Gesammelte Schriften über Musik und Musiker/Phantasieen, Capricen etc. für Pianoforte (2): Zweite Reihe

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Phantasieen, Capricen etc. für Pianoforte (2): Erste Reihe Gesammelte Schriften über Musik und Musiker (1854) von Robert Schumann
Phantasieen, Capricen etc. für Pianoforte (2): Zweite Reihe
Phantasieen, Capricen etc. für Pianoforte (2): Dritte Reihe


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Zweite Reihe.
Julie Baroni-Cavalcabó, 2te Caprice. Werk 12. – J. P. E. Hartmann, 4 Capricen. Werk 18. 2tes Heft. – W. Sterndale Bennett, 3 Skizzen. Werk 10. – W. Sterndale Bennett, 3 Impromtus. Werk 12. – W. Sterndale Bennett, 3 Romanzen. Werk 14.


Der jungen Componistin, die wir oben zuerst genannt, einer Schülerin von Mozart’s Sohn, sind wir von jeher mit besonderem Interesse gefolgt; sie hat neben Clara Wieck und Delphine Hill Handley die reichste musikalische Ader unter denen ihrer Zeitgenossinnen, die sich in die Oeffentlichkeit gewagt, dabei Sinn für Form, Verhältnisse und Steigerung, und, was sich in ihren Compositionen für Gesang noch mehr zeigt, viel Empfindung und melodischen Ausdruck. Aus der obigen Caprice wünschte ich, sie unbedingt gelten zu lassen, nur den langsamen Satz weg, der zu wenig bestimmten Gesang hat und sich in allgemeinen Czerny’schen Passagen verflacht, die ein für allemal besser ungedruckt blieben. Dagegen findet man im andern [Satz][H 1] durchgängig Leben und Bewegung, frische Rhythmen und in einzelnen Stellen feinere Arbeit, während andere noch so sehr geschätzte Spielerinnen sich am liebsten in großen Dreiklängen und umschreibenden Läufen über die Claviatur weg ergehen. Schwer ist die Caprice übrigens auch, spielt sich aber überaus gut. Man zeichne sich den Namen der Componistin in’s Gedächtniß.

[29] Ueber das erste Heft der Capricen von Hrn. Hartmann war bereits früher[H 2] die Rede; dies zweite kann jenes theils anerkennende, theils aussetzende Urtheil nur bestätigen. Ein ernster und warmer Wille bei vielen Kenntnissen zeigt sich auch in ihm, eben so wie daß man noch überall zu viel das Gerippe sieht, daß noch nicht Alles zu einer poetischen Blüthe gekommen scheint. Die Melodieen haben etwas Kleines, die Rhythmen nichts Gebietendes, man möchte überall noch mehr. Dies Alles sagen wir jedoch nur in Berücksichtigung eines höheren Talentes, das sich selber auch höhere Ziele gesetzt zu haben scheint; einem Schwachgeist müßte man die Capricen als etwas Großes anrechnen. Auch möchte ich die Stücke nicht „Capricen“ nennen: sie sind dazu in der Form zu dicht, manchmal liederartig abgeschlossen; doch wird es schwer sein, einen für alle vier passenden Namen zu finden.

Ueber Bennett’s Compositionen, sein bedeutendes Talent haben diese Blätter bereits an vielen Orten sich ausgesprochen; namentlich gedachte schon Eusebius in einem größeren Aufsatz[H 3] dieser äußerst feinen Skizzen, in welches Lob Alle, die sie vom Componisten selbst gehört, ohne Weiteres einstimmen müßten. Es ist wahr, die Person bestrickt: doch scheinen mir die Vorzüge und Schönheiten dieser Bilder so hervorspringend, daß ich denen, die, auch ohne vom Vortrag des Componisten bestochen zu sein, ihnen das nicht einräumten, keinen großen Grad von Bildung zusprechen könnte. Ueber gewisse [30] Dinge sollte man kein Wort verlieren dürfen. Andererseits haben wir Bennett auch nie für ein Naturwunder ausgeben und ihm nur die Ehren gesichert [wissen][H 4] wollen, die einem solchen Verein von Künstlertugenden gebühren. Die Skizzen haben also die Ueberschriften: the Sea, the Millstream und the Fountain, oder „See“, „Mühlstrom“ und „Springbrunnen.“ Und verdankte ihm die Kunst nichts als diese, sie müßten ihr seinen Namen erhalten. An Zartheit und Naivität der Darstellung scheinen sie mir Alles zu übertreffen, was ich von musikalischer Genremalerei kenne, wie er denn, als echter Dichter, der Natur gerade einige ihrer musikalischsten Scenen abgelauscht hat. Oder hättet ihr nie Musik gehört, die euch des Abends nach dem jenseitigen Ufer des Sees hinüberrufen wollte? nie die zürnende, tobende, die die Räder treibt, daß die Funken sprühen? Auf welche Weise die Skizzen übrigens entstanden seien, ob von Innen nach Außen, oder umgekehrt, macht nichts zur Sache und vermag Niemand zu entscheiden. Die Componisten wissen das meist selbst nicht; Eins wird so, das Andere so; oft leitet ein äußeres Bild weiter, oft ruft eine Tonfolge wieder jenes hervor. Bleibt nur Musik und selbstständige Melodie übrig, grüble man da nicht und genieße. Noch vergaß ich des „Springbrunnens;“ wir hörten es am liebsten von ihm, seine ganze Dichterseele ging hier auf; man hörte Alles neben sich, dies hundertstimmige Plaudern und Plätschern: Schiller kann es nicht deutlicher vor uns stellen, wenn er einmal sagt:

[31]

Mein Ohr umtönt ein Harmonieenfluß,
Der Springquell fällt mit angenehmem Rauschen,
Die Blume neigt sich zu des Westes Kuß
Und alle Wesen seh’ ich Wonne tauschen.

Diese Zeilen wären die beste Recension darüber. –

Die Impromtu’s sind nicht minder trefflich und wahre Gedichte, obwohl weniger eigenthümlich und an Mendelssohn’s „Lieder ohne Worte“ manchmal erinnernd; auch ihre Formen und Rhythmen sind die anmuthigsten, oft fast zu ruhig und behaglich. Ein großer Fortschritt zeigt sich aber erst in den drei Romanzen, namentlich was ihre tieferen, manchmal befremdenden harmonischen Combinationen und Freiheiten, ihren weiteren kühnen Bau betrifft. Sie sind erst vor Kurzem geschrieben und können als Höhepunct seines Strebens angesehen werden. An reichem ausströmendem Gesang gleichen sie seinen andern Werken; namentlich herrscht auch in ihnen die Melodie der hohen Stimme vor. Was sie aber auszeichnet, ist ihre größere Leidenschaftlichkeit; die erste Romanze ist sogar heftig: die andere scheint nur ruhiger; in der letzten wallt es aber wieder über voll sehnsüchtiger Klage. Einer Zergliederung bedürfen sie so wenig, wie ein schönes Gedicht; die Rechten werden sie verstehen. Als auf eine eigenthümliche Schönheit der zweiten Romanze mache ich nur noch auf den immer neu harmonisirten Eintritt der Melodie und auf die herrlich tiefen Bässe aufmerksam, wie man denn überhaupt an den Bässen seine Leute erkennt.




Anmerkungen (H)

  1. [WS] eine Ergänzung von GJ. Commons
  2. [WS] II.190
  3. [WS]William Sterndale Bennett, II. 85–89.
  4. [WS] eine Ergänzung von GJ. Commons
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