Fredy

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Autor: Marie Bernhard
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Titel: Fredy
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aus: Die Gartenlaube, Heft 27–29, S. 464–467, 480–483, 492–499
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[464]

Fredy.

Novelle von Marie Bernhard.


1.

Entschuldige mich, bitte, liebe Fanny! Dort geht ein alter Bekannter von mir, wir standen vor einiger Zeit noch in derselben Garnison zusammen!“

„Den Kürassieroffizier meinst Du – da drüben links? Den stattlichen, großen?“

„Eben den! Was den hierher verschlagen haben mag? Nochmals: entschuldige mich! Zu Tisch bin ich bestimmt da! Adieu, Kinder!“

Der so sprach, war ein brünetter, etwas untersetzter Artillerieoffizier. Gewohnheitsmäßig nahm er die Hacken zusammen, legte zwei Finger an den Mützenrand und nickte der Dame, neben der er gesessen, freundlich zu. Sie sah ihm sehr ähnlich; drei niedliche Kinder spielten um sie herum, der älteste Junge ließ seine Sandschippe sinken und sah voll Interesse hinter seinem Onkel her.

„Kennt Onkel Lutz auch Kürassiere?“

„Natürlich!“ gab die Mutter zur Antwort.

„Wie er bloß läuft! Schade, – er hätt’ mich mitnehmen können!“

Wirklich mußte der Artillerist einen tüchtigen Schritt nehmen, um den andern, der schon einen guten Vorsprung hatte, einzuholen. Eben bog der Kürassierlieutenant um eine Gruppe von Bäumen, die eine ziemlich große Waldwiese umstanden, als er hinter sich den Kiessand unter hastigen Schritten knirschen hörte und gleich darauf eine Hand an seiner Schulter fühlte.

„Dreh’ Dich um, ich kenn’ Dich nicht!
Bist Du’s oder bist Du’s nicht?“

rief der brünette Herr atemlos, aber vergnügt, und fuhr dann fort: „Na, Trutzberg, das ist doch wahrhaftig niedlich, Dich hier zu treffen! In diesem Strandnest! Da soll doch gleich … an alles andere hab’ ich eher gedacht, als Dich hier zu finden! Was in aller Welt hast Du hier verloren?“

„Geb’ Dir die Frage zurück!“ sagte Trutzberg in seinem etwas schleppenden Ton. „Red’ Du zunächst und hübsch ausführlich; was machst Du hier?“ Es klang, wie wenn er selbst Zeit gewinnen wollte, während der andere sprach.

„Ich – dabei ist weiter nichts Wunderbares! Oder hast Du vergessen, daß ich hier in Ostpreußen eine Schwester verheiratet habe – ’nen Großkaufmann hat sie geehelicht, und der hat sich hier in diesem Idyll ’ne Villa gebaut, weil ihm und seinem Nachwuchs die See so besonders gut bekommt. Na, und da wollten mich die Leutchen mit dabei haben, und für ’n paar Wochen läßt sich’s schon aushalten, obgleich auf die Dauer – ohne Kameraden – ohne Kasino – na, bißchen öde natürlich! Aber ’mal ‚Familie simpeln‘ muß auch sein, und der Schwager ist eigentlich ’n riesig netter Kerl!“

Trutzberg lächelte etwas ironisch bei diesem Lob; er wußte, daß Lutz von Bredwitz’ Schwester sehr reich geheiratet hatte und daß ihr Mann seine Börse für den Schwager Lieutenant großmütig offen hielt.

„Na ja!“ Bredwitz hatte das Lächeln auf dem Gesicht seines Begleiters bemerkt und nickte etwas verlegen vor sich hin. „Schon mehr wie nett ist er eigentlich; ich hab’ ihm viel zu danken. Schließlich, was soll Philipp der Gute – so nenn’ ich ihn – mit all dem Mammon anfangen?“

„Du sprachst doch von Nachwuchs?“

„Freilich, drei reizende Kinder hat er! Doch die kriegen immer noch mal genug; Papas überseeische Witze werfen ja ’n kolossales Stück Geld ab. Aber nun endlich von Dir! Freut mich kolossal, Dich zu sehen! Was willst Du hier, Edler?“

Hans Henning Edler zu Trutzberg – von den Kameraden häufig kurzweg „Edler“ genannt – sah aus, als ob ihm dies Verhör recht unbehaglich wäre. Ueber seiner geraden Nase bildete sich eine Falte, die Augen blinzelten hochmütig.

„Wie lange bleibst Du noch?“ fragte er kurz.

„Drollige Frage für ’nen Menschen, der vorgestern vom Rhein heraufgekommen ist! Drei Wochen Urlaub – Major der reine Zucker – letzte Parade blendend. Und Du?“

„Was? Ich?“

„Wie lange Du bleibst, natürlich?“

„Ja so! Hängt von – von – diesem und jenem ab! Urlaub gleichfalls drei Wochen!“

„Schön! Also da bleiben wir immer zusammen!“ Bredwitz schob seinen Arm unter den des hochgewachsenen Gefährten und lachte ihn munter an. „Haben uns ja die Welt zu erzählen!“

Darauf erwiderte Trutzberg zunächst nichts. Seine Augen gingen über den Kameraden weg in die Baumwipfel hinauf, die da im warmen Sommerwind sacht ihre Blätter regten. Er hatte ja Bredwitz gut leiden können, als sie zwei Jahre hindurch am Rhein in derselben Garnison standen, allein jetzt paßte es ihm gar nicht, den gemütlichen Lutz hier zu finden. Mußte denn immer und überall, selbst in diesem obskuren Erdenwinkel, irgend einer kommen und ihm auf die Finger sehen, wenn er etwas unternehmen wollte? Konnte er nichts unbemerkt thun? Freilich abschütteln würde sich Bredwitz nicht lassen, und wie sollte er das auch anfangen, wo ihm derselbe auch nicht das mindeste zuleide gethan hatte? Es würde nichts helfen, er mußte ihn zum Mitwisser machen, denn that er dies nicht, so würde Bredwitz auch ohne das alles sehen und hören, hier, in diesem winzigen Badenest, wo das Unterhaltungsbedürfnis der Fremden von dem Thun und Lassen der lieben Nächsten zehrt.

„Zunächst,“ sagte Bredwitz, „wie ist es? Kommst Du mit mir ein Glas Sherry trinken? Ganz vernünftigen, strebsamen Sherry, [466] auf mein Wort! Hier ist so ’n Gebäudchen, nennt sich ganz stolz Hotel, da ist er zu finden; Philipp der Gute hat die Quelle erschlossen. Also – begleitest Du mich?“

„N–n–ein!“ entgegnete Trutzberg zaudernd. „Kann jetzt nicht! Andermal! Augenblicklich muß – habe ich – such’ ich etwas!“

„Suchst etwas? Hier?“

„Ja!“

„Auf dieser grünen Wiese? Persönliches oder Sächliches?“

„Persönliches!“

„Ich sehe hier weit und breit nichts anderes als ein Kind!“

„Ganz recht!“

„Oder meinst Du die Bonne bei ihm? Wir sind noch nicht nahe genug heran. Falls sie etwa jung und hübsch ist, ließe es sich ganz gut begreifen, wenn –“

„Nichts da! Bleibt ganz aus dem Spiel!“

Bredwitz sah verdutzt zu dem Redner empor, der in seinem gewöhnlichen schleppenden Ton weiter sprach und die Hand am Schnurrbart hatte.

„Erlaub’ mal, Edler, Du mußt Dich in diesen anderthalb Jahren gewaltig verändert haben! Seit wann in aller Welt interessierst Du Dich denn für Kinder?“

Trutzbergs Blick ging geringschätzig über Bredwitz hinweg.

„Kommt Dir keinen Augenblick der erleuchtende Gedanke, daß Kinder auch Mütter haben können?“

„Ah so – natürlich – na, das wär’ mir schon mit der Zeit eingefallen – kam mir bloß so komisch vor, weil Du doch Kinder nie leiden konntest! Sieh mal, sieh mal! Wie ist denn der Vater?“

„Tot!“

Bredwitz’ Augen wurden ganz groß, ihm ging endlich das betreffende Licht auf.

„Witwe also?“

„Witwe!“

„Schönheit?“

„Gar nicht!“

„Und Dein heiliger Ernst?“

„Allerheiligster!“

„Gott bewahr’ mich!“ rief der Artillerist förmlich erschrocken und versank in einiges Nachdenken.

Also heiraten wollte Hans Henning Edler zu Trutzberg – alles Ernstes heiraten! Und es eignete sich kaum jemand aus Bredwitz’ ganzem großen Kameradenkreise so schlecht für die Ehe wie Trutzberg; er hatte eine grundschlechte Meinung von den Frauen, er behandelte sie danach, und sie hingen ihm an, liefen ihm nach, verwöhnten ihn, wo sie wußten und konnten, und dazu lachte er und zuckte die Achseln.

Allerdings – Zeit, höchste Zeit mochte es sein, daß der Edle zu Trutzberg sich endlich „arrangierte“! Wenn Bredwitz es recht bedachte, war dies schon vor anderthalb Jahren in der rheinischen Garnison notwendig gewesen, und er hätte es gern gewußt, wie der damals schon stark verschuldete Kamerad es inzwischen angefangen hatte, sich zu halten. Der Oberst hatte bereits recht deutliche Winke gegeben, im Regiment war allerlei gemunkelt worden, aber Trutzberg that gar nicht dergleichen, er trat sorglos auf wie zuvor. Er verstand zu leben, war ein verwegener Reiter, leidenschaftlicher Jäger, waghalsiger Spieler, und sein Glück bei den Frauen war sprichwörtlich. Ohne nennenswertes Vermögen – was er etwa besessen hatte, war längst dahin ohne reiche Verwandte … wie fing der Mensch es an, zu leben, so zu leben? Seine Versetzung in die entlegene ostpreußische Garnison war freilich ganz plötzlich gekommen … ob die damit zusammenhing? Der „Edle“ liebte es nicht, über sich und seine Empfindungen zu sprechen. Im allgemeinen faßte er das Leben auf wie ein Würfelspiel … ob ihn der große Becher hierhin oder dorthin warf, das mochte ihm ziemlich einerlei sein. Er ließ sich von den Kameraden „wegessen“, zeigte sich dabei als vorzüglicher Gesellschafter, wie immer, wenn er wollte, und verabschiedete sich in seiner sorglosen Art; von Trennungskummer bemerkte niemand die Spur an ihm. Der kleine Bredwitz hatte Trutzberg recht gern gehabt, er hatte sich willig von ihm imponieren lassen und manch liebes Mal in den verflossenen achtzehn Monaten an den „schneidigen“ Kameraden gedacht. Gehört hatte er seitdem nichts mehr von ihm, nicht einmal eine Postkarte hatte der „Edle“ für seine bisherigen Freunde am Rhein übrig gehabt.

Und jetzt war er hier in diesem entlegenen Stranddorf und wollte heiraten! Wie die betreffende Frau wohl sein – wie sie aussehen – und vor allem, wieviel Vermögen sie haben mochte? Sollte es sich wirklich dabei nur um den Versuch handeln, sich zu „arrangieren“?

Während sich Lutz, „das dicke Lützelchen“, wie ihn die Kameraden nannten, solche Gedanken durch den Kopf gehen ließ, waren die zwei Offiziere im langsamen Schleudern über die ziemlich große Waldwiese bis in die Nähe des Kindes gekommen. Dieses, ein etwa sechsjähriger, feingebauter Knabe, in einen hellen, zierlichen Matrosenanzug gekleidet, war eifrig beschäftigt, mit einem kleinen Spaten Pflänzchen aus der Erde zu stechen und sie in einen neben ihm stehenden blau angestrichenen Karren zu legen. Die Bonne, eine junge, nicht sonderlich hübsche Person, saß mit ihrer Häkelei auf einer Bank.

„Ist’s denn ein nettes Kind?“ fragte Bredwitz halblaut.

Hierauf hatte Trutzberg sein gewohntes Achselzucken.

„Nett?“ sagte er endlich gleichfalls leise, „eine schwierige Beigabe ist er und ein notwendiges Uebel dazu – sie betet den Jungen an!“

„Das ist doch kein Unglück!“ gab der andere zurück. „Du mußt eben machen, daß sie Dich noch mehr anbetet, und das dürfte Dir nicht zu schwer werden! Bist Du denn gut Freund mit dem Knirps?“

„Im Gegenteil! Er kann mich nicht ausstehen!“

„Ach was! Das bildest Du Dir wohl nur ein!“

„Ist nicht mein Fall sonst!“ Trutzberg lächelte spöttisch und ging dicht an den Knaben heran. „Guten Tag, Fredy!“ sagte er freundlich.

Der Kleine, der gebückt, ganz vertieft in seine Beschäftigung, dagestanden hatte, fuhr nach Art sehr nervöser Kinder erschrocken zusammen und hob ein feines, blasses Gesichtchen mit großen grauen Augen zu den Ankömmlingen empor. Die Bonne war beim Anblick des schönen Kürassieroffiziers rot geworden und erhob sich in Verwirrung von ihrem Sitze.

„Nimm doch den Hut ab, Fredy, und sag’ guten Tag,“ sagte sie vorwurfsvoll. „Was müssen denn die Herren von Dir denken? Solch’ ein großer Junge wie Du, und weiß noch immer nicht, was sich schickt!“

Fredy ließ den Spaten fallen und zog mit beiden Händen den breitrandigen Strohhut vom Kopf. Sein Mund blieb stumm.

„Soll ich denn keine Hand bekommen?“ fragte Trutzberg und hielt ihm die seine hin.

Ein schüchternes Händchen hob sich verlegen und zögernd.

„Die Rechte, Fredy, die Rechte!“ rief die Bonne eifrig.

„Wie oft hat Mama Dir das gesagt! Die Hand, in der Du den Löffel hältst!“

„Lassen Sie ihn nur, Elise!“ fiel der Kürassier ein. „Das findet sich alles! Wir werden noch die besten Freunde. Sag’ mal diesem fremden Herrn hier, wer ich bin, Fredy!“

„Herr Lieutenant Freiherr von Trutzberg!“ sagte das Kind leise.

„Schön! Aber wie hat Dir Mama gesagt, daß Du mich nennen sollst? Weißt Du noch? Neulich, wie wir auf dem Spaziergaug nach der Düne zusammen waren! Besinn’ Dich hübsch!“

„Onkel – Onkel Hans,“ half Elise nach.

Fredy schüttelte den Kopf. „Weiß nicht mehr!“

„Aber Fredy! Mit Deinem guten Gedächtnis! Wo Du sonst alles behältst, was man Dir einmal vorspricht!“

Die Bonne sah erzürnt und verlegen aus, daß ihr Zögling gerade hier, dem von ihr so sehr bewunderten Kavalier gegenüber, so wenig Ehre einlegte.

„Wenn Du meinen Namen nicht mehr weißt, den Dir Deine Mama so hübsch vorgesprochen hat, dann besinnst Du Dich am Ende auch nicht mehr auf das, was ich Dir mitbringen wollte – wie?“

Das Kind drehte langsam seinen Matrosenhut in den Händen hin und her und schwieg.

Trutzberg zog ein Päckchen aus seiner Tasche und wickelte eine grün schillernde große Eidechse heraus. Sie war aus Metall, hatte bewegliche Glieder, glitzernde Augen und spazierte, sobald man an einer kleinen Feder drückte, zierlich auf dem Erdboden hin und her.

„Sie gefiel Dir ja so gut im Schaufenster, und Du wolltest sie so gern haben. Nimm sie, ich hab’ sie für Dich gekauft!“

„Fredy – wie sagt man?“ rief Elise beinahe heftig.

[467] „Ich danke!“ Der Kleine machte, den Hut in der Hand, eine tiefe Verbeugung, rührte aber sein neues Spielzeug nicht an.

„Das ist ja ein reizendes Ding, das muß ich meinem Neffen auch schenken! Wo hast Du das gekauft?“ rief Bredwitz lebhaft.

„Hier in der Strandstraße, gleich rechts in solcher kleinen bunten Spielzeugbude!“

„Wollen doch mal sehen, ob ich sie zu behandeln verstehe!“

Mit einiger Umständlichkeit ließ sich „das dicke Lützelchen“ neben der Eidechse auf ein Knie nieder. „Zeig’ mir, Fredy, wie’s gemacht wird!“

Fredy hob seine dunkel umschatteten Augen und ließ sie ein Weilchen prüfend auf dem fremden Gesicht ruhen. Dann lächelte er ein wenig, faßte die Eidechse behutsam mit zwei Fingern und drückte geschickt an der Feder.

„Famos!“ rief Bredwitz beifällig und versuchte jetzt seinerseits mit Erfolg dasselbe Kunststück. „Siehst Du, das hast Du mir gut beigebracht. Mein kleiner Lutz wird sich freuen, wenn ich ihm dies gelehrige Vieh bringe. Ich hab’ ’nen Neffen nämlich, so alt wie Du, heißt auch Lutz, ebenso wie ich! Sprich mal nach: Onkel Lutz von Bredwitz!“

„Onkel Lutz von Bredwitz!“ sagte Fredy willig.

„Bravo! Vielleicht könnt Ihr beiden Jungens mal zusammen spielen. Was meinst Du, Fredy, soll ich ,Lutz den Kleinen’ mal vorläufig von Dir grüßen?“

„Bitte, ja – grüß ihn!“

„Na also adieu denn! Auf gute Freundschaft! Hand her, Kamerad! Siehst Du, wie schön Du die Rechte geben kannst! Was willst Du denn mit all den Pflanzen?“

„Die – die kommen in meinen Garten. Da sind gar keine Wiesenblumen drin, und dies sind welche!“

„Grüß’ Deine Mama von mir!“ sagte Trutzberg und sein Ton hatte etwas Gezwungenes. „Wenn das Wetter schön bleibt, treffen wir heute im Wald zusammen. Wirst Du das bestellen?“

Fredy nickte.

„Adieu, Elise!“

„Empfehle mich, Herr Baron. Fredy, mach’ Deine Verbeugung!“

„Edler, ein bequemer Stiefsohn wird das nicht für Dich!“ brach Bredwitz das Schweigen, als sie beide außer Gehörweite waren.

„Das soll Gott wissen! Glaubst Du mir’s jetzt, daß mich der Schlingel nicht leiden kann?“

„Beinahe sieht’s so aus! Ob er in Dir den künftigen Stiefvater wittert?“

Trutzberg hob die Schultern. „Zu Dir hat er sofort Zutrauen gefaßt!“ sagte er dann.

„Ja, sieh mal, ich bin auch kein Kinderfeind – eher das Gegenteil!“ entgegnete Lutz treuherzig. „Ich kann die kleinen Kreaturen alle zusammen gut leiden, und ich möchte glauben, so dumm wie sie noch sind, sie fühlen es doch heraus. Ich hab’ nun auch Uebung von meiner Schwester her – das Gesindel ist rein wie versessen auf mich, ich muß mit ihnen spielen und toben, daß mir manchmal ganz wirblig davon wird. Wenn ich mal heirate – na, damit hat’s noch gute Wege! – ohne Kinder wär’ das nichts – Stück fünf, sechs, käm’ mir gar nicht drauf an! Wenn Du diesen kleinen Kerl, den Fredy, gern haben könntest, Edler –“

„Wie soll ich das anfangen?“

„Scheint mir keineswegs so schwer. Bißchen scheu, bißchen Muttersöhnchen –“

„Eben!“ fiel ihm der andere ins Wort und faßte seinen blonden Schnurrbart. „Wenn mir eine Art am meisten zuwider ist, dann ist es die! Wär’ das noch wenigstens ein flotter, dreister Bengel, den man aufs Pferd nehmen und mit zehn Jahren ins Kadettenkorps stecken könnte, so ein Junge, der sich vor dem Teufel nicht fürchtet und auf zarte, Gefühle pfeift … dann könnte sich’s eher machen! Aber solch eine Treibhauspflanze, achtig Prozent mehr Mädel als Bube – empfindlich, wie aus Mondschein gewoben …“ Trutzberg stieß während des Gehens verächtlich mit seinem Fuß die kleinen, dürren Aeste fort, die hier und da im Wege lagen.

„Was ist denn der Vater gewesen?“

„Ach – Landmann, hatte aber nebenbei allerlei gelehrte Passionen, ein Erz-Stubenhocker, Nörgler, Grübler von Profession – und so wird der Junge werden. Keinen Schimmer einer militärischen Ader, ich glaube, er stürb’ die zweite Woche im Kadettenkorps vor Bangen und Heimweh!“

„Und die Mutter?“

„Ach!“ machte der Kürassier ungeduldig. „Die wäre soweit, ohne den Jungen, ganz liebenswert. Du wirst sie ja sehen.… Aber sie trennt sich nie von dem Kinde, nie, sag’ ich Dir! Du sollst die beiden beieinander sehen, ’s ist das sentimentalste, süßlichste Verhältnis, das man sich überhaupt vorstellen kann.“

„Ja, meinst Du denn, daß diese – na, nennen wir’s beim rechten Namen – daß diese Abneigung von dem Jungen Dir gegenüber bei der Mutter schwer ins Gewicht fällt?“

„Wenn ich das nicht dächte, würd’ es mir da wohl gerade einfallen, dem verzogenen Prinzen die Cour zu machen?“

„Seid Ihr oft zusammen?“

„Täglich! Und ich hätte die besten Chancen, wie ich Dir schon sagte – ach! lächerlich! Daß das für mich ein Hindernis sein soll!“

„Du wirst mir doch bald erlauben, ihre Bekanntschaft zu machen?“

„Gern! Gleich heute. Du kannst den Jungen übernehmen – ich übernehme die Mutter!“

„Na, schön also! Wann geht es los mit Deiner Waldpartie?“

„Halb fünf etwa! Nur ein kleiner intimer Kreis, Versammlungsort das Waldhaus!“

„Wenn ich Lutz den Jüngeren als Spielkameraden für Fredy mitbrächte … ?“

„Sollte mir lieb sein! Also auf Wiedersehen!“

„Wiedersehen, Edler!“

[480]
2.

Frau Hildegard Bingen war aus dem Warmbad gekommen, hatte gefrühstückt, sich umgekleidet und saß nun in ihrer freundlich ausgestatteten Glasveranda, um einen Brief zu schreiben.

Es wollte nicht recht damit werden. Jetzt sah sie nach der Uhr und wunderte sich, wo ihr kleiner Sohn blieb – es war doch schon seine Stunde und Elise pflegte sonst sehr pünktlich zu sein – nun mußte sie aufstehen und ein paar welke Blättchen aus den Blumen zupfen, die in Vasen und Schalen umherstanden; meist waren es Feld- und Waldblumen, Frau Hildegard hatte eine Vorliebe für diese. Dann wieder folgte sie mit den Augen einem kleinen Rotkehlchen, das auf der Kastanie vor ihrem Hause munter zwitschernd von Zweig zu Zweig hüpfte und dazu sein Köpfchen rechts und links drehte, als erwartete es jemand.

„Schönheit?“ hatte Lutz Bredwitz seinen Kameraden Trutzberg gefragt und dieser mit einem entschiedenen: „Gar nicht!“ darauf geantwortet. Man mußte ihm recht geben, wenn man Frau Bingen anschaute. Sie sah unscheinbar aus und zog sich unscheinbar an, man konnte sie sehr leicht übersehen. Hätte sie eine besonders gewählte, kleidsame Toilette getragen und dadurch die Vorzüge, die die Natur ihr mitgegeben, ins richtige Licht zu setzen gewußt, so hätte man sie beachten können, aber das verstand sie nun einmal nicht, oder sie wollte es nicht verstehen. Das einzige wirklich Hübsche an ihr war die leichte zartgliedrige Gestalt mit den anmutigen Bewegungen und das sinnig und ernst blickende Augenpaar; es lag in ihm derselbe Ausdruck wie in Fredys Augen, die ihre eigene beredte Sprache zu reden und um so lieblicher zu lächeln wußten, je seltener dies geschah. Kein Fremder, der Frau Hildegard Bingen sah, hätte in ihr jemals eine reiche Witwe vermutet; sie sah mit ihrer feinen, schlanken Figur ganz wie ein junges, einfaches Mädchen aus und erschien eben dadurch auch jünger, als sie war; denn sie hatte bereits ihr siebenundzwanzigstes Jahr hinter sich.

Ihr dunkles Haar trug sie einfach gescheitelt und in ein Knötchen genommen, alle bunten, auffallenden Farben wußte sie zu vermeiden, und als einzigen Schmuck trug sie nur eine schöne antik gefaßte Broche von Perlen und Türkisen und die beiden breiten goldenen Trauringe an der rechten Hand.

Sie schob und drehte eben jetzt an diesen Ringen – ganz mechanisch geschah es, sie dachte sich nichts dabei. Wie schwer fiel es ihr, diesen Brief zu schreiben. Ihre Feder hatte erst wenige Zeilen aufs Papier gebracht, und doch war der, an den sie schreiben wollte, ihr bester Freund, genau genommen der einzige, den sie überhaupt besaß. Ein Gutsnachbar ihres verstorbenen Gatten, war er seit dessen Tode ihr treuester Berater und Helfer, ihre rechte Hand, ihre Stütze geworden … Sie hätte nicht gewußt, wie ohne ihn fertig werden! Er hatte ihr den tüchtigen Administrator ausgesucht, der ihr Gut verwaltete, er bestimmte den An- und Verkauf ihrer Wertpapiere, er kümmerte sich um Fredys Erziehung und brachte der Mutter neue, gute Bücher, dem Sohn neues Spielzeug. An kalten und langen Winterabenden, wenn das Kind im Bett lag und die einsame Frau traurig und langsam durch die stillen Zimmer ging, gleich unlustig zum Lesen wie zum Musizieren und doch auf der Flucht vor ihren eigenen Gedanken … dann klingelten seine Schlittenglocken plötzlich in dem verschneiten Hof, und gleich darauf erschien sein gutes Gesicht, von bereiftem Haar und Bart umrahmt, unter der Portière, während seine tiefe Stimme sagte: „Ich komme, Ihnen ein wenig die Einsamkeit vertreiben, Frau Hildegard! Wollen Sie mir eine Tasse Thee geben?“

Dann wurde es gemütlich in dem eben noch so stillen Raum, sie legten beide eigenhändig Holzstücke in den Kamin, und unter dem silbernen Theekessel begann das blaue Flämmchen sein heimliches Liedchen zu singen – das Lied von dem traulichen Leben zu zweien und von der lieben Häuslichkeit, die das Herz zur Ruhe kommen läßt und von allen Genüssen der Welt nicht aufgewogen werden kann. Viel, viel lebten die beiden dann in der Vergangenheit, sie hatten einen stummen Dritten bei sich im Zimmer, der leitete ihr Gespräch und blieb immer der Mittelpunkt. „Alfred sagte das auch“ und „Wissen Sie noch, wie Alfred das liebte?“ und „Alfred würde das keinesfalls gutheißen“ – so ging es hin und her, während über dem Kamin, vom aufzuckenden Flammenschein seltsam belebt, das Brustbild eines ernst und unendlich gütig blickenden Mannes auf die beiden herabsah, die sein Andenken so lebendig unter sich erhielten.

Ach ja – ja! So war das gewesen – und wenn es je zuweilen durch Frau Hildegards Sinn zog, es könnte noch einmal anders werden – anders und doch wieder so ähnlich, nur daß der Schlitten nicht mehr fortzufahren brauchte und das gute Gesicht [481] immer, immer da war, so oft sie es haben wollte … dann hatte dieser Gedanke nichts Erschreckendes und nichts Neues für sie gehabt. Ihr war ja Muße gegönnt, sich an ihn zu gewöhnen, aber noch hatte sie ihn immer von sich fortgeschoben wie etwas, das da gewiß kommen soll, das aber in unserer Hand liegt, das wir nach Belieben regieren können. „Das hat ja immer noch vollauf Zeit!“ hatte sie sich gesagt, bis sie eines Tages fand, daß diese Rechnung doch nicht recht eigentlich stimmte. Ihr tüchtiger Administrator wollte heiraten und sich selbständig ankaufen, und ihr Sohn kam in das Alter, wo das halb spielende Lernen bei der Mama nicht mehr für ihn genügte, wo er festen Unterricht, vor allem aber eine feste Hand brauchte, die seine Erziehung leitete. Das fühlte sie recht gut: ihre eigene Hand war zu weich, um dies eigenartige Kind richtig zu führen.

Sie liebte den Kleinen mit grenzenloser Zärtlichkeit, liebte ihn mit Zittern und Bangen. Er war zart gewesen von Beginn seines jungen Lebens an, und mehr als einmal hatte sie ihn dem Tode abgerungen. Was da durch ihre Seele gezogen war, wenn sie in hilfloser Angst neben dem Kinderbettchen gekniet und versucht hatte zu beten und nur immer das eine stammeln konnte: „Mein Einziges – Einziges!“ das hatte die große Mutterliebe, die Gott ihr ohnehin ins Herz gelegt, zu einer hohen Leidenschaftlichkeit gesteigert. Darum zeigte sich in ihrem Verkehr mit dem Kinde etwas eigentümlich Heißes und Aufgeregtes – eben das, was Trutzberg seinem Freunde gegenüber mit „süßlich und sentimental“ bezeichnet hatte … Eigenschaften, die Hildegard Bingen sonst wahrlich fern lagen.

Ja, schon um des einzigen geliebten Kindes willen mußte sie raschere Entscheidung treffen. Da hatte aber der Arzt ihr [482] warme Seebäder, ihrem Knaben die stärkende Seeluft verordnet. Sie war hierher gegangen, in dies stille abgeschiedene Stranddörfchen, und hatte sich vorgesetzt, hier den Entschluß, der ihr all diese letzten Jahre vorgeschwebt, endgültig zu fassen, denn zum Herbst brauchte ihr Gut einen neuen Herrscher – da hatte sie der Zufall, das Schicksal in eine schwere, schwere Versuchung geführt. Sie hatte den Kürassierlieutenant Hans Henning von Trutzberg kennengelernt.

Frau Hildegard wußte recht gut, daß ein tief leidenschaftlicher Zug in ihrer Natur lag, und sie gestand sich denselben auch zu – aber, wohlverstanden, nur in ihrem Verhältnis zu ihrem Kinde. Ihrem Gatten gegenüber war diese Leidenschaft kaum zum Wort gekommen. Er war sehr ruhig gewesen, bedeutend älter als sie – ihre ganze Seele hatte ihm gehört und sie war redlich bestrebt gewesen, dem Flug seines Geistes zu folgen, seine Interessen zu den ihrigen zu machen – aber den heißen Quell in ihrem Innern, den hatte nur die Liebe zu dem Kinde, die Angst um das Kind zu entfesseln vermocht.

Und jetzt – und jetzt! Mit einem Schlage war sie dagewesen, ihr ganzes Sein durchrüttelnd – die Leidenschaft für den schönen Reiteroffizier! Ja, Leidenschaft war es, was da beim ersten Sehen, beim ersten Wort von seinen Lippen in ihr aufgelodert war, jäh und plötzlich, so daß ihr Herz ins Stocken kam und es sie überfiel wie ein rascher Schwindel. Sie war keine haltlose Natur, sie nahm ihr Herz fest in den Zügel und sagte sich selbst mit zorniger Energie: „Dies darf – dies soll nicht sein!“ Auch wollte sie sich nicht feig zeigen und fahnenflüchtig werden – fest wollte sie der Gefahr ins Auge sehen, um sicher, sicher dann zu erkennen, daß es überhaupt gar keine Gefahr gewesen, sondern nur eine Blendung, eine Täuschung! Und so mied sie nicht den Verkehr mit dem Mann – eher suchte sie ihn, denn sie wollte Mut beweisen und rasch mit sich fertig werden.

Das nun hatte sich als ein gefährliches Wagstück ausgewiesen, denn ihre Leidenschaft fiel keineswegs bei dem täglichen Verkehr in nichts zusammen – im Gegenteil, sie wuchs und wuchs. Ueber die ruhige Frau kam ein innerliches Zittern, sowie sie nur den Schritt des Mannes vernahm; sie hatte alle Mühe, ihre Aufregung zu verbergen, sobald er in ihre Nähe kam, sein Blick den ihrigen suchte. Ihre Hand wurde kalt in der seinen und lag wie hilflos darin, und wenn seine Lippen diese Hand berührten, flutete es ihr wieder heiß zum Herzen, daß sie zu vergehen meinte. Umsonst, daß sie es sich zurückrief, wie so ganz anders, wie viel reiner und tiefer ihre Liebe zu dem Gatten gewesen war – umsonst, daß sie sich den alten, treuen Freund vorstellte und sich sagte, wie nahe, nahe sie daran gewesen war, mit ihm einen neuen Bund zu schließen, der noch vor wenigen Wochen ihr Herz vollauf befriedigt, ihr die Zukunft in einem hellen, freundlichen Licht gezeigt hätte … es war alles wie ausgelöscht in ihr – nur eines war für sie Leben und Wirklichkeit: Hans Henning von Trutzberg.

Was wußte sie von ihm, seinem Wesen, seinem Charakter! Ein schöner Mann war er, mit ritterlichen Manieren, mit gewandter Unterhaltungsgabe, die aber nie die landläufigen Gebiete überschritt und – sie gestand sich das frei – sich in ziemlich eng gezogenen Grenzen bewegte. Denn in dem Punkt war Hildegard Bingen verwöhnt. Ihr Mann hatte sie nie als eine Frau, die von so und sovielen Dingen nichts verstehen kann und soll, angesehen, er hatte sie als ein ihm vollständig ebenbürtiges Wesen behandelt, ihre vielen Fragen klar und sachgemäß beantwortet, vieles aus eigenem Antrieb ihr mitgeteilt und so, wenn auch ohne System, ihren Geist ganz regelrecht geschult. Sein Freund hatte das alles miterlebt, er hatte von Hildegards Verstand und Kenntnissen eine sehr hohe Meinung, er that, wie der Verstorbene gethan: er besprach alles mit ihr, was in Politik, in Kunst und Wissenschaft irgend sein Interesse erregte, und das war nicht wenig, da er aus allen Kräften bestrebt war, nicht einseitig zu werden, „geistig zu verbauern“, wie er das nannte.

Von alledem nichts bei dem jungen Baron! Dinge, von denen er nichts verstand, wußte er mit einer gewissen hochfahrenden Manier abzuthun, die vielen an dem stolzen Kavalier ohne weiteres imponierte. Sich in Sachen, „die ihn nichts angingen“, zu vertiefen, fiel ihm gar nicht ein, und er fand, daß ihn sehr viele Fragen kalt ließen, um die sich die übrige Menschheit abmühte. Wenn er als Offizier das seinige leistete, sich auf Pferde gründlich verstand, im Ballsaal eine brillante Figur machte und mit den Kameraden auf gutem Fuß stand, so leistete er, nach seiner Ansicht, übergenug, und mit sonstigem „ödem Kram“ sollte ihm keiner kommen.

Das mußte Hildegard bald durchschauen und als Mangel empfinden, aber dennoch – dennoch!!

Daß er ihr huldigte, ihr auf alle Weise seine Ergebenheit bewies, lag zu Tage …. aber er war ein armer, wahrscheinlicherweise stark verschuldeter Offizier, und sie war eine reiche Frau, eine der besten Partien in der ganzen Provinz. War sein Gefühl echt, würde es auch standhalten, wenn sie arm wäre? Wer konnte ihr dafür einstehen?

Und er, der gute Freund, der zartfühlend, wie er war, nie mit Blick und Wort direkt um sie geworben, von dessen tiefem und starkem Gefühl sie aber überzeugt sein durfte – er, der bescheiden gewartet hatte, bis sie selbst es ihm gestatten würde, ihr näher zu treten, und jetzt sich der Erfüllung seines höchsten Wunsches nahe glauben durfte …. wie würde er diese plötzliche Wandlung auffassen?

Dann aber eins noch, das hauptsächlichste: wie durfte sie, die zärtlichste, fürsorglichste Mutter, daran denken, ihrem Knaben einen zweiten Vater zu geben, der ihm offenbar antipathisch war!

Und wenn sie sich tausendmal sagte, das könne nicht so bleiben, das müsse sich später ganz anders gestalten, aus anfänglicher Abneigung sei oft die herzlichste Liebe entstanden, und ein so junges Kind könne unmöglich ein so starkes Empfinden dauernd bewahren –, wenn sie sich tröstete, es sei eine unbewußte kindische Eifersucht, es sei Trotz und Eigensinn und diese Eigenschaften müßten gebrochen werden …. für jetzt blieb die Thatsache bestehen. Der glänzende, gefeierte Offizier mit dem schönen Gesicht und dem stolzen Namen warb um das blasse, unscheinbare Kind, warb beinahe dringender und eifriger als um des Kindes Mutter …… und warb bis jetzt vergebens!! –0000Der Knabe war zu jung noch, zu still auch und in sich gekehrt, um sich und anderen – in erster Linie der Mutter – in klaren Worten Rechenschaft davon abzulegen, weshalb er den Offizier nicht mochte. Vielleicht auch hätte er dies nicht gekonnt, wenn er mehr als doppelt so alt gewesen wäre. Vermögen doch selbst ganz reife, gescheite Menschen oft nicht, sich über rasch aufkeimende Sympathien oder Antipathien klar zu werden. Das Kind hatte sich von der ersten Stunde an gegen Hans Henning von Trutzberg kalt und ablehnend gezeigt, und das war trotz häufigen Beisammenseins, trotz guter Worte und reicher Geschenke bis heute so geblieben.

Fredy war kein leicht erregbares Kind, das jedem beliebigen Fremden in die Arme flog. Aber es gab Leute, zu denen er beim ersten Wort und Blick Zutrauen faßte – Lutz Bredwitz war einer von ihnen gewesen! – und solche, die sich monatelang um ihn abmühten, ohne auf ihn irgend welchen Einfluß auszuüben. Man konnte den Kleinen eigentlich nicht darum schelten, denn er betrug sich niemals unartig, er setzte nur aller Liebenswürdigkeit einen passiven, beharrlichen Widerstand entgegen. Frau Hildegard wußte nicht recht, wie sie ihr Kind hier fassen sollte. Sie konnte ihm sagen: „Sei höflich und freundlich, ich wünsche es!“ aber sie konnte ihm nicht sagen: „Diesen oder jenen mußt Du lieben, denn ich wünsche es!“

Ach, und es hätte sie so glücklich gemacht, wenn Er, der Sieghafte, der Eine, es auch noch verstanden hätte, sich ihres Kindes Herz zu gewinnen, wie er das ihrige erobert hatte – rasch, im Sturm, auf einen Schlag! Nun, es mußte kommen, ja, es mußte! Aber bis es kam, hieß es für sie: warten, denn sie durfte ihrem einzigen Kinde den Jammer nicht anthun, sein Herz zu knebeln, jetzt, da Fredy ohnehin nicht mehr die erste Rolle in ihrem Leben spielen sollte!

Frau Bingen war mit ihrem Brief noch nicht über die zweite Seite hinausgekommen. Sie las durch, was sie geschrieben, es kam ihr furchtbar konventionell und trocken vor; allerdings handelte es sich augenblicklich nur um eine Geschäftssache: eine Hypothek war ihr gekündigt worden, und sie wünschte den einfachsten, kürzesten Weg zu wissen, um die Sache abzuthun – aber ihr Ton war doch sonst ein anderer, freierer gewesen, heute klang etwas Erzwungenes daraus hervor. Sie seufzte – wie sollte sie das ändern? –

Draußen knirschte der Kies unter dem Rad eines kleinen Sandkarrens – ungleiche, trippelnde Kinderschrittchen näherten sich ....

„Mein Kleines! Fredy!“

[483] Sie ist im Nu die Stufen hinunter und hält die schmächtige, kleine Gestalt in ihren Armen, kniet neben Fredy hin, fühlt seine Hände, sein Gesicht an und küßt ihm die weichen Haare, die Wangen, den Mund.

Mein Mamachen!“ sagt er mit zärtlicher Betonung und schmiegt sich fester an sie. Er ist es gewohnt, so zärtlich empfangen zu werden. Immer ist es ihr nach jeder solchen Entfernung, als hätte sie ihn tagelang nicht gesehen.

„So lange seid ihr weggeblieben, Elise! Es ist doch wenigstens eine halbe Stunde später!“

Elise zieht die kleine silberne Uhr, ein Geschenk ihrer Herrin.

„Zwanzig Minuten sind’s gerade, gnädige Frau!“

„Aber wie konntet ihr solange fortbleiben? Er ist doch wohl gewesen? Hat ihm sein Frühstück geschmeckt? Hat er alles gegessen?“

„Nicht ganz, er ist immer so schnell satt!“

„Aber, Liebling, ist das nun hübsch? Wer wird denn nicht vernünftig essen?“

„Wenn ich doch nicht mehr kann, Ma’chen?“

„Nun, quälen soll sich mein Kleiner nicht! Aber jetzt rasch: weshalb kamt ihr so spät?“

„Ja, wir hatten Besuch auf der Wiese, gnädige Frau: Herrn Baron von Trutzberg mit einem anderen Herrn!“

Die Hände, die das Kind umfassen, werden mit einem Male schlaff.

„So – hattet ihr? Also wie – und da habt ihr geplaudert – und da war – erzähl’ doch, Fredy!“

Sie fühlt sich verlegen wie ein sechzehnjähriges Mädchen – was muß Elise denken!

Fredy macht sich sanft von seiner Mama los und sagt kein Wort.

„Nun, Liebling, sind wir ganz stumm?“

Ein erzwungenes Lächeln, ein verlegenes Hin- und Herwenden des Köpfchens ist die ganze Antwort.

„Also wird Elise mir erzählen!“

„Ich muß Fredy ein bißchen verklagen, gnädige Frau! Er ist wieder gar nicht freundlich gegen den Herrn Baron gewesen, trotzdem gnädige Frau es ihm doch extra befohlen haben und ich ihn daran erinnerte. Herr von Trutzberg haben ihn wieder so schön beschenkt, mit einer reizenden Eidechse, und Fredy hat nicht mal von selbst Schön Dank gesagt …. ich hab’ ihn dazu mahnen müssen. Mach’ jetzt wenigstens die Bestellung an Mama, die Herr Baron Dir aufgetragen hat.“

„Du sollst heut’ nachmittag in den Wald kommen!“

„Aber Fredy, so hat Herr von Trutzberg doch nicht gesagt! Wenn das Wetter schön wäre, würde er glücklich sein, mit der gnädigen Frau im Wald zusammenzutreffen – das war’s! Und Herr Baron haben sich so gewünscht, daß Fredy ihn Onkel nennt, aber Fredy war nicht dazu zu bewegen!“

„Elise, bitte, drinnen steht noch mein ganzes Frühstücksgerät. Räumen Sie ab, hängen Sie auch mein Morgenkleid weg, aber zuvor nähen Sie oben am Kragen die Spitze fest, sie riß mir ab.“

Elise ging mit einem „Sehr wohl, gnädige Frau.“ Sie kannte das schon. Wenn Frau Hildegard mit Fredy unzufrieden war und ein ernstes Wort mit ihm zu reden wünschte, wurde sie, die Bonne, jedesmal unter irgend einem Vorwand fortgeschickt.

Mutter und Kind waren allein.

Sie sagte zunächst kein Wort, aber ihre sprechenden Augen lagen mit einem traurigen Blick auf ihm und Fredy fühlte und verstand diesen Blick recht gut, trotzdem er that, als sei er völlig damit beschäftigt, seine Pflanzen und Steinchen aus dem Karren zu nehmen und in eine Ecke der Veranda zu legen. Als seine Mama noch immer stumm blieb, kam er langsam an sie heran, lehnte sich gegen sie und ließ den Kopf sinken.

„Hast Du mir nichts zu sagen, Fredy?“ fragte sie sanft.

Er faltete ernsthaft seine kleinen Hände über ihrem Knie.

„Das find’ ich so gemein von der Elise, daß sie mich auch immer bei Dir angiebt!“

„Elise ist dazu da, um auf Dich acht zu geben. Benimm Dich wie ein wohlerzogenes, gutes Kiud, dann hat sie nicht nötig, mir Dinge von Dir zu sagen, die mir weh thun!“

„Weh thun, Mamachen?“

„Ja, Fredy – im Herzen weh thun! Du weißt recht gut, wie das ist!“

„Aber ich will Dir ja gar nicht weh thun!“

„Wenn Du unartig und unfreundlich bist gegen Leute, die ich – von denen ich – die Deine Mama …. Du weißt, Du sollst gegen alle gut und artig sein!“

„Hast Du denn aber den so lieb?“

„Den? Was heißt das? Wen meinst Du?“

„Ach – aber – na – den Baron von Trutzberg!“

„Du sollst ihn anders nennen, er hat es Dir erlaubt, ihn Onkel zu heißen, und ich erlaube es Dir auch! Sprich mir einmal nach: Onkel Hans!“ Sie wurde flammendrot, als sie vor ihrem Kinde den geliebten Namen aussprach.

„Also – Fredy?“

„Der soll gar nicht mein Onkel sein! Onkel Hugo Haßler, das ist mein richtiger Onkel!“

„Warum hast Du Onkel Haßler lieb, Fredy?“

„Na, der spielt doch mit mir und ist nett und – und schenkt mir schöne Sachen –“

„Ist nicht Baron Trutzberg – Onkel Hans meine ich – auch gut zu Dir und schenkt er Dir nicht schöne Sachen? Heute wieder die hübsche Eidechse –“

„Ach, die will ich gar nicht!“

„Aber wenn Onkel Hugo sie Dir geschenkt hätte, dann würdest Du sie wollen, nicht wahr?“

„Ja natürlich! Onkel Hugo, der kann auch immer so schön von meinem Papa erzählen.“

„Weil er ihn gut gekannt hat. Onkel Hans hat Deinen lieben Papa nie gesehen.“

„Ach – der braucht auch gar nicht von ihm zu erzählen!“

„Du bist ein eigensinniges Kind, Fredy, und hast Deine Mama kein bißchen lieb.“

„Doch! Viel mehr als ein bißchen. So lieb wie – wie – die ganze große Welt!“

„Davon merke ich aber nichts! – Wirst Du heute im Walde sehr gut und freundlich sein und von selbst sagen: lieber Onkel Hans?“

„Laß mich dann lieber zu Haus bei Elise!“

„Nein, Du kommst mit! Du bist ja sonst so unglücklich, wenn Deine Mama ohne Dich geht!“

Fredy sann ein Weilchen nach – sein Gesichtchen verklärte sich plötzlich – ihm war ein ausgleichender Einfall gekommen.

„Da war noch ein anderer Herr da, auch ganz fremd, ich hatt’ ihn noch nie gesehen – der kommt heute mit in den Wald und für mich bringt er einen kleinen Jungen mit. Lutz von Bredwitz heißt der; wenn ich zu dem nun Onkel sag’ – ich meine, zu dem anderen Herrn …. ist das nicht gerade so gut?“

„Gar nicht, Fredy! Was hilft mir ein fremder Herr, den ich nicht kenne? Du sollst Deiner Mama gehorsam sein, verstehst Du? Thust Du das nicht, so komme ich heute abend nicht an Dein Bett, Du bekommst keinen Gutenachtkuß und kannst allein beten, ohne Deine Mutter!“

Fredy sah seiner Mama mit großen, starren Augen ins Gesicht, dann zuckte es ihm um die Lippen und er brach in ein bitterliches Weinen aus. Es war die härteste Strafe, wenn seine Mutter ihn nicht zur Gutenacht küßte und nicht mit ihm betete. Er hing an ihr mit zärtlichster Innigkeit, sie war der Mittelpunkt all seiner kindlichen Ideen und Pläne. Selten, sehr selten kam es vor, daß sie ernstlich gegen ihn einschreiten mußte. Sie vermied dies auch, soviel sie irgend konnte, um das Kind nicht zum Weinen kommen zu lassen. Fredy weinte nicht wie andere Kinder – seine Thränen versiegten nicht rasch, sie strömten lange und unaufhaltsam, das stoßweise Schluchzen erschütterte den kleinen, zarten Körper, raubte ihm für später den Appetit und nahm ihm den Schlaf; selbst der Arzt, der gegen alle Verweichlichung der Kinder energisch ankämpfte, hatte Frau Hildegard geraten: „Lassen Sie es lieber nicht dahin kommen, daß der Junge viel weint. Dies krampfartige Schluchzen ist mir nicht so ganz unbedenklich, es kann leicht einmal in einen wirklichen Krampf ausarten und eine schlimme Wirkung auf das Nervensystem ausüben!“

Und jetzt hatte sie – sie selbst diesen Thränenerguß hervorgerufen, weil das Kind sich nicht ihrem Willen fügen, weil es zu dem Mann, den sie liebte, kein Herz fassen konnte!

Es ging ein schneidender Schmerz durch ihre Seele, während sie, gleichfalls die Augen voller Thränen, vor Fredy kniete, sein Gesicht, seine Hände, sein Haar mit ihren Küssen bedeckte und immer von neuem bat: „Nicht weinen, mein süßes Kind, mein Kleiner! Nur nicht mehr weinen – Mama wird nie mehr von Dir verlangen, was Du nicht kannst!“

[492]
3.

Ein herrlicher Sommertag! Blaufunkelnd wogte das Meer, in breiter Goldflut ergoß sich freudiger Sonnenschein über Feld und Wiesen. Um die wilden Blumen taumelten bunte Schmetterlinge, in geschäftigem Summen schwirrten die Bienen um offene Kelche. Aus stolzen Wipfelkronen flötete die Amsel, lockte der Buchfink, schmetterte der Zeisig sein keckes Liedchen, und unaufhörlich fragte der kleine Goldammer dazwischen sein eintönig liebliches „Hast, hast, hast Du mich lieb?“

00Dort in die Schluchten, die hier und da vom Strande aufwärts in den Wald hineingingen, konnte vor Abend kein Sonnenstrahl durchdringen. Tiefblaue Schatten lagerten sich da, ein satter violetter Ton webte über den gewaltigen Farrenkräutern, die ihre gerippten Wedel bis in das Bächlein herabsenkten, das hier in Zischen und Sprühen weißflockig über die Kiesel tanzte, dort fadendünn von braunrötlicher nackter Felsenbrust niederträufelte. Ab und zu fing eine von den großen blaudunkeln Glockenblumen, wie sie zahllos am Bachesrand wuchsen, einen von den herabsprühenden Tropfen auf, so daß er wie ein Diamant in dem offenen Kelch funkelte. Im Waldesdickicht brach und knackte es, mit scheuem Lugen streckte ein Reh sein feines Köpfchen vor und hielt furchtsam inne, sobald unter seinem flüchtigen Fuß ein Aestlein entzweiknickte. Hoch oben im blauen Duft tummelten sich die Möwen, stießen mit kühnem Flug nach unten, segelten in weitem Bogen über die Schlucht und strichen dicht am Meer hin, in neckendem Spiel die Flügelspitzen ins Wasser tauchend. Einige unter ihnen legten sich mit der silberweißen Brust auf die Wellen und ließen sich von der Brandung werfen, während der Fischreiher droben beutegierig seine Kreise zog. – Ostpreußischer Strand ist schön, und mit Recht sagen seine Bewohner, wenn man die Abgelegenheit ihres Landes, die Kargheit seiner Reize bedauert, mit stolzer Betonung: „Aber wir haben doch unseren Strand!“ Hier auch, in diesem stillen Badeörtchen hatte Mutter Natur ihre gütige Hand aufgethan und Land und Strand mit stolzen Bäumen, mit wild aufgetürmten Felsgruppen, mit üppig wucherndem Buschwerk und einer Unzahl köstlicher Waldblumen geschmückt, die den Wanderer lockten und lockten, bis er sich tief im Herzen des Waldes befand, wo kein Pfad mehr führte.

„Bei den Klippen“, so hieß eine Stelle, zu der man vom Walde aus gelangen konnte, mühsam freilich, oft auf ungeebneten Wegen, häufiger noch steil aufwärts, wo der Fuß den Halt verlor und die Hand zu Hilfe genommen werden mußte, um am zähen Gesträuch eine Stütze zu suchen. Gefährlich für den Schiffer waren sie freilich nicht, diese schroffen, nackten Felskolosse, dazu ragten sie zu steil und weithin sichtbar über den Spiegel der See empor. Man genoß von ihnen einen wunderbaren Rund- und Umblick über Meer und Wald und Land, den Sonnenuntergang hatte man auf ihrer Höhe herrlich vor Augen. Jedoch nur für tüchtige Fußwanderer war der schöne Aussichtspunkt zu erreichen; für Wagen und Reiter war der Pfad nicht gangbar.

Als Frau Hildegard Bingen nachmittags zum Versammlungsplatz im Walde kam, Fredy an der Hand führend, erfuhr sie, daß heute dieser Aussichtspunkt das Ziel der gemeinsamen Wanderung sein sollte. Sie hatte wohl einige Bedenken, ob ihrem Knaben der Weg nicht zu weit und zu beschwerlich sein möchte, aber der Arzt hatte ihm weites Gehen geradezu verordnet, mit dem Zusatz: „Wir dürfen ihm durchaus nicht das Gefühl geben, als gäbe es allerlei, wofür er zu zart und schwächlich sei. Es ist Zeit, daß er es lernt, sich auf seine eigene Kraft zu verlassen, bei dem ewigen Behüten und Abwägen kommt nichts heraus!“ Da auch Baron von Trutzberg, als er Hildegards Zaudern bemerkte, mit Ostentation rief: „Wenn die gnädige Frau nicht dabei ist, gehen wir alle nicht!“ und diese Worte mit einem sehr sprechenden Blick begleitete, so fühlte die junge Frau ihren ohnehin nicht sehr ernst gemeinten Widerstand schmelzen.

Der schöne Kürassieroffizier schien es heute überhaupt darauf anzulegen, seine Verehrung für Frau Hildegard vor der versammelten Gesellschaft, die aus etwa achtzehn bis zwanzig Köpfen bestand, offenkundig an den Tag zu legen. Es ist immer ein merkwürdiges Schauspiel, wenn ein von der Natur besonders bevorzugter Mann gegen die ganze Welt eine übermütige Siegerlaune zur Schau trägt und nur mit einer Einzigen eine Ausnahme macht .... ein Schauspiel, das bei dieser einen Einzigen gewöhnlich auch seines Erfolges sicher ist!

„Er geht scharf ins Zeug!“ dachte Lutz von Bredwitz für sich, der, nachdem er allen Anwesenden vorgestellt worden war, ein wenig seitwärts blieb und den stillen Beobachter abgab. „Er bläst zur Attacke, der flotte Hans Henning, und, wenn nicht alle Zeichen trügen, wird er einen leichten Sieg zu verzeichnen haben! Hat immer die Weiberchen heillos rasch am Bündel gehabt und ist ja auch ’n schöner Kerl, tannenschlank gewachsen, Prachtfigur, und den richtigen Rassestempel, was Kopfhaltung und Hände und Füße betrifft und nun die Brandraketen von Augen im Kopf …. da mag es für ein Weib schwer sein, das Herz festzuhalten! Schön ist sie nun nicht, seine Auserkorene, da hat er recht, und wenn er mit der am Arme Visiten schneidet, wird auch jeder zuerst ans Portemonnaie denken, – aber häßlich ist sie auch nicht, sie sieht gescheit aus, und wenn’s nicht sentimental klänge, würd’ ich von ihr sagen, sie hat ein liebes Gesicht! Auf ihren Sprossen scheint sie freilich große Stücke zu halten, läßt ihn kaum aus den Augen, und der Junge wird in der neuen Ehe den unausbleiblichen Haken abgeben, und zwar ’nen eklichen Haken, da laß ich meinen Kopf zum Pfand! Ja – ich werd’ es doch nicht ändern können! Was mir aber Fanny und Philipp der Gute heute bei Tisch so beiläufig über die Vermögensverhältnisse der Frau – Frau – wie heißt sie gleich? – Bingen erzählt haben, das giebt mir die Zuversicht, daß Trutzberg denn doch ’nen riesigen Glückstreffer mit ihr macht … trotz Stiefsohn und allem!“

Während das dicke Lützelchen sich diese Gedanken gemütlich durch den Kopf gehen ließ, – er besorgte nichts geschwind, auch das Denken nicht! – standen die beiden neuen Kameraden Fredy Bingen und Lutz Ortmann nebeneinander und musterten sich mit den Augen, ohne zu sprechen. „Die beiden Bengel beschnüffeln sich wie zwei junge Hunde!“ dachte Bredwitz und sah ihnen belustigt zu.

„Bist Du der, von dem mir der gesagt hat?“ brach endlich Fredy das Schweigen und wies auf Lutz den Aelteren.

Das hellblonde Bürschchen mit dem rosigen, kugelrunden Kindergesicht nickte und zupfte an seinem Matrosenkragen.

„Kannst Du auch schon lesen?“ fragte es nach einer neuen Pause, um auch seinerseits zur Belebung des Gesprächs beizutragen.

„Ja – schon lange – seit dem Winter!“

„Ich auch! Hab’ einen Lehrer ganz allein für mich gehabt!“

„Ich hab’ bei meiner Mama gelernt!“

„Ist das die mit der hellblauen seidenen Bluse?“

„Ja!“

Eine neue Pause.

„Bleibt ihr lange hier?“ fing Lutz Ortmann von neuem an.

„Weiß nicht. So lange, wie meine Mama will. Und Du?“

„Ach – na, – den Sommer bis zu Ende. Wir haben uns ja hier ’ne eigene Villa gebaut!“ Dies sagte er mit einem scheinbar gleichgültigen Gesicht, aber mit einem kleinen fragenden Seitenblick, ob Fredy diese Thatsache auch gehörig imponiere.

„Wir haben ein Landgut!“ sagte dieser einfach dagegen.

„Ach! Aber ist das nicht da langweilig – so im Winter?“

„Mit Mama? Niemals! Und dann kommt immer Onkel Hugo –“

„Wer ist das?“

„Na … Onkel Hugo Haßler! Hat auch ein Landgut, nahe bei unserm, und liest Mama vor und fährt mit uns spazieren, und spielt auch mit mir. Sieh mal, das ist auch von ihm!“

Mit einiger Mühe holte Fredy aus der Tasche seines Höschens einen Ball heraus. Es war ein wunderhübscher Ball, mit bunter Seide kreuz und quer übersponnen, und als Fredy ihn auf die Erde warf, that er einen hohen Satz.

„Der ist fein!“ sagte Lutz bewundernd. „Solchen Ball hab’ ich noch nie gehabt!“

„Das neueste aus Berlin!“ nickte Fredy wichtig. „Mein Onkel Hugo, der läßt immer das allerneueste aus Berlin für mich kommen!“

„Den hast Du also sehr lieb?“

[494] „Ja – aber nicht bloß, weil er mir oft was schenkt!“

Mein Onkel – mein Onkel Lutz ist auch sehr gut – den haben wir alle sehr lieb; ich hab’ nämlich noch zwei kleine Schwestern! Hast Du auch welche?“

„Nein, ich bin bloß allein!“

„Aber wir spielen heute zusammen, ja? Onkel Lutz sagt, wir sollen!“

„Der ist nett, Dein Onkel und dann können wir auch spielen, aber Du mußt mich nicht schlagen!“

„Fällt mir gar nicht ein, Dich zu hauen, wo Du mir nichts gethan hast!“ Die beiden neuen Freunde faßten einander bei der Hand und lächelten sich an.

Unterdessen hatte die Gesellschaft eine sehr eifrige Debatte über den bevorstehenden Spaziergang geführt. Eine Mutter erklärte, der Gang zu den Klippen sei nichts für Kinder, und sie müsse dann ihr kleines Mädchen nach Hause schicken. Einige stimmten dem bei, andere wieder erklärten sich dagegen.

„Ich gehe nicht ohne mein Kind!“ sagte Hildegard Bingen mit ihrer sanften, festen Stimme.

„Natürlich nicht!“ rief Trutzberg lebhaft. „Fredy muß mit dabei sein! Und wenn er müde wird, dann trage ich ihn!“

„Ich werde auf keinen Fall müde!“ ließ sich Fredys Stimmchen in sehr bestimmtem Ton vernehmen.

Alles lachte. Frau Hildegard warf dem Knaben einen mahnenden Blick zu, in dem zu lesen stand: „Was hattest Du mir versprochen?“

Das Kind wurde rot und schlug den Blick zu Boden, ohne etwas zu erwidern.

„Meine Verehrten, wenn wir noch lange hier stehen, wachsen wir fest!“ rief ein jovialer Oberlehrer. „Die schöne, kostbare Zeit verstreicht, und der Weg bis zu den Klippen ist ziemlich weit!“

Unter Scherzen und Lachen brach man auf. Lutz von Bredwitz warf sich zum „Kindermädchen“ auf und nahm die vier Jüngsten der Gesellschaft in seine Obhut. Frau Hildegard warf ihm einen dankbaren Blick zu – sie wußte ihr Kind gut aufgehoben und konnte sich ruhig demjenigen widmen, an dessen Arm sie ging.

Ruhig? Ach, sie war weit davon entfernt, dies zu sein. Bis in die feinen Fingerspitzen hinein fühlte sie ihr Blut klopfen ... Schüchtern hob sich ihr Auge zu dem stolzen, regelmäßig geschnittenen Gesicht empor, das sich so angelegentlich zu ihr herabneigte. Sie wollte es so gern studieren, dies Gesicht, so gern in diesen Augen lesen … man hatte sie oft versichert, sie sei eine gute Menschenkennerin, und sie hatte sich selbst dafür gehalten – – aber wo die Leidenschaft zum Wort gekommen ist, da ist es vorbei mit dem Beobachten und Ueberlegen! Sie konnte auch nicht auf das achten, was er zu ihr sagte …. wie er es sagte, das war ihr alles! Ihr Herz sprach mit, sobald der vibrierende Ton seiner Stimme ihr Ohr traf oder war es doch ihr Herz nicht? War das nicht am Ende doch daheim im schönen stillen Landgut geblieben, im schönen, stillen Zimmer, wo am Winterabend die rote Flamme im Kamin flackerte, der Wind den körnigen Schnee gegen die Fensterscheiben warf und eine tiefe sympathische Stimme ihr geistvolle, bedeutende Dichterworte vorlas? – Dort war kein Bangen, kein Schwanken gewesen, nur tiefes Verstehen und geistiges wie seelisches Geborgensein, … hier … ach, wer sagte, wer zeigte ihr, wo ihr Glück lag? Und handelte sich’s um ihr Glück allein? – Wie eine Vision sah sie wieder das schöne trauliche Gemach mit dem lodernden Kaminfeuer und, an das Knie des Vorlesers gelehnt, einen kleinen bleichen Knaben, zutraulich und zärtlich sein Köpfchen an die Schulter des alten Freundes geschmiegt … und der kleine bleiche Knabe war ihr einziges, geliebtes Kind! –

„Gnädigste Frau sind so tief in Gedanken!“ sagte die Stimme an ihrer Seite.

Sie zuckte zusammen, wurde rot und lächelte verlegen. Konnte sie ihm sagen: „Meine Gedanken drehten sich alle um Dich?“

Er, der schöne Kürassierlieutenant, nahm mit zwei Fingern der freien linken Hand seinen Schnurrbart gefangen und drehte ihn ungeduldig aufwärts. Mein Gott, war diese Frau philiströs und schwerfällig!! Man kam keinen Schritt weiter mit ihr! Wären ihre Augen nicht gewesen, diese sprechenden, aufgeregt glänzenden Augen, die immer so bewundernd zu ihm emporsahen … wahrhaftig, er hätte nicht einmal zu sagen gewußt, ob er ernstliche Chancen habe, ob es sich lohne, das entscheidende Wort zu sprechen! Aber ob sie ihn heute schon dazu würde kommen lassen, wie er es so gern gewollt, das schien ihm doch sehr zweifelhaft. Und er hatte sich eine Art von Programm zurechtgemacht, in welchem dieser Spaziergang nach den Klippen eine sehr wichtige Nummer bildete! Freilich, so ganz vom Zaun brechen ließ sich die Sache nicht, aber die Ungeduld raubte ihm alle Ruhe und machte ihn viel erregter noch, als er es ohnehin war. Seine goldene, schöne Freiheit – nun sollte er wirklich darangehen, sie zu opfern – oder doch wenigstens ein gutes Stück davon! Und um dieser Frau willen, die so gar nicht „sein Genre“ war, die er sich aus freiem Antrieb niemals ausgesucht haben würde! Sicher war sie unsäglich tugendhaft, moralisch, brav, wahrheitsliebend – mit einem Wort: langweilig! Und dann hatte er sie stark im Verdacht, mit „geistigen Interessen“ behaftet zu sein, für Kunst und Litteratur zu schwärmen und wissenschaftlich gebildet zu sein! Dies war bei Frauen ein Standpunkt, den er „das letzte“ nannte, er konnte ihn durchaus nicht vertragen! Wie würde man sich mit einer solchen Frau zu unterhalten haben? Von Amüsement mußte man natürlich ein für allemal absehen – aber einfach: was redete man mit ihr? „Ach,“ tröstete er sich endlich, „wenn sie sehr verliebt sind, die Weiber, kommt’s weiter nicht so viel drauf an!“

Den Dienst hätte er ungern quittiert, er kam sich noch zu jung dazu vor und war gern Soldat. Besitzer eines Rittergutes aber – warum nicht? Und es war ein stolzes, ein schönes Rittergut, er hatte sich genau informiert. Dort im Sommer ein paar Monate leben, Gastfreundschaft im großen Stil ausüben, sich die halbe Garnison herausbitten, im Herbst mit den Kameraden jagen und nach der Scheibe schießen, tüchtig durch die Wälder reiten, ein gutes Vollblutgestüt anlegen im Winter dann in der Stadt ein hübsches Haus machen, jours fixes und Hausbälle in Scene setzen … das wäre nach seinem Sinn, das würde sich aushalten lassen! Ein ungleiches Paar würden sie allerdings abgeben, er und diese Frau – sie war auch viel zu klein für ihn, er liebte die junonischen Gestalten. Vielleicht, wenn man sie besser anzog, konnte sie doch repräsentabler werden. So, wie sie da neben ihm herschritt, in dem schlichten grauen Rock und der blauseidenen Bluse, sah sie fabelhaft unscheinbar aus. Und dieser verzogene Bengel, von dem sie sich gewiß nie würde trennen wollen! Bah, war sie erst einmal seine Frau, so setzte er’s auch durch, daß der Junge ins Kadettenhaus kam, obgleich er freilich zum künftigen Offizier so ungeeignet wie nur möglich erschien. Ja, ja, Hans Henning, Edler von und zu Trutzberg, wenn man zum erstenmal in seinem vielbewegten Erdendasein einen ernstlichen Heiratsantrag wagen will, das kostet Kopfschmerzen! – –

An einem besonders schönen Aussichtspunkt machte die wandernde Gesellschaft für eine Viertelstunde Rast. Man war schon ein gutes Stück gestiegen, unmerklich beinahe, da der Weg sich sanft emporhob. Nun sah man drunten, eingebettet in ein grünes Thal, ein weißes friedliches Dörfchen liegen, hier und dort eine weidende Herde, hinter den leicht gewellten Hügelrücken die weite blaue See, auf der hin und wieder ein helles Segel im Sonnenschein glänzte.

„Vertrauen Sie mir Ihren Schirm an, ich will Sie schützen!“ sagte Hans Henning und dämpfte seine Stimme zu einem leisen einschmeichelnden Ton herab. „Ich will mich bemühen, es geschickt zu machen, damit Sie sehen. Daß Sie gesehen werden, möchte ich gern vermeiden!“ Und nun manövrierte er mit dem weißen Spitzenschirm und bog sich tief über sie und sonderte sie und sich selbst vollkommen gegen die übrigen ab, daß ihnen nur ein kleiner Lugaus blieb für das liebliche Landschaftsbildchen zu ihren Füßen, und wenn sein beredter Blick den ihrigen traf und eine verräterische Blutwelle um die andere in ihre blassen Wangen stieg, dann faßte seine Hand von neuem nach dem Schnurrbart, diesmal aber, um ein Lächeln des Triumphes zu verstecken.

So kam es, daß die beiden und auch die anderen, die eifrig im Gespräch waren, den Wanderer nicht bemerkten, der vom Dörfchen her langsam den gewundenen, etwas beschwerlichen Fußpfad aufwärts stieg. Und hätte ihn jemand bemerkt, so hätte man ihn kaum sonderlich beachtet; er konnte einer der Bewohner des kleinen Badeortes sein, und in seiner Erscheinung lag nichts, was irgendwie in die Augen fiel. Kaum mittelgroß, tief brünett, das Haar um Stirn und Schläfen herum schon ein wenig grau, in einen einfachen dunkelblauen Sommeranzug gekleidet, einen Strohhut mit breitem schwarzen Band über der Stirn – solcher Persönlichkeiten giebt es viele, man sieht flüchtig drüber hin und drüber weg, ohne sich weiter etwas zu denken.

[495] Einer aber war unter der Gesellschaft, der sah nicht drüber weg. Der kleine Fredy, der nach seiner schüchternen Art mit seinem neuen Freund ein etwas einsilbiges Gespräch geführt und währenddessen mit seinen forschenden Kinderaugen die Landschaft gemustert hatte, stürzte plötzlich mit dem aufgeregten Jubelruf: „Mama, Mama, da ist Onkel Hugo! Da kommt Onkel Hugo!“ auf seine Mutter zu. Ungestüm stieß er den weißen Spitzenschirm beiseite und faßte seine Mama bei beiden Händen, um sie von der Bank emporzuziehen.

„Wer kommt?“ – „Wen hat er gesehen?“ – „Meint er den Herrn, der dort vom Dorf in die Höhe kommt?“ – „Kennen Sie ihn?“ – „Na, der Junge scheint sich aber unbändig zu freuen!“ Solche Ausrufe wurden rechts und links hörbar, indessen sich Frau Hildegard verwirrt erhob und, unbewußt widerstrebend, sich von Fredy mit fortziehen ließ.

„Wer ist das, meine Gnädige?“ fragte Trutzberg stirnrunzelnd, dicht neben der jungen Witwe bleibend – er war nicht gewillt, seinen Posten aufzugeben. „Fredy ist ja ganz aus dem Häuschen, so hab’ ich ihn noch nie gesehen. Teilen Sie etwa sein Entzücken über diesen vielbejubelten Onkel Hugo?“

Er sprach ganz leise in sie hinein, daß nur sie ihn verstand, und seine Stimme klang zornig; sie, die junge Frau, hörte die helle Eifersucht heraus. Zornig war er auch wirklich, aber nur darüber, daß jetzt, da er eben alles so schön „im Zuge“ gehabt, irgend ein Störenfried des Weges daher kam, der ihn in seinem Siegeslauf möglicherweise aufhielt. Im Ernst eifersüchtig zu sein, fiel ihm nicht ein.

„Herr Haßler, mein – mein – meines verstorbenen Mannes bester Freund, mein Gutsnachbar und Fredys Vormund,“ sagte sie hastig und gepreßt, „ich habe Ihnen wohl schon von ihm gesprochen.“

„Möglich! Ich erinnere mich nicht!“ entgegnete er ablehnend. „Und dieser Herr kommt Ihnen ganz unerwartet?“

„Ich – ja – in der That! Ich hatte keine … freilich hab’ ich ihm auf seinen Brief“ – Hildegard verwirrte sich immer mehr. An dem Brief, den sie heute vormittag unter der Feder gehabt, schrieb sie bereits den dritten Tag, und es war doch eine wichtige geschäftliche Angelegenheit, um die es sich handelte!

„Nun komm aber doch!“ Fredys kleine Hände zerrten an seiner Mama Kleiderfalten. „Nun komm doch mit mir ihm entgegen! Freust Du Dich denn gar nicht über Onkel Hugo?“

Die unschuldige Frage aus Kindermund tönte ihr wie eine schwere Anklage im Herzen wieder. Wirklich freute sie sich denn nicht? Hundertmal hatte sie es gedacht und dem treuen Freunde gesagt: „Was wäre ich ohne Sie? Was finge ich mit Fredy an, wenn ich Sie nicht hätte?“ Und nun – blieb wirklich alles still in ihr? Kam weiter nichts in ihrem Innern zu Wort als der heiße Schreck: „Was wird er denken? Was wird er sagen?“ Mechanisch ließ sie sich von Fredy weiterziehen, mechanisch beantwortete sie die durcheinander schwirrenden Fragen, die von allen Seiten auf sie eindrangen. Der Ankömmling war jetzt schon so nahe, daß er die einzelnen Gesichter dort auf der Anhöhe gut unterscheiden konnte – er bog etwas den Kopf zurück, spähte scharf durch die Brille in die Höhe und hob grüßend den Hut. Es war ein sehr glückliches Lächeln, was jetzt auf seinem Gesicht erschien – er hatte die eine herausgefunden, die ihm nie zu unscheinbar oder zu unelegant erschienen war, von der er nie gedacht, wie sie sich wohl neben ihm ausnehmen werde, deren Kind er nie als unbequeme Beigabe angesehen, deren Eigentum er keinen Augenblick zum Gegenstand seiner Spekulation gemacht hatte. Unter all den neuen, gleichgültigen Gesichtern dies eine, dies wohlbekannte, dies liebe – und daneben Fredy, der ihm mit offenen Armen entgegenläuft, sich von ihm auffangen, in die Höhe heben und herzhaft abküssen läßt und sich fest um seinen Hals klammert. „Onkel Hugo! Mein Onkel Hugo!“

Er will den Jungen auf die Erde setzen, um die Hände zur Begrüßung frei zu bekommen, aber das sonst so wenig demonstrative Kind, das bei jeder Gelegenheit fragt, „ob auch keiner zusieht“, läßt seinen lieben Onkel nicht los, und so, Fredy auf dem Arm, lachend und glücklich, tritt er vor Fredys Mutter.

„Da bin ich, meine verehrte Freundin! Die Antwort auf meinen Brief blieb mir gar zu lange aus, und da doch die Sache einigermaßen wichtig ist, ich auch daheim nichts Wesentliches jetzt versäume, so bin ich kurz entschlossen hierhergekommen, um die Angelegenheit selbst mit Ihnen durchzusprechen.“

„Und wo fanden Sie – wie fanden Sie hierher?“

„Das ist doch so einfach! Im Hotel wußte man Ihr Logis, und in Ihrem Logis wußte man, wohin Sie heute gegangen waren, und hat mich Ihnen nachgeschickt.“

Es entgeht ihm nicht, daß sie, um derentwillen er gekommen ist, sichtlich verlegen aussieht – er kennt ihr Gesicht zu gut. Ist es nur die Anwesenheit der vielen fremden Menschen, die sie beengt, oder – oder – kann es sein – daß er, ihr nächster, treuester, ihr einziger Freund, er, der sicher hoffte, ihr sobald noch weit mehr zu werden … daß er ihr ungelegen kommt?

Ganz flüchtig schießt ihm der Gedanke durch den Kopf, gleich darauf schiebt er ihn weit von sich und schilt mit sich selbst, daß er ihr unrecht gethan. In einem Verhältnis, wie das ihre es ist, bleibt ein so konventioneller Begriff, wie „gelegen“ oder „ungelegen“ absolut ausgeschlossen!

„Fredy, laß Dich auf die Erde setzen! Sofort! Du belästigst den Onkel!“

„Sie wissen, daß das nicht der Fall ist, Frau Hildegard. Federleicht ist er noch immer, der kleine Kerl, aber es will mir scheinen, als wär’ er voller im Gesicht geworden, und eine viel bessere Farbe hat er entschieden bekommen!“

Mit liebevollem Anteil mustert er Fredys Gesicht, während er ihn sorgsam zu Boden gleiten läßt.

„Sie gestatten, daß ich Sie mit den Herrschaften bekannt mache! Herr Gutsbesitzer Haßler, der beste Freund meines verstorbenen Gatten – Herr Staatsanwalt Möller und Frau Gemahlin – Herr Oberlehrer Grün und Fräulein Schwester.“

Die Hüte fliegen, die Kleider rascheln – Verbeugungen hier, Verbeugungen dort. Es dauert natürlich eine ganze Weile, aber es geht ganz fließend. Dann ein Stocken in ihrer Stimme: „Herr Lieutenant Baron von Trutzberg!“

Der schöne Aristokrat und der unscheinbare Bürgerliche im schlichten Reiseanzug messen einander mit den Blicken. Trutzberg ist verstimmt und hat dessen gar kein Hehl; sich zu beherrschen, das hält er nur im Dienste allenfalls für angezeigt, im übrigen hat er’s ja nicht nötig! Die vertrauliche Anrede: „Verehrte Freundin!“ – und dann: „Frau Hildegard!“ hat ihm wenig gefallen, und nun hängt auch noch das Schoßpüppchen, der verzogene Bengel, dieser Fredy, wie eine Klette an dem hereingeschneiten Onkel, läßt seine Hand nicht los, sieht immer wieder mit strahlendem Blick zu ihm auf … eine Rolle wird dieser „Freund“ hier spielen, das ist ohne Zweifel, und ob er ihm, dem verwöhnten adligen Offizier, gutwillig die Hauptrolle überlassen wird, das scheint nun doch die Frage!

Herr Gutsbesitzer Haßler wird im übrigen von der Gesellschaft freundlich bewillkommnet und von dem heutigen Plan verständigt; man habe nach den Klippen gehen wollen, das sei jetzt etwa noch eine Stunde Weges, aber ein sehr hübscher Weg, wenn freilich auch nicht ohne Beschwerde – hoffentlich werde Herr Haßler sich anschließen, wenn er nicht gar zu müde sei!

„Ach, Onkel Hugo – der ist nie müde, der kann um Vier aufstehen und kann den ganzen Vormittag auf seinem wilden Fuchs auf den Feldern herumreiten, und dann macht es ihm noch gar nichts! Onkel Hugo, und wenn Du nicht mitkommst zu den Klippen, dann geh’ ich natürlich auch nicht und ich bleib’ wo Du bleibst!“

Fredy giebt diese Erklärung vor der ganzen Gesellschaft laut, mit unerschrockenem Mut, ab – es ist, als ob Onkel Hugos Erscheinen sein Selbstbewußtsein außerordentlich gehoben habe.

Man setzt sich von neuem in Bewegung, und wie dies ganz natürlich ist, arrangiert man den Zug so, daß Frau Bingen mit ihrem Freunde ein paar vertrauliche Worte zu wechseln vermag.

„Sagen Sie mir, Frau Hildegard, warum beantworteten Sie mir meinen Brief nicht umgehend, wie ich Sie doch bat? Vor all den Fremden mochte ich es nicht aussprechen, aber ich fürchtete schon, Sie könnten erkrankt sein, und es ließ mir daher keine Ruhe zu Hause. Sie sind ja sonst die Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit in Person, und schließlich war die Sache wichtig genug; es ist doch ein stattlicher Posten Geld, um den es sich handelt!“

Unter seinem besorgt forschenden Blick errötete sie. Mechanisch spielten ihre Hände mit einem Sträußchen Waldblumen, das sie im Gürtel trug. Trutzberg hatte es ihr gepflückt.

„Geh zu den Kindern, Fredy!“ sagte sie in freundlichem, aber bestimmtem Ton. „Du darfst nicht immer unter Großen sein und alles mit anhören.“

[498] „Aber – aber – ich möchte doch bei meinem Onkel Hugo bleiben!“

„Onkel Hugo und ich haben über Dinge zu sprechen, die nicht für Kinder bestimmt sind.“

„Aber ich freu’ mich doch so schrecklich, daß er da ist!“

„Das kannst Du ebensogut thun, wenn Du zu den Kindern gehst! Gehorche jetzt, Fredy, ich will kein Wort weiter hören!“

Das Kind ließ zögernd des Onkels Rechte, die es mit beiden Händen gefaßt hielt, los und ging langsam, mit gesenktem Kopf, zu Lutz Ortmann zurück.

„Nun, liebe Freundin?“

„Ach!“ Sie sah von ihm fort und bewegte unruhig den Kopf. „Ich – ich hatte hier keine rechte Ruhe zum Schreiben!“

„Keine Ruhe?“ wiederholte er erstaunt. „Und wie ging das zu? War etwa Fredy krank?“

Seine offenbare Verwunderung schien sie zu reizen. „Fredy? Gottlob nein, er ist immer wohlauf gewesen.“

„Aber es muß doch irgend einen Grund –“

„Ach!“ machte sie in leichtem Unmut. „Muß denn alles und jedes auf der ganzen Welt immer seinen logisch definierbaren Grnnd haben? Wie kann man jederzeit seiner Stimmung Herr sein! Wie kann man sich Rechenschaft ablegen von jeder Trübung oder Erregung des eigenen Innern –“

„Aber, Sie verzeihen, liebe Freundin: was hat Ihre augenblickliche Stimmung, die Trübung oder Erregung Ihres Innern mit unserer wichtigen Geldangelegenheit zu schaffen?“

Der Einwurf war gerecht, sie fühlte das. Aber eben, daß er gerecht war, ärgerte sie.

„Eben einfach das zum Beispiel,“ sagte sie rasch, „daß mir in meiner jetzigen Stimmung diese wichtige Geldangelegenheit weitaus nicht so schwerwiegend erscheint wie Ihnen!“

Sie hatte die Worte kaum gesprochen, als sie sie auch sofort bereute. Hildegard Bingen war keine heftige Natur und ließ sich sehr selten zu voreiligen Aeußerungen hinreißen. Wenn es ihr aber geschah, so litt sie selbst am meisten darunter.

Haßler blickte sie betroffen an. Ob ihm eine Ahnung dessen kam, was in ihr vorging?

„Es muß in der That eine merkwürdige Seelenstimmung sein, die Sie zu einem solchen Ausspruch veranlaßt!“ sagte er langsam, wie wenn er jedes Wort abzuwägen wünschte. „Sie wissen recht gut, daß ich für meine Person keineswegs einen übermäßigen Wert auf Geld und Gut lege, daß es mir immer und überall nur Mittel zum Zweck ist; bei dem, was ich mein unumschränktes Eigentum nenne, wohlverstanden! Anders ist es mit demjenigen, was mir ein anderer als anvertrautes Gut übergeben hat – hier kann ich nicht umsichtig, nicht vorsichtig genug sein, um in mir das Bewußtsein, in vollem Maß meine Pflicht gethan zu haben, zu befestigen. Sie und ich, wir haben ja so oft gerade über diesen Punkt gesprochen, Frau Hildegard, und ich weiß es, wir hatten dieselbe Auffassung. Sie und ich, wir sind die Verwalter für Fredys dereinstiges Hab’ und Gut, wir tragen die volle Verantwortung dafür, daß es sich unter unseren Händen mehrt – es ist nicht das tote Stück Geld, um das es sich handelt …. wir haben es beide oft gesagt, daß gerade wir einen idealen Gesichtspunkt hierbei vertreten müssen! Im Sinn und Geist dessen, der uns beiden so wert war, sein Eigentum erhalten und wenn möglich vergrößern für sein Kind …. in seinem Sinn und Geist dies Kind so erziehen, daß das schöne Besitztum einstmals ihm selbst und vielen anderen zum Segen werde …. so habe ich, so haben Sie bisher die uns gewordene Aufgabe als ein heiliges Vermächtnis angesehen! Peinlich genau habe ich, das darf ich von mir sagen, bis jetzt meine Pflicht gethan und ebenso Sie die Ihre erfüllen sehen – nicht, um Fredy einstmals ein paar hundert Thaler mehr zu erhalten, die er ruhig entbehren könnte, nein, eben von jenem höheren Standpunkt aus, den wir bis heute miteinander teilten. Wenn Sie diesen Standpunkt jetzt verlassen haben sollten – wenn Sie mir sagen, eine Angelegenheit, die, so oder so, immer ein Stück Zukunft Ihres Kindes betrifft, erscheine Ihnen nicht so wichtig wie mir –“

„Nein, lieber Freund, nein!“ Ihr Blick hatte sich umflort, ihr Mund zuckte. „Ich bin heute Ihrer Ansicht, wie ich es immer gewesen! Ich erkenne Ihre treue Fürsorge für mich und mein Kind, ich weiß, daß wir in Alfreds Sinn handelten, und ich möchte, daß es nie, nie anders damit wird. Verzeihen Sie mir, wenn ich Sie verletzt habe, Sie, den besten, wahrsten –“ Die Stimme versagte ihr, sie bog den Sonnenschirm tiefer, um ihr Gesicht zu verbergen.

Der Freund ging eine kleine Weile stumm neben ihr weiter. Sie waren hinter den anderen, die laut lachend und plaudernd weiterschritten, ein Stück Weges zurückgeblieben.

„Was haben Sie denn, Frau Hildegard?“ fragte Haßler endlich, und seine Stimme klang so gut und treu, wie der Blick seiner Augen war, der ihr Antlitz suchte. „Sie sind dieselbe nicht mehr – sind verändert – erregt – betrübt – was ist Ihnen geschehen? Darf ich es nicht wissen?“

Stumm und energisch schüttelte sie den Kopf – sie machte nicht einmal den Versuch, eine Antwort zu finden. Nein, er – gerade er, durfte nichts davon erfahren, ehe ihr Entschluß reif war.

Sie schenkte ihm volles Vertrauen – aber dem Mann, der im Begriff stand, um ihre Hand zu werben, dem ihr bisheriges Benehmen ein offenbares Recht dazu gegeben …. ihm konnte sie nicht sagen: es ist ein anderer Bewerber da, der es verstanden hat, eine Leidenschaft in mir wachzurufen, die mein ganzes Wesen wandelt und erschüttert!

„Abcr es ist etwas da? Das wenigstens werden Sie mir zugestehen müssen!“ fragt er dringlicher.

Wieder bleibt sie stumm, aber ihr Schweigen ist beredt genug. Seine guten Augen trüben sich, und er atmet tief.

Die beiden haben unwillkürlich immer mehr ihren Schritt verlangsamt – – von den übrigen ist nichts mehr zu sehen. –

Diese anderen schlendern scherzend und lachend dahin. Die beiden jungen Mädchen, die von der Gesellschaft sind, pflücken Blumen am Wegesrand, ein paar von den jüngeren Herren spielen die Galanten und klettern da und dort einen Abhang hinunter, um eine besonders schöne Waldblume zu holen. Der Weg wird mit der Zeit steiler, das Ufer fällt tief zum Meer ab, man muß sich hüten, zu nahe an den Rand zu gehen.

Lutz von Bredwitz nahm es sehr ernst mit seinen Pflichten als „Kindermädchen“. Er hielt seine vier Pflegebefohlenen scharf im Zügel, ließ sie beständig vor sich hergehen, nahm einen von ihnen zeitweilig an die Hand, namentlich Fredy, und bedrohte sie mit den entsetzlichsten Strafen, falls sie ihm nicht aufs Wort gehorchten … Aber er that das alles mit einem so gutmütig komischen Ton, daß die Kinder nicht aus dem Lachen kamen und es gar nicht der Versicherung Lutz’ des Jüngeren bedurft hätte: „Das meint ja mein Onkel gar nicht so böse! Mein Onkel, der spaßt ja bloß!“

„Fredy, Du widerspenstiges kleines Unkraut, was hast Du Dich denn in einem fort umzusehen? Du wirst auf der Nase liegen, ehe Du Dich versiehst, und das wird Dir dann sehr schlecht gefallen! Vor Dich sehen – auf den Weg achten! Verstanden?“

„Ich will doch bloß sehen, wo meine Mama mit Onkel Hugo bleibt!“

„Deine Mama ist keine Stecknadel, lieber Sohn, die wird uns nicht verloren gehen!“

„Aber sie ist ganz, ganz weit zurück – ich kann sie schon gar nicht mehr sehen!“

„Ist nicht der berühmte Onkel Hugo da zu ihrem Schutz? Der wird schon auf sie aufpassen!“

„So laß einmal die dummen Gören allein laufen!“ sagte eine ärgerliche Stimme dicht an Bredwitz’ Ohr in unterdrücktem Ton, und eine Hand schob sich in seinen Arm. „Sie sind groß genug, um sich selbst in acht zu nehmen ... Ich bin einfach wütend!“

Das dicke Lützelchen sah mit seinen gutmütigen, etwas vorquellenden Augen nahe in Trutzbergs zorniges Gesicht und sagte bedauernd: „Ja, es trifft sich unangenehm! Schön ist’s für Dich nicht, daß – – – “

„Schön? Nichtswürdig ist’s – infam! Muß diesen dummen Kerl heute gerade der Teufel reiten, hier aufzutauchen und mir die ganze Geschichte zu verderben! Wär’ er morgen gekommen – meinetwegen auch heut’ abend spät, so hätte man ihm mit dem vollzogenen Faktum entgegentreten können … nun zögert und zögert sich das hin! – – Man wird wahrhaftig noch alle Segel beisetzen müssen, um dem edlen Stoppeltreter den Rang abzulaufen!“

„Na, ich denke, das ist bloß Freundschaft!“

„Der Teufel trau’ den Weibern – zumal denen von solchem Schlag! Daß er will, ist klar wie die Sonne, und sie …. diese stillen Wasser sind oft sehr bedenklich!“

„Ja, warum lässest Du denn die beiden jetzt allein, Edler? Ich an Deiner Stelle würde mein Eisen schmieden!“

[499]Du!“ Trutzberg warf geringschätzig den Kopf auf. „Lehr’ Du mich Weiber kennen! Gerade eine scheinbare Vernachlässigung reizt sie. Soll sie durchaus merken, wieviel mir an der Partie gelegen ist? Ich werde mich hüten und der Narr sein und ihr zeigen, wie … was war denn das?“

Ein vielstimmiger, gellender Angstschrei drang zu ihnen herüber. Die übrigen waren weit voraus – man konnte nicht sehen, was geschehen war – an einer Stelle drängte sich alles zusammen – die hellen Kleider der Damen, die dunklen Männergestalten; es war hart am Rande des hier senkrecht abstürzenden Ufers, das unmittelbar zur See abfiel.

„Die Kinder! Die Kinder!“ Lutz von Bredwitz griff krampfhaft nach Trutzbergs Arm. „Um Gotteswillen, wenn es eins von den Kindern wäre! Laß uns hinlaufen – hier hinüber das ist der kürzeste Weg – verdammtes Gestrüpp – – –“

Er wollte den Weg abschneiden und quer hinüber – ein paar hoch aufgeschossene zähe Dornbüsche stachen ihm die Hände blutig und hielten ihn an den Kleidern fest.

„So warte doch ab, Mensch! Bleib!“ mahnte Trutzberg.

„Wart’, sag’ ich Dir. Es sind ja Leute genug da zum Helfen und Retten. Wenn jemand hier von oben direkt in die See abgestürzt ist, seh’ ich ohnehin nicht, wie man ihm so rasch beikommen soll!“

„Aber es könnte doch Fredy –“

„Fredy! Ja, wenn’s der wäre, da müßte man freilich –“

„Ich bin durch! Warte! Laß sehen! Wenn sie nur nicht alle durcheinander rennen und schreien möchten! Wer ist abgestürzt?“

Sie waren jetzt beide zur Stelle, aber es antwortete ihnen niemand, es beachtete sie keiner. Ein Stück des Holzgeländers, mit dem man die gefährliche Stelle zum Schutz umgeben, hing lose und gebrochen herunter, zwei Frauen lagen auf den Knien, die jungen Mädchen schluchzten, die Herren schrieen und gestikulierten, einer von ihnen hatte sich Platt an die Erde gelegt und versuchte, am Felsgestein hinunterzuklettern, – einige waren um eine zusammengesunkene Gestalt bemüht, die in Weinkrämpfen am Boden lag.

„Jungen! Lutz! Fredy!“ schrie Bredwitz mit Donnerstimme in das Getümmel hinein. – Es antwortete ihm niemand – von den Kindern war nichts zu sehen.

„Gott im Himmel!“ Die hellen Angsttropfen perlten ihm auf der Stirn. „Meiner Schwester Junge! Wenn ich nur wüßte, wer überhaupt verunglückt ist! Fredy! Lutz! Fredy!“

„Ach, Onkel – Onkel!“ Ein hellauf weinendes Kinderstimmchen ließ sich vernehmen. „Onkel Lutz –“

„Junge! Hierher! Zu mir! Wo hast Du Fredy?“

„Hier, Onkel, hier sind wir alle beide!“

„Alle beide!“ Er riß sie in seinen Armen in die Höhe, er küßte ihre Wangen, ihre Haare, ihre Kleider – die Augen standen ihm voll Wasser. „Jungen – Jungen, – daß ich euch wieder habe! Wer ist abgestürzt? Wer?“

„Gretchen Möller, Herrn Staatsanwalts Gretchen! Sie lief so gegen das Geländer – aus Versehen –“

„Man muß doch versuchen – Trutzberg – ich möchte versuchen – wenn Du so lange die Kinder –“

Der schöne Offizier zog den Freund mit einem Ruck beiseite.

„Du wirst doch der Narr nicht sein! Du siehst, der Vater versucht schon, hinunterzukommen – es wird ihm nicht gelingen. Hier hinunterzukommen ist unmöglich – vielleicht, daß von einer andern Stelle … wär’ es Fredy gewesen, hätte ich’s wagen müssen … aber so …“ Er zuckte die Achseln und vollendete nicht.

Sie waren inzwischen zum Ufer zurückgelaufen; darin hatte Trutzberg recht – an dieser Stelle war es unmöglich, an den Strand hinunterzukommen, das jäh abstürzende, nackte Felsgestein bot nirgends einen Halt. – Aber ein neuer vielstimmiger Schrei, halb Entsetzen, halb Freude, brach jetzt oben aus Aller Kehlen.

Man sah im dunkelblauen Wasser, schon um ein Stück weiter zurück, das helle Kinderkleid wie eine weiße Möve zum zweitenmal aus den Wellen emportauchen und zugleich rechts vom Ufer her zwischen Geröll, Felsbrocken und Gestrüpp einen eilig abwärts klimmenden Mann … und dieser Mann war bald, bald unten am Strande angelangt.

„Wer ist das?“ – „Einer von uns?“ – „Wie kommt er dahin?“ – „Kennen Sie ihn?“ – „Er war ein Stück zurückgeblieben und konnte gerade dort absteigen, wo er war!“ – „Er wird zu spät kommen!“ – „Nein, nein, sie wird gewiß noch ein drittes Mal auftauchen.“ – „Er fällt! Die losen Steine geben nach!“ – „Da ist er schon wieder in die Höhe!“ – „Wenn er nur schwimmen kann!“ – „Gott, o mein Gott, die arme Mutter!“ – „Es ist der fremde Herr, der heute angekommen ist!“ – „Jetzt ist er unten! Nun stürzt er sich ins Wasser!“

Kein Wort, kein Laut weiter! Selbst das Schluchzen der unglücklichen Mutter hatte für den Augenblick aufgehört. In atemloser Spannung sah alles nach unten – sah und wartete.

Der Schwimmer nahm große Stöße und die See war ruhig.

Aber ihn hinderten die schweren Kleider, die Stiefel, die er in der Eile nicht abzulegen gewagt hatte, und die ziemlich starke Uferströmuug hatte das Kind bereits ein Ende fortgetrieben. Es tauchte ein drittes Mal auf und wieder unter, ohne daß es dem Schwimmer möglich geworden war, es zu erreichen. Jetzt tauchte er … kam wieder zum Vorschein – tauchte von neuem … man sah eine Zeit lang nichts weiter, als die blaue, wogende Flut – –

Endlich! Ein dunkles Etwas kam über dem Wasser empor, ein Kopf – ein Arm – sehr, sehr langsam kam es näher. Und hinterher in dem Strudel – waren das Kleider? Nein ja – ja doch – ja, ganz gewiß!! –

Ein Weinen und Lachen brach los auf der Höhe, die Menschen fielen einander in die Arme, es war eine Aufregung ohnegleichen! Und nun eilten einige zurück und dann zum Strande hinunter – und andere ins nächste Dorf nach einem Wagen, nach Decken, nach stärkendem Wein – zurück – zurück alle – vor allen Dingen dem geretteten Kinde, dem Retter entgegen! –

Abseits von allen kniete eine blasse Frau, einen kleinen, zarten Knaben im Arm, und die Thränen rollten ihr unaufhaltsam aus den Augen, während sie ihre Hände über den Kinderhänden gefaltet hielt und beten wollte. Als alle schon gingen, erhob sie sich als die letzte – sie hatte es gesehen, daß der Mann unten wankend und taumelnd, das Kind in den Armen, das Ufer betreten hatte – nun konnte sie gehen, ihm entgegen.

„Gnädigste Frau sind so tief erschüttert – es war in der That ein überaus aufregendes Schauspiel! Darf ich der gnädigen Frau meinen Arm anbieten?“

„Ich danke, Herr von Trutzberg, ich fühle mich vollkommen stark genug – komm, Fredy, mein Kind!“

„Gnädigste Frau können stolz sein auf die That Ihres Freundes!“

„In der That – das bin ich!“

„Es traf sich freilich günstig, daß er dort besser zur Stelle war. Wir – von unserem Standpunkt aus – es versteht sich ja von selbst, daß jeder von uns das Gleiche gethan hätte, wenn …“

– – „Ja,“ unterbrach Hildegard Bingen die stockende Rede des Offiziers und sah ihm mit einem festen Blick in die Augen, „wenn es Fredy gewesen wäre, hätten Sie es doch wagen müssen!“

Sie wandte ihm den Rücken und zog ihren Knaben an der Hand mit sich fort, so rasch sie nur konnte. –

Sie waren schon alle, alle unten am Ufer um ihn versammelt, als sie mit Fredy dazukam. Das bewußtlose Kind war in Tücher gewickelt und lag im Arm seiner Mutter – ihm, seinem Retter, hatte man einen Mantel über die triefenden Kleider geworfen, das Haar klebte ihm um die Stirn, er war sehr bleich, aber er lächelte dem Vater des kleinen Mädchens, der in wortloser Rührung seine Hände gefaßt hielt, freundlich zu.

Als er Frau Hildegard kommen sah, that er rasch ein paar Schritte, wie um ihr zu zeigen, daß er sich vollständig wohl fühle – – und wieder traten die übrigen zurück und redeten lebhaft miteinander, um die beiden allein zu lassen.

Sie nickte ihm wortlos lächelnd zu und die Thränen standen ihr in den Augen, als sie seine beiden Hände in die ihren nahm.

„Lieber, lieber Onkel Hugo!“ sagte Fredy zärtlich.

Da neigte sie sich über den Knaben und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Froh erstaunt, als habe er nicht recht gehört, sah er zu ihr empor; sie flüsterte noch einmal.

„Lieber, lieber Papa!“ sagte Fredy leise und breitete die Arme aus.

Der Mann sah verwirrt um sich, als träume er.

„Hildegard –“ begann er endlich stammelnd.

Ihre tiefen Augen lächelten ihn an.

„Es ist nichts mehr, was mich verwirrt und aufregt,“ sagte sie ernst. „Ich bin zur Erkenntnis gekommen! Wenn Sie uns haben wollen – mich und Fredy –“

Das Kind umfaßte beide zugleich mit seinen Armen.