zu einem anderen Zwecke ist, als nur Dich zu zerknirschen!“
„Was willst Du damit sagen?“ rief Günther, von dem Gedanken ergriffen, der in Hallsteins Worten zu liegen schien.
„Deine Meinung, wir haben oft darüber gestritten, gibt keinen Zufall in der Welt zu. Du hast immer behauptet, auch das geringfügigste Ereigniß sei entweder Schickung oder Folge der eignen Willensfreiheit – ich finde es viel natürlicher, auch einmal eine zwischen Beiden liegende Macht, den Zufall, den ich eine Zulassung nennen möchte, wirkend zu denken – gleichviel! Mag Deine Wahl, hier Dich anzukaufen, gekommen sein, wie sie wolle, ihre Folgen mußt Du wie ein Mann zu beherrschen wissen. Vor Allem aber, warte doch ab, was Dir die nächste Minute sagen wird: ob der Bräutigam des Fräuleins von Nidau und Dein Gegner eine Person gewesen sind? Daß letzterer ebenfalls ein Thüringer und verlobt war, beweist noch nichts. Willst Du mir Dein Rencontre erzählen? – Aber ich dränge Dich damit nicht.“
„Nein, nein, Du sollst Alles wissen – mehr, als selbst meine Mutter! Gebhard, Du hast die Deinigen auch geliebt, mich gestern hart angesehen, als ich gewisse Verhältnisse berührte – richte Du über mich. Es war in Ischl. Ein Herr von Walrode – Du kennst den Namen?“ unterbrach er sich überrascht.
„Vielleicht!“ sagte der Graf sich beherrschend. „Fahre fort. Ich werde es erst erfahren, ob ich diesen Walrode gekannt habe.“
„Er hatte sich bei den Herrschaften, welche zur Cur dort anwesend und sonst schwer zugänglich waren, vorstellen lassen, er spielte eine angesehene Rolle in der Gesellschaft. Ich war nicht meiner Gesundheit wegen dort, sondern nur, um die herrliche Alpennatur zu genießen, doch hatte ich mir, im Uebermuthe der mir zugefallenen großen Glücksgüter, allen äußern Luxus gestattet und fand dadurch – Du wirst mich nicht mißverstehen, wenn ich es selbst sage – einige Beachtung. Man zog mich in gewisse Kreise, zu geselligen Unterhaltungen, zu Ausflügen nach den schönsten Partien des Salzkammerguts, ich kann nicht läugnen, daß ich mich in dem fröhlichen, ungezwungenen Leben, wo nur die Etikette, nicht aber die feine Sitte der Salons verbannt war, sehr wohl fühlte. Nur Walrode benahm sich sonderbar kühl, fast abstoßend gegen mich – ich begriff nicht warum?“
„Neid!“ warf der Graf ein.
„Er offenbarte nur zu bald einen andern Grund. Anfangs kehrte ich mich nicht an ihn, ich war sonst wie Du weißt, nicht eben schmiegsam – Walrode existirte für mich gar nicht, auch wenn uns die Gesellschaft, in der er seine Rolle nicht aufgab, zusammen führte. Endlich benahm er sich aber so verletzend, ich kann sagen verächtlich, daß ich es nicht mehr dulden konnte. In der Gesellschaft natürlich stellte ich ihn nicht zur Rede, diese ahnte nichts – aber dann – erst schriftlich, dann unter vier Augen und“ – fuhr Günther immer kürzer und heftiger fort – „was er mir da in’s Gesicht gesagt, wie er die Ehre – meiner Mutter angegriffen – das forderte mein Blut oder seines! Sollte ich Zeugen dazu rufen? Den Secundanten meinen Grund zum Cartel sagen? Wir schossen uns allein – am Hallstädter See – ich hatte den ersten Schuß!“
[287] Er schwieg und Gebhard, tief bewegt, erfaßte des Freundes Hand: „Von einer Befürchtung kann ich Dich befreien, dieser Walrode ist nicht der Bräutigam Deiner Nachbarin gewesen, ich habe ihn gekannt und auch seine Braut, die sich schon getröstet und anderweitig verheirathet hat. Die zweite Last Deiner Seele begreife ich nicht, noch weniger, wie sie Dich zu dem Entschlusse treiben konnte, ganz mit der Welt zu brechen und Dich in diese Einöde zurückzuziehen. Allerdings ist der Zweikampf ohne Secundanten nicht in der Ordnung, aber in diesem besondern Falle ehre ich Deinen Beweggrund dazu vollkommen – wie kann Dich nun der Ausgang, auf welchen man bei dem ernsten Gange immer gefaßt sein muß, so niederbeugen?“
„Ohne Secundanten, Gebhard, ganz recht, das war zu entschuldigen – aber ohne Arzt? Siehst Du, das macht Dich auch bestürzt. Walrode wäre zu retten gewesen, wenn wir einen Arzt mitgenommen hätten!“
„Das glaubst Du hinterher und quälst Dich damit!“
„O nein, ich bin davon überzeugt. Der Arzt – der zu spät herbeigeschafft wurde – sagte es auch.“
„Wie sie es immer behaupten!“ rief Hallstein. „Entschlage Dich des entnervenden Gedankens, der zu nichts mehr führen kann. Was hatte es sonst für Folgen?“
„Verkenne mich nicht, Gebhard. Ich wollte mich dem beleidigten Gesetz stellen – nachdem ich, wie es rathsam, der ersten Verhaftung ausgewichen war. Aber ich schlug einen falschen Weg ein, den zu meiner Mutter nach Venedig – von ihr wollte ich Abschied nehmen, ihr mein Unglück verkünden, doch ohne ihr je den Anlaß dazu zu entdecken – das aber war der Weg, der mich noch tiefer verstrickte. Denn sie errang mein Versprechen, mich dem Gerichte des Auslandes nicht zu stellen, da Niemand aufgetreten war, mich anzuklagen; Niemand wußte, daß ich mit Walrode mich geschossen – wir waren ganz allein, auch ohne Diener, zu dem bestimmten Orte geritten, und hatten die Pferde angebunden, damit der Ueberlebende sich gleich retten könne. Ich war dann, Walrode’s Thier an der Hand, nach Hallstadt gejagt, um einen Arzt zu holen. Dem Verwundeten hatte ich mit meinem Tuche, so fest ich konnte, den Blutverlust zu hemmen gesucht. Es war, als habe uns vorher ein böser Geist die Sinne verblendet, daß wir uns die Möglichkeit, der Ehre genug zu thun, ohne daß Einer von uns todt auf dem Platze bliebe, durch Ausschließung des Arztes ganz abgeschnitten hatten. Ich fand einen solchen in Hallstadt, der mich auch gleich begleitete – zu spät!“
„Walrode’s Ende habe ich wohl gehört,“ sagte der Graf, nachdem Günther länger verstummt war und auch er Vieles bedacht hatte, was ihn bewegte. „Aber wie hätte ich ahnen können, daß Du –? Es wurde ein ganz anderer Name genannt –“
„Kein wirklicher – ich meine, kein echter, wahrer Name, den irgend ein Mann getragen!“ rief Günther hastig. „Wäre das der Fall gewesen, keine Macht, nicht die Bitten und Beschwörungen meiner Mutter würden mich abgehalten haben, mich als den Thäter anzugeben! Glaubst Du wirklich, ich sei fähig gewesen, meine Schuld zu verheimlichen und sie einem Andern, Unschuldigen aufbürden zu sehen?“
„Beruhige Dich, Günther,“ bat ihn der Graf, von dieser Aufregung eines empörten Gefühls mehr und mehr seiner gewöhnlichen Stimmung zurückzugeben. „Ich bin vielleicht besser über diesen Golem, Mannequin oder Strohmann, der für Dich als strafbarer Duellant angesehen wurde, unterrichtet, als Du selbst.“
„O, scherze nicht, Gebhard, wo mein Seelenfrieden verloren ist!“
„Dadurch?!“ rief Hallstein. „Doch erzähle mir erst, was Du weiter gethan hast, als Alles vorbei und nicht mehr zu ändern war. Dein plötzliches Verschwinden aus Ischl muß doch den Verdacht auf Dich gelenkt haben – ich begreife nicht, wie er auf diesen sogenannten Dorpat gefallen ist.“
„Walrode, wie ich, waren übereingekommen, am Tage vorher förmliche Abschiedsbesuche bei unsern Bekannten zu machen – ich hatte ganz bestimmt auch mein Reiseziel, Venedig, angegeben, mir dorthin von einem der leicht gewonnenen Freunde Nachrichten über den weiteren Verlauf der Saison und was mich interessiren könne, bestellt; durch ihn erfuhr ich denn auch, wie der Verdacht auf den Andern, der sich Dorpat genannt hatte, gefallen sei – und was sonst über diesen Menschen sich ermittelt hatte, gab eben meiner Mutter die Waffe, womit sie meinen anfänglichen Entschluß, meine That nicht zu leugnen, bekämpfte.“
„Im Grunde, was wäre daran gelegen gewesen!“ sagte Hallstein leicht. „Ein Jahr oder zwei nach Hohen-Salzburg – wunderschöne Aussicht, Untersberg, Staufen – oder gibt es dort keine Detinirten? Ich weiß nicht einmal. – verzeihe mir, Günther, ich kann diese allerdings unglückliche, aber doch oft vorfallende Begebenheit nicht so schwer nehmen. Dieser erbärmliche Walrode, der alle Ursache hatte, sich einen anständigen Ausgang aus der Welt zu wünschen, beleidigt Dich durch eine Nichtswürdigkeit, Ihr schießt Euch auf Barriere, Du überlebst ihn, und einem elenden Schwindler, der zufällig mit Walrode auf öffentlicher Promenade Streit gehabt und Ischl vielleicht aus Furcht vor den Folgen desselben bei Nacht und Nebel verlassen hat, widerfährt die Ehre, als ein Cavalier angesehen zu werden, von dessen Kugel Walrode im Duell ohne Zeugen gefallen sei. Es stellt sich dann bei einiger officieller Nachforschung heraus, daß dieser Dorpat weder so, noch Hinz, Kunz, Peter oder Steffen, wie er sich nach einander aus Nützlichkeitsrücksichten genannt hat, sondern eigentlich N. N. geheißen, ich weiß nicht mehr; ferner, daß er nicht aus Esth- oder Kurland, sondern aus der Kurmark, weder ein Freiherr, noch überhaupt ein Herr, sondern ein Diener war, der mit der Cassette seiner alten Dame durchgegangen – kurz, die Personification einer Anekdote – und daß er glücklich über Hamburg nach Amerika entwischt ist. Kannst Du Dir nur im Entferntesten ein Gewissen daraus machen, daß Du besagtem Baron von Dorpat, der als solcher nie existirt hat, die Ehre des bestandenen Zweikampfes – denn eine Schande ist es doch wahrhaftig nicht! – überlassen hast, aus der für ihn gar keine irdische Gefahr entstehen konnte? Wem hättest Du durch eine Selbstdenunciation einen Dienst erwiesen, als der Wahrheit, einer kalten, abstracten Idee?“
„Mir würde viel leichter sein! Ich bereue es, daß ich dem Andringen des Arztes, der mich nur entfernen und Alles, was nöthig, besorgen wollte, nachgegeben habe, ohne ihm meinen Namen zu nennen!“
„Um ein fait accompli muß man nachträglich nicht rechten. Aber ich kann Dir, nachdem ich Deine Geschichte erfahren habe, meine Verwunderung nicht verhehlen, wie sie Dich zu dem Entschlusse bringen konnte, Dich ganz aus der Welt zurückzuziehen, um hier, verzeih’ mir den Ausdruck, der Hypochondrie zu leben. Ist das wirklich ganz und gar Dein eigener Gedanke gewesen?“
„Du glaubst, meine Mutter habe mich dazu bewogen? Sie hat sich mir geopfert, Gebhard. Sie führte ein klares und lichtes Leben an einem schönen Orte, den sie sich gewählt, ein Leben, das sie sich nach Wunsch gestaltet hatte, wo sie in anmuthigem Wechsel von Geselligkeit und Stille, in höherm geistigen Verkehr, Kunstgenüssen und Freuden der Natur, so glücklich war – und das hat sie aufgegeben, als ich ihr meinen Entschluß verkündigte, um mir zu folgen, den sie nicht allein lassen wollte. Verstehe mich recht: sie kam hierher zu mir, als ich diesen Entschluß bereits ausgeführt hatte, und – es gab noch einen Kampf zwischen uns, da ich ihr Opfer nicht annehmen wollte. Sie aber blieb Siegerin, denn sie hatte sich überzeugt, daß ich hier wohl aufgehoben bin.“
„Du hast noch einen andern Grund, den Du mir verschweigst. Dies Duell allein konnte Dir die Welt nicht verleiden. Eine verfehlte Neigung vielleicht –?“
Günther machte eine ungeduldige Bewegung. „Ich habe keine Antwort darauf. Wenn Du ein paar flüchtige Tändeleien so nennst, so haben Sie mir wenigstens keinen Schmerz und keine Reue zurückgelassen.“
„Du hast noch etwas auf dem Herzen! Doch – dort sehe ich schon den Kirchthurm von Berga, wir wollen abbrechen. Ich sage Dir nochmals: wenn Du keinen andern Grund hast, fern der Welt in finstrer Ascetik zu leben, als den Du mir erzählt hast, so bist Du nicht bei gesunden Sinnen. Der Elende hat die Ehre Deiner Mutter verleumdet – was kann eine wehrlose Frau thun, sich gegen beliebig erlogene Nachrede zu schützen? Ein Gottesgericht hat ihn durch Deine Hand dafür bestraft, Du solltest eher darauf stolz sein! – Genug davon. Ich hoffe, Du wirst Dich bald zu meiner Ansicht bekehren. Sage mir nur noch Eins, worauf ich wahrhaft brenne – dafern Du es darfst, natürlich! Ich weiß wohl, Deine Mutter hat es Dir untersagt, aber Dich hoffentlich nicht durch ein Versprechen gebunden. Mir aber gibst Du eine wahre Herzenserleichterung, denn ich habe offenbar in gänzlicher Zerstreutheit [288] etwas gegen Deine Mutter gesagt, was mich nur beunruhigt, weil ich es nicht weiß. Wie ich jetzt wieder darauf komme? Mir ist bei unserm heutigen Gespräch plötzlich eine dunkle Erinnerung erwacht, als sei meine Antwort auf die Frage Deiner Mutter – aber Du darfst wohl nichts sagen?“
„Sie äußerte sich darüber, daß sie den Freund ihres Sohnes nicht früher kennen gelernt habe – und Du gabst zur Antwort: Wohl mir!“
„Günther!“ rief der Graf betroffen. „Und was ich dieser Ungezogenheit, so viel ich mich erinnere, folgen ließ! Wahrlich, hier weht eine verzauberte Luft, die auch mir alle Besinnung raubt! Das kann ich nicht unaufgeklärt lassen, ich muß mich in den Augen Deiner Mutter rechtfertigen.“
„Thue es lieber nicht,“ bat Günther. „Sie hat sich ja, wie sie mir gesagt, mit Dir ausgesprochen und verkennt Dich nicht. Laß uns nun die Vergangenheit, was auch geschehen sein möge, unberührt lassen – ich habe hier gefunden, was ich suchte, und Du kannst Dich überzeugen, daß ich ganz zufrieden bin. Ich mag daher auch von Dir nicht wissen, was Dir etwa sonst“ – hier holte er schwer Athem – „von Walrode’s Verhältnissen bekannt ist.“
„Nein!“ rief Hallstein lebhaft. „Das mußt Du gerade wissen, es ist Dir unumgänglich nöthig, denn es betrifft den Punkt, der es allein erklärlich macht, wie der Elende es wagen konnte, das Gift seiner Verleumdung gegen Dich zu verspritzen. Seine Familie hatte der unsern die Ehre einer Verschwägerung zugedacht; eine ältere Schwester Walrode’s war im Rathe derselben für meinen Bruder Waldemar bestimmt – begreifst Du nun die Feindschaft gegen Deinen Namen? Dieser erbärmliche Mensch war der Intrigant in der aufzuführenden Komödie; welche niedrigen Ränke er ersonnen und ausgeführt hat, um den Zweck zu erreichen, damit will ich Dich verschonen. An dem felsenfesten Glauben meines Bruders, der seiner Liebe Fundament war, wurden aber alle Verdächtigungen, die er schon damals, noch als blutjunger Mensch versuchte, zu Schanden; nun hat den Elenden endlich die gerechte Strafe ereilt, und Du kannst Deinen Blick heiter in das Leben wenden.“
Günthers Blick strahlte wieder, aber auf seinen Wangen glühete es, wie eine brennende Scham. Er hatte in den letzten Worten des Freundes einen tiefen Vorwurf gefunden. Der Glaube war das Fundament der Liebe genannt worden – felsenfest der Glaube des Unglücklichen, dem seine Liebe das Leben verzehrt hatte! Und er, der Sohn – wie war er darin befunden worden?
Frau von Aßberg hatte während der Abwesenheit der beiden Männer ebenfalls über Helene Nidau Erkundigungen eingezogen. Der Pfarrer in Berga, ein alter, schlichter Mann, konnte am besten Auskunft über sie geben, wenigstens über ihre Kindheit. Mit dem jetzigen Amtsbruder in Allweide stand er nur in geringer Verbindung, weil dieser einer neuen Zeitrichtung angehörte, welche dem Greise verwerflich erschien, aber mit dem vorigen Pastor des Nachbardorfes, der sein Universitätsfreund gewesen, hatte er viel Umgang gepflogen, und durch ihn von den Verhältnissen im Nidau’schen Hause mancherlei erfahren. Er lobte Helenen als ein gutgeartetes und in strengster Zucht des Herzens aufgewachsenes Kind. So hätte sie die Verlassene mit Freuden in ihr Haus aufgenommen, wenn nicht auch ihr, obgleich aus andern Quellen entsprungen, mancherlei Bedenken dagegen erwacht wären. Was ihr Günther mit heimbrachte, gab ihr noch mehr Stoff zum Nachdenken. Es war ihrem Gefühl auch verletzend, sich das verwaiste Mädchen hier in der Gegend, wo ihre Familie doch immer angesehen und einst sehr begütert gewesen war, von der Barmherzigkeit fremder Menchen lebend zu denken. Gewiß war die Idee des Gerichtsverwesers, sie einstweilen in sein Haus zu nehmen, sehr vernünftig, da sie doch wahrscheinlich mit seiner Familie bekannt war. Aber nach der Ansicht der Frau von Aßberg kam es doch hauptsächlich darauf an, ob Hassels Gattin und Töchter so geartet seien, daß sich die Arme in ihrem Hause wohl fühlen könne. Sie wußte, daß Frau Hassel eine Bürgerstochter aus der Stadt war, kennen hatte sie dieselbe noch nicht gelernt; ihre Herkunft und wahrscheinlich geringe Bildung waren an sich zwar kein Hinderniß, da Helene, wie Frau von Aßberg durch den Pfarrer erfahren hatte, leider in ziemlicher Unwissenheit geblieben war, und in ihrer traurigen Lage wohl keinen Stolz kannte, aber sie sollte ein weiches und liebevolles Gemüth besitzen, und wenn sie im Hassel’schen Hause keine gütig gesinnten Herzen fand? Darüber mußte erst Aufschluß gewonnen werden und der Wunsch, Helenen kennen zu lernen, trat Frau von Aßberg immer näher.
Günther wurde mitten im Gespräch von seinem Verwalter abgerufen, und seine Mutter, lebhaft mit dem Grafen in eine Erwägung verwickelt, ob es nicht möglich sei, dem Fräulein von Nidau wirklich, wie Hassel angedeutet, eine Stiftsstelle auszuwirken, bemerkte erst nach einer geraumen Weile, daß sie mit Hallstein allein war. Wiederum stieg jenes mädchenhafte Erröthen in ihrem Antlitze auf, das sie so lieblich kleidete, und sie um die Hälfte ihrer Jahre jünger erscheinen ließ. Beider Augen begegneten sich einen Moment und der Graf – wir dürfen es nicht verschweigen – deutete die Purpurgluth falsch. Eine fremde Gewalt schien sich seines Innern zu bemächtigen und machte seine Pulse rascher schlagen, doch hielt er die äußere glatte Ruhe leidlich fest. Frau von Aßberg aber war befangen; sie fühlte wohl, daß sie erröthete, wie jede innere Bewegung sich jedesmal bei ihr kund gab, sie war unwillig über diese Schwäche bei ihren Jahren, aber dadurch machte sie es noch viel schlimmer. Ihre vielgeprüfte Vergangenheit war es, welche heut, als sie sich mit dem Grafen allein sah, jene dunklere Farbe auf ihre Wangen rief, denn sie wußte, daß Günther sich gegen den Freund ausgesprochen hatte, und wollte nun auch vertrauensvoll über ihren Sohn mit ihm reden, aber zugleich dachte sie doch daran, in welchem Verhältniß sie eigentlich zu Gebhard stehe.
In halber Verlegenheit, die sie jedoch mehr und mehr bezwäng, führte sie die Besprechung wegen der Stiftsstelle für Helene Nidau, die einen Moment gestockt hatte, zu Ende und fragte dann mit einem herzlichen Blicke, ob Günther ihm sein Unglück erzählt habe. Hallstein bejahte es und faßte nun seine Berechtigung, wie weit er darüber mit Frau von Aßberg sprechen könne, mit diplomatischer Schärfe auf: ihm war ja mehr bekannt, als ihr, er wußte den eigentlichen Kern der Sache, den Grund der Beleidigung Walrode’s, welchen Günther natürlich der Mutter verschwiegen hatte. Was hätte sie fühlen müssen, wenn sie gewußt hätte, daß ihretwegen ein Menschenleben vernichtet worden sei! Ob sie von den frühern heimtückischen Angriffen Walrode’s auf ihren guten Namen eine Ahnung habe, war Hallstein unbekannt, um so mehr mußte er auch auf seiner Hut sein, das, was ihm der Freund allein vertraut hatte, nicht unvorsichtig zu verrathen.
„Und haben Sie ihn getröstet?“ fragte Frau von Aßberg.
„Ich habe ihm vorgestellt, wie grundlos er sich über eine Ehrensache, die nun einmal nicht zu ändern war, trübe Gedanken macht. Hoffentlich werden meine Worte nicht fruchtlos gewesen sein.“
„Geben Sie mir Unrecht, daß ich seinen Vorsatz, sich dem Gerichte des fremden Landes zu stellen, bekämpfte?“ fragte sie zögernd. „Ich bin manchmal wieder zweifelhaft, ob mein Gefühl als Mutter nicht das bessere Bewußtsein übertäubt hat. Mir war es nur, als schade er dadurch Niemand, indem kein Anderer für ihn die Schuld tragen muß, und selbst der Name der Person, auf welche die Vermuthung gefallen ist – doch Sie wissen wohl Alles?“
„Ich weiß es, gnädige Frau, und bin ganz ihrer Ansicht. Es wäre Chimäre, wenn Günther dem Reiz, der ihn zuweilen noch zu befallen scheint, nachgeben wollte. Ich nenne es einen Reiz – Sie müssen ihn nicht aufkommen lassen.“
„Aber er sagt, ihm werde wohler sein, wenn er offen Alles bekannt und Alles nach dem Gesetze verbüßt habe. – Wäre ich fest davon überzeugt,“ setzte sie gedankenvoll hinzu, „so würde ich ihm sein Versprechen zurückgeben. Ich komme aber zuweilen zu der Idee, daß meinem armen Günther noch etwas Anderes auf dem Herzen liegt –“ hier richtete sie ihr schönes Auge forschend und bittend zugleich auf Gebhard, welcher vor diesem Blicke fast seine kältere Fassung wieder verloren hätte. Er wußte zwar mehr, als die Mutter, aber auch noch nicht Alles, davon war er fest überzeugt! Daß er ihr Beides nicht eingestehen durfte, war klar.
„Wenn er noch etwas auf dem Herzen hat,“ erwiderte er, „so sein Sie überzeugt, daß er es Ihnen in diesem trauten Stillleben, das Sie Beide hier verbindet, bald vertrauen wird.“
[297] „Sie haben doch Ihr Versprechen gehalten, ihm dies Stillleben nicht zu verleiden?“ fragte Frau von Aßberg. „Unsere öde Gegend hätte Ihrem Spotte tausend Waffen gegeben! Ob Günther wohl gethan hat, sich so ganz von aller Berührung mit der Welt fern zu halten, ist eine andere Frage – ich hatte meine Zweifel darüber und habe sie ihm auch früher, ehe er unwiderruflich seinen Entschluß gefaßt hatte, oft genug ausgesprochen. Für Gemüther, wie das seinige, ist die Einsamkeit nicht immer von wohlthätigem Einflusse. Doch schwieg ich, als ich ihn selbst entschlossen sah, ließ ihn gewähren und – folgte ihm nach. Ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich mich hier ganz wohl befinde, und auch für Günther hoffe ich das Beste. Die angestrengte Thätigkeit, die er entwickeln muß, um etwas Besseres und Schöneres zu schaffen, als er hier vorgefunden hat, wird ihn auch geistig wieder stählen, und er wird glücklich werden. Sind Sie nicht auch dieser Hoffnung? Doch ich vergesse, daß Sie durch Beruf und Neigung der glänzenden großen Welt angehören und wohl nicht begreifen können, wie man unter irgend denkbaren Verhältnissen in einsamer Stille, wie hier, glücklich sein kann!“
Sie war nun ganz unbefangen, ein sanftes Lächeln erheiterte ihre anmuthsvollen Züge, ihr leuchtendes schwarzes Auge blickte voll und heiter auf Gebhard.
„Wenn mir ein Glück in stiller Einsamkeit blühen könnte –“ sagte er, und hätte sich vielleicht in diesem Moment, wo der Eindruck, den diese gefährliche Frau vom ersten Augenblicke an auf ihn gemacht hatte, überwältigend wurde, auf den hochgehenden Wogen seiner Erregung zu irgend einer Unvorsichtigkeit hinreißen lassen, wenn nicht zu rechter Zeit Günther eingetreten wäre. Er nannte ihn dafür, nachdem er im Laufe des Tages wieder kühlere Fassung gefunden hatte, seinen Retter, und gelobte sich nun, so bald als möglich abzureisen. Seine Mission war erfüllt. Er hatte seinen Freund gefunden, hatte wichtige Aufschlüsse gewonnen und auch gegeben, er hoffte, ihn in vieler Beziehung beruhigt zu haben. Nur die Episode, die sich in sein Hiersein geschlungen hatte, die Entscheidung über das Schicksal des Fräuleins von Nidau wollte er noch abwarten, um zu wissen, ob er seinerseits in der von Hassel angegebenen Weise etwas für sie auswirken könne. Indessen – sie war selbst in dem Hause des guten Gerichtsverwesers gewiß mehr an ihrem Platze und besser geborgen, als in irgend einem Stifte unter Damen, zu denen sie, wenigstens seiner Meinung nach, wegen ihrer mangelhaften Erziehung nicht paßte. Wenn sie wirklich so hübsch und so gut war, wie ihr Lobredner sie geschildert hatte, so fand am Ende Günther, der ja seine Solitüde nicht mehr verlassen wollte, in ihr eine treffliche Lebensgefährtin, die ihm gewiß eine schätzbare Praxis in der Küchen- und Milchwirtschaft mitbrachte. Wir sehen, die Anfechtung, welche den Grafen seinem eigenen Selbst zu entfremden gedroht hatte, war glücklich überwunden.
Mit Günther war es umgekehrt. Es schien wirklich einen Moment, als habe die erfrischende Rede des Freundes die gehoffte Wirkung gehabt; Frau von Aßberg gewahrte mit Entzücken im Antlitze ihres Sohnes, das vor ihr stets wie ein aufgeschlagenes Buch lag, einen lange vermißten Schimmer der Freudigkeit. Als Hallstein sich Abends von ihnen getrennt hatte, nahte Günther seiner Mutter mit verklärtem Angesicht und sagte:
„Der Glaube ist das Fundament der Liebe! Ich glaube fest an Dich, meine geliebte Mutter!“
Sie küßte ihn, von diesen räthselhaften Worten ergriffen, und fragte nach ihrer Bedeutung. Aber er ließ sich nicht weiter darüber aus. Konnte er ihr gestehen, daß Walrode’s böse Worte, die er sterbend, obgleich ihn Günther darum beschworen, nicht widerrufen hatte, dennoch in seiner Seele Zweifel geweckt, die sein Leben in dem heiligsten Gefühle vergiftet hatten? Nun aber, durch ein Wunder gleichsam, das Gebbard unwissend bewirkt, war er darüber in Frieden gekommen; und die Freudigkeit, welche seine Mutter bemerkt hatte, schien auch sein Aeußeres zu verwandeln, der Haltung die alte Stattlichkeit, dem Gange die Elasticität zurückzugeben. Doch war diese Wandlung nicht bleibend. Nach zwei Tagen schon trat wieder der alte trostlose Ernst hervor, der sich nicht bannen ließ und seinem sonst so wohlgebildeten Antlitze die Jugend vor der Zeit geraubt hatte! Umsonst, daß jetzt, wo es zwischen ihm und dem Freunde kein Geheimniß mehr war, welchen Vorwurf er sich machte, Gebhard und die Mutter sich vereinigten, denselben zu entkräften. Er hielt fest daran, daß, wenn auch die Welt ihn freisprechen würde, er doch die Blutschuld im Bewußtsein trage, denn, zugegeben selbst die Entschuldigung des Zweikampfes ohne Zeugen, bleibe unvertilgbar die Gewißheit, daß sein Gegner sich nur verblutet, weil kein Arzt zugegen gewesen sei. Das setzte er mit so gründlicher Darstellung auseinander, daß man ihm ansah, wie er darüber gegrübelt hatte, und – leider kämpfte hier seine Mutter nicht mit den Waffen der eigenen Ueberzeugung. Sie hatte ja auch von Hallstein nur erwartet, daß er ihn trösten werde.
Da kam der Gerichtsverweser wieder nach Berga. Er war mit Frau und Töchtern in Allweide zum Begräbniß gewesen und diese hatten die Lenchen, wie er das Fräulein zum Verdrusse des [298] Grafen wieder kurzweg nannte, gleich mit in die Stadt genommen während er nach Berga ritt. Frau von Aßberg bat ihn um Erlaubniß, seine Frau einmal besuchen zu dürfen, um Helenen kennen zu lernen. Er machte eine kurze Verbeugung, schob aber nochmals die Brille auf und ab, als habe er doch einiges Bedenken.
„Verzeihen Sie, gnädige Frau, sieht das nicht wie eine Thierschau aus? Nehmen Sie’s nicht übel, ich finde gerade keinen passenden Ausdruck. Meine Frau ist ein herzensgutes Weib und eine tüchtige Wirthin, wir haben uns aus Neigung geheirathet, und ich kann mir keine bessere Frau und meinen Kindern keine bravere Mutter wünschen. Aber zum Umgange für Sie paßt sie nicht, das weiß sie selbst, was sollte also der Besuch bedeuten? Wollen Sie die Lenchen sehen, so schicken Sie ihr in Zeit von drei, vier Wochen, wenn das erste Herzeleid ein bischen vorüber ist, Ihren Wagen oder ich bringe sie einmal von selber mit heraus.“
„Aber liebster Herr Gerichtsverweser!“
„Glauben Sie, daß sie nicht kommen würde? O, meine gnädige Frau, sie kommt wahr und wahrhaftig. Denn sie hat Demuth in ihrem Leben gelernt, das arme Kind. Ich will vom Todten nichts Uebles reden, aber Zuckerbrod hat sie bei ihm nicht gegessen. Sie war die erste Magd, weiter nichts. Pariren hat sie müssen, und wenn er in seiner Verbissenheit das Wunderlichste von ihr verlangte. Wenn sie also von der gnädigen Frau eingeladen wird, so kommt sie und thut es auch gern, denn es fällt ihr gar nicht ein, daß es anders sein könnte. Einen eigenen Willen hat sie nicht.“
„Um so eher muß man sie schonen,“ erwiderte Frau von Aßberg. „Ich werde mir Alles noch recht bedenken. Sie erlauben mir aber, in Ihre Hände zu legen, was schon mein Sohn mit Ihnen besprochen hat: ich verlasse mich dabei ganz auf Ihre Discretion.“
Das konnte sie auch, und als sie Herrn Hassel, ehe er fort ritt, unter vier Augen ihr Scherflein übergab, erstaunte er über den Betrag und nannte es ein Capital.
Vor der Hand war damit die Angelegenheit geordnet, aber Frau von Aßberg fühlte sich nicht befriedigt. Das Verlangen, sich mit eigenen Augen von der neuen Lage des Mädchens, für welches sie nun einmal das lebendigste Interesse fühlte, zu überzeugen, wurde immer dringender in ihr, und sie entschloß sich endlich, an Helene Nidau zu schreiben. Was sie ihr sagen wollte, war längst entschieden und die zarte Weise, die ihren Worten den zum Herzen sprechenden Ton gab, mußte Helenen für sie gewinnen. Der Brief ging ab und Hallstein, welcher glühend gewünscht hatte, ihn zu lesen, war gespannt auf die Antwort. Diese blieb aber aus. Drei Tage vergingen und der Zeitpunkt kam, welchen der Graf für seine Abreise bestimmt hatte, ohne daß aus der Stadt irgend eine Nachricht nach Berga gelangte. Es war unbegreiflich, daß nicht wenigstens der Gerichtsverweser etwas hören ließ, welcher doch von dem Schreiben der Frau von Aßberg, das ein Bote in seinem Hause abgegeben, Kenntniß haben mußte.
„Sie ist vielleicht krank oder noch zu tief betrübt, um den Worten einer Fremden zugänglich zu sein,“ entschuldigte sie Frau von Aßberg.
„Noch eine dritte Möglichkeit schwebt mir vor,“ sagte Hallstein, der sich in letzter Zeit absichtlich zu herzlosen Aeußerungen reizte: „eine Möglichkeit, welche ich aus den indiskreten Reden unseres Centauren Hassel aufgefangen habe: sie wird nicht schreiben können.“
Seine bisherigen forcirten Aeußerungen hatten nicht den Erfolg gehabt, welchen er vielleicht damit bezweckte, sie hatten ihm keine unwillige Zurückweisung zugezogen, denn Frau von Aßberg glaubte nicht daran und beschämte ihn in der Regel nur mit einem Blicke, der einen milden Vorwurf zu enthalten schien. Heute zum ersten Male fügte sie dem stummen Blicke noch ein Wort hinzu:
„Lieber Gebhard, warum wollen Sie mich durchaus gegen sich einnehmen?“
Das war’s! Die rechte Antwort stürmte in seinem aufwogenden Herzen, in seinem schmerzenden Hirn und verdunkelten Blick, aber er war von der Frage und dem süßen Klange ihrer Stimme ganz fassungslos und das erzwungene Lächeln, die erbärmliche Ausflucht, die von seinen Lippen kam, hätten auch Frau von Aßberg, welche nichts von Allem ahnte, was in ihm vorging, fast außer Fassung gesetzt. Sie vermochte es zwar noch, das strandende Schifflein wieder leicht von der Klippe zu wenden, dann aber wurde sie für den Rest des Abends still und ernst. Es war der letzte, welchen Graf Hallstein auf Berga zubrachte.
Am andern Morgen nahm er in vollkommener Selbstbeherrschung Abschied: er war wieder ganz der feine, an Welterfahrung überlegene Mann, ganz Legationsrath. Die Worte, welche er Frau von Aßberg beim Scheiden sagte, konnten nicht verbindlicher sein, sie athmeten nur Hochachtung und Antheil und er war mit sich zufrieden. Frau von Aßberg zeigte sich gegen ihn, wie sie alle Tage gewesen war: freundlich und voll herzlichen Gefühls, auf welches der Freund ihres Sohnes Anspruch hatte; ihr Auge blickte klar und ruhig, wie immer. Erst als er mit Günther, der ihn begleitete, jenseits des Thorweges verschwunden war, umwölkte sich ihre reine schöne Stirn und ein wehmüthiges Lächeln trat auf ihre Lippen. Auch während der Fahrt behielt Graf Gebhard seine vollkommenste Fassung, er nahm es dankbar an, als ihm Günther einen kleinen Umweg durch den Wald vorschlug, um ihm noch einmal die Partien am Weiher zu zeigen, die ihm so sehr gefallen hatten, und auch die im Bau begriffene Capelle am anderen Ufer, wo dann der Schleifweg wieder die Richtung nach der Stadt einschlug. Der Gerichtsverweser, der zu Pferde immer diesen viel angenehmeren Weg ritt, hatte ihn Aßberg erst gezeigt. Die Freunde fuhren absichtlich langsam und besprachen nochmals in ruhiger Stimmung, was sie sich mitgetheilt hatten. Aber Gebhard überzeugte sich dabei, daß Günther den schwersten Vorwurf in seiner Selbstanklage noch immer festhielt und sich durch die Bemühungen des Freundes, ihn zu entkräften, nicht irren ließ.
„Gieb das auf!“ sagte Aßbcrg endlich mit resignirtem Lächeln.
„Ich trage das Maal, und nur der Fittig eines Engels, wie in Dante’s Dichtung, könnte mich davon befreien. Darum bin ich hier auch ganz gut aufgehoben, bis ich dort ruhen werde.“
Er zeigte nach dem Gemäuer am See, das zwischen den grünen Zweigen eben sichtbar wurde.
„Wie?“ rief Gebhard. „Das ist der Sinn der Capelle?“
Ein Stutzen des Pferdes, ein helles Wiehern, während es lebhaft in’s Zeug ging, störte Günther’s Antwort. Man hörte in geringer Entfernung das Rollen eines Fuhrwerks auf den Wurzeln.
Bald darauf wurde es sichtbar: ein offener, landesüblich langer Kaleschwagen mit zwei Personen hinter dem Knecht.
„Günther!“ rief der Graf leise. „So wahr ich lebe –!“
Sie hatten den Gerichtsverweser erkannt – die Dame neben ihm in tiefer Trauer, wer konnte das anders sein, als –
„Schönsten guten Morgen!“ rief Herr Hassel ihnen entgegen. „Ei das trifft sich ja charmant! Frau Mutter doch zu Hause –?“
Das junge, schwarz gekleidete Mädchen, das neben ihm saß, hob ihr gesenktes Auge flüchtig zu den Fremden empor, ließ es aber gleich wieder zu Boden sinken, ihre vom Gram gebleichte Wange färbte sich ein wenig.
Günther hatte die Frage des Gerichtsverwesers bejaht, und bog aus, um das schwerfällige Fuhrwerk vorüber zu lassen. Hassel besaß doch so viel natürliches Zartgefühl, um nicht anzuhalten, was er sonst unbedingt gethan hätte. Er sagte nur: „Fräulein Lenchen will Ihrer Frau Mama selbst danken –“ Und Helene hob noch einmal ihr Auge auf den Sohn der Frau, von welcher sie das erste Zeichen liebevoller Güte, das ihr in ihrem ganzen Leben geworden, erhalten hatte; sie neigte sich gegen ihn, ihr Blick streifte auch den Grafen, aber schwere Perlen hingen an den langen dunklen Wimpern und zogen die schneeweißen Lider wieder über die feuchtschwimmenden Sterne – so fuhr sie an den Freunden vorüber und Günther vermochte, ergriffen, wie er von der rührenden Erscheinung in ihrem tiefen Leide war, kaum ein dürftiges Wort über seine Mutter in Bezug auf Hassel’s Erklärung zu erwidern.
Als der Wald sich zwischen den beiden sich kreuzenden Wagen geschlossen hatte, sagte Gebhard: „Nun ist das Geschick des armen, verwaisten Kindes gesichert. Deine Mutter wird schon für sie sorgen.“ Er wollte noch den Wunsch aussprechen, daß diese Begegnung an der Capelle ein gutes Omen sein möge! aber er besann sich eines Bessern und hütete sich, durch ein unvorsichtiges Wort in ein fremdes Schicksal einzugreifen. Günther that es leid, den ersten Moment zu versäumen, wo Fräulein Nidau seiner Mutter sich nahte, er hätte gern den ersten Eindruck auf diese beobachtet, von dem so viel abhing – der Graf zweifelte nicht, daß dieser Eindruck ein günstiger sein werde. Beide ließen dann, wie verabredet, den [299] Gegenstand ihres Gesprächs fallen und blieben eine Weile mit ihren Gedanken beschäftigt, bis Hallstein unbefangen von andern Dingen zu reden begann, selbst von der Wirthschaft. Er schätzte den Freund glücklich, daß er noch einen Verwalter alten tüchtigen Schlages besitze, dem er unbedingt die ganze Oekonomie, selbst wenn er einmal jahrelange Reisen unternehme, anvertrauen könne, und äußerte sich dann weniger günstig über andere Persönlichkeiten der nächsten Umgebung, die er kennen gelernt hatte. Auch der Pfarrer des Dorfes, so still und zurückhaltend er war, hatte seinen Beifall nicht erlangen können: er nannte sein Benehmen geistlichen Hochmuth und lächelte ungläubig, als Günther warm seinen Seelsorger in Schutz nahm und ihn einen wahrhaft bescheidenen und frommen Mann nannte. Hier war überhaupt zwischen Beiden streitiger Boden, wo sie sich nicht verständigen konnten. Gebhard glaubte in der Zerknirschung über Vorfälle, welche dem Weltmanne nur als Fatalitäten erschienen, in dem Baue der Waldcapelle, welche gar zum Mausoleum bestimmt worden war, schon die Wirkung „geistlicher Uebungen“ zu erblicken. Er schwieg jedoch, weil ihm überhaupt Gespräche über diese Dinge unbequem waren.
Bis zur Stadt hatte Günther den Freund geleiten und dieser von dort sogleich bis zu dem, allerdings für die heutige Zeit etwas entfernten, Anschluß an die Eisenbahn Postpferde nehmen wollen. Günther bedachte jedoch, daß es gewiß wohlgethan sei, das Zusammensein der Mutter mit Fräulein Nidau nicht durch eine schnelle Heimkehr zu stören; er schlug daher Gebhard vor, noch eine Station weiter zu fahren, was dieser dankbar annahm. Dort trennten sich endlich die Freunde mit warmen Scheidegrüßen und Günther mußte versprechen, bald einmal Nachricht zu geben, wie sich Alles in seinem Leben weiter gestaltet habe; besser sei es freilich, setzte der Graf hinzu, wenn er diese Nachricht selbst brächte, da er, wie gesagt, die Wirthschaft in treuen Händen zurücklasse.
„Könnte ich abkommen,“ erwiderte Günther mit eigenthümlichem Nachdrucke, „so wüßte ich wohl mein Ziel der Reise.“
Er sprach sich nicht weiter aus, Gebhard glaubte ihn aber zu errathen, da er kürzlich wiederum geäußert hatte, wie sehr er das seiner Mutter gegebene Versprechen als ein unmännliches bereue.
Auf der Heimfahrt, da es schon ziemlich spät geworden war, nahm Günther den geraden Weg und kam, als der Wächter bereits abgerufen hatte, nach Hause. Im Wohnzimmer brannte noch Licht, er wußte, daß ihn die Mutter erwartete, und eilte, sein längeres Ausbleiben zu erklären.
Frau von Aßberg empfing ihn liebevoll, wie immer, und ohne Frage, oder gar Vorwurf. Gebhard that ihr ein tiefes Unrecht, wenn er glaubte, daß sie ihren Sohn am Gängelbande führe: man konnte sich kein schöneres Verhältniß denken, als zwischen Günther und seiner Mutter. Sie hörte freundlich an, was er ihr sagte, und überraschte ihn dann durch die Mittheilung, daß Helene Nidau bei ihr bleiben werde.
„Sie ist hier?“ rief Günther, und es klang fast, als erschrecke ihn die Nachricht.
„Ich habe sie dazu vermocht, gleich hier zu bleiben, und glaube, daß sie es nicht ungern gethan hat. –“
„Wie gefällt sie Dir?“ fragte Günther zögernd.
„Du wirst sie morgen kennen lernen,“ erwiderte die Mutter. „Ich will Dein Urtheil über sie hören.“ Hassel hatte von der Begegnung am See erzählt, Günther wiederholte es und hörte dann noch, welche Verabredungen die Mutter weiter mit dem redlichen Manne getroffen hatte. Es war ihm leid gewesen, das Fräulein, das seine Frau und Kinder schon lieb gewonnen hatten, aus seinem Hause wieder scheiden zu sehen; auch Helene hatte, von dem Erbieten der Frau von Aßberg bestürzt, Anfangs mit einem schüchternen und bittenden Blicke auf ihn gesehen, als er ihr aber erklärte, daß es sich hier mehr für sie passe und zu ihrem Besten sei, war sie der Mutter mit einer wahrhaft rührenden Dankbarkeit genaht. – „Doch, ich will Dein Urtheil nicht bestimmen,“ sagte Frau von Aßderg. „Der gute Hassel,“ setzte sie lächelnd hinzu, „wollte durchaus, daß Du die Vormundschaft übernehmen solltest. Erschrick nicht – ich habe Dir’s erspart und ihn selbst dazu bewogen.“
Günther war an diesem Tage durch zu viel Erlebnisse aufgeregt, als daß er in der Nacht einen ruhigen Schlummer hätte finden können. Dieser fehlte ihm überhaupt nur zu oft. Wirre Träume, in denen sich Bilder aus der wahren Vergangenheit und phantastische Gestalten einer möglichen Zukunft auf der rollenden Welle zwischen beiden, die wir Gegenwart nennen, bekämpften, ließen ihn oft schreckhaft mit pochenden Adern aufwachen und erst gegen Morgen schlief er so fest ein, daß die Mutter, besorgt über sein unerklärbar spätes Aufstehen, ihn wecken mußte. „Du setzest Dich bei unserer neuen Hausgenossin, die ein ächtes Landmädchen ist, gleich in übeln Ruf als Gutsherr,“ scherzte sie, und Günther beeilte sich, ihr bald zu folgen.
„Das ist mein Sohn, liebe Helene; Sie haben ihn gestern schon gesehen.“
Günther hatte mit einem Blick die Erscheinung des jungen Mädchens, das in tiefer Verlegenheit vor ihm stand und sich kaum verneigte, in sich aufgenommen. Sie war in ihrem Trauerkleide, das in plumpen Falten ihre ganze Gestalt verunzierte, keineswegs mit jenem Reiz ausgestattet, welcher die ernste Farbe des Grames in der großen Welt sogar der Coquetterie dienstbar macht; ihr Wuchs, etwas über Mittelgröße, mochte eher kräftig als elegant sein, aber die stillen, reinen Züge ihres Antlitzes, in welchem ein Seelenkundiger ewige innere Frauenschönheit gelesen hätte, machten auf Günther einen mächtigen Eindruck. Er fand heut nicht einmal die herkömmliche Formel – er reichte ihr aber die Hand und Helene legte die ihrige zögernd hinein; er fühlte, wie sie zitterte, diese kleine Hand, von der Arbeit so hart!
Welcher Gedanke bewegte die Mutter, daß sie mit einem aufleuchtenden Blicke auf das Paar sah? Wenn es aber auch Frauenart ist, Gedanken, wie der, welcher Frau von Aßberg in diesem Moment bewegen mochte, allzu schnell aufkommen zu lassen: Günther’s Mutter war doch nicht geneigt, auf einen ersten Eindruck, einen bloßen Einfall hin, den Gedanken fest zu halten, zu hegen und sorglich groß zu ziehen. Sie überließ, was sich gestalten sollte, der Fügung des Himmels und wachte nur mit treuer Sorge, daß ihres Sohnes Frieden, den sie sicherer gewonnen glaubte, als er war, nicht in anderer Hinsicht gefährdet werde.
Das Leben in Berga gewann durch die Fremde, welche aber von Frau von Aßberg wie ein Kind vom Hause behandelt wurde, keine Veränderung. Helene störte Niemand. Sie hatte bald Zutrauen gewonnen und wandte der gütigen Frau, die sich ihrer angenommen hatte, ihr Herz mit einer Innigkeit zu, welche diese wahrhaft beglückte. Zu ihr konnte sie dann auch so vertrauend sprechen, ihr Leben in Allweide, all ihre kleinen Erlebnisse schildern, bis zu dem Ereigniß, an das sie nur mit einer gewissen Scheu und Furcht dachte: ihre Verlobung. Der Vater hatte sie ihr angekündigt, und sie nicht um ihren Willen gefragt, wie er das überhaupt nie that. Doch sprach sie von dem Vater immer mit Ehrfurcht und weinte noch viel um ihn: „er war so gut!“ sagte sie oft und alle Härte, die er ihr bewiesen hatte, war über den wenigen Momenten vergessen, in denen doch die Liebe zu seinem Kinde, die er im Herzen trug, durchgebrochen war und sich ihr in Liebkosungen, deren er sich später geschämt, offenbart hatte. Den Tod ihres Bräutigams beklagte sie nur um seiner Schreckniß willen, nicht, weil sie dadurch einen traurigen Verlust erlitten hatte. So lag die unschuldige Seele des Kindes vor den Blicken ihrer Wohlthäterin unverschleiert da und diese konnte nur wünschen, daß sich ihr Herz dem Sohne zuwenden möge, wie sie längst bemerkt batte, daß in Günther eine Neigung für Helene Wurzel geschlagen hatte und immer mächtiger emporwuchs. Aber darüber erlangte sie keine Gewißheit. Alle Zeichen, welche sonst ein still gehegtes Gefühl verkünden, fehlten hier; Helenen’s Umgang mit Günther war fern von jeder Befangenheit, kein Licht- und Schattenwechsel im Auge, in der Farbe, im Ton – sie suchte ihn eher auf, als sie ihn mied, sie half ihm thätig, wo sie irgend konnte, wie sie auch allgemein thätig war in der Wirthschaft, und eine seltene Geschicklichkeit in allen häuslichen Arbeiten zeigte. In seiner Abwesenheit verrieth sie niemals eine sinnende, träumerische Stimmung, sie konnte schon wieder fröhlich auflachen und ihr ganzes Wesen hob sich in freier, kräftiger Gesundheit der Seele. Dennoch mußte Frau von Aßberg sich sagen, daß jene Zeichen auf ein Naturell, wie Helenen’s, das bei einer seltenen Innigkeit des Gemüths doch frei von aller Sentimentalität war, nicht paßten und vielleicht grade die frische und fröhliche Ungezwungenheit des Umgangs sich mit einer Herzensneigung für Günther deshalb vertrage, weil sie sich von dieser, die so [300] gar nicht bedroht war, noch nicht Rechenschaft gegeben hatte. Zu solcher Hoffnung konnte sich ihr Mutterauge nur freuen, wenn sie bemerkte, wie Günther förmlich auflebte und sein Blick wieder hell war und Glück strahlte, wie einst in vergangenen Tagen!
Der Winter war gekommen, das Landleben zog sich aus der freien Natur in die warmen festen Häuser, an das trauliche Kaminfeuer; in den Städten aber nahm das Leben jetzt erst seinen großartigsten Aufschwung. Graf Hallstein, in seine gewohnten Umgebungen zurückgekehrt, war längst wieder der Alte geworden, und lächelte über die seltsame, gleichsam berauschende Wirkung, welche seine excentrische Entdeckungsreise der Freundschaft auf ihn gemacht hatte. Wie nah’ war er daran gewesen, sich auf nie zu vergessende Weise lächerlich zu machen! Der Fluch der Lächerlichkeit war auch ihm der entsetzlichste! Er schrieb es der Luft, dem geheimnißvollen „Od“, jenem geistigen Fluidum zu, von dem er flüchtig gelesen hatte, daß es in der Welt unsichtbar ströme, und sensitiven Menschen zu allerhand Spuk verhelfe. Mochte es strömen, wo es wollte, in die Salons drang es nicht! Günther hatte ihm ein einziges Mal geschrieben, bald, nachdem das Fräulein von Nidau in Berga eingezogen war; er hatte ihm mit warmer Schilderung deren Vorzüge gemalt, und dem Grafen dadurch die Ueberzeugung gegeben, daß „Alles schon so gut als abgemacht sei.“ Ueber den Freund war er also vollkommen beruhigt, und daß er ihm seitdem nicht wieder geschrieben hatte, ließ sich aus der „Laune des Verliebten“ ganz natürlich erklären. Von Frau von Aßberg hatte er auch einen Gruß erhalten: es hatte ihn dabei doch ein wenig durchzuckt, aber es mochte wohl nur der heißmachende Gedanke sein, wie leicht er seine wahnsinnige Anwandlung gegen sie hätte verrathen können! Das war glücklicher Weise nicht geschehen, und er konnte mit voller Befriedigung das Parket der glänzenden Räume sichern Schrittes durchwandeln, als der Carneval sie der Gesellschaft zu rauschenden Festlichkeiten öffnete.
Nach einem solchen Feste war er am andern Morgen ziemlich spät erwacht, als ihm gemeldet wurde, daß Herr von Aßberg aus Berga da gewesen sei und, ohne seine Wohnung anzugeben, sich wieder entfernt habe, um Abends zu der Stunde, welche ihm als die sicherste bezeichnet worden, wieder zu kommen. Mit dem Namen schien es, als ob ein Vorwurf in Hallstein’s Seele erwacht sei. Nicht, daß er etwas gegen Günther gefehlt, er hatte ihm ungesäumt geantwortet, auf sein keimendes Glück angespielt und sich, wenn die Blüthe erschlossen, neue Nachrichten ausgebeten. Es mußte etwas Anderes sein, das den Grafen beunruhigte: er ergründete es aber nicht näher, sondern begab sich in das Palais seines Ministeriums, um die gewöhnlichen leichten Geschäfte abzumachen. Auch hier konnte er der Mahnung aber nicht entgehen. Unter den Pässen, die ihm vorgelegt wurden, vom Ministerium des Innern zur Contrasignatur dem des Aeußeren zugegangen, befand sich einer für Herrn Günther von Aßberg, Rittergutsbesitzer u. s. w. nach Salzburg. Jetzt im Winter? Was konnte der Anlaß sein? Ein plötzlicher Gedanke traf die Wahrheit! Aber dann konnte das Glück, das ihm hoffnungsreich gelächelt hatte, nicht in Erfüllung gegangen sein – armer Günther!
Hallstein fertigte den Paß aus, und mußte nun in Ungeduld noch lange Stunden warten, ehe er den Freund sprechen und von ihm Aufschluß erhalten konnte. Er dinirte heute im Hotel länger, als gewöhnlich, um die Zeit zu verbringen, machte dann noch einen Besuch, und kam viel früher nach Hause, als sein Kammerdiener Herrn von Aßberg bestimmt hatte. Umsonst, er kam schon zu spät! Aßberg war im Laufe des Tages nochmals hier gewesen. Man reichte dem Grafen ein Billet von ihm. Dieser eilte in sein Zimmer und las:
„Es ist mir unmöglich, theurer Gebhard, Dich noch zu sprechen – ich darf den Bahnzug nicht versäumen, da ich meiner Mutter versprochen habe, sie nicht warten zu lassen. Nimm daher nur in Umrissen, was ich Dir von Salzburg aus, wenn mein Schicksal sich entschieden hat, ausführlich schildern will. Das Glück, das Du mir prophezeiht hast, geht in Erfüllung – ein Engel, wenn auch in anderm Sinne, als ich Dir einst mit Dante’s Gebilden sagte, wird das Maal von meiner Stirne nehmen, aber ich wäre meines Glückes nicht würdig, wollt’ ich nicht auch vor dem irdischen Gesetz meine Sühne nachsuchen. Ich habe durch Bitten mein Versprechen von der Mutter zurück erhalten, habe alle Schritte gethan, welche mir nöthig schienen, und wozu mir der gute Hassel als gediegener Rechtsverständiger seinen Rath ertheilt hat. Dann aber, mein Gebhard, wenn Alles gebüßt ist, dann werde ich unaussprechlich glücklich werden! Diese Ueberzeugung soll auch Dir mein nächster Brief geben, in welchem ich Dir Alles, Alles sagen will.„Bravo!“ sagte der Graf, indem er das Billet sinken ließ. „So kommt ja Alles hübsch sittlich und gerecht in’s Geleise! Gratulire bestens!“ Als er das aber sagte, überkam ihn doch plötzlich ein Gefühl, vor welchem das ironische Lächeln auf seiner Lippe erstarb; er bedeckte seine Augen mit der Hand, und saß lange tief in sich gekehrt, bis ihn der Schlag seiner Pendüle weckte und aus dem Zauberkreise rief, der ihn, wie er sich unwillig gelobte, heut zum letzten Male verstrickt haben sollte. „Soll ich ein drittes Opfer dieser geheimnißvollen Frau werden? Nimmermehr!“
Aber für den Freund konnte etwas geschehen. Graf Hallstein erwachte zu seiner vollen diplomatischen Thatkraft. Er wußte Günther auf dem Wege nach Salzburg, wo er sich endlich dem Untersuchungsrichter stellen wollte, freilich mit dem indirecten demüthigenden Geständniß, daß er sehr lange Zeit gebraucht habe, zu diesem männlichen Entschlusse zu kommen. Ein äußerer Anlaß dazu, nachdem er zwei Jahre geschwiegen hatte und die Sache dort wohl schon halb vergessen war, lag nicht vor; man konnte es wohl nur auf die Macht des Gewissens schreiben, welche nicht mehr zu beschwichtigen gewesen. Die Familie Walrode’s hatte keine Schritte gethan, eine energische Verfolgung seines unbekannten Gegners zu veranlassen: Hallstein wußte das, er war mit den Verhältnissen derselben ziemlich genau vertraut, wie er auch Günther schon darüber beruhigt, daß Walrode’s Braut nicht sonderlich lange um ihn getrauert hatte. Dort war Alles locker und lose: Achtung hatte er der Familie, trotz ihrer gesellschaftlich nahen Verbindung mit der seinigen, nie zollen können. Der Majoratsbesitz war mit Walrode’s Tod auf einen Vetter übergegangen, der kein Interesse hatte, den Urheber dieses glücklichen Ereignisses anzufeinden. Von dieser Seite war also kein Einspruch zu befürchten, wenn Hallstein alle Triebfedern, die er in Bewegung setzen konnte, für seinen Freund wirken ließ. Er kannte die Gesetze im Kaiserstaate nicht, aber er wußte, daß der Zweikampf nicht straflos bleiben konnte und daß für den ohne Zeugen gewiß noch eine verschärfte Strafe eintrat, aber er wußte auch, daß zu den Hoheitsrechten des obersten Gerichtsherrn das Begnadigungsrecht gehört und, wenn auch kein vollständiger Erlaß, doch eine Milderung der nach dem Gesetz zu verhängenden Strafe durch eine Vorstellung in geeigneter Form vielleicht zu erbitten sei. Er verlor keinen Augenblick. Seine Beziehungen zu der kaiserlichen Gesandtschaft erlaubten ihm, dort anzuknüpfen: in vertraulicher Form wußte er den ganzen Zusammenhang der unglücklichen Verwickelung so günstig für Aßberg vorzutragen, daß er den Gesandten lebhaft für ihn interessirte. Besonders der Grund, warum Secundanten ausgeschlossen worden waren, fand die volle Anerkennung, wenn sie sich auch nicht in officielle Form kleiden konnte – und als der Graf in Bezug auf den bedenklichen Punkt, die Hinweglassung eines Arztes, geltend machte, daß, wenn einmal eine so schwere Beleidigung eingetreten sei, man ganz mit dem Leben abschließen, jede Nothbrücke hinter sich abbrechen müsse, um den Zweikampf wirklich als ein ernstes Gericht, nicht als eine bloße Sache der Convenienz anzusehen, schüttelte der Gesandte zwar den Kopf, war aber in seinem ritterlichen Sinne doch auch für diese Auffassung nicht ganz unzugänglich. Er bat den Grafen, ihm den Anlaß und Hergang der vertraulichen Mittheilung schriftlich so einzukleiden, daß er an geeigneter Stelle davon Gebrauch machen könne, und versicherte ihn sonst seiner strengsten Discretion.
Hallstein kehrte, mit sich selbst zufrieden, nach Hause zurück, und hielt es nun für seine Pflicht, der Mutter, welche gewiß um ihren Sohn in banger Besorgniß schwebte, die Hoffnungen mitzutheilen, zu denen er sich berechtigt glaubte. Er setzte sich auch gleich an seinen Schreibtisch, um sich allen bedenklichen Erwägungen zu entziehen, und schrieb, wie er gewohnt war, in raschem Federzuge, ohne sich viel zu besinnen. Die wichtigsten politischen Arbeiten hatte er so zu Papier gebracht, und sie waren immer sehr gelungen. Aber heut stockte alsbald sein Fluß der Worte: er hielt inne und las das Geschriebene, was er sonst nie zu thun pflegte, bis er zu [300] Ende war. Unwillig schob er das Blatt zurück und nahm einen neuen Bogen. Was er geschrieben hatte, erschien ihm zu elend. Und so verdarb er noch den zweiten Bogen, ehe er einen leidlichen Brief, in der Temperatur, die er sich vorgesetzt hatte, zu Stande brachte.
„Werde ich denn ganz zu Schanden?“ rief er. Er mußte wieder an sein verhängnisvolles „Wohl mir!“ denken, das ihn immer vor Beschämung heiß machte; er fragte sich bei jedesmaliger Erinnerung, was er denn eigentlich verstanden habe, um Frau von Aßberg so zu antworten. Das hatte er rein vergessen. Sollte es ja ein unbewußtes Heraufklingen der Ahnung gewesen sein, die ihn glücklich pries, diese noch jetzt so gefährliche Frau nicht in der vollen Zaubermacht ihres Liebreizes kennen gelernt zu haben? „Warum aber?“ fragte er sich heut plötzlich. „Wäre es denn so ganz undenkbar oder etwa ein Unglück für mich gewesen, in ihren Augen –“ Hier sprang er auf, seine Gedanken gewaltsam unterbrechend, couvertirte, siegelte rasch den Brief und klingelte dem Diener, der ihn zur Beförderung abgeben sollte.
„Es ist ganz unglaublich!“ sprach er für sich mit schneidender Selbstironie. „Willst Du Dich denn mit Gewalt der allgemeinen Lächerlichkeit preis geben – Günther’s Stiefpapa!“ Er lachte laut auf und ließ wieder vorfahren, um eine unterbrochene Reihe von Besuchen in den höchsten Regionen der Aristokratie fortzusetzen.
Nach einigen Tagen erhielt er von Frau von Aßberg Antwort; er kannte die Schriftzüge der Adresse nicht, aber der Poststempel belehrte ihn und weckte zugleich das ganze Bild des kleinen Städtchens mit seinem Steindamme, der „Börse“ unter den geköpften Pappeln, ihrer achtbaren Honoratiorengesellschaft in vorsündfluthlichen Röcken mit den langen Pfeifen – dann aber auch das Bild der blühenden Rosen an den kleinen Häusern und der wunderschönen Mädchengesichter unter den bunten, einfach geschlungenen Kopftüchern. Diese Welt im Wassertropfen, wie er sie einst genannt hatte, war gewiß ganz glücklich. –
Er hatte das feine Blatt auseinander geschlagen – die Zeilen des Briefes lagen so klar und zierlich gereiht, die Buchstaben wie Perlen: es war sie selbst, die Schreiberin! Sie dankte ihm in herzlichen Worten und sprach die Hoffnung aus, daß er sich persönlich überzeugen werde, wie Günther glücklich sei. Es war nicht ausgedrückt, dessen Heimkehr abzuwarten – ob sie das absichtlich vermieden? Aus feinem Gefühl oder –? Jedenfalls hatte sie nicht zu fürchten, daß Gebhard früher kommen werde, er hatte ja überhaupt beschlossen, Berga niemals wieder zu sehen. Ueber Helene Nidau sprach sie sich innig und liebevoll aus, jedes Wort bekundete ihres Herzens Zufriedenheit mit dieser Verbindung. Hallstein las die betreffenden Stellen sehr aufmerksam.
„Ich habe es ja gleich gesagt, noch ehe ich sie mit Augen gesehen hatte,“ sprach er, indem er den Brief wieder zusammenfaltete und sorglich verschloß. „Die passendste Lebensgefährtin für einen Erbherrn auf Berga! Ein Fichtenbaum steht einsam auf Hohensalzburgs Höh’ – kann auch Kuffstein sein! Er träumt von einer Palme –“ doch unwillig über sich selbst unterbrach er seine Parodie, zu der er sich gezwungen hatte, um die Bewegung in seinem Innern mit kaltem Wassersturze zu dämpfen. „Ich bin freilich eines solchen Glückes nicht würdig!“ sagte er, und seine Lippen zuckten.
Nicht so bald, als es ihm verheißen war, erhielt er über den Erfolg seiner Bemühungen für Günther einige Kunde. Der Gang der eingeleiteten Untersuchung, die Feststellung des Thatbestandes schien abgewartet zu werden, wie ihn der Gesandte vertröstete. Dagegen schrieb Günther, seinem Versprechen gemäß, sehr ausführlich. Er schilderte ihm, wie Helene in Berga aufgenommen worden sei, welchen Eindruck sie anfangs auf ihn gemacht, wie sie allmählich Vertrauen gefaßt und seiner Mutter eine zärtliche Liebe geweiht habe, und faßte dann kürzer, wie zwischen Helenen und ihm ein inniges Verhältniß entstanden und zu einem Bunde der Herzen gediehen sei. Da habe er gefühlt, daß er nicht mit dem Bewußtsein einer heimlichen Schuld seines Glückes sich freuen könne, und wie er ihm schon geschrieben, habe die Mutter ihm volle Freiheit des Handelns in dieser Beziehung gegeben, worauf er den braven Hassel in das Vertrauen gezogen und von ihm den besten Rath erhalten habe. Er erwarte nun in Geduld den weitern Gang und Abschluß der Verhandlungen und könne die Humanität, mit welcher die Behörden ihm bei so ungewöhnlichem Falle entgegen gekommen seien, nicht genug rühmen. Thatsachen darüber und einzelne Mittheilungen über sein dortiges Leben füllten den Rest des Briefes.
Der Graf antwortete ihm bald, hütete sich aber, ihm zu entdecken, was er für ihn in Bewegung gesetzt habe, da er von dem allzu gewissenhaften Freunde Vorwürfe über diese Beugung des Rechts, wie er es genannt haben würde, fürchtete. Es verging nun längere Zeit, ehe ihm die erste Freude wurde, daß seine Bemühungen mit Erfolg gekrönt waren. Der Gesandte war allen Fragen, welche sich Hallstein bei Gelegenheit erlaubte, gewandt ausgewichen, bis er eine gewisse Antwort geben konnte. Der Spruch des Gerichts war endlich gefällt und lautete, dem Gesetz entsprechend, auf eine mehrjährige Festungshaft, doch stand, in Betracht des eingegebenen Berichts, eine nahe Begnadigung in Aussicht.
Als Hallstein diese Gewißheit hatte, konnte er sich nicht enthalten, sie gleich der Mutter mitzutheilen, ja er hatte einen Moment im Sinne, die Nachricht selbst nach Berga zu bringen, da er sich nun von der Thorheit, die ihn wie ein hitziges Fieber befallen hatte, vollständig geheilt glaubte. Aber er besann sich eines Bessern und schrieb lieber, wodurch er sich eine neue Versuchung ersparte. Wie glücklich er die Mutter und Braut durch seine Freudenbotschaft machte, bewies die Antwort der Frau von Aßberg, sie sprach ihm den innigsten Dank aus, und wußte doch nicht einmal, daß er dies unverhoffte Glück ihr bereitet hatte. Er wollte es nur durch seine Verbindungen, die seine Stellung ihm verschafft, erfahren haben.
Auch Günther schrieb ihm bald und hatte nun, da das Urtheil Rechtskraft erhalten, seine Haft angetreten, welche aber schon jetzt bedeutend abgekürzt worden war. Eine vollständige Begnadigung erfolgte erst später, und da der Gesandte zu dieser Zeit gerade einen mehrmonatlichen Urlaub angetreten hatte, so erfuhr Hallstein nichts davon, bis er, eines Abends von einem Spazierritte heimgekehrt, durch Günther’s Anblick überrascht wurde, der die Nachricht von der ihm widerfahrenen Gnade selbst brachte. Er schien ein Anderer geworden, seit Gebhard ihn nicht gesehen hatte; die Strenge, welche sich in seinem Antlitz, wenn es unbewacht war, kund gab, hatte dem alten lebensfrohen Ausdrucke, wie der Freund ihn vor seinem Unglücke gekannt, wieder Platz gemacht und Hallstein freute sich dessen von ganzem Herzen.
„Gestehe mir, Gebhard – Du hast die Hand dabei im Spiele gehabt bei diesem Act kaiserlicher Gnade!“
„Willst Du demselben seinen selbstständigen Werth nehmen?“ entgegnete Hallstein. „Wann reisest Du? Ich sehe Dir die Eile an.“
„Um neun Uhr – aber nicht ohne Dich! Du mußt mich begleiten, wenn Du mich nicht wahrhaft betrüben willst!“
Gebhard war von dieser Aufforderung so überrascht, daß er anfangs nur einen schwachen Grund der Ablehnung fand, und wiewohl er dann entschiedener der Bitte des Freundes auszuweichen suchte, wurde er endlich gezwungen, nachzugeben. Sein eigener Stolz, der sich vor dem innern Vorwurf, er fürchte sich wohl, eine Probe der gewonnenen Seelenruhe zu bestehen, empörte, kam Günther bei seinen Bitten mächtig zu Hülfe. So traf er denn in Eile seine Anordnungen, und Beide reisten mit einander ab.
Es war am frühen Morgen, erst des nächsten Tages, als sie nach längerer Fahrt, mit Postpferden von der Eisenbahnstation an, wo sie sich im vergangenen Sommer getrennt hatten, Berga erreichten. Günther hatte der Mutter wohl seine Befreiung mitgetheilt, aber den Tag seiner Ankunft nicht geschrieben, der Graf liebte Ueberraschungen nicht, und bestand darauf, vor dem Dorfe abzusteigen und dem vorauseilenden Freunde langsam zu folgen. Dieser konnte ihn davon nicht zurückhalten, und zeigte ihm nur noch einen Fußpfad, welcher ihn nach dem Garten des Herrenhofes führen sollte, dann überließ er ihn sich selbst.
Gebhard wanderte mit gemäßigten Schritten zwischen den mit Dornhecken eingefaßten Gärten des Dorfes dahin, und hielt noch eine kalte, strenge Selbstschau. Er hatte alle Ursache, mit sich zufrieden zu sein. In unerbittlicher Consequenz verfolgte er alle unklaren Momente seiner letzten Anwesenheit, und fand es nun selbst unbegreiflich, wie er, auf den die frischeste Knospe, welche zum ersten Male „ausging“, d. h. die Hofgesellschaften besuchte, und dort allgemeine Ekstase erregte, keinen Eindruck, als den eines flüchtigen Wohlgefallens am Schönen machte, wie er von einer Frau, gewiß tief in den Vierzigen, habe geblendet werden können – gefesselt, Gott sei Dank nicht. Das Zeugniß wenigstens konnte er sich geben, daß der Gedanke, sich einer wenigstens zwölf Jahre ältern Frau, der Mutter seines besten, vielmehr einzigen Freundes, die überdem eine wahre Neigung zu seinem Bruder gefühlt, und ihn dennoch aufgegeben hatte, in so lächerlicher Schwäche zu nahen oder gar zu [302] offenbaren, nie in ihm aufgetaucht war. Er hatte dies Fieber nun überstanden und konnte ihr dreist begegnen.
In dieser Zuversicht hatte er den herrschaftlichen Garten erreicht, den er durch eine unverschlossene Pforte betrat. Als er diese öffnete, hörte er einen leichten Schrei der Ueberraschung und konnte nun gleich die Feuerprobe, der er sich gewachsen fühlte, bestehen. Frau von Aßberg stand vor ihm – sie war erblaßt, als sie ihn erblickt hatte, und ihr schönes Gesicht nahm den Ausdruck bangen Zagens an.
„Mein theurer Freund,“ sagte sie mit zitternder Stimme – „Sie bringen eine schlimme Nachricht –“
War es die Gewalt des Moments, die in seinen Zügen einen Widerspruch mit der eben gerühmten Fassung malte, oder der Blick seines Auges, wodurch sie zu dieser Befürchtung gekommen war? Er eilte, sie zu zerstreuen und bemerkte jetzt erst, daß noch ein anderes Augenpaar in ängstlicher Besorgniß auf ihm ruhte: es war Helene Nidau, er erkannte sie auf den ersten Blick.
Seine Freudenbotschaft verscheuchte schnell die Wolken, und er wurde nun auch von dem jungen Mädchen, das so oft und liebreich von ihm gehört und keine Formen kannte, welche der natürlichen Regung ihres reinen Gefühls widersprochen hätten, mit einer Herzlichkeit begrüßt, die ihm wohl that. Sie war zwar lebhaft erröthet, als sie ihm die Hand reichte, aber sie mußte dem Freunde ihres Günther doch zutrauensvoll in das Gesicht blicken. Und dieser war, noch ehe Günther ihnen vom Hause her entgegen kam, der vollen Gewißheit, daß dessen Glück gesichert war.
Jeder Tag, den er hier zubrachte – und es wurden deren acht mehr, als er sich anfangs vorgenommen hatte – bestärkte ihn noch mehr in dieser Ueberzeugung. Mit sich selbst wollte es ihm weniger gelingen, vollständig auf das Reine zu kommen. Nur Eins gereichte ihm zur großen Genugthuung: daß er sich, was auch in schwachen Momenten in ihm vorgegangen sein mochte, daß er sich nie verrathen hatte. Frau von Aßberg benahm sich auch gegen ihn wahrhaft mütterlich, und die Rührung, mit welcher sie ihm, als er endlich Abschied nahm, die Hand reichte, hatte nur diesen Ausdruck. Diesmal versprach er aber, wieder zu kommen und zwar zur Hochzeit des jungen Paares. Es war ein Beweis, daß er sich nun ganz sicher wußte, von ihr niemals auch nur in leiser Ahnung errathen zu sein.
„Wohl mir!“ sagte er im Eichenwalde, das Wort, das den ersten Moment seiner Selbstvergessenheit, ihr gegenüber, bekundet hatte, diesmal im vollen Bewußtsein wiederholend.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: rechschaffenen