Friedrich Spielhagen (Die Gartenlaube 1899)
Am 24. Februar d. J. tritt Friedrich Spielhagen in den Seniorenkonvent der Siebziger, und aus allen Kreisen der Nation werden ihm Huldigungen für seine fruchtreiche und fruchtbringende Thätigkeit als Dichter zukommen. Auch die „Gartenlaube“ bringt dem Jubilar, ihn herzlich begrüßend, ihren Glückwunsch dar.
Spielhagen ist am 24. Februar 1829 in Magdeburg geboren; doch die Erinnerungen seiner Kindheit knüpfen sich nicht an die Elbestadt, sondern an die Ostsee, die auf das Gemüt des Knaben einen tiefen und bleibenden Eindruck machte. Sein Vater, ein höherer Regierungsbeamter, wurde nach Stralsund versetzt; die in der alten Seestadt und ihren Umgebungen verlebte Knabenzeit spiegelt sich in vielen Kapiteln von Spielhagens Romanen wieder; das Baltische Meer bildet einen großartigen Hintergrund derselben und greift in einigen wie in „Sturmflut“ in die Handlung selbst mit ein. Die Gymnasialzeit, deren Idylle der Dichter in den ersten Kapiteln von „Hammer und Amboß“, noch mehr aber im ersten Buche des Romans „Was will das werden?“, mit lebhaften Farben wiedergegeben hat, ging indes zu Ende, und der junge Spielhagen begab sich 1847 nach Berlin und begann Jurisprudenz zu studieren. Er vertauschte jedoch bald dies Studium mit dem der Philologie und Litteraturgeschichte, welchem er sich zuerst in Bonn, später in Berlin und in Greifswald widmete. Hier schrieb er noch als Student seine erste Novelle „Clara Vere“, und als er dann auf einem pommerschen Rittergut Hauslehrer war, entstand aus einem ihn mächtig ergreifenden Herzenserlebnis seine zweite Erzählung „Auf der Düne“. Es vergingen jedoch noch Jahre, ehe diese poetischen Werke im Druck erschienen. Auf Drängen des Vaters ging er 1854 nach Leipzig, um sich dort für einen Lehrstuhl der neueren Litteratur und Aesthetik an der Universität vorzubereiten. Er beschäftigte sich hier viel mit der zeitgenössischen englischen Litteratur und erteilte in dem „Modernen Gesamtgymnasium“ des Dr. Hauschild Unterricht. Nach dem Erscheinen von „Clara Vere“ erhielt er die Aufforderung, für das Feuilleton der „Zeitung für Norddeutschland“ in Hannover einen Roman zu schreiben, was dann weiter zu seiner Uebersiedelung nach Hannover führte. Er verheiratete sich hier und redigierte von 1860 bis 1862 das Feuilleton der genannten Zeitung, in welchem sein Roman „Problematische Naturen“ erschien. Dann siedelte er nach Berlin über, wo er seitdem seinen dauernden Wohnsitz hat. Er übernahm hier die Redaktion des Ruppius’schen „Sonntagsblatts“, später war er eine Zeitlang Herausgeber von Westermanns „Monatsheften“; doch gab er diese Thätigkeit wieder auf, weil sie ihn zu sehr von seinem dichterischen Schaffen ablenkte. Gleichwohl blieb er Mitarbeiter mehrerer Journale und Zeitungen, und die Sammlungen seiner „Essays“ beweisen, daß er auch auf dem Gebiete ästhetischer Forschung und Kritik Bedeutendes geleistet. Seit mehr als dreißig Jahren in Berlin wohnend, erfreut er sich dort allgemeiner Wertschätzung als eine litterarische Größe, welche der Reichshauptstadt zur Zierde gereicht.
Spielhagen begann in den obengenannten Novellen mit fein ausgeführten Seelengemälden und neigt sich in der letzten Zeit wieder solcher Novellistik zu. Der Schwerpunkt seines dichterischen Schaffens ruht indes auf seinen großen Kulturgemälden, jenen meist umfangreichen Romanen, in denen er ähnliche Aufgaben verfolgte, wie sie in Deutschland Karl Gutzkow zuerst aufgestellt und zu lösen gesucht hat. Die geistigen Richtungen und Strömungen der neuesten Zeit, ihre politischen und gesellschaftlichen Zustände sollen sich nicht bloß abspiegeln in dem Bilde, das vor uns entrollt wird; sie sollen vielmehr mit eingreifen als Beweggründe der Handlung, als Faktoren, welche das Schicksal der Einzelnen bestimmen.
Der schon genannte erste größere Roman, mit welchem Spielhagen Aufsehen erregte, „Problematische Naturen“, offenbarte bereits die volle Eigentümlichkeit seiner reichen Begabung. In ihm werden mit treffender Charakteristik Typen und Gegensätze der vormärzlichen Gesellschaft geschildert. Der Held des Romans ist ein Hauslehrer, Namens Oswald Stein, schön und geistreich, ein Don Juan, dem die Herzen der Frauen und Mädchen zufliegen und der in den pommerschen Adelsfamilien viel Unheil anrichtet. In dem zweiten Teil des Romans, der in den älteren Auflagen den Sondertitel „Durch Nacht zum Licht“ führte, werden die Beziehungen weiter ausgeführt, die Charaktere, von denen der Weltreisende Adalbert von Oldenburg mit seiner zigeunerhaften Lebensepisode und seiner sarkastisch sich äußernden Weltanschauung das meiste Interesse einflößt, weiter entwickelt. Stein fällt im März 1848 auf den Barrikaden Berlins. Ueber diesen Abschluß, besonders wenn er den Titel „Durch Nacht zum Licht“ erläutern soll, mag man verschiedener Ansicht sein; doch die glänzenden Vorzüge des Romans, die feine Beobachtung der Menschen und der Gesellschaft, die ironische Beleuchtung mancher Kreise, die stimmungsvolle Schilderung der Naturbilder, die Fülle geistvoller Reflexionen aus allen problematischen Gedankengängen der Neuzeit, der graziöse und pikante Stil fanden die allgemeinste Anerkennung und stellten Spielhagen in die erste Linie der zeitgenössischen Erzähler.
Gleiche Vorzüge kann man den Romanen „In Reih’ und Glied“ (1866) und „Hammer und Amboß“ (1869) nachrühmen.
Der erstgenannte behandelt die besonders für die Arbeiterbewegung so wichtige Frage: ob Staatshilfe oder Selbsthilfe. Der Verfasser entscheidet sich für die Selbsthilfe und läßt einen ihrer Vertreter sagen: „Nicht tragen sollt ihr andere, sondern stützen und schützen, wie die Bäume im Walde, wie Soldaten in Reih’ und Glied; denn wenn jeder redlich sich selbst zu helfen versucht, wird er auch dem andern helfen können, wo es not thut.“ Der Held des Romans, Leo Gutmann, ein begeisterter Apostel der sozialen Bewegung, ist aber ein Vertreter der Staatshilfe; er weiß sich bei einem geistreichen, aber wankelmütigen Monarchen einzuschmeicheln, bildet sogar ein Ministerium, das er zu beherrschen glaubt, aber seine Pläne scheitern, die Arbeiter erheben sich gegen ihn, und nach dem Tode des Königs ist sein Einfluß gänzlich gebrochen. Spielhagen hatte für seinen Leo ein zeitgenössisches Modell, Ferdinand Lassalle, und er gab sogar die eigene Erfindung auf, indem er die Zeitereignisse nachdichtete. Sein Held Leo, der ein geistig bedeutendes Mädchen verlassen hat, fällt wie Lassalle im Duell mit einem der Arbeiterfrage fern stehenden Gegner; das kokette Mädchen, mit dem er sich verlobt hat, trägt die Schuld an diesem Duell und seinem Untergang.
Durch „Hammer und Amboß“ zieht sich ein Protest gegen das „europäische Sklavenleben“, wie Hackländer es in einem Roman nennt – man muß die Peitsche entweder führen oder dulden. „Ueberall die bange Wahl, ob wir Hammer sein wollen oder Amboß. Was man uns lehrt, was wir erfahren, was wir um uns sehen: alles scheint zu beweisen, daß es kein Drittes giebt. [111] Und doch ist eine tiefere Verkennung des wahren Verhältnisses nicht denkbar, und doch giebt es nicht nur ein Drittes, sondern es giebt dieses Dritte einzig und allein, oder vielmehr dieses scheinbar Dritte ist das wirklich Einzige, das Urverhältnis, sowohl in der Natur als im Menschendasein, das auch nur ein Stück Natur ist. Nicht Hammer oder Amboß muß es heißen, sondern jedwedes Ding und jeder Mensch in jedem Augenblicke ist beides zu gleicher Zeit.“ Beweiskräftig für diesen Satz ist nicht der ganze Verlauf der Handlung, aber viele Momente derselben streifen den Grundgedanken, und am Schluß prägt er sich klar aus, wenn der Held als Fabrikherr jeden seiner Arbeiter nach dem Verhältnis seiner Arbeitsleistungen und seines Verdienstes zum Teilhaber seiner Fabrik macht. Dieser Held ist ursprünglich ein junger Primaner, der, nach einem Vergehen gegen die Schulordnung von seinem Vater verstoßen, in die Welt hinausabenteuert. Zuerst gerät er in das Haus eines Schmugglerbarons und wird bei einem Kampf zwischen Schmugglern und Grenzbeamten verhaftet und ins Zuchthaus gebracht. Bei einem Aufstande der Sträflinge rettet er den Direktor und wird, schwer erkrankt, von der Tochter desselben, Paula, gepflegt. Freigelassen, wird er Arbeiter einer Maschinenfabrik, dann technischer Leiter derselben. Er heiratet die Tochter des Fabrikbesitzers und nach ihrem Tod jene getreue Pflegerin Paula. Der Roman hat viele glänzende Schilderungen. Das Leben auf dem Raubschloß des wilden Zehren, das Zuchthausleben, der große Sturm und die Rettungsbestrebungen der Züchtlinge, dann die Liebesscene in der Wetternacht: das sind Bilder von großer Anschaulichkeit und dabei von jenem edlen Gepräge des Stils, welches für alle Schöpfungen Spielhagens charakteristisch ist.
Das bedeutendste und geistreichste Werk Spielhagens ist „Sturmflut“ (1877). Der Roman ist das Werk eines schönen und reifen Talents; die Symmetrie der Handlung, welche zu zwei Höhepunkten einer gleichzeitig hereinbrechenden Krisis führt, wirkt durchaus künstlerisch: die Sturmflut, welche die Küsten Rügens verwüstet, und die Sturmflut, welche zugleich mit einem gewissenlosen Gründer zahlreiche Existenzen begräbt, erscheinen beide als elementarische Gewalten, welche in der Natur und in der Gesellschaft ihre Opfer suchen. Als ausgezeichneter See- und Marineschilderer hat sich Spielhagen schon in seinen früheren Romanen bewährt; in der Schilderung der aufgestürmten Ostsee und der von ihr angerichteten Zerstörungen entfaltet sich von neuem das glänzende Kolorit, über welches seine Muse verfügt. Ebenso nimmt unter den Kulturbildern des Romans die Darstellung einer zusammenbrechenden Gründerexistenz, in welcher sich die ganze Epoche spiegelt, einen hervorragenden Rang ein. Die Erinnerungen an die Revolution von 1848 und an den großen Krieg von 1870 sind ungezwungen in das Kulturbild mitverwebt: wir werden durch diesen Roman lebhaft an „Die Ritter vom Geiste“ erinnert, wenngleich er nicht wie das Werk Gutzkows den Anspruch erhebt, ein erschöpfendes Zeitgemälde zu sein; doch die Gruppen der Gesellschaft und die einzelnen Charaktere, die er schildert, vertreten wie bei Gutzkow die verschiedensten politischen und geistigen Richtungen. Nur in einer Hinsicht geht Spielhagen weiter als Gutzkow – er verpflanzt zeitgeschichtliche Charaktere, wie Windthorst, in der durchsichtigsten Maskierung in seine Romankapitel. Man kann dem Roman den Vorwurf machen, daß ihm ein eigentlicher Held fehlt; denn der Schiffskapitän Schmidt, ein tapferer Seemann, der als Reserveoffizier auch den Krieg von 1870 mitgemacht hat, kündigt sich zwar im ersten Bande als die hervorragendste Gestalt der Dichtung an, tritt aber in der weiteren Entwicklung der Handlung wieder zurück, indem sich das Hauptinteresse der Leser anderen Charakteren zuwendet. Doch der große Kulturroman kann als eine neue Gattung betrachtet werden; er darf sich von einschränkenden Bedingungen frei machen und neben den einen Helden andere stellen, wenn es das Gesamtbild so verlangt. Der Gründungsschwindel, Erbschaftsintriguen, der Adel, der seinen Namen und Titel für Geldspekulationen zweifelhafter Art hergiebt, die Leidenschaft der Liebespaare, die mitten durch das Intriguenspiel hindurch ihren eigenen Weg gehen, daneben heitere und ernsttragische Episoden – das wird alles zusammengehalten durch den einheitlichen Grundgedanken. Dabei ist das Werk reich an geistvollen Reflexionen.
Wenn „Sturmflut“ keinen Helden hat, so muß natürlich in einem Ichromane der Held aufs entschiedenste in den Vordergrund treten. Dies ist der Fall in Spielhagens großem Roman „Was will das werden?“, der den Lesern der „Gartenlaube“ ja wohlbekannt ist, da ihn diese (1886) zuerst veröffentlichte. Der Roman enthält sehr anziehende Schilderungen. Das Gymnasialleben in der Hafenstadt, die Romantik des thüringischen Fürstenhofes, das wüste Treiben der Teerjacken in den Hamburger Matrosenvierteln sind farbenreiche Lebensbilder; die Vorgeschichte, in welche die Mutter des Helden verwickelt ist, mit ihren romantischen Voraussetzungen und ihren sich allmählich lösenden Rätseln hält die Teilnahme wach.
An Wert und Bedeutung stehen hinter den maßgebenden Werken Spielhagens einige andere Romane trotz vieler glänzenden Einzelheiten zurück. Zum Teil tragen sie einen stark ausgeprägten tendenziösen Charakter, wie „Die von Hohenstein“ (1865), einer der ersten Romane Spielhagens, der gleich auf die „Problematischen Naturen“ folgte, aber durch die Häufung greller Effekte in einer hin und her flackernden revolutionären Beleuchtung und durch eine Art moderner Räuberromantik hinter den „Problematischen Naturen“ beträchtlich zurückstand. Zum Teil grenzen diese Erzählungen an die Novellen, mit welchen Spielhagen seine ersten Erfolge errungen und die sich durch feines künstlerisches Gepräge und treffliche Stimmungsmalerei auszeichneten. Auch der kürzere, in der „Gartenlaube“ mitgeteilte Roman „Was die Schwalbe sang“ (1872), in welchem das Gemütsleben und der landschaftliche Hintergrund auf harmonischen Einklang gestimmt sind, hat diesen poetischen Vorzug. Der Roman „Uhlenhans“ (1884) hat zum Helden einen eigenartigen Charakter, den man ein männliches Aschenbrödel nennen könnte. Er wohnt auf der Insel Rügen als ein einäugiger Cyklop von erstaunlicher Gutmütigkeit, der gerade dadurch in die schmerzlichsten Konflikte gerät. Der Roman beginnt mit einer abgeschlossenen Novelle, was für die Oekonomie des Ganzen und den weiteren Fortgang der Handlung nicht vorteilhaft ist, und führt durch einige grelle Katastrophen zu einem tragischen Abschluß. Von den neueren Erzeugnissen des Dichters hat das „Sonntagskind“ (1897), wenngleich der erstrebte Reiz märchenhafter Romantik seiner Dichtweise fernliegt, doch viel Anziehendes in Erfindung und Charakteristik, während „Faustulus“ (1898) das Uebermenschentum moderner Faust-Don Juans in eine teils tragische, teils ironische Beleuchtung rückt. Die „Herrin“ (1898) hat zum Mittelpunkte einen problematischen Frauencharakter, in welchem gleichsam der Uebermensch Nietzsches ins Weibliche übersetzt ist, eine junge Dame, geistreich, vielseitig gebildet, aber nur darauf bedacht, sich gesellschaftlichen Glanz zu erobern. Sie will einem in Vermögensverfall geratenen Grafen ihre Hand reichen, aber an der vorher gar nicht aufgeworfenen Frage der jüdisch-christlichen Mischehe scheitert zuletzt ihre Spekulation und geht sie selbst zu Grunde.
Auch als Dramatiker hat Spielhagen Erfolge zu verzeichnen; die Schauspiele „Hans und Grete“ und „Liebe für Liebe“, von denen das letztere vaterländische Begeisterung atmet, sind über viele Bühnen gegangen.
Wie unsere großen Dichter der klassischen Zeit hat sich Spielhagen nicht bloß den Impulsen dichterischer Schöpferkraft hingegeben, sondern sich auch mit der Theorie der von ihm gepflegten Dichtgattungen beschäftigt, was besonders seine Schrift „Beiträge zur Theorie und Technik des Romans“ (1883) beweist. Hierzu gehören auch die Bände „Aus meiner Studienmappe“ (1890) und „Finder und Erfinder“ (1890), in welch letzterem Werke der Dichter uns seine Jugend schildert. Auch sinnvolle Gedichte hat Spielhagen herausgegeben (1892) und so ist der Dreiklang des epischen, dramatischen und lyrischen Dichters ein vollständiger.
Als ein Romanschriftsteller von großem Erzählungs- und Darstellungstalent, nicht in dunklen Schachten der Vergangenheit wühlend, sondern den großen Aufgaben der Gegenwart verständnisvoll zugewendet, nimmt Spielhagen einen hervorragenden Rang unter den Schriftstellern der Gegenwart ein. An die Zeitromane von Karl Gutzkow anknüpfend, hat er auch manche Elemente der modernen Richtung, welcher er im ganzen sympathisch gegenübersteht, in seine neuesten Erzeugnisse aufgenommen; doch nirgends ist das Flache und Häßliche vertreten, niemals ist er in die Niederungen hinabgestiegen, sondern hat sich stolz auf jener Höhe gehalten, auf welcher die Meister unserer klassischen Zeit sich dauernden Nachruhm erworben haben. Rudolf von Gottschall.