Friedrich Scherer

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Textdaten
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Autor: August Peters
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Titel: Friedrich Scherer
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aus: Die Gartenlaube, Heft 50, S. 732–733
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Friedrich Scherer,

der Apostel der Blinden.
Vom Verfasser der Novelle „Blind und doch sehend.“

Wie einst in einem dunklen Dorfe Frankreichs an ein armes Hirtenmädchen der Ruf des Geistes erging, ihr Vaterland vom Joche der Fremdherrschaft zu erlösen, so schlug in die Seele eines armen blinden Knaben aus einem bairischen Dorfe das Bibelwort: „Thue deinen Mund auf für die Sache Derer, die verlassen sind“, als eine Gottesmahnung, für seine blinden Brüder und Schwestern aufzutreten und ihnen durch Wort und That eine bessere Zukunft zu erkämpfen. Dieser Knabe war der Sohn des wackeren Maurermeisters Leonhardt Scherer in Ehgingen, einem Pfarrdorfe des königl. bairischen Landgerichtes Wasserdrüdingen in Mittelfranken. Im Jahre 1823 gesund und kräftig zur Welt gekommen, hatte der kleine Friedrich schon im zweiten Lebensjahre das Unglück, durch die Schuld eines Quacksalbers, der ihn in einer Kinderkrankheit behandelte, die Himmelsgabe des Augenlichtes und bald darauf auch seinen Vater zu verlieren. Die Mutter hatte Mühe, sich mit ihren vier unerzogenen Kindern und einer alten Großmutter redlich durchzubringen; daher konnte sie dem blinden Knäblein nicht die Sorgfalt widmen, zu der sie ihr Herz wohl trieb. Obgleich seit jener Krankheit immer kränklich, war das Kind dennoch munter und verriet zeitig einen regen, wißbegierigen Geist. Diesem konnte die Mutter im Verein mit der Großmutter nur spärliche Nahrung reichen durch Vorsagen von Sprüchen und Erzählen von Geschichten, die das Knäblein begierig anhörte und so in sein Gedächtniß aufnahm, daß es sie sogleich treulich wiedergeben konnte. Gleichzeitig mit seinem Gedächtniß bildete sich sein Tastsinn aus, und er lernte ohne alle Anleitung Körper in Thon und Holz nachbilden. Ein mächtiger Drang trieb ihn, auch das innere Wesen der Dinge, die ihm unter die Hände kamen, zu untersuchen, und so geschah es, daß er zusammengesetzte Gegenstände auseinander nahm, um ihre Theile und deren Zusammensetzung genau kennen zu lernen. Weil seine Umgebungen muthwilliger Zerstörungslust beimaßen, was nur aus mächtigem Forschungstrieb entsprang, so erntete er dafür oft Schläge.

Als er kaum das sechste Jahr erreicht hatte, genügte ihm der spärliche Unterricht der Mutter und Großmutter nicht mehr, und er drängte sich ohne ihr Wissen zur Schule. Ohne von den Lehrern beachtet zu werden, saß er da unter seinen glücklicheren Jugendgenossen und verschlang jedes Wort, das er hörte. So trieb er es eine geraume Zeit; kein Lehrer beschäftigte sich mit ihm, er war gar nicht als ein lernfähiges Wesen angesehen. Und doch lernte er fast mehr, als alle seine Mitschüler. Das zeigte sich, als er anfing, Fragen der Lehrer, worauf Andere die Antwort schuldig blieben, unaufgefordert zu beantworten, auch wohl verständige Fragen an die Lehrer zu richten. Dadurch erregte er deren Aufmerksamkeit, und nun erst beschäftigten sie sich mit ihm. Einer von ihnen, Namens Hirschmann, nahm ihn mit in seine Wohnung und ließ ihm täglich von seiner Frau und Tochter vorlesen. Während Friedrich so sein Gedächtniß bereicherte und schärfte, übte er zu Hause auch die Geschicklichkeit seiner Hände, und er brachte es im Nachbilden von allerhand Gegenständen bald so weit, daß er sich nicht nur sein eigenes Spielzeug, sondern auch dergleichen zum Verkauf fertigen konnte, wodurch er zum Unterhalt des mütterlichen Hausstandes wesentlich mit beitrug. Er schnitzte vornehmlich Gegenstände der Landwirthschaft, als: Wagen, Pflüge, Eggen, Pferde, Ochsen etc. Uebrigens war er auch ein lebhafter Tummler auf dem Spielplan, am liebsten aber sprang er allein über Bäche und Gräben, oder erkletterte hohe Bäume und wiegte sich an ihren Wipfeln. So kräftigte er Körper und Geist und hatte vor manchem sehenden Kinde das Glück einer naturwüchsigen Entfaltung voraus.

Dieses Glück erfuhr aber eine schwere Trübung, als mit der Confirmation seine Schulzeit schloß und, während seine Altersgenossen zu einem bestimmten Lebensberufe übergingen, er sich ausgeschlossen fand von dem allgemeinen Wettlaufe des Lebens. Für ihn, so wollte es das Vorurtheil und die gedankenlose Gewohnheit, gab es kein Streben, keinen Kampf, kein Leben – bloßes Vegetiren. Mit furchtbarer Wucht drückte dieses Loos auf feinen strebsamen Geist und die Geier des Trübsinns nagten an seinem Herzen. Sich ihnen zu entwinden, nahm er seine Zuflucht zur Musik, und wie Alles, was er anfing, trieb er sie mit Eifer und Ausdauer. Ganz allein suchte er den eine Stunde entfernt wohnenden Musiklehrer auf, und kein Unwetter konnte ihn je davon zurückhalten. In kurzer Zeit erlangte er auch eine solche Fertigkeit auf dem erwählten Instrumente, der Clarinette, daß er mit Tanzmusik machen und dadurch sein Brod verdienen konnte. Allein dies konnte seinen auf Höheres angelegten Geist nicht befriedigen, und da er fühlte, daß er zur wahren musikalischen Künstlerschaft keine Anlage besaß, so sehnte er sich nach einem anderen Felde des Lernens und Thuns. Ihn drängte es, sich hineinzustürzen in den Strom des Lebens und sich in ihm als rüstiger Schwimmer zu edlen Zielen zu bewahren; er fühlte sich erfüllt mit Kräften dazu und sollte am Ufer stehen wie ein hülsloses Kind, weil ihn das Herkommen zu einem solchen stempelte. Das ward die Quelle schwerer Gemüthsleiden, die das Schlimmste für ihn befürchten ließen.

Da erstand ihm ein Retter in der Person seines Arztes, Dr. Segel. Dieser erkannte den wahren Grund seines Leidens und daß dieses nicht anders zu heben sei, als durch Befriedigung des innersten Dranges des talentvollen Knaben. Er erweckte die Herzen anderer Menschenfreunde, insbesondere des Ortspfarrers und des Landrichters von Wasserdrüdingen, welche sich für den Leidenden verwendeten, daß er 1839 in die Blindenanstalt zu München aufgenommen ward.

Die Aussicht auf Mittel und Gelegenheit zur höhern Ausbildung seiner Fähigkeiten wirkte neubelebend auf Friedrich. Aber seine neuen Leiter verstanden auch nicht das innerste Leben des neuen Pflegebefohlenen. Da er bereits diejenigen Schulkenntnisse besaß, welche man in der Anstalt als genügend für die Blinden seiner Lebensstellung betrachtete, so ward er schon nach halbjährigem Aufenthalt daselbst aus der Schulabtheilung in die Beschäftigungsabtheilung versetzt, wo er außer in technischen Arbeiten nur in der Musik noch geübt wurde. So lange er hier zu lernen hatte und mit Erfolg lernte, fühlte er sich allenfalls befriedigt, zumal es ihm unverwehrt blieb, von andern Zöglingen, welche die höchste Schulclasse besuchten, sich das Gelernte mittheilen zu lassen, wodurch er es zu seinem Eigenthum machte. Als er aber die schwierigsten Arbeiten, welche in der Anstalt gemacht wurden, mit Leichtigkeit ausführte, als auch von seinen Mitzöglingen nichts mehr zu lernen war, erzeugte der Stillstand, zu dem er sich nun wiederum verurtheilt sah, neues Unbefriedigtsein in ihm. Oft legte er sich mit Schmerzen die Frage vor: Bis hierher und nicht weiter sollst du können? Und sein empörter Geist rief: Nein! nein! und abermals nein! Seine Entwickelung konnte und durfte noch nicht abgeschlossen sein. Indem er nun fühlte, wie Diejenigen, die sie für abgeschlossen erklärten, für das innere Leben der Blinden gar kein rechtes Verständnis hätten, gewann ein Gedanke, der schon früher in ihm gedämmert hatte, immer mehr Bestimmtheit und Stärke – der Gedanke: daß ein Blinder wohl der beste Lehrer für Blinde werden könne.

Die Art und Weise, wie die sehenden Leiter und Lehrer der Blindenanstalt ihr Werk trieben, hatte ihm oft Bedenken erregt; diese Bedenken gestalteten sich jetzt zu entschiedener Berurtheilung, und diese trieb ihn zum Nachdenken über eine bessere Methode der Blindenerziehung, und als er diese gefunden zu haben glaubte, entbrannte er von dem Wunsche, sich selbst zum Blindenlehrer auszubilden. Aber dieser Wunsch fand in der Anstalt keinen Anklang, kein Gehör. Zwar verwendeten ihn die protestantischen Lehrer derselben auf Grund seiner erlangten Kenntnisse als Hülfslehrer, aber es geschah nichts, um ihn weiterzubilden zu dem, was er erstrebte. Er verließ daher im Jahre 1845 die Blindenanstalt und versuchte auf anderm Wege zu seinem Ziele zu gelangen. Kein Fehlschlag konnte ihn entmuthigen, und endlich fand er in München hochgestellte Gönner, die seinen Werth erkannten und ihm hülfreiche Hand boten. Vor Allen war es Professor Hefler, welcher der Bemerkung: „es wäre unrecht, solch ein Talent in seiner Entwickelung nicht zu fördern“, die That auf dem Fuße folgen ließ, indem er [733] ihm in der Person eines Rechtscandidaten Rarches einen Privatlehrer gewann, der sich seiner mit aufopfernder Liebe annahm. Bald gesellten sich zu diesen Beiden Männer wie Hofrath von Schubert, Staatsrath Herrmann, Professor Lindemann, Dr. Kuhn und Dr. von Biarowsky, welche ihn in seinem Streben ermunterten und förderten. Diese empfahlen ihn am Hofe, und der König sowie die beiden Königinnen, ganz besonders aber Prinz Karl fanden sich bewogen, ihm Stipendien zum Besuch der Universität, worauf Scherers feurigster Wunsch zunächst gerichtet war, zu bewilligen. Auch der reiche Ultramarinfabrikant Zeltner in Nürnberg unterstützte den strebsamen jungen Mann. Vier Jahre lang hörte Scherer alle Vorlesungen, die er für seinen Zweck ersprießlich fand. Dabei benutzte er die Ferien, sowie nachher noch ein ganzes Jahr, um die Blindenanstalten in Würtemberg, Baden, der Schweiz und Oesterreich zu besuchen. Längst hatte er als das wahre Ziel der Blinden-Erziehung das erkannt, daß die zwischen den Sehenden und den Blinden bestehende Kluft so weit als möglich ausgefüllt, daß letztere zu vollbürtigen Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft in Absicht auf geistige Bildung wie auf Teilnahme an der Arbeit und den Genüssen des Lebens gemacht werden, und er hatte seine Ansichten darüber in einer besondern Schrift „Die Zukunft der Blinden“ ausführlich niedergelegt. Den Anforderungen, die er nach diesen Ansichten an die Blinden-Erziehung machen zu müssen glaubte, fand er keine der von ihm besuchten Anstalten völlig genügend. Daher entstand in ihm die Idee, selbst eine Blinden-Anstalt in’s Leben zu rufen, und kaum hatte er durch ein ehrenvoll bestandenes Lehrer-Examen seine Studien beendet, als er auch an die Verwirklichung dieser Idee ging.

In Nürnberg, der alten edlen, geistig-regsamen Reichsstadt, glaubte er den besten Boden dafür zu finden. Er eilte dahin und begann für seine Idee anzuregen, sowohl durch die Herausgabe der genannten Schrift, als durch das lebendige Wort. Aber welche Vorurtheile und welches Mißtrauen hatte er selbst in dem aufgeklärten und edelsinnigen Nürnberg zu bekämpfen, ehe er sich eine kleine Gemeinde gewann, welche sein Werk in’s Leben rufen zu helfen, den Willen und die Mittel hatten! Erst im Jahre 1854 sah er seine Bemühungen mit Erfolg gekrönt.

Mit sechs Zöglingen und einem sehenden Lehrgenossen eröffnete er in diesem Jahre die Nürnberger Blindenanstalt und arbeitete nun rastlos, um der Welt die Richtigkeit seiner Ansichten durch die That zu beweisen. Und er bewies sie ihr; die öffentlichen Prüfungen, die er mit seinen Zöglingen veranstaltete, lieferten die überraschendsten Resultate, die selbst die heftigsten Widersacher zum Schweigen brachten. Dadurch hob sich die kleine Anstalt so, daß sie im zweiten Jahre ihres Bestehens bereits zehn Zöglinge und ein Vermögen von 30,000 Gulden besaß, wozu Scherer selbst durch seine Bemühungen wesentlich beigetragen hatte. Indessen erhoben sich mit der Zeit zwischen ihm und seinem sehenden Collegen in Bezug auf das Unterrichtswesen und die künftige Lebensstellung der Blinden Meinungsverschiedenheiten, welche ihm das Wirken an seiner eigenen Stiftung verleideten, zumal da es diesem Collegen gelang, die Gönner der Anstalt für seine, im Vergleich zu den Schererschen Gedanken reactionären Ansichten zu gewinnen. Da Scherer’s Geist ohnehin über den engen Wirkungskreis, der ihm hier geboten war, weit hinausflog, da sein Herz nicht blos die zehn Zöglinge der Nürnberger Anstalt, sondern alle seine Leidensgenossen in Deutschland umfaßte, von denen er wußte, daß ihrer 36,000 lebten und davon nur etwa der 36. Theil sich der Wohlthat einer ordentlichen Erziehung erfreute, da sein Gemüth von dem Verlangen entbrannte, allen diesen Unglücklichen eine bessere Zukunft zu erkämpfen, so gab er ohne Kampf seine Stelle in Nürnberg auf und suchte einen neuen empfänglichen Boden für seine Ideen.

Er wandte sich zunächst in das geisteshelle Thüringen, wo er nicht nur die Regierungen für seine Bestrebungen zu gewinnen suchte, sondern auch von Stadt zu Stadt zog, um in öffentlichen Vorträgen die Herzen des Volkes dafür zu entflammen. Zugleich veranstaltete er eine neue, verbesserte Auflage seiner genannten Schrift, sowie die Herausgabe einer Broschüre „über die socialen Leiden der Blinden“, um durch deren Vertrieb einen Fond zum Besten des verfolgten Zweckes zu bilden. Sowohl bei den Regierungen, als bei dem Volke der thüringischen Staaten fand sein Streben den lebhaftesten Anklang, wie die mancherlei Stimmen in der thüringischen Tagespresse darüber bezeugen. Ganz besonders erwies ihm die herzogliche Regierung von Coburg-Gotha Förderung und Aufmunterung.

Die Erfahrungen, die er allenthalben auf seiner Reise in Thüringen machte, überzeugten ihn, daß das Erste und Nothwendigste, was in der von ihm vertretenen Sache zu thun, die Empfänglichmachung der Herzen des Publicums für dieselbe sei, und da Gott seine ersten Versuche, in öffentlicher Rede zu den Herzen zu sprechen, mit Erfolg krönte, so entschloß er sich, durch ganz Deutschland zu ziehen und durch Rede und Schrift die Herzen aller deutschen Stämme für seine Sache zu gewinnen.

So ist er zum Apostel der Blinden geworden, die, so hoffen wir, ihn einst unter ihre größten Wohlthäter zählen werden. Friedrich Scherer steht jetzt in der Blüthe der Männlichkeit, er ist von mittlerer Größe und kräftigem Körperbau, mit angenehmen, gemüthvollen Gesichtszügen. Begabt mit einem volltönigen männlichen Stimmorgan bei warmer Empfindung und lebendiger Darstellungsgabe, die sich zu dichterischem Schwunge erheben kann, sammt einem glücklichen Gedächtniß, versteht er ebenso zum Verstande wie zum Herzen zu sprechen. Am wirksamsten ist freilich seine Begeisterung für seine Sache und seine Ueberzeugung von der Wahrheit seiner Idee. Im geselligen Umgang ist er heiter, gesprächig und witzig. Ein gesunder, gebildeter Humor erhebt ihn über sein trauriges Schicksal, und er beweist so durch sein Leben, daß die Blinden auch glücklich sein können, wenn ihnen die mangelnde leibliche Sehkraft durch Ausbildung der geistigen ersetzt wird.