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Geist unter dem Pferdeschwanz

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Textdaten
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Autor: Paul Bekker
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Titel: Geist unter dem Pferdeschwanz
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aus: Pariser Tageblatt, Jg. 2. 1934, Nr. 137 (28.04.1934), S. 4
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Erscheinungsdatum: 1934
Verlag: Pariser Tageblatt
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Erscheinungsort: Paris
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Geist unter dem Pferdeschwanz


Unter den Linden in Berlin, an historischer Stelle der altpreussischen via triumphalis steht Rauchs Denkmal Friedrichs des Grossen. Ein gutes Werk aus der neuklassizistischen Bürgerzeit Berlins, oben die einfache Reiterfigur, um den Sockel verteilt in Halbreliefs alle berühmten Zeitgenossen und Mitkämpfer des grossen Königs: an den Ecken hervortretend die bedeutendsten Heerführer zu Pferde, vorn und an den übrigen Seitenwänden die Prinzen, Generäle, und sonstigen namhaften Persönlichkeiten. Ganz hinten, an der Rückfront, die Männer des Geistes: Lessing, der arme Teufel, von dem der „alte Fritz“ durchaus nichts wissen wollte, Immanuel Kant, nicht der schlechteste Mann jener Zeit, der Komponist Graun und noch einige. Da stehen sie, die geistigen und künstlerischen Repräsentanten der friederizianischen Epoche, bescheiden nachgeordnet all jenen Uniformrittern zu Pferde und zu Fuss – [1] und über ihnen winkt verheissungsvoll und symbolisch die Schlusspartie des königlichen Rosses.

Was ist Geist und Kunst?

Das, was diese Leute da unter dem Pferdeschwanz repräsentieren, und was sie von den anderen, an den besseren Seiten Postierten unterscheidet. Damit ist gleichzeitig ihre Daseinsbestimmung gegeben. Was will die Welt vom Geist? Bestätigung der Realität, der er die metaphysische Perspektive zu geben hat: Pferdeschwanzfunktion. Er soll nicht bestimmen, wohin geritten wird, er soll erklären und begründen, warum es richtig war, dass so geritten wurde. Der Geist muss, die Kunst muss. Warum? Wohin? Das sagt der militärische Tagesbefehl.

Gelegentlich allerdings regt sich die Besinnung auf die irrationale Bedeutung und Hintergründigkeit des Geistes, damit zugleich auf solche Missionen der Kunst, die über den Rahmen des Vergnügens und der Unterhaltung hinausgehen. Wir erlebten es während der zweiten Hälfte des[2] Weltkrieges an der Kulturpropaganda der kriegführenden Staaten in neutralen Ländern: durch Reisen von Bilderausstellungen, Theatern, Orchestern usw. Im Rahmen des symbolischen Gleichnisses: der Geist wurde von der Position unter dem Pferdeschwanz hervorgeholt und an die Front kommandiert. Manches Ueberflüssige ist dabei geschehen, immerhin war es bezeichnend für die plötzlich erwachende amtliche Hochschätzung geistiger Erkenntlichmachung.

Freilich liegt in dieser Verwendung des Geistes wiederum eine Verkennung seiner Wirkungsmöglichkeiten. Internationale Kunstsympathien sind erfreulich, im Hinblick auf realpolitische Zwecksetzung aber ziemlich belanglos. Die darauf reagierenden Menschen bedürfen zumeist keiner Propaganda. Auch ist ihre Zahl und ihr Einfluss zu gering, um gegebenenfalls Aktivität zu ermöglichen. Im Augenblick der Entscheidung werden sie widerstandslos überrannt von der Uebermacht der Masse, gelegentlich selbst von ihr mitgerissen. Vielleicht hat deswegen Wells in seiner Weltgeschichte Sophokles, Shakespeare, Goethe, Beethoven, überhaupt alle künstlerisch geistigen Menschen garnicht erwähnt. Er hielt sie nicht für wesentliche Elemente des Weltgeschehens.

Skeptische Frage: überschätzen wir nicht vielleicht den Geist? Besteht er gegenüber der Wirklichkeit? Oder ist und bleibt er ein Zeitvertreib, von den eigentlichen Realpolitikern mit Recht gering geachtet, weil er kein gleichwertiger Gegner ist? Dann freilich wäre jene Denkmalsposition richtig, und die dort Befindlichen müssten froh sein, in einem so erlauchten Kreis Aufnahme gefunden zu haben.

Oder ist es anders? Darf man denken, dass jene Geister zwar keine Propagandafachmänner für politische Gesinnung waren, dass aber gleichwohl von ihnen eine Wirkung auf Mit- und Nachwelt ausgegangen ist, aus der Generationen das Bewusstwerden ihres Menschentums gewonnen haben? Dass der eine Kant oder der eine Lessing die friederizianische Zeit im Gedächtnis der Nachwelt lebendig halten wird, wenn von der gesamten vor ihnen versammelten Generalität auch nicht der Schatten einer Erinnerung mehr vorhanden ist? Und wenn die Taten Friedrichs in die eine, die „Kritik der reinen Vernunft“ in die andere Waagschale[3] geworfen werden – wer möchte voraussagen, welche von beiden sich neigen wird?

Also: das Problem Geist und Welt ist doch nicht so einfach zu lösen, wie man es Unter den Linden getan hat. Es sei denn, der Geist löse es von sich aus: indem er sich von selbst dorthin stellt, wo das Pferd sich landwirtschaftlich betätigt, weil er nämlich dort am wärmsten und sichersten sitzt. Dagegen ist freilich nichts weiter zu sagen, als dass diese Ritter vom Geist oder von der Kunst damit unzweifelhaft ihre Anwartschaft auf ein Denkmal in Berlin erwiesen haben. Sie haben die echte preussische Tradition, sie wissen, was sie sich und der Welt schuldig sind, sie sagen es selbst, wo sie hingehören: unter den Pferdeschwanz.




Anmerkungen (Wikisource)

  1. in der Vorlage folgt hier eine Zeile, die 24 Zeilen tiefer stehen müsste: […]ten es während der zweiten Hälfte des […]
  2. hier ist die oben deplazierte Zeile eingefügt
  3. Vorlage: Wagschale