Gretchens Liebhaber

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Autor: Luise Westkirch
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Titel: Gretchens Liebhaber
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 23–25, S. 724–731, 752–763, 786–796
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1892
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Gretchens Liebhaber.

Erzählung von Luise Westkirch.

Ein wenig Sonnenschein, gedämpft durch qualmversengte Buchenblätter; ein wenig frische Luft, wie sie in der Umgebung großer Städte weht, verdickt vom Rauch der Schornsteine und dem Staub der Fahrdämme; die schmetternden Weisen eines unverdrossenen Orchesters vierten Rangs und vor sich auf den primitiven Tischen der Gartenwirthschaft einen dampfenden bräunlichen Aufguß, der sich für Kaffee ausgiebt; dazu das süße Bewußtsein, einen ganzen langen Sommernachmittag, frei von jeder Werktagspflicht, nach eigenstem Ermessen verträumen zu dürfen – was braucht’s mehr, um sonntägliche Feststimmung in den Herzen hart arbeitender Menschen hervorzubringen? Ungetrübt lagerte solche Feststimmung über dem dicht gefüllten Konzertgarten am Ende der Stadt, dessen eine Seite den letzten Häuserreihen zugekehrt war, während an zwei anderen der Stadtforst seine Grenze bildete und hart an der vierten ein Fahrweg vorüberführte, gerade hinein in das Dunkel des hochstämmigen Buchenwaldes. Freude und Frohsinn strahlten aus den Augen der jungen Schönen, klangen im Lachen der Männer wieder, im Geschmetter der Hörner und wirkten ansteckend auf jeden, der in die Umzäunung des Gartens eintrat. Und als wären sie solcher Ansteckung froh, rückten die Menschen an den Tischen enger und enger aneinander. Die Plätze am Fahrweg waren die gesuchtesten, denn dort fuhr in eigenen Wagen oder in hübsch ausgestatteten Miethkutschen die elegante Welt vorüber, und man fühlte sich immerhin in Berührung mit ihr, wenn auch nur der Staub, den ihr Fuhrwerk aufwirbelte, den Kaffeetisch in seine grauen Wolken hüllte.

Vor einem Tische, dicht an der Umzäunung, saß eine ehrbar und gut gekleidete Frau mit glattgescheitelten grauen Haaren über einer breiten Stirn und strickte an einem wollenen Strumpfe. Dann und wann richtete sie ihre Blicke über die Stricknadeln und das Kaffeegeschirr hinweg auf ihre beiden erwachsenen Kinder an ihrer Seite, und jedesmal, so oft sie es that, nahm ihr Gesicht einen Ausdruck von fast hochmüthigem Stolz an. Und sie hatte Ursache, stolz zu sein: ein hübscheres Menschenpaar fand sich vielleicht nicht im ganzen Garten.

Das Mädchen, schlank aufgeschossen, mit dem hochmüthigen Ausdruck der Mutter in den pikanten Zügen, mit dem keck zurückgeworfenen auffallend kleinen Kopfe, den in Lackschuhen steckenden zierlichen Füßen, dem schwarzen Wollkleid von jenem eigenthümlich knappen übermodernen Schnitt und Schick, den manchmal das Kleid der großen Dame und immer das ihrer Schneiderin aufweist, stellte sich jedem kundigen Blicke als Verkäuferin in einem großen Modewarengeschäft dar. Auch der Bruder gehörte dem Kaufmannsstand an, auch er war Verkäufer, offenbar in guter Stellung, nach seiner Kleidung zu schließen. Wie seine Schwester die vornehme Dame, so war er bestrebt, den großen Herrn zu spielen, er trug kurz geschnittenes, straff gescheiteltes Haar, einen hellen Jackettanzug mit dazu passendem runden Hute, blendend weiße Wäsche. Einzig aus den zu großen goldenen Manschettenknöpfen, dem falschen Brillanten in der Kravattennadel und aus der Gepflogenheit, den Hut um eine Linie zu tief in den Nacken zu setzen, guckte unverkennbar die Stutzerhaftigkeit hervor. Diese kleinen Schwächen verdarben aber den guten Eindruck nicht, den seine Erscheittung [ ... ] machte. Nicht seiner Mutter Augen allein, auch die [ ... m]ancher vorüberfahrenden Dame ruhten mit Wohlgefallen [auf d]em hübschen Burschen, um dessen etwas vollen Mund eitel Lebensfreude und Schelmerei lag.

Nachlässig in seinen Stuhl zurückgelehnt, klimperte er mit einigen Münzen in der Tasche und sah dabei mit gutmüthigem Spotte zu seiner Schwester hinüber, welche eben ihrem Stuhl eine unsanfte Wendung gab, dadurch mit offenbarer Absichtlichkeit einer bestimmten Ecke des Gartens den Rücken zukehrend.

„Mensch, ärgere dich nicht!“ rief er lachend.

„’s ist unverschämt!" zischte das Mädchen zwischen den Zähnen hervor.

Die Mutter ließ den Strickstrumpf sinken. „Was ist unverschämt, Grete?“

„Ach, Mutter, drüben der Herr Röver glotzt mich mit seinen bösen Augen schon wieder an, als wollte er mich umbringen.“

„Und das Schwesterchen will’s einmal nicht leiden, daß der arme Bursche sie hübsch findet. Warum eigentlich nicht? Kann er dafür, daß seine Augen schwarz sind und nicht blau? Ist er n[icht] im übrigen ein netter anständiger Kerl, der sein gutes Auskommen hat? Gar kein übler Freier, Gretchen!“

„Sein Vater ist im Zuchthaus gestorben!“

„Um so mehr Verdienst, daß er selbst sich so tapfer emporgearbeitet hat! Bedenke auch, der Kassierer Eures Geschäfts! Den Kassierer, Schwesterchen, muß man sich immer zum Freunde halten – schon der Rechenfehler wegen, wenn man einmal ein bißchen zerstreut ist. Bei jungen Damen soll das gelegentlich vorkommen.“

Die Mutter hatte während dieser Zwiesprache ihre Augen in richtigem Instinkt nach der Gegend gewandt, wohin der Rücken ihrer Tochter wies, und dort an einem runden Tischchen einen alleinsitzenden jungen Mann entdeckt, der seine großen Glieder unter ihrem forschenden Blick auf einen möglichst engen Raum zusammenzuziehen trachtete und sich dem Anschein nach am liebsten hinter seinem winzigen Tische verkrochen hätte. Dabei sah aber sein Gesicht merkwürdigerweise eher drohend aus als schüchtern – ein wohlgebildetes, durchaus nicht häßliches Gesicht, dem jedoch schnurgerade pechschwarze Brauen, die an der Nasenwnrzel zusammenliefen, und ein Paar langgeschlitzter, tiefliegender Augen etwas Wildes, Trotziges verliehen.

„Grete braucht sich keinen Menschen zum Freunde zu halten,“ erwiderte die Mutter jetzt streng auf des Sohnes Rede. „Nicht einmal im Scherze will ich eine solche Ansicht von Dir äußern hören, Julius! Und sie hat auch ganz recht, wenn sie es vermeidet, in irgend jemand, der ihr zuwider ist, trügerische Hoffnungen zu erwecken. ‚Thue recht und scheue niemand!‘ das ist der Grundsatz Eures seligen Vaters gewesen, und ich hoffe, es soll der Grundsatz meiner Kinder bleiben bis an ihr Lebensende. Dann braucht Ihr nach niemandes Gunst zu fragen. Niemals soll man sein Leben abhängig machen von dem guten Willen eines Fremden, und wär’ dieser der Bravste und Beste. Darum hab’ ich es auch nach Eures Vaters frühem Tode meine eifrigste Sorge sein lassen, daß Ihr beizeiten selbständig würdet [726] und selbsterworbenes Brot essen könntet; einzig darum bin ich Deinem Eintritt in den Kaufmannsstand nicht entgegen gewesen, Julius, weil jenes Ziel im Kaufmannsstand früher und vollständiger von Dir erreicht werden konnte, als wenn Du gleich Deinem seligen Vater ein Beamter geworden wärest. Dein Vater hat vier Kassen unter seiner Hand gehabt, er genoß das Vertrauen seiner Vorgesetzten wie kein zweiter, und wäre er nicht in der Blüthe seiner Jahre von uns genommen worden, man würde ihm als Auszeichnung den Titel ‚Kommissar‘ verliehen haben. Und das Rechtthun ist ihm nicht immer leicht geworden, das glaubt nur! Die Versuchung ist auch an ihn herangetreten wie wohl an jeden armen Teufel, dem große Summen fremden Geldes durch die Hände gehen. Da war ein Assessor, ein hübscher lustiger Mensch und seiner Mutter einziger Sohn, nicht schlecht, nur der Spielteufel hatte ihn erfaßt – der kam eines Tags zum Vater und raunte ihm zu, er wolle eine Anleihe bei der Kasse machen, wenn sie dieselbe miteinander verschlössen, wie ihr gemeinsames Amt war. Auf eine einzige Nacht nur wolle er das Geld haben, morgen früh sei es wieder am Platze, und wenn der Vater ein Auge zudrücken wolle, so solle ihm das hundert Thaler einbringen. Wir konnten das Geld brauchen dazumal, das wußte der Versucher auch, denn der Hunger saß bei uns zu Tisch und die Grete lag am Scharlach auf den Tod danieder, wir aber wußten nicht, womit Arzneien und Doktor bezahlen. Dazu waren wir in Schulden gerathen, weil der Vater Euren Onkel hatte freikaufen müssen, den sein Prinzipal vor Gericht stellen wollte, da er Unterschlagungen und andere faule Geschichten gemacht hatte. Dem Vater ging es an die Ehre, daß ein Meermann und vollends sein Bruder sollte im Zuchthaus sitzen, er raffte unser bißchen Erspartes zusammen, entlehnte, was noch fehlte, ersetzte das Entwendete und schickte den heillosen Menschen nach Amerika, wo er dann gestorben und verdorben ist. Die Versuchung war also groß genug, aber Euer Vater schlug dem Herrn sein sauberes Begehren trotzdem rund ab und kam zu mir nach Haus und wagte kaum, die Augen aufzuschlagen. Und wie er die Grete sah, die in der Fieberhitze sich in ihrem Bettchen wälzte, und den leeren Tisch und mein vergrämtes Gesicht, da liefen ihm die hellen Thränen über die Wangen. Dann erzählte er mir die Geschichte und schloß, immer noch mit Thränen in den Augen: ‚Verzeih’ mir, Anna, vielleicht war’s nicht gut gethan gegen Dich und die Kinder, aber – ich konnte nicht anders!‘ Ich jedoch fiel ihm um den Hals und rief: ‚Dafür sei Gott gelobt, daß Du nicht anders konntest, und ich will Dir’s in Ewigkeit danken. Lieber in Ehren zur Grube fahren, als leben in Schande und Sünde!‘ Der junge Mensch aber, der Euren Vater in Versuchung führte, hat ein tranriges vorzeitiges Ende genommen durch eigene Hand, nachdem er einen Freund, der sich ihm willfähriger erwies als Euer Vater, mit sich ins Verderben gestürzt hatte.“

Wäre die Frau nicht so vertieft gewesen in die Ausmalung einer Vergangenheit, die sie nicht müde wurde, ihren Kindern immer neu vor Augen zu halten, sie hätte bemerken müssen, daß des Sohnes Blick nicht mehr so groß und offen auf ihrem Gesicht ruhte wie vorhin, daß eine leise Röthe seine Wangen färbte und daß er unsicher über das Kaffeegeschirr hinweg nach der Straße sah. Dort ging eben ein Trupp junger Leute vorüber mitten zwischen den Wagen hindurch. Einer von ihnen war einen Augenblick an der Einfriedigung des Gartens stehen geblieben. Sein Blick begegnete flüchtig dem des jungen Meermann, er zog seine Börse hervor, öffnete sie, schien darin zu suchen und drehte sie dann nach allen Seiten, so daß, wenn Münzen darin gewesen wären, sie unfehlbar hätten herausfallen müssen. Und da keine herausfielen, zuckte er die Achseln, lachte und lief, ein Liedchen singend, den anderen nach. Mit scheuem Zögern blickte der junge Mann nun wieder auf seine Mutter. Wie sie schwelgte in der Erinnerung an den siegreich durchgefochtenen Kampf mit der Sünde! Welch strenges Antlitz, jeder Zug wie gemeißelt – das feste breite Kinn, die scharfen grauen Augen, der energische Mund! Sie mochte ihres Weges allzeit sicher gewesen sein, und von all den Furchen in ihrem Gesicht hatte der Zweifel keine gegraben und keine die Reue. Zum ersten Male fiel dem Sohne mit Schrecken auf, wie anders er selbst geartet sei, daß weitgreifende Wünsche, unbezähmbare Leidenschaften in seinem Herzen brannten, in seinem Urtheil Recht und Unrecht durcheinander wirrend, die sie auseinander hielt, gemächlich und sicher wie die weiße und schwarze Wolle der Strümpfe, an denen sie strickte.

Aber gewaltsam schüttelte er das unbestimmte Grauen ab, das ihn vor seinem eigenen Wesen beschleichen wollte, und da die Mutter eine Antwort zu erwarten schien, erwiderte er leichthin:

„All dem, was Du sagst, widerspreche ich nicht, Mutter. Allein Röver gilt für einen tüchtigen Kaufmann, einen rechtschaffenen Menschen. Die Grete braucht ihn, bloß weil er sie hundert anderen vorzieht, nicht gerade schlechter zu behandeln als einen Stiefelputzer. Thut der arme Kerl Dir denn gar nicht ein bißchen leid, Schwesterchen?“

„Leid! Nach der Unsumme von Aerger, die ich täglich wegen seiner Zudringlichkeit ausstehen muß! Den ‚Augen-Anton‘ haben sie ihn im Geschäft geheißen – meinst Du, daß es erfreulich ist, als ‚Augen-Antonie‘ nebenher zu laufen und sich mit dem greulichen Teckel, dem Waldmann, den er auch heute wieder mitgeschleppt hat, in seine Gunst zu theilen?“

In diesem Augenblick kamen zwei Mädchen durch den Garten geschlendert, sehr elegant gekleidet, mit ungeheuren Hüten und hohen Sonnenschirmen. Grete stand auf und rief im Gehen der Mutter entschuldigend zu: „Fräulein Meier und Fräulein Rothart aus unserem Geschäft. Man muß ihnen doch guten Tag sagen.“

An der Art, wie das geschah, sah man, daß sie es gern that. Die Vertraulichkeit, die durch die gleiche Beschäftigung in einem und demselben Arbeitsraum erzeugt wird, sprach aus dem Händeschütteln, dem Lachen.

Zwölf Stunden von jedem ihrer Tage verlebten die Mädchen Seite an Seite. Jede wußte von der andern so ziemlich alles – da war man um Rede und Antwort nicht verlegen; die Freundschaften, die Intriguen, die Liebeleien – der Stoff riß nicht ab. Ob Fräulein Meermann den Bräutigam der ersten Direktrice schon gesehen habe? Ein richtiger Bräutigam mit einem Ringe und ehrlichen Absichten. Nun, er war danach! Die beiden hatten das Glück gehabt, dem Paare zu begegnen.

Mitten in der Erörterung dieser interessanten Beobachtung kniff Fräulein Rothart, eine hochgewachsene Blondine, die über der Menschen Häupter hervorragte und daher über das Gedränge rings wegsah, ihre Gefährtin in den Arm. „Sehen Sie doch da drüben – der ‚Augen-Anton!‘“

Aber Frida Meier ließ ihre großen dunklen Augen gleichgültig an dem Kassierer vorüberschweifen zu dem Tische, von dem Grete gekommen war.

„Wohl Ihr Bruder, Fräulein Meermann? Er hat Schick, der junge Mann. Wird wohl bald jemand anders als Mutter und Schwester am Sonntag auszuführen haben.“

Sie kam von auswärts, aus der lustigen Stadt Köln, und ihre niederrheinische Aussprache klang gemüthlich zwischen dem nordischen Hochdeutsch der Freundinnen.

„Ach nein,“ erwiderte Grete, „das hat gute Wege. Unser Julius ist zu gescheit, um sich zu verplempern; auch will er hoch hinaus.“ Und als sei ihr darum zu thun, den Beweis ihrer gänzlichen Sorglosigkeit in diesem Punkte zu liefern, winkte sie den Bruder herbei. „Mein Bruder Julius .... Fräulein Rothart – Fräulein Meier, die Dich gern kennenlernen möchte.“

Der junge Mann sagte etwas Verbindliches. Unterdessen stieß die Rothart Gretchen an. „Fräulein Meermann, da kommt ’was für Sie!“

In der That, durch die Anwesenheit des jungen Meermann kühn gemacht, schlängelte sich Herr Röver heran – das Verlangen seines Herzens hatte den Sieg über seine Schüchternheit davongetragen, und plotzlich stand er mit höflichem Gruße mitten unter seinen Kolleginnen.

„Ich habe die Ehre, Ihnen einen guten Tag zu wünschen, meine Damen – Herr Meermann! Es – es – ja, es ist ein schöner Nachmittag.“

„Sehr schön.“ Frida zupfte verstohlen die Rothart am Kleide und that, als müßte sie ersticken vor unterdrücktem Lachen.

Aber Anton Röver schaute über die Spötterin hinweg Gretchen ins Gesicht, ob dort nicht ein Schimmer von Gnade aufleuchte, Verzeihung für seine Annäherung zu lesen sei. Seine finsteren Augen zeigten dabei ganz denselben wunderlichen Ausdruck von großem Bangen, gemischt mit grenzenloser Ergebenheit, wie die seines vierfüßigen Freundes, wenn dieser beim Zuckernaschen ertappt wurde.

[727] „Ich hoffe, es geht Ihnen gut, Fräulein Meermann.“

„O gewiß – wie immer.“ In ihren grauen Augen lag keine Spur von Entgegenkommen und ihre Stimme klang eisig.

Der Kassierer fuhr sich über die Augen. „Der Spitzenstoff, den Sie zu kaufen wünschten, Fräulein Meermann – ich habe mit Herrn Franz geredet, er würde ihn seinem Personal zu zwei Dritteln des Ladenpreises ablassen.“

„Danke sehr; darüber können wir ja morgen im Geschäft sprechen. Aber meine Mutter legt ihre Arbeit zusammen, es wird Zeit zum Aufbruch.“

„Ja, es ist wahr, es dunkelt schon. Fräulein Meermann, vielleicht“ – er athmete schwer – „vielleicht erlaubt Ihre verehrte Frau Mutter, daß ich Sie nach Hause begleite?“

Frida tanzte beinahe vor Vergnügen, während Grete innerlich knirschte vor Zorn „Da müssen Sie eben meine Mutter selbst fragen, Herr Röver. Was mich angeht, ich möchte mir gern noch etwas Bewegung machen und mich meinen Freundinnen hier anschließen, wenn sie es erlauben. Entschuldigen Sie einen Augenblick, meine Damen!“

Röver ließ den Kopf hängen wie ein gescholtenes Kind, als jedoch Grete jetzt zu ihrem Tische zurückschritt, um sich von der Mutter zu verabschieden, war er mit zwei Schritten wieder an ihrer Seite. Die Menschenwellen schlugen hinter ihnen zusammen, in dem Gewühl waren sie allein.

„Fräulein Meermann, warum sind Sie so unfreundlich gegen mich?“

Sie antwortete nicht, sondern schritt weiter.

„Warum kränken Sie mich, wo Sie können? Ich habe Ihnen doch nichts zuleide gethan und habe nur den einen Wunsch, Ihnen Freude zu bereiten.“

„Wirklich?“ Sie blieb stehen und sah ihm zornig in die Augen. „Nun, dann bereiten Sie mir die Freude und lassen Sie mich meiner Wege gehen! Kennen Sie mich nicht, kümmern Sie sich nicht um mich!“

Er schüttelte den Kopf. „Ich weiß ja, daß Sie mich nicht liebhaben können, und verlange auch so viel nicht. Aber warum wollen Sie mir das Glück nehmen, in Ihrer Nähe zu sein? Warum stoßen Sie mit solcher Grausamkeit einen Menschen von sich, der es von Herzen gut mit Ihnen meint?“

„Ihre freundlichen Gesinnungen gegen mich sind gewiß sehr dankenswerth,“ erwiderte Grete rauh, „nur bringen sie mir Schaden statt Nutzen.“

„Schaden? Wie sollte meine uneigennützige Verehrung Sie in Schaden bringen, Fräulein Meermann?“

„Nun denn,“ rief Grete, außer sich gebracht durch seine sanfte Hartnäckigkeit, „wenn ich einmal offen reden soll – begreifen Sie denn nicht, daß Sie mich lächerlich machen durch Ihre unaufhörlichen Huldigungen?“

„Lächerlich? O, Fräulein Grete, ich bin ja gewiß nicht von mir selbst eingenommen – aber daß meine ehrliche Neigung lächerlich machen könne, das – das habe ich freilich nicht gewußt . . . und das kann auch Ihr Ernst nicht sein. Nicht wahr, Sie haben das nicht so schlimm gemeint?“

Grete antwortete ihm nicht mehr – sie drehte ihm kurz den Rücken und trat zu ihrer Mutter. Was brauchte er solch jämmerlich weichen Ton anzuschlagen! Er hätte ihr grob antworten sollen auf ihre Grobheit, dann wären sie miteinander fertig gewesen, wie es das Beste war. Diese Widerstandslosigkeit war unausstehlich! Als Kind schon hatte sie ihre Katze nicht schlagen können, wenn die sich demüthig duckte, dem drohenden Strafgericht sich unterwerfend, es falle, wie es wolle. Und nun hatte dieser feige Mensch fast nicht anders vor ihr gestanden! Aber sie war nicht mehr das thörichte Kind, das sich durch sklavische Unterwerfung entwaffnen ließ – mochte er seine verdiente Strafe haben!

Röver stand mit seinem Hunde allein im Gewirr der Kommenden und Gehenden: die Menge drängte und stieß den Regungslosen, der sich jetzt mit dem Menschenstrom zum Ausgang des Gartens treiben ließ. „Lächerlich?“ murmelte er wehmüthig vor sich hin, „lächerlich?“ Und dabei starrten seine Augen mit einem Ausdruck in die Weite, als wollte er jemand erwürgen.

Am Ende des Gartens traf er mit Frau Meermann und deren Sohn zusammen. Der junge Mann war eben noch einen Augenblick aufgehalten worden. Jener Bursche, der vorhin das Manöver mit seiner Börse ausgeführt hatte, war ihm in den Weg getreten.

„Nun, wie wird’s, Meermann? Sieht man Sie diesen Abend bei Dachinger? Oder wird heute noch weiter guter Sohn gespielt?“

„Um Neun, wie gewöhnlich,“ hatte Julius geantwortet, unruhig umherblickend, und war hastig vorüber gegangen. Dieser überlästige Frager! Was brauchte er ihn jetzt und hier zu behelligen! Um Neun fing sein zweites Leben an – vorerst begleitete er als wohlerzogener Sohn die Mutter nach Hause. Die eine Hälfte seines Tages brauchte von der anderen nichts zu wissen.

Es war ihm nicht ganz genehm, daß Röver, den er von einem kaufmännischen Verein her kannte, sich ihnen anschloß. Die Gegenwart eines Fremden erschwerte es ihm, sich zeitig frei zu machen. Frau Meermann dagegen begrüßte den Kassierer äußerst höflich – keine Mutter verargt es im Grunde einem jungen Manne, wenn er ihre Tochter liebenswürdig findet.

„Ich hörte vorhin Ihren Namen, Herr Röver; Sie sind Kassierer in dem Geschäft, in dem auch meine Tochter angestellt ist, nicht wahr?“

Und dann sprach sie zu ihm von dieser Tochter, wie sie ihre Freude und ihr Stolz sei, früh selbständig geworden, sehr selbständig in allen Dingen, so daß sie sich nicht einmal von der Mutter in ihre Angelegenheiten dreinreden lasse. Während dieser Auseinandersetzungen ging Anton Röver mit den gemessenen Bewegungen, die großen schlanken Menschen eigen und kleidsam sind, gesenkten Hauptes neben der geschwätzigen Dame her, Waldmann, die Nase an den Fersen seines Herrn, wackelte geduldig hinterdrein, und einer war so stumm wie der andere.

Nur eiumal hob der Kassierer den Blick, als die Frau von der Geradheit ihres Mannes zu sprechen anfing und daß ihr die Freude geworden sei, ihre beiden Kinder in die Fußstapfen des Vaters treten zu sehen. Da sah er die glückliche Mutter mit seinen finsteren Augen so drohend an, daß sie erschrak und sich im stillen gestand, der junge Mensch, der ihr bisher in seiner Sanftmuth ganz wohl gefallen hatte, besitze freilich einen Blick, vor dem ein junges Mädchen sich fürchten könne.

An der Thür des Meermannschen Hauses verabschiedete sich Röver nicht, wie Julius gehofft hatte.

„Wenn es Ihnen recht ist, gehe ich einen Augenblick mit Ihnen hinauf, Herr Meermann; ich habe Ihnen etwas mitzutheilen, was sich nicht auf offener Straße abmachen läßt.“

„Aber selbstverständlich! Bitte!“

Frau Meermann bewohnte mit ihren Kindern ein kleines verwittertes Haus, das früher die Beamtenwohnung ihres Mannes gewesen war. In Anbetracht der guten Führung des Verstorbenen hatte man seine Witwe in Gnaden zu billigem Preise dort belassen. Das Haus, jedenfalls einige hundert Jahre alt, hatte einen ungeheuren Flur und eine breite Treppe mit schönem Eichengeländer. Im ersten und einzigen Stockwerk war, den Ansprüchen der Neuzeit entsprechend, mit Hilfe eines Lattenverschlags eine Art Vorplatz abgetheilt; die Küche freilich und die Kammer des Sohnes lagen außerhalb.

Die Kammer war ein halbdunkler Raum. Das einzige Fenster öffnete sich auf einen engen schmutzigen Hof, durch dessen breites offenstehendes Thor man einen ganzen Rattenkönig ähnlicher Höfchen erblicken konnte. Die Einrichtung des Junggesellenstübchens verrieth deutlich den grundverschiedemen Charakter der beiden Personen, durch deren Zusammenwirken sie zustande gekommen war. Das mit schneeweißer Decke verhüllte Bett, die helle saubere Tapete, der Waschtisch mit seinem weißen Oelfarbenanstrich statt der Marmorplatte, die duftigen Gardinen am Fenster – das alles verdankte seinen Ursprung sichtlich Frau Meermanns fleißigen Händen und ihrem klaren reinlichen Sinne. Den Schreibtisch am Fenster dagegen, der mit wenig Papieren, aber vielen zum Theile sehr „schneidigen“ Statuetten und mit Parfümfläschchen bedeckt war, hatte ohne Zweifel Julius hinzugefügt.

Als artiger Wirth bot er seinem Gaste einen Stuhl, während er zugleich die Manschetten losknöpfte und Anstalten traf, sich die Hände zu waschen und das Haar zu kämmen für den zweiten Ausgang heute abend. Er hatte nicht viel Zeit übrig, das mochte der andere sich gesagt sein lassen. Röver aber saß dickfellig auf seinem Stuhle, kraute Waldmanns Ohren, sah verteufelt ernst drein und schwieg.

[728] „Sie wollten mir etwas mittheilen,“ nahm Julius endlich das Wort. „Und fast kann ich mir’s denken. Wenn’s wegen meiner Schwester sein sollte, armer Freund, so wäre es besser, Sie sparten sich die Mühe. Das Mädel ist uns längst über den Kopf gewachsen. Es thut mir leid, Röver, ich hätte Ihnen Besseres gewünscht, wirklich! Aber fangen Sie einmal etwas an bei einem widerspenstigen Ding wie die Grete. Nun, zwischen uns, nicht wahr, bleibt es beim alten?“

„Es handelt sich nicht um Ihr Fräulein Schwester; was sollten Sie mir dabei helfen? Ich wollte Sie um etwas anderes bitten.“

„Um so besser, wenn die Grete nichts damit zu schaffen hat. So bleibt doch Hoffnung, daß ich Ihnen dienen kann.“

„Ich wollte Sie bitten, meine Entschuldigung zu übernehmen, weil ich morgen verhindert bin, die ‚Konkordia‘ zu besuchen.“

Die „Konkordia“ war der kaufmännische Verein, dem beide angehörten.

Julius sah seinen Gast verblüfft an. Warum konnte er ihm das nicht im Beisein der Mutter sagen? Was bedurfte es dazu überhaupt seiner Vermittlung? Ein Brief hätte dieselben Dienste gethan. Indessen sagte er artig zu, in der Erwartung, der lästige Gast werde nun gehen. Doch Röver ging nicht. Er nahm eine der hochgeschürzten Statuetten vom Schreibtisch und betrachtete sie angelegentlich. „Ihre Frau Mutter,“ sagte er dabei langsam, „ist eine vortreffliche Frau.“

„Jawohl,“ nickte Julius, der nicht begriff, wo das hinaus wollte.

„Eine Frau von strengen Grundsätzen, die Menschen und Dinge furchtbar ernst nimmt, viel ernster, als man das heutzutage gewohnt ist. Die Ehre ihres Namens ist ihre Religion. Wenn je ein Makel auf diesen Namen fallen sollte – sie ist noch aus einer Zeit, in welcher man an dergleichen starb – ich glaube gewiß und wahrhaftig, das Herz würde ihr brechen –“

Julius trat aufhorchend einen Schritt näher.

„Nun, das ist ja natürlich nur so ein Gedanke,“ fuhr Röver rasch fort. „Sie hat das Glück, mit vollem Vertrauen auf ihre Kinder blicken zu dürfen, auf ihre beiden Kinder.“

„Ja, ja freilich – aber zum Kuckuck, was meinen Sie eigentlich?“

„O, mir fiel nur ein, daß nicht alle Mütter so glücklich sind. Sie kennen den jungen Habermann –“

„Ich?“

„Nun, gewiß. Sprach er nicht vorhin mit Ihnen im Konzertgarten? Ich habe mich doch wohl nicht getäuscht?“

„Ja – es mag wohl sein . . . Was ist’s denn mit ihm?“

„Er ist unter die Spieler gegangen, wie ich höre. Auch soll ihn sein voriger Prinzipal wegen Unterschlagung entlassen haben.“

„Das glaube ich nicht! Davon glaub’ ich kein Wort! Wirklich, ich begreife nicht, wie Sie, Röver, sich zum Sprachrohr für solch ungeheuerliche Beschuldigungen hergeben mögen. Wenn nur die Hälfte von dem richtig wäre, was über Habermann erzählt wird, so würde er ja längst nicht mehr frei herumlaufen. Aber weil er munter ist, sich gern einen guten Tag macht, im Leichtsinn wohl auch einmal über die Schnur haut, dichten die dummen Menschen ihm gleich das Häßlichste an!“

„Ja, das Häßlichste ist eben, daß er einen braven thörichten Jungen mit in seine nichtsnutzigen Streiche verwickelt hat und daß der nun statt seiner die Suppe ausessen muß.“

Julius zerknüllte nervös sein Handtuch zwischen den Händen. „Und ich glaub’s nicht! Nicht eine Silbe von dem ganzen Geschwätz glaub’ ich!“

Röver stand bedächtig auf. „Jedenfalls ist er von allen kaufmännischen Vereinen ausgeschlossen worden, und auf einen bloßen Verdacht hin pflegen die Vorstände dieser Vereine nicht vorzugehen. Doch was ereifern wir uns! In keinem Falle kann es Ihnen schaden, wenn Sie sich vorsehen. Empfehlen Sie mich Ihren Damen!“

In diesem Augenblick näherten sich rasche feste Schritte der Thür, eine Hand klopfte. „Julius, Julius! Bist Du zu Hause?“ Beim Klange der wohlbekannten Stimme verlor Anton Röver all seine Ruhe. „Ich möchte Ihrem Fräulein Schwester ungern begegnen – sie könnte denken, daß ich absichtlich . . . Aber es ist wohl keine Möglichkeit, auszuweichen?“

„Doch, doch!“ erwiderte Julius, froh, seinen unbequemen Besuch endlich loszuwerden. Und den großen Wandschrank in der Tiefe des Zimmers öffnend, drückte er auf eine Feder an dessen Rückwand. Eine schmale Thür sprang auf und einige Treppenstufen wurden sichtbar, die in undurchdringliche Finsterniß hinabzuführen schienen. „Hier über dieses Hintertreppchen können Sie ungesehen entwischen; es mündet auf den Hof. Ja, ja, staunen Sie nur! Unsere Väter sind bei den Füchsen in die Schule gegangen. Kein alter Bau, der nicht seinen Nothausgang hat. Diesen da hab’ ich einmal durch Zufall entdeckt.“

Röver heftete seine schwarzen Augen durchbohrend auf seinen Wirth, dann entfernte er sich mit einer stummen Verbeugung. Erleichtert wandte sich Julius in die Stube zurück, nachdem er den Schrank vorsichtig abgeschlossen hatte.

„Gretchen, ich bin allein – Du kannst hereinkommen!“

„Mit wem sprachst Du denn eben?“ fragte sie eintretend.

„Mit einem armen Sünder, der bei Deinem Nahen in unser Mausloch dort schlüpfte. Grete, Grete, allzuscharf macht schartig! Die hübschen Mädchen sind nicht auf der Welt, damit brave Bursche vor ihnen die Flucht ergreifen.“

„Wenn Du täglich so viel spöttische Blicke auf Dich gerichtet sehen müßtest –“

„Ach was, bei diesen Blicken spielt der Neid die Hauptrolle. Denn Röver ist hübsch, solid, hat eine Zukunft, mit einem Worte – er ist eine Partie.“

„Du wirst nicht müde, mir das zu wiederholen. Nachgerade möchte ich wissen, was denn Dich dieser Herr Röver angeht.“

„Röver – nicht viel; aber mein Schwesterchen geht mich etwas an. Du machst Dich unbeliebt durch Dein schroffes Wesen und entfremdest Dir die Leute, auf die Du doch auch angewiesen bist.“

„So, thue ich das? Nun, es wäre gewiß schön, wenn man immer aufrichtig und höflich zugleich sein könnte. Aber mir ist diese Gabe nun einmal nicht zu theil geworden –“

„Der Mensch kann alles, was er will, Grete,“ entgegnete Julius streng und mit Nachdruck, und zum Beweis für seinen pathetischen Ausspruch raffte er den Rest seines Monatsgehaltes zusammen, steckte ihn in seine Geldtasche und setzte den Hut auf. „Ueberlege Dir, was ich gesagt habe, und entschuldige mich bei der Mutter, ich habe eine Verabredung für den Abend. Und, höre, Du könntest wohl die Thür hier etwas einölen. Es ist nur, damit ich die Mutter nicht aufwecke, falls ich etwas später als gewöhnlich heimkommen sollte.“ Damit ging er.

Sein nächstes Ziel war die Dachingersche Weinstube. Habermann und zwei andere erwarteten ihn dort, um ein kleines Tischchen am Fenster sitzend. Es war ein sehr geschniegelter Bursch, der Fritz Habermann, und wenn auch alles in seinem Gesicht schief stand, Augen, Nase, Mund und Ohren, so sah er deswegen nur um so pfiffiger aus. Auch an „Schneid“ fehlte es ihm nicht; wenigstens führte er, die Ellbogen auf dem Tische, augenblicklich eine so laute Unterhaltung, daß die übrigen Gäste ärgerlich zu ihm herübersahen und Julius, dem jedes Auffallen zuwider war, einen Augenblick zögerte, sich zu ihm zu bekennen. Doch Habermann hatte ihn schon erspäht und winkte ihn heran.

„Gut, daß Sie endlich kommen! ’s ist zu öde zwischen den Kaffern hier! Müssen heute noch ’was Putzlustiges unternehmen. Und nun rücken wir aus, was?“

Meermann war’s zufrieden, schon um aus den Augen der ehrbaren Bürger zu kommen, von denen viele ihn kannten.

So traten sie ihre Wanderung an, und es wäre für einen Unbetheiligten merkwürdig gewesen, zu sehen, wie allgemach, Stufe um Stufe und ohne daß einer von ihnen eine bestimmte Absicht verfolgte, die Kneipen, die sie betraten, ärmlicher, abgelegener, zweifelhafter wurden. Endlich strebte die kleine Gesellschaft lärmend einer schmutzigen Spelunke zu, in welcher diese Vergnügungen für sie mit einem „harmlosen Spielchen“ zu endigen pflegten. Ehe aber das Ziel erreicht war, zog Meermann seinen Freund Habermann beiseite.

„Sie wissen, ich bin Ihr Schuldner. Und heute nachmittag schienen Sie’s eilig zu haben mit der Rückzahlung. Ich habe mitgebracht, was ich noch besitze, hier, nehmen Sie! Den Rest erhalten Sie am Ersten des nächsten Monats. Rechnen wir also ab!“

Aber Habermann schwenkte seinen linken Arm, der kürzer [730] war als der rechte, stolz ablehnend durch die Luft. „Zum Kuckuck mit den Geschäften! Werden doch Spaß verstehen! Seien Sie kein ängstlicher Philister! Ich bin kein solcher Judas, daß ich einen braven Kerl ausziehe just in dem Augenblick, da er sich einen vergnügten Abend machen will. Und im übrigen habe ich Ihre Handschrift, das genügt.“

Julius dachte an Rövers Warnung und blieb standhaft. „Nehmen Sie Ihr Geld, wir sind nachher um so vergnügter!“

Allein zu dem, was ihm nicht paßte, brachte man Habermann nicht so leicht. Er erfand tausend Possen, um die Abrechnung hinauszuschieben. Am Thurmhahn der Martinskirche wolle er seine Schuld einkassieren, versicherte er zuletzt ernsthaft.

Julius wurde ungeduldig. „Unsinn, Habermann! Nehmen Sie Ihr Geld! Ich bin bloß deshalb noch einmal hergekommen, um Sie zu befriedigen. Die Rücksicht auf meine Mutter, auf meinen Prinzipal, der mir sein volles Vertrauen schenkt, erfordert gebieterisch, daß ich wenigstens vorläufig etwas solider werde. Also hier – nehmen Sie und geben Sie mir Quittung!“

„Am Thurmhahn der Martinskirche, sag’ ich Ihnen, oder gar nicht. Was geht mich Ihr Bekehrungsdusel an!"

„Und was mich Ihr verrückter Spaß mit dem Thurmhahn, zu dem ja kein Mensch hinaufkann!“

„Nicht kann? Oho, Freundchen! Was geben Sie mir, wenn ich dem Hahn auf den Schwanz tret?“

„Nun lassen Sie aber die Geschichte!“

„Wetten wir? Zehn Mark, wenn ich’s fertig bringe, gegen zwanzig, wenn’s mißlingt. Einverstanden? Die Herren sind Zeugen.“

„Es wäre die reine Tollheit, und wenn Sie das Genick brechen . . .“

„Was geht mein Genick Sie an! Es gehört mir, ist mir vererbt von Vater und Mutter – leider auch so ziemlich das Einzige, was sie mir vererbt haben. Gilt’s also?“

„Nun denn, meinetwegen.“

Sie schlugen die Richtung nach der Martinskirche ein. Habermann führte sie durch ein Nebengäßchen auf einen Hofraum, wo ein kleiner, der Gemeinde gehöriger Schuppen stand, der zur Aufbewahrung von allerlei Gerümpel diente. In den Lichtstrahlen der gegenüber stehenden Straßenlaterne schimmerte ein goldiger Gegenstand aus der halb offenstehenden Thür hervor. Habermann stieß die Thür vollends auf, kletterte über die hohe Schwelle und löste den goldglänzenden Gegenstand aus dem ihn umgebenden Dunkel.

„Der Thurmhahn der Martinskirche. Bitte, meine Herren, überzeugen Sie sich! Ich habe die Ehre, ihm hiermit auf den Schwanz zu treten. Es war, wie Sie sich erinnern werden, keineswegs ausbedungen, daß er sich dabei oben auf dem Thurmknauf befinden müsse.“

Man hatte den Hahn gestern abend zum Zwecke einer Ausbesserung herabgenommen, und der Schalk wußte zufällig darum. Diejenigen, welche der Handel kein Geld kostete, lachten von Herzen darüber, während Habermann triumphierend den Hahn an seine Stelle zurückbrachte. Nachlässig den Staub von seinen Kleidern klopfend, kehrte er wieder.

„Also, Meermann, Sie schulden mir zehn Mark; ich schreib’s zu dem Uebrigen.“ Und wirklich trug er im Scheine der Laterne die neue Schuld des Freundes neben die alten in sein Buch ein, und Julius war so verblüfft und gereizt durch die Uebertölpelung, daß er ganz vergaß, auf sein Verlangen von vorhin zurückzukommen. In mühsam verhaltenem Grolle folgte er den Kameraden, die es jetzt eilig hatten, das ausgemachte Schanklokal zu erreichen. Dort entwickelte sich bald eine ausgelassene Lustigkeit; Meermann, der seine Empfindlichkeit nicht überwinden konnte und doch auch nicht zeigen wollte, wurde aufgeregt; er sprach mehr als sonst und lauter, trank hastig, lachte ohne Aufhören. Und dann kamen die Karten auf den Tisch, harmlose Skatkarten. Der Wirth, ein fettiges rundes Männchen, duldete kein Glücksspiel in seinem Hause – man kann aber auch im Skat recht nett verlieren, besonders wenn ein verborgener Zorn in einem kocht und zu unmöglichen Spielen reizt. Und wie die Nacht vorrückte, wurde der tugendhafte Wirth müde, grausam müde! Erst nickte er hinter seinem Schenktisch ein und zuletzt schnarchte er ganz laut, was kein Gesetz der Welt einem Wirthe verbietet. Auch war es gewiß nicht die Schuld des Schlafenden, wenn hinterlistige Menschen die kurze Zeit seiner beschaulichen Ruhe dazu benutzten, die ehrsamen Skatkarten, welche er geliefert hatten zu frevelhaftem Tempelspiel zu mißbrauchen. Er sah es ja nicht, seine Augen waren geschlossen, und Julius Meermann, welcher die seinigen weit offen hatte, beachtete es kaum: blieb doch auch hier die Moglichkeit, zu gewinnen. Aber er verlor.

Endlich, als das graue Tageslicht sich mit dem rothbrennenden Gaslicht und dem gelblichen Staub und Qualm der Stube zu einer traurigen Mißfarbe mischte, fuhr er, wie aus schwerem Traume erwachend, mit dem zerknitterten Batisttaschentuch über sein bleiches Gesicht und murmelte: „Sie wissen, ich bin ein ehrlicher Mann, Habermann, ich halte Wort. – Sie werden mich nicht drängen.“

Und Habermann nickte, stieß dazu einen undeutlichen Laut aus, der ebensogut heißen konnte. „Behüte!“ wie: „Das wird sich finden!“ und schrieb mit hübschen runden Ziffern eine vierstellige Zahl auf ein Blatt Papier, das er seinem Taschenbuch entnahm.

„Unterschreiben Sie wenigstens! Das ist der ganze Bettel auf einmal. Ich streiche die einzelnen Posten. Sehen Sie, hier!“ –

Dann wankte Julius seiner Wohnung zu, und ihm war, als könne das alles nicht wirklich sein, was er erlebt hatte. War er nicht weggegangen, um sich von Habermann zu lösen, womöglich für immer? Und nun! O über diese fluchwürdige Verkettung des Schicksals, das ihn gerade jetzt nur noch enger an den Menschen gefesselt hatte. Abscheuliche Einrichtung der Welt – sowie man in seiner harmlosen Lebenslust den Fuß vorsetzt, sich seiner Jugend zu freuen, gleich müssen ringsum Fußeisen liegen, in denen man sich fängt! Und doch – Kopf hoch! Andere waren auch in solchen Nöthen gewesen und mit heiler Haut wieder herausgekommen. Daß nur die Mutter nichts von seinem Unstern erfuhr! Leise schloß er das Haus auf, schlich auf den Zehen die Treppe hinauf und öffnete vorsichtig und langsam die Kammerthür. Gott sei Dank, sie knarrte nicht, Grete hatte vorgesorgt!

*  *  *

In dem Putz- und Modewarengeschäft von Franz und Kompagnie in der Breiten Straße herrschte die beschauliche Ruhe der Nachsaison. Schweigen, nachmittägliche Schwüle erfüllten den schmalen langgestreckten Ladenraum, in dem vor einigen Wochen Scharen ungeduldiger Menschen sich gedrängt hatten, aussuchend, feilschend, bittend, scheltend – dessen Wände widergehallt hatten von den Anpreisungen der Verkäuferinnen, den Bedenken vorsichtiger Kunden, dem Klappern der auf das Zahlbrett geworfenen Münzen. Jetzt lag der Sonnenschein in breitem Streifen auf dem Asphaltpflaster vor der offenen Thür, Fliegen summten herein und hinaus, die Modellhüte auf ihren hohen Gestellen schienen zu schlafen, träumerisch hingen die Spitzengewinde im Schaufenster herab; die ausgelegten Frühlingsblumen sahen müde und gelangweilt aus, wie verdrießlich darüber, daß sie noch immer weiterblühen sollten, da doch ihre Zeit längst um war und kein Käufer sich ihrer Pracht freute. Auf den Stühlen, die für die Kunden aufgestellt waren, dehnten und reckten sich Verkäufer und Verkäuferinnen oder schlossen sich zu gemüthlichem Klatsch zusammen. Herr Franz hatte die tote Zeit benutzt, um auf Reisen zu gehen, das erhöhte nicht wenig das Behagen, mit dem alles nach den Wochen der Ueberarbeitung die Ruhe genoß.

Grete saß still in einer Ecke. Sie war es gewohnt, hohen Werth auf die Meinung des Bruders zu legen; daß er ihr Verhalten dem Kassierer gegenüber so wenig billigte, gab ihr doch zu denken. Dazu kam, daß Röver wie umgewandelt schien. Seit sie ihm gesagt hatte, daß seine Huldigung sie lächerlich mache, hatte er nie wieder das Wort an sie gerichtet. Nur seine Augen ertappte sie hier und da, wie sie mit finsterem Ernste ihren Bewegungen folgten; aber sie wandten sich eilig ab, sobald er sich beobachtet sah. Es war also möglich, diesen hartnäckigen aufdringlichen Menschen in seine Schranken zu bannen! Ja, wenn sie’s genau betrachtete, so war es sogar recht leicht gewesen; fast ärgerte sie sich darüber, wie leicht! Und lhre Gefährtinnen merkten die Wandlung sofort. Sie beglückwünschten die Freundin spöttisch zu ihrem Erfolg, und Frida Meier schien gar nicht abgeneigt, den Verlassenen für den erlittenen Verlust zu trösten. Also war es wirklich so, wie Julius behauptet hatte, daß aus dem Spotte [731] über Rövers Werben nur der Neid gesprochen habe; und hatte der Bruder dann am Ende auch in dem anderen recht?

Alle diese Vorstellungen beunruhigten Grete, am meisten jedoch das höfliche, aber entschiedene Ausweichen des Kassierers. Es machte sie unsicher, es war ihr ein stündlich erneuter Vorwurf, verdroß sie, weil es ihr dadurch unmöglich wurde, den langweiligen Menschen aus ihren Gedanken zu verbannen. Als Röver eines Tages eine geschäftliche Frage durch eine Dritte an sie richten ließ, brach ihre verhaltene Erregung in helle Flammen aus, und sie trat zu der Kasse, an der Anton Röver, über ein Buch gebeugt, saß.

„Ein Wort, Herr Röver! Wenn Sie mir etwas zu sagen haben, dann bitte, sagen Sie es mir selbst!“

„Wie Sie befehlen, Fräulein Meermann.“ Er hob dabei den Blick nicht von seinem Buche.

„Sie haben überhaupt in den letzten Wochen eine Art gegen mich angenommen,“ fuhr das Mädchen gereizt fort, „die allen im Geschäft auffällt. Sie begreifen, daß mir das nicht angenehm sein kann.“

„Ich glaubte im Gegentheil, Ihren Dank zu verdienen. Ich möchte den Vorwurf vermeiden, daß ich Sie – lächerlich mache.“

Grete biß sich auf die Lippen. „Sie haben ein in der Erregung gesprochenes Wort zu ernst genommen, Herr Röver, viel ernster, als es gemeint war. Wenn es Sie gekränkt hat, so verzeihen Sie mir! Ich hatte nicht die Absicht, Ihnen wehe zu thun!“

„Nicht? Wirklich nicht, Fräulein Meermann? Ich danke Ihnen für dieses Wort!“

Jetzt sah er zu ihr auf und Grete dachte: „Was reden nur die dummen Menschen? Seine Augen sind in der Nähe gar nicht finster, sondern sanft und geradezu hübsch in ihrer Art.“ Und sie reichte ihm die Hand. „Ich bin ehrlich, ich möchte niemand täuschen, am wenigsten einen braven tüchtigen Menschen wie Sie, und ich fürchtete –“ sie stockte.

Der Kassierer blickte erröthend auf seine Fingerspitzen nieder, die er auf dem Pulte zu verschiedenen Figuren übereinander legte. „Sie brauchten nichts zu fürchten, Fräulein Meermann; ich würde keine vermessenen Hoffnungen gehegt haben, auch nicht, wenn Sie mich mit ein wenig Güte behandelt hätten. Ich begreife sehr wohl, daß ich den Damen nicht gefalle. Und Sie brauchen sich keinen Zwang mir gegenüber aufzuerlegen, weder im Guten noch im Bösen.“

Grete spielte mit ihrem Notizblock. Es ließ sich darauf nicht gut etwas erwidern, und doch wollte sie nicht ohne ein freundliches Wort von ihm scheiden.

„Was ist das für ein Buch, in dem Sie lesen?“ fragte sie endlich.

„Eine spanische Grammatik. In dieser Zeit giebt es ja doch im Geschäft fast nichts zu thun, und so verwende ich die stilleren Stunden, um meine Sprachkenntnisse zu erweitern. Zum Verkäufer tauge ich schlecht, und dieser Posten eines Kassierers, den Herr Franz mir freundlich eingeräumt hat, ist eigentlich für eine Dame bestimmt und dementsprechend besoldet. Bis zum Frühjahr aber hoffe ich, mich neben dem Französischen und Italienischen auch im Spanischen soweit vervollkommnet zu haben, daß ich auf die Stellung eines Korrespondenten hoffen darf.“

„Wie strebsam Sie sind, Herr Röver!“ rief Grete in unwillkürlicher Bewunderung.

Er lächelte gutmüthig. „Irgend etwas in der Welt muß man doch leisten. Ein freundliches Geschick hat es gefügt, daß ich Muße behalte zu meiner Ausbildung.“

[752] Anton Röver war an einem Augustnachmittag in dem kleinen Arbeitszimmer des Prinzipals im ersten Stockwerk mit dem Ordnen der Bücher beschäftigt, einer Arbeit, die immer in der stillsten Zeit des Jahres vorgenommen wurde. Das Schreibpult war bedeckt mit Briefen, Anzeigen, Kursberichten, ein Wasserglas stand dazwischen, aus dem der eifrig Beschäftigte dann und wann nippte. Aufmerksam fügte der junge Mann Zahlenreihe unter Zahlenreihe, und in seinem Herzen war eitel Frieden und Freude. Der letzte Strahl der untergehenden Sonne brach sich, von einer Fensterscheibe gegenüber zurückgespiegelt, in dem Wasserglas und warf bunte Regenbogenstreifen über den Schreibtisch. Da trat Julius Meermann in das Zimmer, den Stock mit Elfenbeingriff in der Hand wirbelnd, eine Rose im Knopfloch, elegant, lächelnd und sehr aufgeräumt. Röver hatte im Eifer den Stundenschlag überhört.

„Donnerwetter – büffelt der Mensch noch! Wie lange wollen Sie denn fortmachen? Kommen Sie mit ins Tivoli!“

„Einen Augenblick Geduld,“ sagte Röver, freundlich aufschauend. „Ich erledige nur, was mit der Post fort muß. Dann komme ich mit Ihnem.“

„Was schaffen Sie denn eigentlich hier oben?“

„Ich vertrete gegenwärtig Herrn Franz.“

„Wetter noch einmal – eine mächtige Korrespondenz! Alles in Hüten, Spitzen und Federn, Franz und Kompagnie?“

„Nicht ganz. Unser Chef macht Geldgeschäfte auf eigene Hand. Dies hier zum Beispiel geht Franz und Kompagnie nichts an.“

„So, so! Na, also, ich warte. Sputen Sie sich!“

Julius lehnte sich an die Kante des Schreibpultes und starrte ins Leere. Er sah nicht gut aus; dunkle Ränder zogen sich um die unheimlich glänzenden Augen. Seiner Mutter war dies veränderte Aussehen nicht entgangen, und sie spann Pläne, wie er Urlaub nehmen und zur Kur eine ihrer Freundinnen besuchen sollte, die in einem Badeort wohnte. Aber Julius hatte grimmig gelacht zu solchen Vorschlägen. Er war so gesund wie nie, unverschämt gesnnd; seine Körperkraft hatte nicht nachgegeben in den letzten entsetzlichen Wochen. Was hatte er unterschrieben in jener unseligen Nacht? Eine Schuldverschreibung, wie er meinte, aber Habermann behauptete, es sei ein Wechsel gewesen, und was schlimmer war, er bewies es ihm schwarz auf weiß. Dreitausend Mark schuldete er dem heillosen Menschen, dreitausend Mark mußte er auftreiben. Woher? woher? Seine Mutter besaß nur ihr karges Witwengehalt und er selbst besaß gar nichts. Und doch hielt er noch den Kopf oben. In seinem Innern glaubte er eine Stimme zu hören, die ihn versicherte, daß die Summe sich finden werde, sich finden müsse, wenn auch in letzter Minute. Und das war ihm das Schicksal ja auch schuldig! Es konnte einen so netten, gutherzigen, talentvollen jungen Mann unmöglich in der Patsche sitzen lassen. Arme Teufel ohne Bildung und Schliff, ohne Feuer und Gewandtheit mochten in solchem Schiffbruch zu Grunde gehen – aber ein Mensch von seinen Gaben – das durfte nicht sein! Vorläufig galt es nur, keine Seele ahnen zu lassen, wie es um ihn stand, seine Angehörigen nicht, vor allen Dingen nicht seinen Prinzipal. So hoch ihn dieser schätzte, einem Spieler würde er unbarmherzig sein Geschäft verschlossen haben. Allein mußte er den Sturm bestehen, um sich dann freilich nie, nie wieder in einen ähnlichen zu wagen. Und unwillkürlich schloß er sich fester an Röver an, den ernstesten, gesetztesten seiner Bekannten. Rövers Gegenwart schützte ihn vor der Gesellschaft Habermanns, vor neuen Thorheiten. Im übrigen trug er den Kopf hoch, zeigte sich lustig, übermüthig, unternehmender als je. Doch bei jedem Scherzwort, das seine Hörer zu lautem Lachen brachte, dachte er an die dreitausend Mark, die er beschaffen mußte. Sie standen für ihn auf dem Vorhang, der sich zum Beginn der Operette hob, auf den Füßchen der Tänzerinnen, auf dem Grunde der Biergläser, er las sie in den Kattunmustern im Laden seines Prinzipales; und eben jetzt grinsten sie von dem Schreibpult vor ihm in riesigen Bnchstaben. „Dreitausend Mark, zahlbar am zehnten August.“ Man schrieb heute den achten – Teufel, das Feuer brannte ihm auf den Nägeln!

In diesem Augenblick ertönte im Hintergrund des Zimmers das Telephonzeichen. Der Kassierer setzte die drahtgeflochtene Kasse, der er eben drei Tausendmarkscheine entnommen hatte, sorgfältig in den Geldschrank zurück, schlug die Scheine in eine lange Berechnnug und schob sie mit dieser in einen auf dem Pulte liegenden, bereits adressierten Briefumschlag. Dann stand er auf und ging an den Apparat.

[754] Dreitausend Mark! Julius Meermann durchzuckte es wie ein Messerstich, als er die Scheine in dem Umschlag verschwinden sah. Gerade dreitausend Mark! Gewaltsam hatte er sein Auge von der Kasse abgewandt, er konnte keine Anhäufung von Geld mehr sehen – mit übermächtiger Gewalt zog es seine bebenden Finger an. In seinem eigenen Geschäft traute er sich nicht mehr an einer Stelle vorüber, wo zehn Goldstücke bei einander lagen. Denn er wollte keine Thorheit begehen. Ein Verbrechen, wenn es sein mußte, um sich zu retten – nun ja! Aber nur keine Dummheit, wie Tölpel sie in ihrer Verzweiflung wagen, eine Dummheit, die entdeckt werden und ihren Urheber erst recht ins Verderben stürzen mußte.

„Es ist Ihre Schwester, die mich wegen einer geschäftlichen Sache, die sie vergessen hat, zu sprechen wünscht,“ sagte Röver, roth vor Vergnügen, sich vom Telephon zurückwendend.

„Wahrhaftig? Stehen sie jetzt besser mit dem Trotzkopf?“

„O, wir haben uns ausgesprochen. Wir sind jetzt sehr gute Freunde.“

Röver hielt eine lange Rede in die Mündung des Telephons, er gab ausführlich die gewünschte Auskunft. An ihm sollte es gewiß nicht liegen, wenn ihr Verhältniß zu einander nicht wieder die denkbar beste Form annahm!

Und derweil lehnte Julius am Schreibpult und sah auf den unverschlossenen Umschlag herab, der dreitausend Mark enthielt, dreitausend Mark, die ihn retten konnten! Ein zusammengefaltetes Zeitungsblatt lag daneben – ein kurioses Ding, dieses Blatt! Fast genau von derselben Größe, wie die Berechnung, in welche die Scheine geschlagen waren. Wenn er dieses Blatt in den Brief steckte und dessen Inhalt in seine Tasche – wer konnte je beweisen oder nur vermuthen, daß er die Hand im Spiele gehabt hatte? Wer durfte es wagen, ihn auch nur durch den Schatten eines Verdachts zu beleidigen? War er nicht da, der ersehnte rettende Augenblick? Konnte nicht ein einziger geschickter Handgriff Schande und Noth von seiner Person abwälzen, geschehene Thorheit ungeschehen machen? –

Röver hatte die Unterredung beendigt und kehrte sich nach Meermann um. Er sah diesen am Schreibpult lehnen, in derselben Stellung wie vorhin, das Stöckchen in der einen Hand, mit der andern an der Rose in seinem Knopfloch nestelnd.

„Jetzt stehe ich sogleich zu Diensten,“ sagte er, von dem Gespräch mit dem geliebten Mädchen noch freudig erregt. Hastig schloß und siegelte er den Werthbrief, steckte ihn mit anderen Briefen zu sich, zog den Schlüssel vom Geldschrank und nahm seinen Hut.

„Wollen Sie die Post nicht dem Laufburschen zur Bestellung übergeben?“ drängte Julius. „Es ist spät.“

„Werthsendungen pflege ich immer persönlich zu besorgen,“ erwiderte Röver. „Uebrigens werde ich Ihre Geduld auf keine harte Probe stellen.“

„Ach was, nehmen Sie’s doch nicht so pedantisch genau – ich habe lange genug auf mein Vergnügen gewartet, und Ihr Laufbursche ist ja wohl ein zuverlässiger Mensch!“

Röver besann sich einen Augenblick, dann antwortete er zögernd. „Nun ja, der Mann ist ehrlich, auch viel zu beschränkt, um eine Schlechtigkeit ins Werk zu setzen. Gehen wir also!“ Damit klingelte er und übergab dem eintretenden Diener die Briefschaften. „Schließen Sie nachher hier ab und bringen Sie diese Sachen zur Post!“

Aufathmend schob Julius seinen Arm in den Rövers, und eine lustige Melodie pfeifend, verließ er mit ihm das Zimmer.

*  *  *

Ein kühler Morgenwind strich am nächsten Tage erfrischend durch die noch menschenleeren Straßen, als das Geschwisterpaar nebeneinander dahinschritt, jedes seinem Geschäft zu. Die schweren schwarzen Bandschleifen auf Gretchens Hut schlugen fröhlich im Luftzug; auf ihren Wangen lag eine feine Röthe. Sie gedachte heute besonders zeitig zur Stelle zu sein; der Chef sollte gegen Mittag zurückkehren und sie selbst den Platz an der Kasse, den sie in den letzten Tagen stellvertretend übernommen hatte, wieder an Herrn Röver zurückgeben. Da gab es noch manches zu besprechen. Sie setzte ihren Stolz darein, daß gerade er alles in bester Ordnung finde. Mit einem Handedruck verabschiedete sie sich an der Thüre des Geschäfts von ihrem Bruder und trat ein.

Bald bog auch Röver um die Ecke, ein Veilchensträußchen in der Hand, Waldmann dicht an seinen Fersen. Zwei Häuser vor dem Geschäft blieb er stehen und beugte sich liebkosend zu dem Teckel herab. „Vorwärts, Waldmann!“ Und den Hund stieß ein leises Winseln aus, kehrte sich auf den Hinterpfoten um und rannte davon. Derselbe Auftritt wiederholte sich jeden Morgen, Waldmann begleitete Röver und wurde angesichts des Geschäftes heimgeschickt. Dann kam er um die Mittagsstunde wieder, seinen Herrn abzuholen, aber die Schwelle des Ladens überschritt er nie; er wartete geduldig auf dem Asphalttrottoir gegenüber. Niemand vertrieb ihn von dort, man kannte ihn schon in der ganzen langen Straße.

Nun trat Anton Röver in die Thür und schritt gerade auf Grete zu, die eifrig in den Papieren an der Kasse kramte.

„Guten Morgen, Fräulein Meermann! Darf ich mir gestatten, Ihnen diese Veilchen zu überreichen?“

Sie standen halb verborgen zwischen den Kasten mit farbigen Bändern, zwischen den Hüten, Spitzen und künstlichen Blumen. Nur das Hausmädchen fegte mürrisch und verschlafen den Ladenraum. Sonst war niemand zugegen.

„Aber Herr Röver,“ stammelte Grete verlegen. „Sie vergessen unsere Abmachung!“

„Ich vergesse nichts, Fräulein Meermann. Sie haben mir zu verstehen gegeben, daß ich für Sie ungefähr dasselbe bedeute wie dies Kassenpult hier und der Schrank und der Ladentisch – ein Möbel, das zur Einrichtung des Geschäftes von Franz und Kompagnie gehört ...“

„Herr Röver –“

„. . . aber die Veilchen können Sje doch von mir annehmen! Wenn ich nach Jahr und Tag in meinem einsamen Junggesellenstübchen sitze, irgendwo in Chile oder Japan oder auf einer Insel im Stillen Ocean, dann werde ich mir mit immer neuer Freude sagen: an dem Tage hat sie meine Blumen getragen, an jenem sprach sie gütig mit mir.“

Grete steckte die Veilchen an ihre Brust. „Wenn Sie erst in Chile oder Japan sind, Herr Röver, werden Sie überhaupt nicht mehr an die Grete Meermann denken. Dann haben Sie eine andere Frau gefunden, die Ihrer würdiger ist und Ihre Güte besser belohnt. Aber ich danke Ihnen herzlich für Ihre Blumen. Und, Herr Röver, muß es denn just das andere Ende der Welt sei, wohin Sie Ihre Schritte lenken? Geht’s gar nicht mehr in unserem alten lieben Deutschland?"

„Mein Vaterland ist mir so theuer wie irgend einem, aber was kann ich hier für mich erwarten? Drüben über der See finden sich größere Verhältnisse, rascheres Vorwärtskommen für einen Menschen, der ohne Kapital beginnen muß wie ich. Wär’ es mir nicht um mein altes Mütterchen, das sich nicht losreißen kann von der Heimath – ich wäre längst überm Weltmeer.“

„Ihr Mütterchen? Die alte Dame, mit der ich Sie neulich am Sonntag gehen sah? Also die zügelt Ihren Ehrgeiz noch? Denn furchtbar ehrgeizig sind sie, das sagen alle. Und ich merke es wohl, Sie werden nicht ruhen, bis Sie der Inhaber eines großen Handelshauses geworden sind.“

„Mein Ziel ist das, warum soll ich es Ihnen gegenüber leugnen? Andere haben ja mit nicht größeren Aussichten angefangen als ich und haben dies Ziel erreicht. Und etwas muß der Mensch haben, ein Streben, eine Hoffnung, die er im Innersten hegt, an der er sich freut, für die er lebt. Gerade meines Mütterchens wegen bin ich ‚ehrgeizig‘, wie Sie es nennen. Die alte Frau hat sich schlimm gemüht und geplagt für mich großen Burschen. An meinem Vater, das ist leider bekannt, hat sie nur Kummer erlebt. Da soll sie wenigstens an mir Freude haben – für sich selbst hegt ihr bescheidener Sinn kaum einen Wunsch.“

„Ich wußte gar nicht, daß Sie ein so guter Sohn sind,“ meinte Grete freundlich. Dem Mann mit den bösen Augen hätte sie solche Zartheit der Empfindung nicht zugetraut.

„Dabei ist kein Verdienst,“ erwiderte er wehmüthig. „Meine Mutter ist die einzige Person auf der Erde, die mir jemals Liebe erwiesen hat – wie sollte ich ihr nicht dankbar sein?“

Frida Meier und Fräulein Rothart kamen herein, sehr verblüfft, als sie das Paar an der Kasse beisammen erblickten. Die anderen Verkäufer und Verkäuferinnen folgten ihnen auf dem Fuße. Auf dem Marktthurm schlug es acht Uhr und Zuspätkommen kostete Geld. Alle schauten nach der Kasse, und das Wispern, Tuscheln, Kichern nahm kein Ende. Als Grete ihren [755] Platz hinter dem Ladentisch einnahm, kniff die Rothart sie in den Arm.

„Sie sind mir eine Heimliche!“

Und die Meier zischelte: „Nun darf man doch wohl endlich seinen Glückwunsch anbringen?“

Die übrigen schwiegen auch nicht, die anzüglichen Bemerkungen jagten sich – es war ein moralisches Spießruthenlaufen für die arme Grete.

„Haben Sie nicht immer gethan, als könnten Sie den Röver so wenig sehen wie eine Spinne? Unter vier Augen gewinnt er wohl?“

„Sie stehen freilich früher auf als unsereins!“

„Wie macht er sich denn, der Herr Kassierer, wenn er Süßholz raspelt?“

Und eine antwortete, auf den Strauß an Gretes Brust deutend: „Ist das eine Frage? Veilchenhaft macht er sich.“

Endlich ging der Verhöhnten die Geduld aus. „Lassen Sie mich in Ruhe wegen dieser Sache, ein für allemal! Ich mische mich auch nicht in Ihre Angelegenheiten. Sie haben mich gegen Herrn Röver aufgehetzt, und er verdient das nicht. In welcher Weise ich mein Unrecht gut zu machen suche, ist meine Sorge!“

Das war Oel ins Feuer. Sie vertheidigte den Kassierer, also eine wirkliche Neigung! Und unter dem Anschein übertriebenster Rücksichtnahme gestalteten sich die Hänseleien immer spitziger und giftiger. Es war ein kleines Martyrium, das sie an diesem Morgen erduldete für einen Mann, den sie nicht liebte – nein, nicht für den Mann, für das Unrecht, das sie ihm früher angethan hatte. Unrecht fordert Sühne.

Es ging gegen Mittag; ein Wagen fuhr vor. Herr Franz kam von der Reise zurück. Er begrüßte eilfertig das Personal, ließ sich rasch vom Kassierer Bericht erstatten dann begab er sich die Treppe hinauf in sein Privatzimmer, wo die Post, seiner harrend, aufgestapelt lag, obenauf eine Depesche, die vor einer halben Stnnde gekommen war: „Herrn Franz, Franz und Co. Eigenhändig.“

Einige Minuten verstrichen – plötzlich gab es ein Durcheinanderlaufen droben, ein Rennen, Rufen, der Laufbursche ward hinaufbeordert und eilig fortgeschickt. Er kehrte ebenso eilig zurück in Begleitung eines Herrn mit zugeknöpftem Rocke und noch zugeknöpfterem Gesicht, der ohne ein Wort den Laden durchschritt und sich in das Zimmer des Chefs begab. Da – niemand konnte sagen, wer zuerst das Wort geflüstert hatte, aber mit einem Male lief es von Mund zu Mund: „Die Geheimpolizei!“ In wenigen Augenblicken wußten alle alles. Eine Werthsendung war unterschlagen worden, statt der Geldscheine hatte der Empfänger unter unverletztem Siegel ein altes Zeitungsblatt zugestellt erhalten, ein Stück einer Berliner Börsenzeitung, auf dessen Rückseite die Adresse stand: „Herrn A. Röver. Pfahlstraße Nr. 8 p.“.

Grete erblaßte bis in die Lippen. Das konnte nicht sein, er, der alles Unrecht haßte! Und doch, hatte er nicht selbst bekannt, ehrgeizig zu sein, hoch hinaus zu wollen, hatte er nicht soeben erst bedauert, kein Kapital zu besitzen? Sie blickte empört zu ihm hinüber, er saß ruhig vor seiner Kasse und schrieb; das Ziel aller Blicke, der Gegenstand aller Gespräche, schien er die Aufregung gar nicht zu merken, deren Ursache er war.

„Aber hören Sie denn nicht?“ rief sie außer sich und trat zu ihm. „Sind Sie taub und stumm? Oder warum reden Sie nicht? Weshalb vertheidigen Sie sich nicht?“

„Vertheidigen, Fräulein Meermann? Gegen welche Beschuldigung soll ich mich denn vertheidigen?“

„Wissen Sie’s wirklich nicht? O, eine Kleinigkeit – in einem Werthbrief ist statt der Tausendmarkscheine, die er enthalten sollte, ein Stück altes Zeitungspapier gefunden worden, ein Stück Papier, das zufälligerweise Ihren Namen trägt, Herr Röver!“

Röver zuckte zusammen. „Die Werthsendung nach Berlin,“ murmelte er. Er sah dabei so rathlos aus, so völlig niedergeschmettert, daß Grete nicht mehr an seiner Schuld zweifelte, und eine blinde Wuth packte sie gegen sich selbst, daß sie Partei ergriffen hatte für einen Dieb.

Röver fing an, mit großen Schritten umherzuwandern. „Es muß sich aufklären, es muß! Gott im Himmel, ist denn so etwas möglich? Gestern abend habe ich selbst die Scheine in den Umschlag gesteckt, selbst das Paket gesiegelt – Ihr Herr Bruder kann mir’s bezeugen.“

„Mengen Sie meines Brnders ehrlichen Namen nicht in Ihre unsauberen Händel, Herr Röver!“

„Fräulein Meermann!“

Das Ladenpersonal drängte neugierig herzu, einen Kreis um die Streitenden bildend. Grete suchte es nicht zu hindern, sie sollten es hören, alle, daß sie nichts gemein hatte mit einem Verbrecher.

„Wahrlich,“ rief sie bebend, „schön bin ich belohnt dafür, daß ich mich bethören ließ, für Sie einzutreten Spott und Hohn auf mich zu nehmen um Ihretwillen! Geschieht mir schon recht! Warum achtete ich nicht auf die Stimme meines Herzens, die mich von Anfang an vor Ihnen warnte, auf die Stimme aller rechtlichen Leute . . .“

„Fräulein Meermann,“ preßte Röver hervor, „mäßigen Sie sich! Es giebt Worte, die nicht zurückzunehmen sind, Dinge, die ich sogar Ihnen nicht vergeben kann. Sie haben schon einmal ein Wort zu mir gesprochen, das Sie gereute – hüten Sie sich!“

„Daß Ihr Betragen mich lächerlich mache, hab’ ich gesagt,“ gab sie höhnisch zu. „Gewiß, ich hätte das nicht sagen sollen. Nicht lächerlich, nein, verächtlich macht die Zuneigung eines Betrügers!“

Er hatte die Hände abwehrend ausgestreckt, als könne er dadurch das Wort auf ihren Lippen zurückhalten; keuchend rang er nach Athem. In diesem Augenblick trat der Geheimpolizist geräuschlos in den Laden und beschied den Kassierer Röver in das Zimmer seines Chefs. Röver stand wie angewurzelt; in seinem gelbgewordenen Gesicht funkelten die schwarzen Augen jetzt mit wirklich bösartigem Ausdruck. Seine Finger krümmten sich nach Innen. „Ich komme,“ sagte er langsam, mit einer Stimme, die fremd und gebrochen klang. Dann wandte er sich zu Grete: „Fräulein Meermann! Sie haben heut’ einen Menschen, der Ihnen nie etwas zu Leide gethan hat, tödlich beleidigt, ohne Ursache, in stolzem Uebermuth, in einer Stunde obendrein, da er gerade von Ihnen ein tröstliches Wort hätte erwarten dürfen. So wahr ich an eine Vergeltung auf dieser Erde glaube, Sie werden diese That noch bitter bereuen, werden Jahre Ihres Lebens dafür hingeben wollen, die Worte ungesprochen zu machen, die Sie mir eben gesagt haben, und werden es nicht können, so wenig, wie ich je deren Klang aus meinem Gedächtniß zu tilgen vermag.“

Damit wandte er sich schwerfällig um, die Thür schlug hinter ihm zu.

Kunden kamen, Grete war eine gesuchte Verkäuferin, man rief sie von allen Seiten, sie mußte Red’ und Antwort stehen. „Blaues Ripsband? Ja wohl, gnädige Frau! In welcher Breite?“ – Er hatte nicht mehr nach ihr zurückgeschaut, jetzt mußte er schon droben stehen vor seinem Geschäftsherrn. Ob er sich verantworten konnte? Aber wie sollte das möglich sein? . . . „Die Schattierung dürfte zu hell ausfallen! Vielleicht diese Sorte? Eine wunderschöne Farbe! Sie wollen soviel nicht ausgeben, gnädige Frau? O, wir haben dies Band in allen Preisen!“ . . . Was für eine Stirn er zeigte! Wie er sie heruntergekanzelt hatte; er – sie! Ihm stand es wahrlich an, mit der Vergeltung des Himmels zu drohen – ihm, einem Betrüger! Wenn er nun aber doch keiner wäre, wenn sie ihm unrecht gethan hätte! Wie ein Betrüger sah er nicht aus, besonders bei seinen letzten Worten nicht – natürlich nicht, war er doch ein Erzheuchler! . . . „Sie befehlen, gnädige Frau? Dieses hier? Wieviel darf ich abschneiden?“

Im Hintergrund des Ladens wurde auf das Zahlbrett geklopft. „Kasse!“ rief eine Verkäuferin durch den Raum. „Kasse!“ – Das ging sie an, sie war ja die Stellvertreterin des Kassierers.

Und sie schlüpfte hinauf und trat an das braune Pult, vor dem er eben noch gesessen hatte –

„Aber entschuldigen Sie, Fräulein, die Rechnung stimmt wirklich nicht!“

„Bitte tausendmal um Verzeihung! Sechzig Pfennige bekommen Sie heraus, nicht wahr? Nun wird’s recht sein.“ –

Im Grunde, was ging die ganze Geschichte sie an? Hatte sie nicht von Anfang an einen Widerwillen gegen den Menschen gehegt? Wer war ihr fremder als er? Und dennoch empfand sie sein Vergehen als ein ihr persönlich angethanes Unrecht: er hatte ihr Vertrauen erschlichen, er hatte nicht nur seinen Chef, sondern auch sie betrogen!

[756] Eben schritt er, begleitet von dem Geheimpolizisten, durch den Laden, mitten durch das scheu und unwillig vor ihm zurückweichende Personal – das Zimmer des Chefs hatte keinen anderen Ausgang. Er schien keinen von seinen einstigen Kameraden zu sehen. Gerade aus ins Leere starrten seine Augen unter den schwarzen Brauen hervor, die so fest zusammengezogen waren, daß sie sich an der Nasenwurzel berührten. – –

Als Grete später als gewöhnlich zum Mittagessen nach Hause ging, sah sie wenige Schritte von der Ladenthür entfernt Waldmann stehen. Die braunen Augen des Teckels spähten zwischen den Lederriemen des Maulkorbs hervor erwartungsvoll nach der Thür des Geschäftes, aus der sonst um diese Zeit sein Herr zu treten pflegte, und jedesmal, wenn eine ihm fremde Gestalt auf der Schwelle erschien, stieß er ein leises klägliches Winseln aus. Aber er gab seinen Posten nicht auf. Grete war schon die ganze Straße hinunter gegangen, als sie, sich umwendend, den Hund noch immer auf demselben Flecke gewahrte, gestoßen und getreten von den Füßen der um diese Stunde eilig und zahlreich einherhastenden Menschen, von einer seiner krummen Vorderpfoten auf die andere trippelnd, den schlanken klugen Kopf in äußerster Spannung nach der Ladenthür gerichtet. So wartete wohl auch dort in der Pfahlstraße eine alte Frau. Gretchens Herz zog sich zusammen bei diesem Gedanken, und in ihre Augen stieg ein feuchter Schimmer, doch im nächsten Augenblick wallte der Zorn nur noch heftiger in ihr auf gegen den Menschen, der Liebe so übel belohnte.

„Saubere Freunde hast Du, Julius!“ rief sie, in die Stube tretend, wo Mutter und Bruder schon bei der Suppe saßen, und warf Hut und Mantel auf die Kommode. „Wißt Ihr das Neueste? Röver ist heute morgen verhaftet worden, er hat dreitausend Mark unterschlagen!“

Die Hand des jungen Mannes, die eben den Löffel zum Munde führen wollte, sank schlaff herab. Das hatte er nicht beabsichtigt!

„Trau, schau, wem!“ sagte die Mutter kopfschüttelnd. „Wer hätte dem jungen Menschen solche Schlechtigkeit zugetraut! Machte einen so ehrbaren soliden Eindruck! Aber freilich, Art läßt nicht von Art. Es ist die Sünde der Eltern, die sich in den Kindern forterbt von Glied zu Glied.“

„Wie kaun man behaupten, daß gerade er die dreitausend Mark genommen hat!“ brauste Julius ungestüm und unvorsichtig auf. „Die Scheine können ebenso gut auf der Post gegen die Zeitung vertauscht worden sein.“

„Ja, wenn sein Name nicht darauf stände!“

„Sein Name?“

„Und seine Adresse. Es ist ein Blatt einer Berliner Börsenzeitnng, die er sich hält. Uebrigens, woher weißt Du denn schon die Geschichte mit der Zeitung?“

Julius fuhr zusammen und wurde dunkelroth. „Nun, man kommt doch unter die Leute! Solche Sachen sprechen sich rasch herum. Ich – ich wollte nur nicht davon anfangen, weil ich nicht denken kann, daß Röver schuldig ist.“

„So? Das wird ihm lieb sein, denn auf Dein Zeugniß beruft er sich gerade.“

„Auf mein Zeugniß?“

„Du seiest zugegen gewesen, als er die Papiere in den Briefumschlag schob und diesen siegelte.“

Meermann faßte sich allmählich. „Mein Gott, ja! Ich holte Röver gestern abend ab; er ordnete noch allerlei Geschäftliches und schloß auch einige Briefe, wie ich glaube. Ich habe nicht genau achtgegeben; ich konnte mir doch nicht träumen lassen, daß ich demnächst vor Gericht darüber würde zeugen müssen.“

Julius Meermann war zu Muthe wie einem Menschen, der gehofft hat, eine sumpfige Stelle ohne sonderliche Beschwerde durchwaten zu können, und der nun plötzlich den Boden unter seinen Füßen schwinden fühlt. Jetzt hieß es: durch – oder zu Grunde gehen!

In diesem Sinne zeugte er vor Gericht. Er wußte nichts, er konnte nichts aussagen. Er habe Anton Röver allezeit für einen ehrlichen Mann gehalten, es werde ihm auch jetzt schwer, an seiner Rechtschaffenheit zu zweifeln. Wenn es schon ausgeschlossen sein solle, daß die Unterschlagung auf der Post selbst verübt worden sei, so halte er eher noch den Laufburschen für fähig zu einer solchen That. Der sei ja im Zimmer des Herrn Franz zurückgeblieben, als sie beide miteinander sich entfernt hätten, und jedenfalls erkläre sich die ganze Sache am besten durch die Annahme, daß der Mann das Zeitungsblatt in den Umschlag gesteckt habe, um den Verdacht auf Röver abzulenken. Die Verletzung der Siegel habe er dann auf irgendeine Weise zu verbergen gewußt, vielleicht durch Benutzung des Geschäftssiegels selbst, dessen Aufbewahrungsort ihm ja bekannt gewesen sein könne.

Die Zuhörerschaft auf den Galerien brach bei dieser Rede in ein wohlgefälliges Gemurmel aus – das war schön und klug gesprochen zur Vertheidigung des Freundes. Aber der Laufbursche drunten auf der Zeugenbank schaute mit weit geöffneten Augen den jungen Meermann an. Im Anfang war auch gegen ihn ein Verdacht aufgetaucht, allein die kräftige Fürsprache seines Chefs, der Eindruck, den er selbst bei den verschiedenen Verhören auf den Richter machte, hatten ihn vor einer eigentlichen Anklage bewahrt – und nun sollte er auf einmal so schlimm, so ausgesucht schlau und bösartig gehandelt haben!

Da kam ihm Hilfe von einer Seite, von der er sie am wenigsten erwarten konnte – von dem Angeklagten selber. Dieser räumte ein, daß die Unterschlagung am Aufgabeort bewerkstelligt sein müsse, denn das Exemplar der Börsenzeitung gehöre ihm, er habe es an dem verhängnißvollen achten August mit ins Geschäft genommen. Aber daß der Laufbursche der Thäter sei, könne er nun und nimmer glauben. Einer solchen Durchtriebenheit, wie sie ihm von dem Zeugen Meermann zugeschrieben werde, halte er ihn nicht für fähig, um so weniger, als sich der ganze Vorgang in wenigen Minuten hätte abspielen müssen, also eine große Entschlossenheit und Sicherheit in der Ausführung voraussetzen würde. Denn, wie erwiesen sei, habe der Mann die Werthsendung schon etwa zehn Minuten nach Empfang des Auftrages auf der Post abgeliefert. Noch bestimmter freilich müsse er den schimpflichen Verdacht von sich abweisen. Selbst wenn man ihm wirklich die Schurkerei zutrauen wolle, die Zeitung statt der Werthpapiere in den Umschlag gebracht zu haben – wie man ihm die haarsträubende Dummheit zumuthen könne, ein mit seinem Namen gezeichnetes Blatt unterzuschieben, gleichsam seine Visitenkarte beizulegen bei der Ausübung einer verbrecherischen Handlung!

Diese Vertheidigung machte Eindruck auf die Richter. Das uneigennützige Eintreten für den Laufburschen wäre kaum denkbar gewesen, wenn Röver selber der Thäter war; befremdlich blieb auch die Unbesonnenheit, ein mit seinem Namen gezeichnetes Blatt unterzuschieben, und endlich – jeder weitere thatsächliche Anhalt gegen den Angeklagten fehlte. Die verschwundenen dreitausend Mark blieben verschwunden, als hätte die Erde sie verschluckt. In Anton Rövers Wohnung fanden sie sich nicht, er hatte sie auch nirgends hinterlegt, noch weniger verausgabt. Ebensowenig ließ sich etwas von der Abrechnung entdecken, in die sie eingeschlagen gewesen waren, auch nicht das kleinste Stück von ihr, nicht einmal ein Häufchen Asche im Ofen seiner Stube. Man stand vor einem Räthsel, das sich nicht dadurch lösen ließ, daß man auf Grund einer unsicheren Deutung der Indizien den Kassierer oder den Laufburschen für schuldig erklärte. So wurde denn nach langer aufregender Verhandlung Anton Röver freigesprochen „aus Mangel an Beweisen“.

Mit sehr getheilten Ansichten verließen die Zuhörer den Gerichtssaal. Die einen traten für die Unschuld des Angeklagten ein, die anderen – und das war weitaus die Mehrzahl – hielten ihn für den Thäter. Die Unterschiebung der Zeitung, meinten sie, sei zwar unbegreiflich und setze für den Augenblick der That eine völlige Verwirrung des Betrügers voraus, aber gerade solch verrätherische Dummheiten kämen bei den geriebensten Verbrechern vor, und hier sei die Möglichkeit dazu um so eher gegeben, als durch die Dazwischenkunft des jungen Meermann eine sorgfältigere Vorbereitung und Ausführung der Unterschiebung vereitelt worden sei. Man solle sich nur einmal die verdächtigen Züge des Angeklagten betrachten, diese unheimlichen Augen, diese finsteren Brauen; man solle auch nicht vergessen, daß sein Vater schon im Zuchthaus gesessen habe. Früher oder später komme eine solche Familienerbschaft immer wieder zum Durchbruch. Das Ergebniß dieser und ähnlicher Erörterungen, die tagelang das Stadtgespräch bildeten, war, daß der Verdacht auf Anton Röver lasten blieb. „Freigesprochen aus Mangel an Beweisen“ – die Formel gab dem Angeklagten die Freiheit zurück, aber nicht die Ehre.

Als das Urtheil verkündet wurde, hatte Julius Meermann, der eifrig dem Gange der Verhandlungen gefolgt war, erleichtert aufgeathmet. Einen Augenblick schwankte er, ob er den ehemaligen Freund begrüßen und zu seiner Freilassung beglückwünschen solle. Aber einige seiner Bekannten redeten ihn an, verwunderten [758] sich, wie er für die Unschuld des Angeklagten so voreilig habe eintreten können, und ermahnten ihn, einen Verkehr abzubrechen, der auf ihn selbst ein zweifelhaftes Licht werfen könnte. Da drückte sich Julius schell an Röver vorüber und that, als sehe er ihn nicht.

*  *  *

An der Pforte des Gerichtsgebäudes stand der Freigesprochene; unschlüssig schaute er in das Menschengewühl draußen, als scheue er sich, in die Freiheit zurückzukehren. Was sollte er unter all den Leuten! Ja, wenn seine Unschuld klar erwiesen worden wäre – aber nun! Würde nicht der Schandfleck an ihm haften bleiben, würde nicht seine Stellung vernichtet, er selbst ein Ausgestoßener sein, einsam in der Stadt von Hunderttausenden?

Da legte sich eine Haln auf seinen Arm und eine zitternde Stimme sprach leise seinen Namen.

„Mutter, Du hier?“ Mit krampfhaftem Drucke ergriff er die Hand der alten Frau. „Komm, nach Hause!“

„Ich bin so froh,“ sagte die alte Frau in einem Tone, dessen Zittern ihre Versicherung Lügen strafte.

Anton Röver schritt rasch aus und antwortete nicht. Sie aber, als wolle sie ihr Empfinden übertäuben, plauderte hastig weiter, während sie neben ihm herging. „Die nächsten Tage, denk’ ich, bleibst Du nun einmal bei mir, das habe ich mir lange gewünscht, und ich will Dir auch die Wohnung recht gemüthlich machen. Einen großen Schreibtisch, wie Du ihn immer gern haben wolltest, hab’ ich Dir gekauft, ja, denke! Freilich ist er schon gebraucht, aber noch ganz hübsch und gar nicht theuer. Wie der sich macht vor dem Fenster der Wohnstube – ordentlich vornehm! Und dann hab’ ich an unseren Vetter in Berlin geschrieben, daß er sich nach einer Stelle für Dich umthue, weil ich doch weiß, daß Du nicht gern lange feierst. – Anton,“ schloß sie zaghaft, beunruhigt durch das starre Schweigen des Heimkehrenden, „Du sagst ja gar nichts!“

Langsam öffnete Anton Röver die Lippen. „Ach, Mutter, jetzt ist doch alles einerlei!“

Sie waren vor ihrer Wohnung angelangt, einem schmalbrüstigen schmutzigen Häuschen in einer engen dunklen Straße im Herzen der Stadt. Von allen Seiten, aus den Fenstern und hinter den ärmlichen Gardinen hervor lugten die Köpfe neugieriger Nachbarn. „Heute kommt der alten Rövern ihr Anton zurück. Ist seines Vaters echter Sohn, nur schlauer! Haben ihm nichts anhaben können auf dem Gericht“ – hieß es da und dort.

Die Frau fühlte die bösen mitleidlosen Blicke mehr, als sie sie sah, fühlte sie doppelt, für sich und für den Sohn, und sie stellte sich schützend vor den großen Menschen, als könne sie ihm mit ihrer kleinen gebrechlichen Gestalt Deckung gewähren vor dem Spotte und der Verachtung, die aus allen Ecken auf ihn einzudringen schienen. Umsonst – sie trafen ihr Ziel. Als die Mutter mit bebenden Fingern und ungeschickt vor Eile ihre Thür aufgeschlossen hatte, sank Anton auf den Stuhl vor dem neuerworbenen Schreibtisch und vergrub sein Gesicht in den Händen; es schüttelte seinen Körper wie ein Krampf.

„Warum, warum mir das? Und wenn ein Unglück mich treffen sollte, warum gerade dieses? Mein ehrlicher Name – wer giebt mir meinen ehrlichen Namen wieder?“

Die tapfer behauptete Fassung der Alten stürzte vor dieser Frage zusammen. Sie legte ihren Kopf auf des Heimgekehrten Schulter und brach in hilfloses Schluchzen aus. –

Trübe traurige Tage folgten. Schande ist immer ein bitterer Trank; ist sie unverdient und kommen Armuth und Mangel als Würze hinzu, so wird sie zum lebenzerstörenden Gift. Die beiden aber mußten dies Gift trinken, Tropfen um Tropfen, es ward ihnen keiner geschenkt.

Des Sohnes kleine Ersparnisse waren während seiner Untersuchungshaft aufgezehrt worden. Der Berliner Vetter hatte „leider“ keine Anstellung für einen des Diebstahls verdächtigen Menschen, am Orte selbst fand sich noch weniger ein Unterkommen. Gleichwohl arbeitete Röver dies und das, was sich ihm eben bot; er würde Holz gehackt haben, wenn man es ihm angetragen hätte. In einer harten Jugend hatte er gelernt, daß die Noth keine Rücksicht nimmt auf den Gram, daß der Hunger seinen Wechsel unbarmherzig auch dem Traurigen präsentiert. Also arbeitete er; er machte für einen Hungerlohn vom ersten Tagesstrahl bis spät in die Nacht Abschriften und hielt kleinen Krämern, die von seiner Vergangenheit nichts wußten, die Bücher in Ordnung, freilich immer nur so lange, bis gute Freunde die Leute über den auf ihm ruhenden Verdacht aufklärten, worauf die braven Bürger sobald als möglich den gefährlichen Helfer mit mehr oder weniger Höflichkeit an die Luft setzten. Dieser Kreislauf wiederholte sich mit unabänderlicher Gleichmäßigkeit. Aber Röver ließ sich nicht abschrecken; er biß die Zähne zusammen und aus der einen Stelle fortgewiesen, versuchte er es sofort in einer anderen. Allein was er auf diese Weise verdienen konnte, reichte nicht einmal für die bescheidenste Lebensführung hin. In Erwartung besserer Zeiten versetzten Mutter und Sohn das bißchell Wohlstand, das sie noch besaßen – die Sonntagskleider, die Bilder von der Wand, die überflüssigen Bettstücke. Mit fest zusammengepreßten Lippen brachte Frau Röver ein Stück ums andere ins Leihhaus, und der Ausdruck ihres kummervollen Gesichts wurde dabei immer trostloser und verbitterter. Sie, die früher nie ein hartes Urtheil gefällt hatte, wurde jetzt fast von Haß erfüllt gegen die mitleidlose Selbstgerechtigkeit der Leute. Nur dem Sohne begegnete sie nach wie vor mit der rücksichtsvollsten Zärtlichkeit. Heimlich ging sie alle Wochen ein oder zweimal einen halben Tag zum Waschen oder Scheuern, um durch den bescheidenen Verdienst, den sie so erwarb, seine Last wenigstens einigermaßen zu erleichtern. Weil ihr aber Anton seit er die ersten Groschen verdiente, diese harte Arbeit streng untersagt hatte, redete sie ihm vor, sie müsse frische Luft schöpfen, sie mache einen weiten Spaziergang, und er that, als durchschaue er die fromme Lüge nicht. Konnte er die Mutter doch nicht vor Mangel schützen! Welches Recht hatte er da, ihr zu wehren, daß sie selbst sich schützte, wie sie’s vermochte?

Und eines Tages brachte die alte Frau auch das letzte schwerste Opfer. Leise trat sie hinter seinen Stuhl und murmelte:

„Magst wohl recht gehabt haben, Toni, damals, als Du hinaus wolltest, weit, weit über die See. Warst eben gescheiter als ich alte Person. ’s ist gut von Dir gewesen, daß Du damals meinen Bitten nachgegeben hast, aber besser hättest Du gethan, nicht auf mich zu hören. Und ich wollte Dir nur sagen: wenn Du jetzt noch Dein Heil anderswo versuchen möchtest, überm Wasser, in Amerika oder wo Du willst, da würd’ ich gern mit Dir gehen. Ich, siehst Du, ich geb’ nichts mehr um unsere Stadt. Dummes Zeug überhaupt, gerad’ an ein Fleckchen Erde sein Herz zu hängen! Und ich möcht’ wohl auf meine alten Tage noch ein Stück Welt sehen, ja, das möchte ich. Hab’ also keine Sorg’ um mich, Toni – ich geh’ überallhin mit Dir, ohne Herzweh!“

Er wandte sich langsam zu ihr um und sah sie müde an mit den uberwachten überarbeiteten Augen, um welche dunkle Ringe lagen.

„Auswandern? Wohin? Und mit was? Ja hätt’ ich auch die Mittel, woher nähme ich den Muth? Laß sein, Mutter!“

„Aber,“ sagte die Frau und rang die Hände, „so kann’s doch nimmer weiter gehen! Wie soll es enden?“

Die Feder des Sohnes zog schon wieder Buchstaben um Buchstaben. „Zuletzt ganz gewiß fünf Schuh unter der Erde,“ antwortete er bitter.

Das Ziel wußte die Frau auch, nur meinte sie, der Weg dahin sei für ihn noch weit. „Dir wenigstens hätte ich so gern ein wenig Glück gegönnt!“

Anton erwiderte nichts mehr. Glück? Ihm? Was hatte er mit Glück zu schaffen, je zu schaffen gehabt! Ja, wenn er den Menschen, der ihn und seine Mutter in dies Elend gebracht, hätte auffinden können, wenn das Schicksal ihn in seine Gewalt gegeben hätte, nur eine Stunde lang! Er hatte einen Verdacht, langsam war derselbe groß geworden – wenn er Beweise dafür fände! – Narr, der er war! Diese Hoffnung würde sich so wenig erfüllen wie all die anderen Wünsche, die er gehegt hatte und die ihm zeitlebens versagt geblieben waren.

Tiefer beugte er sich über den Schreibbogen und ließ die Feder noch hastiger über die weiße Fläche jagen, während die Mutter still in die Küche ging, um sich auszuweinen.


Es war wenige Tage vor Weihnachten, als Frau Meermann noch stolzer denn gewöhnlich zu Markte zog. Ihr Julius hatte eine neue Sprosse auf der Leiter kaufmännischer Ehren erstiegen. Mit dem Jahreswechsel sollte er Vorstand der Konfektionsabtheilung in seines Prinzipals Geschäft werden, und dieses freudige Ereigniß gedachte die Mutter durch einen besonders reichen [759] Weihnachtsschmaus zu feiern, denn „Jedem das Seine!“ pflegte sie zu sagen. „Wo viel Verdienst, da ist billig viel Ehr’!“

Bald strotzte denn auch ihr Marktkorb von den eingekauften Herrlichkeiten und ihre Miene drückte völlige Befriedigung aus, während sie durch die langen Reihen der Feilhaltenden heimwärts wanderte, mit Ernst erwägend, welcher Fleischsorte sie für den Festbraten den Vorzug geben solle.

Da rief zwischen den Geflügelständen ein Marktweib sie an: ,Nicht eine schöne Gans gefällig, Madame Meermann, eine schöne Weihnachtsgans? Habe was Extrafeines. Ganz wie für Sie ausgesucht.“

„Wird was Rechtes sein!“ brummte Frau Meermann, trat aber doch näher, denn sie war Kennerin und sagte einer Gans jede Tugend und jeden Fehler auf den Kopf zu, sobald sie nur einen Schimmer von den Füßen oder vom Schnabel zu Gesicht bekam.

Die Händlerin erschöpfte sich in Betheuerungen. Wenn’s nichts Rechtes wäre, würde sie die Madame Meermann gewiß nicht dazu rufen! Das wisse der ganze Markt, daß sie eigen sei wie keine zweite. Aber wenn man gute Ware habe, mache es einem just Freude, sie an solche zu verkaufen, die auch ’was davon verständen.

Frau Meermann blieb ungerührt. „Recht klein für uns. Was wollen Sie denn dafür haben?“ Dabei wendete sie die Gans mit einer unnachahmlichen Gebärde der Verachtung nach allen Seiten, denn sie sah, daß sie wirklich gut war, und was sie kaufen wollte, lobte sie nie.

Die Händlerin fand das in der Ordnung und schlug ein hübsches Stück am Preise vor, um der anderen die Freude zu lassen, herunterzufeilschen. Nachdem sich beide dann eine Weile in Ausrufungen und Versicherungen überboten hatten, kam der Handel zu gegenseitiger Zufriedenheit zustande. Nur wußte Frau Meermann ihren Kauf nicht fortzuschaffen, da sie schon schwer beladen war. Während sie über diese Schwierigkeit mit der Hökerin rathschlagte, trat ein altes zitteriges Mütterchen zu ihr heran mit einem mageren Marktkörblein, in dem ein Stückchen Wurst und eine Rübe einander traurige Gesellschaft leisteten.

„Wenn Sie mir die Gans zu tragen geben wollen, liebe Frau, ich thu’s billiger als ein Dienstmann.“ Es war Anton Rövers Mutter.

Frau Meermann besah die Frau von oben bis unten. „Zwei Groschen will ich Ihnen geben, aber nicht einen Pfennig mehr.“

„Ist recht,“ sagte das Mütterchen und nahm die Gans.

Weil sie aber doch schon einmal bezahlen mußte, hing Frau Meermantt ihr auch den Marktkorb an den Arm und gab ihr das Netz in die Hand. „So wird’s wohl gehen.“

„Ist recht,“ wiederholte Frau Röver geduldig, „ich hab’ schon schwerer getragen.“ Und so wanderten sie nebeneinander hin, die eine groß und stattlich, hochaufgerichtet im Bewußtsein ihres Glücks, die andere gebeugt vom Alter, gebeugt vom Leid, keuchend unter der schweren Last, die sie trug.

„’s ist meinem Sohne zu Ehren daß die Gans da gebraten wird,“ sagte Frau Meermann, mittheilsam in ihrer Freude. „Er ist Kaufmann, mein Julius, bei Wilson und Kompagnie auf dem Markt, wenn Sie das Geschäft kennen. Von Neujahr ab will sein Prinzipal ihm dreitausend Mark Gehalt zahlen und einen Gewinnantheil bekommt er obenein und ist doch erst sechsundzwanzig Jahre alt! Ich hab’ eine rechte Freude an meinem Sohn das ist wahr, drum muß ich auch drauf aus sein, ihm Freude zu machen.“

Frau Röver nickte und seufzte. „Ja, wenn man kann.“

„Sie haben wohl keine Kinder?“

„Doch – einen lieben guten Sohn.“

„Er sorgt aber nicht für Sie, Ihr Sohn – wie?“

„Er hat kein Glück. Was kann man dabei thun!“

„Meine liebe Frau,“ entgegnete Frau Meermann streng, „dabei kann man sehr viel thun. Nehmen Sie mir’s nicht übel, aber Sie begehen ein Unrecht, wenn Sie Ihren Sohn in solcher Ansicht bestärken. Ich hab’ all mein Lebtag gefunden, daß ‚kein Glück haben‘ meist nur eine Beschönigung ist für Schlaffheit, Untauglichkeit oder bösen Willen. Jeder ist seines Glückes Schmied, sagt das Sprichwort, und wie man’s treibt, so geht’s.“

„Ich wollt’, es wär’, wie Sie sagen,“ antwortete Frau Röver gelassen. „Uns könnt’s gewiß recht sein, denn wenn jedem würde, was ihm gehört, dann müßt’ für meinen Anton noch einmal ein Extraglück gebacken werden. Hab’ nur allweil noch nichts davon verspüren können.“

Inzwischen waren die beiden am Hause der Frau Meermann angekommen. Die Achseln zuckend über die mütterliche Verblendung der Alten, zahlte sie die bedungenen zwei Groschen und schleppte ihre Schätze die Treppe hinauf. Oben stand Grete.

„Sind Rövers denn so heruntergekommen, daß die Frau jetzt Packträgerdienste thut?“ fragte sie.

„War das dem Röver seine Mutter? Schau einmal! Da hab’ ich ja, ohne es zu wissen, den Nagel auf den Kopf getroffen. Na, die wird sich hoffentlich meine Worte hinter die Ohren schreiben!“

Zur selben Zeit wanderte Röver, neue Arbeit unterm Arm, von dem Rechtsanwalt heim, der ihn beschäftigte; er wählte die menschenleersten Gassen. Sein Rock war abgeschabt, sein Hut von Wind und Regen entfärbt. Starr sah er im Gehen vor sich nieder – die Gesichter der Begegnenden waren ihm zuwider, da er in jedem Mißachtung zu lesen glaubte, in seiner Verbitterung dünkte ihm eine Tarnkappe der wünschenswertheste Besitz. Und hinter ihm watschelte Waldmann, den vormals keck in die Luft gekringelten Schwanz wehmüthig eingezogen, betrübt über die Trauer seines Herrn und die täglich knapper werdenden Mahlzeiten.

Vom anderen Ende der Straße her, dem ehemaligen Freunde gerade entgegen, kam Julius Meermann, Kopf und Hut im Nacken mit dem Spazierstöckchen fuchtelnd, eine Blume im Knopfloch; und auch er war zerstreut, so daß die beiden plötzlich aufeinanderprallten und zum ersten Male seit ihrer Begegnung im Gerichtssaal sich wieder Aug’ in Auge gegenüberstanden. In tödlicher Verlegenheit starrte Julius den anderen an – er suchte vergebens nach Worten. Endlich faßte er sich.

„Guten Morgen, Röver. Freue mich außerordentlich, daß ich endlich einmal wieder das Vergnügen habe, Sie zu sehen.“

Röver nahm die Hand nicht. „Ich wohne noch in derselben Wohnung wie früher,“ sagte er finster.

„Freilich, freilich! Ich hätte Sie aufsuchen sollen,“ gab Julius erröthend zu. „Aber die vielen Geschäfte! Auf Ehre, ich habe nicht aufgehört, den lebhaftesten Antheil an Ihrem Schicksal zu nehmen. Wie ist’s Ihnen seither ergangen?“

„Schlecht.“

„Schlecht? Wirklich? Das thut mir leid. Wenn ich Ihnen vielleicht mit irgend etwas aushelfen kann –“ und Julius griff eilig in die Tasche.

Aber Röver legte seine Hand schwer wie Eisen auf Meermanns Arm und sah ihm mit flammendem Blick ins Gesicht. Der Verdacht, der in den langen öden Stunden seiner Untersuchungshaft allmählich in ihm aufgedämmert war, der seitdem mit unabweisbarer Gewalt immer wieder sich ihm aufgedrängt hatte, brach plötzlich mit elementarer Macht hervor.

„Behalten Sie Ihr Geld!“ rief er wild. „Ich will Ihr Geld nicht! – Meinen ehrlichen Namen – geben Sie mir meinen ehrlichen Namen wieder!“

„Ich –“ das Wort erstarb Julius auf den Lippen, erbleichend fuhr er zurück. Wäre Röver nicht davongestürmt wie ein Rasender, er würde im verstörten Gesicht seines Gegners die Bestätigung all seiner Vermuthungen haben lesen können. Aber er sah nicht hinter sich.

Als er die Straße hinuntergerannt war und eben langsamer in eine belebtere einbog, legte sich eine Hand auf seinen Arm.

„Herr Röver, auf ein Wort! Wollen Sie ein Glas mit mir trinken?“

Röver blickte auf und fuhr zusammen. Der Sprecher war der Kommissar Lenz, jener Geheimpolizist, der an dem verhängnißvollen Tage seine Verhaftung geleitet hatte. „Was wollen Sie von mir?“ fragte er unsicher.

„Ich habe mit Ihnen zu reden.“

„So muß ich wohl hören,“ erwiderte Anton resigniert. Kein Zweifel, dies Zusammentreffen bedeutete ein neues Unglück – aber er war schon zu gebrochen, um noch Furcht zu empfinden oder an Auflehnung zu denken.

„Wenn’s Ihnen beliebt,“ sagte der Polizeibeamte und deutete auf eine Gastwirthschaft in der Nähe. „Ich habe noch kein Frühstück eingenommen, vielleicht sind Sie in gleichem Falle, und wenn’s Ihnen nichts verschlägt, könnten wir das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden.“

„Ich pflege um diese Zeit nicht zu frühstücken, und meine Zeit ist gemessen.“

Der Kommissar schob den Zögernden ohne Umstände über die Schwelle. „Machen Sie keine Schwierigkeiten und kommen Sie mit! Sie werden finden, daß mein Vorschlag die Zeit aufwiegt, die Sie dabei zusetzen. – Kellner! Zwei Beefsteaks [762] und zwei Glas Bier! – Setzen Sie sich – so! Eine Cigarre gefällig? Nicht? Wie Sie wollen! Und nun zu unserer Angelegenheit! Sehen Sie, ich pflege, theils von Berufswegen, theils aus Neigung, alle diejenigen im Auge zu behalten, mit denen amtlich in Berührung zu kommen ich Gelegenheit hatte.“

Röver zuckte abermals zusammen.

„Ich habe auch Sie nicht aus den Augen verloren und – auch einen anderen nicht ... aber da ist das Beefsteak! Greifen Sie zu, es ist ganz passabel!“

„Wenn Sie zur Sache kommen wollten ...“

„Ich bin mitten drin. Ich habe Sie also beobachtet, habe gesehen, daß es Ihnen miserabel geht, daß Sie aber arbeiten können und wollen, daß Sie ausdauernd, genügsam, nüchtern sind und selbst durch Außergewöhnliches nicht aus Ihrer Bahn geworfen werden. Das ist viel, ist die eine Hälfte von den Eigenschaften, welche zu dem Beruf, den ich Ihnen vorschlagen möchte, erforderlich sind; die anderen können erworben werden, und Sie mit Ihrer Ausdauer werden sie erwerben. Also kurz und gut. ich biete Ihnen eine Anstellung bei der Polizei unter meiner besonderen Leitung. Wollen Sie sie annehmen?“

Röver öffnete die Augen weit, und ein leises Roth stieg in seine Wangen. Er theilte vollauf die verbreitete Abneigung gegen einen derartigen Beruf. „Nein!“ sagte er mit Ueberzeugung.

„Schön,“ erwiderte der Polizist, „das habe ich erwartet. Allein deshalb brauchen Sie Ihr Frühstück nicht kalt werden zu lassen. – Sie haben vermuthlich eine kaufmännische Stellung in Aussicht?“

„Das freilich nicht –“

„Oder hoffen doch, über kurz oder lang eine solche zu erhalten?“

„Niemals, niemals wieder!“

„Wollen Sie dann bis an Ihr Lebensende Abschriften fertigen, den Bogen zu fünf Pfennig?“

Röver hatte keine Antwort auf diese Frage. Er stemmte die Faust auf den Tisch und sah starr vor sich nieder. Waldmann jedoch, dem der Duft gebratenen Fleisches gar verlockend in die Nase stieg, begann leise winselnd an seines Herrn Knie zu kratzen und wollte sich nicht zufrieden geben. Da schnitt Anton mit wehmüthigem Lächeln die erste Schnitte von dem Beefsteak ab und gab sie ihm.

„Verzeihen Sie, Herr Kommissar! Er hat lange kein Fleisch zwischen den Zähnen gehabt, der arme Schelm. Sie haben es selbst gesagt, daß es mir miserabel geht. Es ist wohl eine Narrheit, sich in meiner Lage einen Hund zu halten. Wenn ich’s über mich vermöchte – ich hätte ihn längst abgeschafft.“

„Thun Sie sich keinen Zwang an,“ sagte der Beamte freundlich, schob die Reste seiner eigenen Mahlzeit auf dem Teller zusammen und setzte sie dem Hunde vor. „Der hübsche Kerl muß auch sein Recht haben. Wenn Sie einer der Unseren sein wollten – weder Ihnen noch dem Waldmann da würde in Zukunft ein guter Bissen fehlen. Wir bezahlen unsere Leute ausgiebig nach dem Grundsatz: Hungrige Katze fängt schlecht. Warum wollen Sie eigentlich nicht? Aus Stolz? Ist es eine Schande, die menschliche Gesellschaft von Spitzbuben und Halunken zu befreien? Oder meinen Sie, daß es entehrender sei, Uebelthäter ausfindig zu machen, als sie abzuurtheilen, wie es die Richter, zu bewachen, wie es die Gefängnißbeamten thun, und das sind doch alles höchst ehrenwerthe und angesehene Leute?“

„Ich bin nicht stolz,“ sagte Röver leise, „ich würde jede Stellung annehmen – nur ... ich mag keinen so unglücklich machen, wie ich’s geworden bin.“

„Hm, das läßt sich hören. Die Justiz ist nicht allwissend; ungerechte Urtheile kommen vor, und manchmal läßt sich, wie in Ihrem Falle, eine Strafsache uberhaupt zu keinem reinen Austrag bringen. Aber das liegt doch an der Unvollkommenheit menschlicher Einsicht. Wenn man alles genau erforschen könnte, dann wäre ein Ausgang, wie ihn die Anklage gegen Sie genommen hat, unmöglich. Doch auch dieser steht ja nicht unabänderlich fest. Gericht und Publikum lassen sich gern eines Besseren überführen. Gerade wenn Sie in unseren Beruf eintreten, werden Sie reichlich Mittel und Gelegenheit finden, Ihre eigene Sache zu revidieren, und, wer weiß, ob nicht mit günstigem Erfolg.“

„Sie meinen –?“ Anton horchte hoch auf. Zum ersten Male wieder stieg die Hoffnung groß und glänzend vor ihm auf. „Das – das könnte sein – Sie halten einen günstigen Erfolg für möglich? Also glauben Sie, Sie wenigstens nicht an meine Schuld? Täuschen Sie mich nicht, Herr Kommissar ... Sie würden so gewiß nicht sprechen, wenn Sie nicht irgend eine Vermuthung hegten, einen Verdacht gegen einen anderen – dieser andere – aus Barmherzigkeit – nennen Sie mir seinen Namen!“

„Mein junger Freund, gemach! Ich habe eine Spur, das will ich Ihnen nicht verhehlen, und ich verfolge sie, aber ich zeige meine Karten nicht, am wenigsten einem Laien. Nur soviel kann ich Ihnen sagen: nach meiner Kenntniß von den Gepflogenheiten der Verbrecher, nach meinen früheren und heutigen Beobachtungen halte ich persönlich es für ausgeschlossen, daß wir in Ihnen einen Betrüger zu sehen haben ... Jubeln Sie nicht zu früh – meine persönliche Ueberzeugung nützt Ihnen leider gar nichts!“

„Dennoch danke ich Ihnen, danke Ihnen mehr, als ich auszudrücken vermag,“ sprach Röver, und seine düsteren Augen glänzten. Wie eine Vision zogen vor seinem Blicke die Bilder einer behaglichen Existenz vorüber, wie er sie künftig seiner alten Mutter verschaffen konnte, wenn er das Anerbieten des Mannes annahm – dazu die Gewißheit, täglich mit einem Menschen verkehren zu dürfen, der ihn nicht für einen Dieb hielt; die Hoffnung, durch die vereinten Nachforschungen die Wahrheit ans Licht zu bringen, seinen unbescholtenen Namen zurückzugewinnen . . . Er athmete tief auf. „Sie glauben an mich, Herr Kommissar, Sie bieten mir die Aussicht auf eine bessere Zukunft – nun wohl, wenn Sie’s mit mir versuchen wollen – ich bin der Ihre!“

Ein herzlicher Händedruck besiegelte den Bund. –

Als Frau Röver keuchend von ihrem Packträgerdienst heimkehrte, sah sie verwundert das heitere Gesicht ihres Sohnes. „Koch’ uns heute etwas Gutes, Mutter, die Zeit des Hungerns ist vorbei!“ rief er ihr entgegen.

„Gott sei Dank – Du bast eine Stelle gefunden?“

„Ja.“

„Bei einem Kaufmanne?“

„Bei der Polizei.“

Die alte Frau fuhr merklich zurück.

„Du wirst satt zu essen haben,“ sagte Anton beruhigend, „und ich thue nichts Unrechtes. Warum willst Du Dich also nicht freuen?“

So trat Anton denn sein neues Amt an und lebte seine Tage hin in einer Art nicht unangenehmer Betäubung. Er kleidete sich anständig, litt keinen Mangel, sah die Mutter halbwegs und Waldmann völlig zufrieden und gab sich Mühe, weder voraus noch zurück zu denken. Seinen Beruf füllte er aus, wenn er sich auch nicht besonders auszeichnete. Denn die Schlauheit des Fallenstellers, der Spürsinn des Jägers, die Freude an der Ueberlistung blieben ihm immer fremd. Aber das launenhafte Glück, das häufig dem Anfänger lächelt, während es den Meister hartnäckig flieht, half ihm einen und den anderen guten Fang thun. Auch benutzte sein Chef, der ihm herzlich wohl wollte, seine außergewöhnlichen Sprachkenntnisse und verwendete ihn, was seinem Schützling mehr zusagte, zeitweilig im Bureaudienst.

Durch dieses verhältnißmäßig sorglose Leben körperlich gekräftigt, durch das Vertrauen, das wenigstens ein Mensch, und ein Menschenkenner obendrein, in seinen Charakter setzte, allmählich wieder in seiner eigenen Meinung gehoben, begann Röver mit freierem Gemüth die Umstände zu überdenken, aus denen sein Unglück entsprüngen war, planmäßig den Verdacht zu prüfen, der erst ohne Ueberlegung und ohne entscheidenden Grund in seinem Innern aufgestiegen war. Und je länger und ruhiger er erwog und prüfte, um so mehr verstärkte sich seine Vermuthung. Freilich, räthselhaft blieb noch immer für ihn, was einen jungen Menschen in so glücklichen geregelten Lebensumständen wie Julius Meermann getrieben haben konnte, die Hand nach fremdem Eigenthum auszustrecken. Geregelt? Je nun, hatte Meermann nicht eine höchst unbegreifliche Vorliebe für den verkommenen und jetzt spurlos verschwundenen Fritz Habermann an den Tag gelegt? Und wer war ihm denn neulich in später Nacht entgegengetaumelt, als er ein verrufenes Gäßchen abpatrouillierte? War der todblasse Gesell mit den tiefliegenden starren Augen, der beschmutzten Kleidung wirklich der hübsche geschniegelte Konfektionschef von Wilson und Kompagnie, der Löwe unter seinen Kollegen? Es galt also, das Treiben des leichtsinnigen Menschen zu überwachen. Und nun verfolgte Röver den ehemaligen Freund beinahe Nacht für Nacht auf seinen Schleichwegen. Ja, die dunklen häßlichen Gäßchen im Innern der Stadt waren wohl ein Sieb, in dem dreitausend Mark spurlos versickern konnten! Nur eines verwirrte ihn immer noch: woher kam einem Kaufmann eine solch taschenspielerartige Fertigkeit der Hände, daß ihm der kurze [763] Augenblick des Gesprächs am Telephon für den unglückseligen Tausch genügen konnte? Da sah er Meermann einst in einer Kneipe mit staunenswerther Meisterschaft Kartenkunststücke zum besten geben. Nun schwand sein letzter Zweifel. Der Bruder Gretchens, die ihn um dieser selben That willen so grausam gekränkt hatte – er war der Dieb, war jetzt seiner gerechten Rache verfallen!

Zitternd vor Aufregung suchte Röver seinen Chef auf.

„Herr Kommissar! Den Urheber der Unterschlagung – ich – ich weiß ihn.“

„Das wird uns wenig nützen. Den Mann hatte ich längst, aber die Beweise?“

Ernüchtert senkte Röver den Kopf. „Wir werden sie niemals finden!“

„Im Gegentheil, er selbst wird sie uns entgegenbringen. Die Dinge gehen gut. Nur kaltes Blut, offene Augen und – Geduld!“

So faßte sich Anton denn in Geduld; er bändigte seinen Haß gegen den Elenden, die wilde Empörung über sein Schicksal und lebte sein altes Leben weiter.

Manchmal, wenn er heimkehrte, fragte die Mutter: „Nichts Neues, Toni?“

„Immer das Alte,“ antwortete er dann und bemühte sich, es möglichst unbefangen zu sagen. „Ist auch am besten so! Wir können’s wohl aushalten, Mutter.“

Dazu schüttelte die Alte den Kopf und seufzte. „Freilich, man sollte sich daran gewöhnen.“

Aber sie gewöhnte sich nicht, weder an den ihr unheimlichen Beruf des Sohnes noch an die Mißachtung, die stündlich aus den Blicken der Nachbarinnen zu ihr sprach; am wenigsten an die klaglose, stumme, aber unüberwindliche Trauer, die über das ganze Wesen ihres Sohnes ausgebreitet war.

[786] Die Zeit rieselte hernieder über Anton Rövers Vergangenheit, gleichmäßig, Tag um Tag, Woche um Woche, sein Leid wie seine Liebe vergrabend und verschüttend unter ihrer grauen Asche. Es ward ruhig in ihm, und er hütete sich wohl, an die verhüllende Decke zu rühren. Er mied Gretchens Wege, und sie kreuzte die seinigen nicht. So vergingen fast zwei Jahre, bevor er sie wiedersah.

An einem Sonntag gegen Dunkelwerden war es, auf dem Schützenplatz, wo ein Ballfest stattfand. Begleitet von Mutter und Bruder schritt sie selbstbewußt einher, im knappen hellen Kleide, und die Augen der Burschen folgten ihr, wo sie vorüberging. Auch Anton Röver sah ihr nach, in düsteres Sinnen verloren. Wußte sie um das Verbrechen ihres Bruders? – Er hatte während der zwei letzten Jahre in seinem Beruf soviel Verderbtheit kennengelernt, seine Meinung von den Menschen war so herabgedrückt worden, daß er, vollends in dem nie ganz überwundenen Groll, der sein Herz gegen Grete erfüllte, ihr Wissen um das Verbrechen des Bruders für wohl möglich hielt. Konnte die ganze Sache nicht ein abgekartetes Spiel zwischen ihr und dem geliebten Bruder sein – sie rief ihn ans Telephon und gab die Gelegenheit, er nützte dieselbe! Den Kassierer hatte sie immer gehaßt – was kümmerte es sie, daß er das Opfer wurde?

In einem der vornehmsten Schützenzelte, zu dem nur eingeladene Gäste Zutritt hatten, verschwanden die Drei; Röver ging ihnen nach und stellte sich an den Eingang des hellerleuchteten Raumes. Mit finsteren Blicken beobachtete er das Geschwisterpaar, aber so sehr er sich sträubte, sich einen weichherzigen Thoren schalt – sein Argwohn auch gegen die Schwester wollte nicht stand halten. Geradezu erquickend berührte ihn die gute trotzige Ehrlichkeit in Gretens Mienen, das kernhafte Selbstbewußtsein in der Haltung ihres Köpfchens, in den raschen knappen Bewegungen, der bestimmten Sprache. Nein, sie war keines Betruges fähig – sie konnte unmöglich auch nur Nachsicht üben gegen ein Verbrechen, sie, die jede Nachsicht für sich zurückzuweisen schien.

Und vor dieser Erkenntniß fühlte er seinen Haß gegen sie hinschmelzen in heißem Mitleid. Welche Qual, wenn sie des Bruders Schuld und Schande erfuhr – sie mit ihrem unbestechlichen Rechtsgefühl; wenn sie erfuhr, wie tief sie selbst sich an einem Unschuldigen versündigt hatte!

In diesem Augenblick wandte sich Grete mit einer raschen Bewegung dem Eingang zu, und ihre Blicke begegneten für eine Sekunde denjenigen Rövers, der im Bemühen, ihre Gestalt nicht aus den Augen zu verlieren, weiter vorgetreten war. Zusammenzuckend wandte sich Grete zu ihrem Bruder, der eben auf sie zukam.

„Sieh doch, Julius, der Röver! Der untersteht sich, hierher zu kommen!“

„O, der darf jetzt überall hinkommen, von Amtswegen. Er gehört zur geheimen Polizei.“

„Zur Polizei? Das ist hübsch! Erst selbst betrügen, dann andere ans Messer liefern!“

Es war Julius nicht angenehm, an Röver erinnert zu werden. aber er unterdrückte sein Unbehagen. „Wie hart Du wieder urtheilst, Schwesterchen! Bedenke doch die Macht der Versuchung und daß nicht jeder sich eines Vaters und einer Mutter rühmen darf, wie sie uns beiden geworden sind.“

Er sagte das mit leiser Stimme – er redete jetzt immer leise – aber doch so laut, daß Frau Meermann, die breit und kerzengerade hinter ihnen auf einem Stuhle saß, den letzten Satz hören konnte, und der Weihrauch zog ihr gar lieblich in die Nase, obgleich sie sich nichts merken ließ.

Das Verhältniß zwischen ihr und Julius war seit einiger Zeit besonders innig geworden. Ihr Sohn wuchs sich aber auch täglich mehr zu einem Mustermenschen aus. Hatte er vordem leichtsinnig ausgeplappert, was ihm die Seele bewegte, so wurden nunmehr seine Reden, sein ganzes Wesen von Tag zu Tag gesetzter und überlegter, der Inhalt dessen, was er sagte, immer mehr der Ausdruck eines edlen vortrefflichen Gemüths.

So schien es wenigstens der Mutter. Wenn sie aber in die Brust dieses „Mustersohnes“, wie sie ihn nannte, hätte schauen können, sie würde sich entsetzt haben vor der berechnenden Verderbtheit, die hier wohnte. Julius Meermann sagte sich, um sich dauernd zu sichern, müsse er vor den Augen der Menschen dastehen als einer, dem man „das“ auch nicht im entferntesten zutraute. „Das“! Es war ihm nichts bewiesen, er hatte nicht einmal in Verdacht gestanden; es war Gras über die Geschichte gewachsen, die Menschen dachten an anderes; zwischen ihm und Habermann rauschte das Weltmeer, er selbst war ein strebsamer, junger Kaufmann, der Liebling seines Chefs, das angestaunte und beneidete Vorbild seiner Freunde. Dennoch war „das“ nicht gestorben, nicht einmal eingeschlummert, vielmehr unheimlich lebendig. Es saß ihm im Herzen und grub und bohrte, es schaute ihm über die Schulter höhnisch in seine Bücher, es war sein unzertrennlicher Gefährte bei Tag und Nacht. Langsam wühlend, hatte es ihn von Innen heraus umgemodelt, einen völlig anderen Menschen aus ihm gemacht. Und nun kam er sich vor wie eine Doppelexistenz, ihm war, als stecke sein eigentliches Ich mit dem [787] angstvollen schuldbewußten, aber heiß und begehrlich schlagenden Herzen in dem fremden kalten gemessenen Menschen, den er vor der Welt spielte, wie in einer steinernen Hülle, welche enger und enger wurde von Tag zu Tag und ihm Athem und Leben zu nehmen drohte. Und eine furchtbare Bangigkeit packte sein bedrängtes Selbst, es mußte sich Luft schaffen, sich den Beweis liefern, daß es noch lebe, und weil ihm dafür neben dem neuerstandenen Julius Meermann am Tage kein Raum blieb, so wählte es die Nacht, sich auszurasen. Ein gefährliches Rasen! Habermann zwar war über der See, aber Julius fand mit Erstaunen, daß die Habermanns nur so aus den Pflastersteinen aufschossen und daß seine wilde Laune ihn wieder genau in dieselbe gefährliche Lage brachte, aus der jene That der Verzweiflung ihn einst hatte retten müssen. Sorgfältiger noch als vor zwei Jahren verhüllte er dieses nächtliche Treiben. Grete wurde nicht mehr in Anspruch genommen, um die knarrende Thür seiner Kammer einzuölen. Der Nothausgang, den er früher nur ein paar Mal zum Scherz benutzt hatte, war sein gewöhnlicher Weg geworden, durch den er zur Nachtzeit aus und ein ging. Das Licht auf seinem Schreibtisch brannte derweil hell, und wenn Mutter oder Schwester, aus dem Schlaf aufwachend, ihre Augen rieben, sahen sie das erleuchtete Viereck seines Fensters über den Hof schimmern und waren voll Bewunderung für die Arbeitskraft und Arbeitslust ihres Lieblings und höchstes in Sorge, daß der unermüdlich Thätige sich zu viel zumuthe. Frau Meermann machte dem Sohne auch ab und zu gelinde Vorstellungen über sein langes Aufsitzen, besonders wenn die Schatten unter seinen Augen einmal wieder ungewöhnlich tief wurden, aber Julius lächelte nur ablehnend dazu.

„Man muß seine Schuldigkeit thun, Mutter, so gut man kann. Haben der Vater und Du mir nicht das Beispiel gegeben? Mein Prinzipal rechnet auf mich, ich darf sein Vertrauen nicht täuschen.“

Und Frau Meermann trug den Kopf noch einmal so hoch nach solch stolz bescheidener Antwort; im geheimen betete sie den Sohn an. Ihr Mann hatte ja auch seine Schuldigkeit gethan, gewiß – aber prunklos, nüchtern, platt, als etwas, über das zu reden sich nicht lohnt, weil es sich von selbst versteht; ja er hatte sogar einen unüberwindlichen Widerwillen bekundet gegen alle schön klingenden Redensarten. Es war aber doch etwas Hübsches und Einnehmendes um weise Worte, das sah Frau Meermann jetzt mit steigender Bewunderung an ihrem Sohne. –

Von der Stadt hallte zum Schützenplatz herüber der Schlag der Mitternachtsstunde. Julius, der sich in dem „spießbürgerlichen“ Zelt grausam langweilte und seine Nacht gern lustiger beschlossen hätte, zog mahnend die Uhr hervor. „Es wird hohe Zeit, Mutter,“ sprach er sanft, doch mit der Miene eines Paschas, der gar nicht daran denkt, daß jemand ihm widersprechen könne.

Die Mutter widersprach auch nicht, obgleich ihre Tochter den ganzen Abend und eben jetzt wieder auffallend von einem jungen Kaufmann ausgezeichnet worden war, welcher Inhaber eines flotten Geschäfts und deshalb bei den Müttern heirathsfähiger Töchter wohl gelitten war. Allein Grete in ihrer raschen Weise fuhr dazwischen.

„Heimgehen? Jetzt schon? Ich denk’ nicht dran!“

Auf diesen „unschönen“ Ausbruch antwortete Julius nicht; er redete weiter zur Mutter, ebenso leise, ebenso gemessen wie zuvor und ohne jedes Zeichen von Ungeduld. „Ich halte es doch für besser, aufzubrechen, Mutter. Bis jetzt war das Fest durchaus hübsch. Später möchte ich hier keine Verantwortlichkeit mehr meiner Mutter und Schwester gegenüber übernehmen.“

„Hast recht, Julius! Alle Freude muß Maß und Ziel haben – also mach’ Dich fertig, Grete, hörst Du?“

Grete rüstete sich nur langsam und verdrossen zum Heimgehen; sie hätte gar zu gern noch eine Weile getanzt, wenn auch nur, um diesem frechen Menschen, dem Röver, der schon seit mehr als einer Stunde wieder am Eingang des Zeltes stand und sie mit seinem unheimlichen Blicke anstarrte, zeigen zu können, daß seine Gegenwart nicht imstande sei, ihr das Vergnügen zu verderben.

Als sie dann zu Hause ihren Feststaat abgelegt hatte und ihr Lager in der Kammer ihrer Mutter aufsuchte, zog Frau Meermann sachte die Gardine von den Scheiben zurück und deutete hinüber nach dem hell erleuchteten Fenster des Sohnes.

„Siehst Du, Grete, er arbeitet wieder, der brave Junge! Sein Pflichtgefühl hat ihn heimgetrieben. Wie selbstsüchtig würde es von uns gewesen sein, hätten wir noch mehr von seiner kostbaren Zeit für unser Vergnügen beanspruchen wollen.“

Und Grete schämte sich ehrlich.

Julius Meermann aber arbeitete wirklich während dieser Nacht, allerdings nicht in seiner Kammer, sondern auf dem Festplatz der Schützengilde; auch nicht an einer kaufmännischen Unternehmung, sondern an seinem Unglück und an der Schande der Seinigen. Es ward eine verhängnißvolle Nacht für ihn, er verlor im Spiele eine bedeutende Summe, die innerhalb einiger Tage beglichen werden mußte – und er beglich sie auf dieselbe Weise, wie er in letzter Zeit auch für manche andere dringende Fälle Rath geschafft hatte. Die Sache machte sich wirklich ganz einfach – ihn selbst nahm’s wunder, wie viel leichter als das erste Mal ihm jetzt der Schritt über das Gesetz hinaus wurde. – –

Etwa eine Woche nach dem Schützenfest kam Julius schon vor der Mittagszeit nach Hause.

„Grete, thu’ mir die Liebe und packe meinen Koffer! Ich habe noch einige Gänge vor.“ Er war sehr blaß, seine Augen brannten wie im Fieber.

„Willst Du denn verreisen?“ fragte Frau Meermann.

„Ja, in Geschäftssachen. Mein Prinzipal schickt mich. Wie gesagt, ich habe nicht einen Augenblick zu verlieren.“

Und dann zögerte er doch auf der Schwelle und wandte seine heißen Blicke zurück auf das Stübchen mit seiner behaglichen Wohlhabenheit, auf die Kuckucksuhr, die einst des Knaben Freude gewesen war, auf das dunkelbraune Spind, in dem die Honigkuchenvorräthe der Mutter verwahrt wurden, auf das schwarze Ledersofa, auf dem der Vater abends sein Pfeifchen geraucht und seinen Jungen auf den Knien geschaukelt hatte. Zuletzt, am längsten, hafteten seine Augen auf dem Antlitz der Matrone, die in dem Urvätersessel Platz genommen hatte, zwischen dessen weitgeschweiften Backenlehnen der alte Meermann einst zu einer besseren Welt hinübergeschummert war, und ein eigenthümliches Schlucken zerschnitt dem Scheidenden die Rede. „Ich – ich habe noch nicht gefragt, Mutter – wie geht’s Dir heute?“

Seit einiger Zeit litt Frau Meermann an Gicht, und der Arzt fürchtete, daß sie völlig lahm werden könne, aber sie ertrug diese Aussicht mit Spartanermuth. „Meine Kinder werden meine Krücke sein,“ sagte sie denen, die sie bemitleideten.

„Wie immer, wie immer,“ erwiderte sie auch jetzt wohlgemuth. „Mach Dir keine Sorge um meinetwillen, mein Junge! Ich bin alt, habe mein Theil in der Welt geschafft und genossen und darf mich getrost in diesen Winkel da setzen, wenn meine Füße einmal nicht mehr mit wollen. Aber Du bist jung und sollst noch viel beschicken in der Welt. Und mir scheint, Du siehst angegriffener aus als seit langer Zeit. Du mußt Dich besser schonen lernen!“

Bewegt ergriff Julius die Hand seiner Mutter. „Mir geht’s gut, ganz gut,“ sagte er gepreßt. „Ich bin stark, und wenn ich wiederkomme –“ Plötzlich fiel er der Greisin um den Hals und küßte sie, wie er es seit seiner Kindheit nicht mehr gethan hatte. „Werde gesund, Mutter, ganz gesund und kräftig – damit Du keiner Stütze mehr bedarfst!“

Frau Meermann wischte verwundert einen heißen Tropfen von ihrer Wange, der aus des Sohnes Augen darauf gefallen war, und sagte zu Grete, als Julius hastig hinausgeeilt war: „Er hat sich ernstlich übernommen – der arme Schelm ist ganz nervös. Ich werde wahrhaftig, wenn er wiederkommt, mit dem Arzte reden müssen.“

Wenn er wiederkommt! –

Grete ging in des Bruders Kammer, nahm den Koffer vom Brett und füllte ihn sorgsam und flink. Erst das Leinenzeug, dann die Stiefel, die Hausschuhe, den feinen Sonntagsrock, den Frack für alle Fälle, die Handschuhe, das Kursbuch oben auf; nun noch Plaid und Schirm. War das alles? – Er sah nicht gut aus, der Bruder, die Mutter hatte recht. Und wie überreizt er war! Aufgeregt bis zu Thränen über eine Trennung von Tagen! Es mußte etwas für seine Gesundheit geschehen. Als Knabe hatte er einmal in ähnlicher Weise gekränkelt, damals waren ihm vom Arzte Chinintropfen zur Stärkung verordnet worden mit gutem Erfolg. Seitdem bewahrte er beständig ein [788] Fläschchen mit diesen Tropfen in seinem Schreibtisch auf, sie nach Bedarf einzunehmen, manchmal täglich, dann wieder in monatelangen Zwischenräumen. Diese Arznei, wenn er noch davon besaß, wollte sie ihm in den Koffer legen. Sein Schreibtisch war verschlossen; aber sie wußte, der Schlüssel hing im Kleiderschrank; richtig, da war er! Sie öffnete eine Schublade nach der anderen, das Fläschchen fand sich nicht. Doch vielleicht stand es in dem geheimen Fache, das sich hinter einer der Laden befand. Grete kannte es wohl, es war in ihrer Kindheit immer ihre Hauptfreude gewesen, wenn sie es, auf dem Schoße des Vaters sitzend, hatte öffnen dürfen. Mit ihren kleinen Händchen hatte sie dann nach der Feder getastet und aufgejauchzt, wenn auf einen leichten Druck die Klappe emporschnellte. Sie kannte die Stelle der Feder noch genau – ein Druck, und die Klappe sprang auf. Sie griff in das Fach. Kein Fläschchen! Nur ein zusammengelegtes Papier lag drin. Neugierig zog sie es hervor ... am Ende gar ein Liebesbrief, und der Duckmäuser von Bruder that immer, als sei sein Herz unverwundbar! Nun, diesmal wollte sie ihm schon auf seine Schliche kommen! Aber das war ja gar kein Brief, sondern ein Blatt mit Zahlen, eine Berechnung – das war ... Sie stieß einen gellen Schrei aus und fiel vor dem Schreibtisch auf die Knie, das Blatt in der Hand. Ob sie es kannte, dieses Blatt mit Rövers Handschrift, obgleich sie es nie mit Augen gesehen hatte! Mit eifriger Spannung war sie seinerzeit dem Prozeß gegen den Kassierer gefolgt, sie und ihre Freundinnen. Einige von ihnen pflegten den Gerichtssitzungen beizuwohnen. Er hatte es oft und genau beschrieben in seiner Vertheidigung, der Unglückselige! Das war die Form des Papiers gewesen, das hatte darauf gestanden, so lautete die Berechnung, so die Summe – o, sie kannte es! Und nun lag es im Geheimfach ihres eigenen Bruders!

Ein wilder Ruf schreckte sie aus ihrer Betäubung. Julius stand auf der Schwelle, aschfahl, mit weit aufgerissenen Augen.

„Was – was geht hier vor?“

„Schließ’ die Thür!“ herrschte Grete ihn an und richtete sich langsam vom Boden auf. Dann, vor ihn hintretend, hielt sie ihm das Blatt vor die Augen.

„Kennst Du dies?“

„Dies?“ Er taumelte zurück. „Wie kommt dies in Deine Hand? Wie kannst Du Dich unterstehen –“

Und wüthend haschte er nach ihrem Arm, um ihr das Blatt zu entreißen, aber sie stieß ihn zurück.

„Dieb!“

Es war das Wort, das sein Gewissen ihm wiederholt hatte Tag und Nacht, das nun zum ersten Male eine Menschenstimme ihm ins Gesicht schleuderte, und vor seinem Klang ließ er die Maske fallen, die er bis zur Stunde zur Schau getragen hatte. Er sank auf den Stuhl vor dem Schreibtisch, schlug beide Hände vor sein Gesicht und weinte.

Die Minierspinne.

Ihre Hand, die das verhängnißvolle Papier hielt, sank schlaff herab, ihre ganze Gestalt bebte.

„Julius,“ begann sie tonlos, „sag’ nur ein Wort, daß es nicht wahr ist, daß Du trotzdem unschuldig bist. Julius,“ schrie sie auf, „sag’ mir, daß Du das nicht gethan hast!“

Er aber senkte den Kopf noch tiefer. „Ich hab’s gethan, Grete. Ich bin ein schwacher, schlechter Mensch! Die Versuchung war zu mächtig – wenn Du wüßtest – wenn ich Dir sagen könnte –“

Mit schneidender Verachtung unterbrach sie ihn. „Hast’s gethan und konntest dulden, daß der andere, daß Dein Freund zu Grunde gerichtet wurde durch Deine Schuld?! Hast es mit angesehen und hast dazu geschwiegen?!“

„Ich hab’s ja nicht gewollt! Bei allem was mir heilig ist, ich hab’ das nicht gewollt! Es hat mich nachher genug gequält, daß ich in der Eile die Zeitung mit seinem Namen unterschoben habe. Ich hatte gemeint, sie sollten die Post verantwortlich machen, und es würde nie herauskommen. Für so schlecht wirst Du mich doch nicht halten, daß ich diesen Ausgang beabsichtigt hätte! Und glaub’ mir, wenn er elend geworden ist – ich bin zehnmal elender! So elend, daß es schier eine Wohlthat für mich ist, endlich einem Menschen – Dir, Grete, sagen zu können, was ich leide, wie grenzenlos ich mich verachte. Und wenn ich mich nicht entschließen konnte, den Zeugen da zu vernichten, so ist’s, weil mir davor graute, an diese Vergangenheit zu rühren.“

Grete war hart wie Stein seinem Jammer gegenüber. „Weißt Du, daß ich Anton Röver grausam beschimpft habe in seinem Unglück? Weißte Du, daß er mir geflucht hat? Und Du, Du warst der Verbrecher! O, schön, schön!“ Und in sinnloser Verzweiflung packte sie den Arm des Schluchzenden. „Gieb mir das Wort zurück, das ich zu jenem gesprochen, den Hohn, mit dem ich ihn todlich verwundet! Aber – was denk’ ich an mich, was liegt an mir, an uns! Wer giebt dem Aermsten die Jahre wieder, die ihn durch Schimpf und Schande verbittern mußten, wer seine verlorene Zukunft, auch wenn er von jetzt an gerechtfertigt dasteht?!“

Julius hob horchend den Kopf.

„Gerechtfertigt? Du denkst doch nicht – – Grete, willst Du Deinen Bruder verrathen?“

„Hast Du geglaubt, daß ich mich zu Deiner Mitschuldigen machen werde?“

Er wagte, ihr in die funkelnden Augen zu sehen. „Um unserer Mutter willen –“ stammelte er.

Da rief sie außer sich: „Elender, und er – hat er nicht eine Mutter so gut wie wir?“

Julius sprang empor; angesichts dieser Gefahr, an die er bisher noch gar nicht gedacht hatte, fand er seine Fassung wieder, und eine leise Unentschlossenheit, die er bei der Nennung der Mutter trotz der heftigen Entgegnung auf dem Gesicht der Schwester zu lesen glaubte, gab ihm einen Theil seiner Sicherheit zurück.

„Thu’, was Du glaubst verantworten zu können,“ sagte er entschlossen. Wenn Du Dich verpflichtet fühlst, der Mutter das Herz zu brechen – ich kann Dich nicht daran hindern. Aber mich wirst Du nicht wiedersehen –“

„Was soll diese Andeutung, diese ganze überstürzte Reise?“

Grete erhielt nur einen unsicheren Blick des Bruders zur Antwort. Und plötzlich begriff sie – o, sie begriff jetzt wunderbar gut. „Julius! Du hast abermals gestohlen!?“

Ich kann’s nicht leugnen,“ sagte er trotzig, „ein paar hundert Mark aus des Chefs Kasse, zu der ich den Schlüssel führe. Ich hoffte, sie gestern oder heute ersetzen zu können, aber das Pech im Spiel verfolgt mich ohne Unterlaß. Und er kommt heut’ abend schon heim, zwei Tage früher, als wir angenommen hatten. Er muß die Sache entdecken. So wird’s wohl das Beste sein, ich geh’ übers Meer, und dazu hab’ ich mir noch einiges – Reisegeld genommen. Es ist die letzte Schande, die ich Euch mache,“ fügte er mit einem nervösen Zucken seiner Mundwinkel hinzu.

Sie ergriff mit wilder Hast seinen Arm. Du bleibst! Tausend Mark habe ich auf der Sparkasse. Ich erhebe sie. Du deckst davon die Summe, die Du unterschlagen hast. Dein letztes Verbrechen ist ungeschehen zu machen – um unserer Mutter willen –“

„Grete, Du wolltest ...?“ In dem Augenblick, da er im Begriff stand, mit seiner behaglichen geachteten Existenz zu brechen, [790] in Schande, Gefahr und Elend hinaus zu gehen, in diesem Augenblick bot sich ihm Aussicht auf Rettung! Er sollte in den bequemen Verhältnissen bleiben dürfen, ein angesehener, beneideter Mensch nach wie vor!

„Grete, wie gut Du bist!“

„Ich begehre keinen Dank von Dir,“ erwiderte sie mit eisigem Nachdruck, dem Kuß ausweichend, den er in überströmender Dankbarkeit auf ihre Wange drücken wollte; unwillkürlich strich sie über die Stelle ihres Kleides, welche seine ausgestreckte Hand berührt hatte, als müsse sie da etwas wegwischen.

Er ließ sich dadurch nicht irre machen. „Ich will mich bessern, Grete! Gewiß und wahrhaftig, Dein Opfer wird nicht umsonst gebracht sein. Ich will ein braver rechtschaffener Mensch werden – ich schwöre Dir, das will ich!“

„Kannst Du das?“ fragte das Mädchen schneidend und deutete auf das Blatt in ihrer Hand. „Kannst Du das – nach diesem?!“

„Gieb mir den Zettel, Grete!“

„Nein!“

Er erbleichte. Ein grausamer Zug von Härte lag um ihren zusammengepreßten Mund! „Grete – Du wirst Deine Gutthat an mir nicht selbst zu nichte machen wollen?“

Sie schwieg.

„Grete!“

„Ich weiß nicht, ich verspreche nichts!“

„Thu’ das kleinere menschlichere Unrecht – rette Mutter und Bruder! Was geht Röver Dich an? Ein Fremder, ein Dir verhaßter Mensch!“

„Um so unerträglicher, in seiner Schuld zu stehn, gedemüthigt vor ihm bis in den Staub! Es bringt mich um den Verstand!“ Sie brach in krampfhaftes Schluchzen aus.

Er ließ nicht ab, zu betteln. Einschmeichelnd, überredend klang seine Stimme. „Keine Pflicht der Welt gebietet Dir, Zeugniß abzulegen wider Deinen Bruder. Nicht einmal das Gericht würde Dich zu einer Aussage gegen mich zwingen. Denk’ an unsere Kindheit, Grete, an unsere brave rechtschaffene Mutter! Du brauchst ja nicht zu lügen und zu heucheln, nur zu schweigen. Grete, nicht wahr, Du wirst schweigen?“

„Ich will’s versuchen – sage der Mutter irgend einen Grund, warum Deine Reise unterbleibt!“ Die Worte rangen sich mühsam los von ihren Lippen und fielen wie eine Centnerlast auf ihr Gewissen. Schwankend ging sie zur Thür, ungeduldig die Zärtlichkeiten abwehrend, mit denen der Bruder sie zu überschütten suchte. –

Es war eine qualvolle Zeit, die jetzt für Grete begann. Sie hatte den verhängnißvollen Zettel in ihrer Kommode verborgen. So oft sie nun die Lade aufzog, war es ihr, als schauten daraus zwei dunkle Augen, die sie nur zu gut kannte, vorwurfsvoll drohend zu ihr auf. Sie versteckte das Papier in den fernsten Winkel ihres Kleiderschrankes, zuletzt verschloß sie es in ein Kästchen – es half nichts; ein unheimliches Leben steckte in dem Blatt; auch durch die Wände des Schrankes schien es zu schimmern, und die schwarzen vorwurfsvollen Augen verfolgten sie bis in den Traum. Wachend und schlafend schleppte sie das Bewußtsein ihrer unfreiwilligen Schuld mit sich herum.

Diese Schuld hatte schon des Bruders Wesen verwandelt, jetzt verwandelte sie auch das der Schwester.

Der Mutter fiel’s auf, wie still und gedrückt ihre fröhliche Grete einherging; die Freundinnen wunderten sich, wie allmählich der stolz zurückgeworfene Kopf herabsank auf die Brust, und dem braven Julius, der seit seiner unverhofften Errettung sich in rosigster Stimmung befand, lief’s eiskalt über den Rücken, so oft er inmitten seiner scheinheiligen Reden dem Blicke der Schwester begegnete. Er fand es bald noch ungemüthlicher daheim als früher und nach einer Enthaltsamkeit von vierzehn Tagen fing er von neuem an, bei seinen alten Freunden Zerstreuung und Betäubung zu suchen.

Grete aber hatte den gesunden Schlaf der Jugend verloren. So oft sie nachts müde auf ihr Lager sank, schauten durch die Dunkelheit Anton Rövers Augen sie an, wie sie sie angeschaut hatten an jenem Tag, als man ihn verhaftete. Und ein Dämon wiederholte ihr jedes Wort, das sie damals zu ihm gesprochen hatte, immerfort, immerzu. „Mengen Sie meines Bruders ehrlichen Namen nicht in Ihre unsauberen Häbdel!“ – „Nicht lächerlich, nein verächtlich macht die Zuneigung eines Betrügers!“ Da war kein Wort vergessen, keines gemildert, und immer von vorne fing die Stimme an, in entsetzlicher Einförmigkeit. Es konnte so nicht dauern – sie mußte Befreiung suchen von dem Bann, in den des Bruders That sie geschlagen hatte. Aber was sollte sie thun? Die Ehre, die der Bruder Röver genommen hatte, konnte, durfte sie dem Beraubten nicht zurückgeben! Aber vielleicht ließ sich gut machen, was sie persönlich gegen ihn gefehlt hatte? Sie war dazu bereit, ernstlich und ohne Bedingung! Ihren Besitz, ihre Arbeit, ihre Person – sie würde klaglos alles hingegeben haben zur Tilgung dieser Schuld. Das erste war – sie mußte ihm ihre Grausamkeit abbitten, ihn anflehen um Verzeihung! Vielleicht daß dann diese furchtbare Spannung von ihr wich.

Wenn sie nun abends aus dem Geschäft heimkehrte, legte sie es darauf an, Röver zu begegnen; sie machte häufig einen Umweg durch die Straße, in der er wohnte, und nach einigen fruchtlosen Vers[uc]hen gelang ihre Absicht – aber er sah sie nicht oder wollte sie nicht sehen. Am nächsten Tage wiederholte sie den Versuch um dieselbe Zeit. Diesmal ging sie dicht an ihm vorüber, sie streifte ihn fast, allein sein Blick blieb starr geradeaus gerichtet. Nun blieb kein Zweifel mehr – er wollte sie nicht bemerken. Sie hätte sich’s denken können – er behandelte sie, wie sie es verdiente. Aber Frieden – wie sollte sie Frieden finden!

Und von plötzlicher Eingebung geleitet, kehrte sie um und schlich dem Heimkehrenden nach auf den Hof, auf den die Fenster seiner Wohnung gingen. Vor einem dieser Fenster stand sie mit klopfendem Herzen still, scheu wie eine Verbrecherin, und suchte durch die Vorhänge in das erleuchtete Zimmer hineinzuspähen. Das eine Rouleau, das schadhaft gewesen und bei der Ausbesserung ein wenig zu kurz gerathen sein mochte, schloß nicht völlig, so konnte sie einen Blick hineinwerfen in die Stube.

Eben trat er ein. Der Hund flog mit Freudengebell an ihm empor, und die alte Frau – wie rasch sie vom Stuhle sich erhob, ihrem Sohn entgegen! Freude leuchtete aus jedem Zuge des kleinen runzligen Gesichtes! Er aber lächelte, als er sich herabbeugte, ihr welkes Antlitz zu küssen, und alles Finstere, Drohende in seinen Mienen löste sich in diesem Lächeln. O, er war ein guter Sohn – diese Züge heuchelten nicht, während daheim . . . Daß sie diesen Vergleich nicht unterdrücken konnte, so weh er ihrem Herzen that!

Warum hatte sie diesen Mann gehaßt, der zehnmal mehr werth war als ihr Brnder! Ueber ihn war das Unglück in seiner schlimmsten Gestalt, waren unverdient Armuth und Schande zugleich hereingebrochen, und sie hatten ihn fest gefunden, unerschütterlich, entschlossen thätig, rücksichtsvoll gegen die Mutter im Leid wie im Glück. Eine heiße Fluth stieg ihr in die Augen und ließ das Zimmer und die Gegenstände darin vor ihrem Blicke verschwimmen. Leute kamen über den Hof. Sie entfloh und kehrte heim, nur noch bedrängter in ihrem Innern. Ihr war die Macht verliehen, diesen beiden Menschen das volle Glück zurückzugeben, den Druck, der auf ihnen lastete, fortzunehmen – und sie durfte diese Macht nicht brauchen, durfte diesen Weg nicht gehen, den einzigen, das fühlte sie, der zugleich ihre eigene Verschuldung gemildert hätte.

Eine verzehrende Sehnsucht ergriff sie, etwas, nur etwas zur Freude und zum Glücke der Heimgesuchten ins Werk setzen zu können. Sie grübelte darüber Tag und Nacht – vergebens! Es gab nur das eine: die Ehre der Ihrigen preisgeben, um sie jenen zurückzubringen. Und das konnte sie nicht! Aber wenn Julius jetzt in seiner glatten schmeichlerischen Weise der Mutter nach dem Munde redete, und diese, stolz wie eine Herrscherin in ihrem Sessel thronend, bewundernd zu dem vergötterten Sohne hinüberschaute und von der Ehrbarkeit und Tüchtigkeit sprach, die sich von den Eltern auf die Kinder vererbe, von den Vergehen der Söhne, in denen sich die Schuld der Väter räche – dann wurde Grete von einer erstickenden Angst gepackt vor der ungeheueren Lüge, zu der ihr und der Ihrigen Leben geworden war. Und eine Besorgung, einen Abendbesuch bei einer Freundin vorschützend, stürzte sie hinaus in den Regen, in das Dunkel, Straße um Straße durchjagend, bis sie sich vor den Fenstern der Röverschen [791] Wohnung wiederfand, um durch die Lücke des Vorhangs hindurch eine strickende alte Frau zu beobachten oder den Bewegungen des Mannes am Schreibtisch zu folgen, angstvoll nach dem Ausdruck größeren oder geringeren Wehs in den Zügen desjenigen zu spähen, der einst seine beiden Hände unter ihre Füße hätte breiten mögen, ohne daß sie ihm nur einen flüchtigen Blick des Dankes dafür gegönnt haben würde. Jetzt lagen Haß und Fluch und Sünde zwischen ihnen, und eine lähmende Angst vor ihm war über sie gekommen.

Längst schon wagte sie nicht mehr, seinen Weg zu kreuzen. So oft sie seine Gestalt von weitem sah, durchrieselte sie ein kalter Schauer. Wenn er wüßte! O, der Blick, mit dem er sie anschauen würde, vor dem sie versinken mußte, wenn er erfuhr, daß sie ihn hätte retten können und keine Hand gerührt habe! So wich sie ihm aus, sorgfältiger noch als zu der Zeit, da seine Neigung sie verfolgt hatte, und doch schien es ihr täglich mehr, als ob der Friede ihrer Seele abhänge von einem versöhnlichen Worte aus seinem Munde.

Eben in dieser Zeit war es, daß der junge Kaufmann, der Gretchen auf dem Schützenfest ausgezeichnet hatte, das nachdenkliche stille Wesen, welches Fräulein Meermann seit kurzem angenommen hatte, auf eine keimende Neigung zu seiner eigenen geschätzten Person deutend, Frack und Cylinder ausbürstete und als ehrbarer Freier die Treppe zu Frau Meermanns Wohnung hinaufstieg. Er wurde von der alten Frau so zuvorkommend aufgenommen wie gute Partien von den Müttern heirathsfähiger Töchter aufgenommen zu werden pflegen; und obwohl noch ohne das Jawort, kehrte er doch ruhig und freudig im Gemüth nach Hause zurück, während Frau Meermann, des Ausgangs der Werbung ebenso sicher wie er, zu ihrer Kommode humpelte und vorsorglich ihr schönstes Taschentuch hervorholte, um gegen die Thränen gewaffnet zu sein, wenn sie der Heimkehrenden das große Glück verkünden würde.

Endlich hallte der feste Schritt ihrer Tochter im Flur. Grete öffnete die Thür und blieb verwundert stehen. So feierlich das Gemach – Julius mit Predigermiene, die Mutter in frischer Haube, das gestickte Taschentuch in der Hand – – „Was giebt es denn hier?“

„Grete, mein gutes Kind, komm zu mir! Laß mich Dich segnen! Der junge Märtens war hier, er hat sich erklärt. Du wirst sehr glücklich werden, mein Kind.“

Das Mädchen stand wie angewurzelt. „Mit – Märtens?“ Wie lange hatte sie an den nicht mehr gedacht; sie erinnerte sich kaum mehr, daß er auf der Welt war!

„Wenn Dein Vater noch lebte,“ fuhr Frau Meermann unbeirrt fort, „er würde Euren Bund segnen, wie ich es thue. Du heirathest in ein solides altbegründetes Geschäft, einen Mann von makellosem Ruf und Charakter.“

„Heirathen? Ich werde Märtens niemals heirathen, Mutter. Ich denke, Du hast ihm keine Hoffnung gemacht.“

„Wie Du daherredest! Freilich hab’ ich ihm Hoffnung gemacht. Hast Du selbst es doch gethan!“

Hatte sie das? Vielleicht – damals, ehe das eine geschah, das jetzt ihr Sein und Denken ganz allein erfüllte!

Frau Meermann begriff nicht, was die Brust ihrer Tochter bewegte, warum diese, statt zu antworten, nur immer wieder stumm den Kopf schüttelte. „Ueberlege doch nur, Grete,“ mahnte sie vorwurfsvoll. „Es ist Dein Lebensglück, das Du von Dir stößt. Nimm Vernunft an, Kind! Du bist so wunderlich in letzter Zeit! Wenn Du einen Mann wie Märtens ausschlägst, auf wen willst Du denn warten?“

„Auf niemand! Verzeih’, Mutter, aber ich hab’ mir’s überlegt, ich werde überhaupt nicht heirathen. Sag’ ihm das, bitte! Er soll mir nicht böse sein, ich erkenne an, daß er’s redlich mit mir meint, und ich danke ihm für die gute Meinung.“

„Liebe Grete,“ kam jetzt Julius, der aus mancherlei Gründen seine Schwester gern verheirathet gesehen hätte, der verblüfften Mutter zu Hilfe, „das sind Mädchenlaunen, die Dir nimmermehr ernst sein können. Wirst doch keine alte Jungfer werden wollen!“

„Ja, das will ich!“ rief sie erregt. „Und ich denke, Du könntest meine Gründe verstehen, gerade Du! Also rede mir nicht drein!“ Und gelassener sich zu ihrer Mutter wendend, die in steigender Verwunderung dem Auftritt lauschte, fuhr sie fort: „Noch einmal, Mutter, ich kann nicht. Ich werde auch meinen Sinn nicht ändern. Sag’ ihm das!“

So mußte denn Frau Meermann, so schwer es ihr wurde, auf die „glänzende Partie“ für ihre Tochter verzichten. Sie ächzte und stöhnte viel dabei. Das gestickte Tüchlein feuchtete sich statt mit den Thränen der Rührung, die ihm zugedacht waren, mit den Schweißtropfen, die auf ihrer Stirn perlten, während sie den langen verbindlichen Absagebrief an Märtens verfaßte. Sie meinte, so sauer sei ihr noch nie eine Arbeit geworden, konnte es auch nicht unterlassen, ein Wörtlein einfließen zu lassen von der Wandelbarkeit der Mädchenherzen und dem besseren Rathe, der über Nacht kommt.

Grete wurde von jetzt an noch stiller und gedrückter, in ihrem Verkehr mit den Ihrigen noch einsilblger als vorher.

An einem regnerischen Mittag, als sie aus dem Geschäft heimkehrte, sah sie Anton Röver vor sich hergehen, den Hut in die Stirn gedrückt, den Blick zu Boden gesenkt, wie das seine Art war. Sie verlangsamte ihren Schritt, um ihm Vorsprung zu lassen, und hatte ihn fast aus dem Gesicht verloren, als sie nahe an einer Straßeukreuzung von Waldmann überholt wurde, der eingesperrt gewesen war und nun, der Haft entronnen, die Nase an der Erde, auf der Spur seines Herrn dahinjagte, so ungestüm vertieft in seine Suche, daß er einem um die Ecke rasselnden Bierwagen gerade in den Weg lief.

Im nächsten Augenblick sah Grete ihn zwischen den Hufen. Ein schmerzliches Aufwinseln – er stürzte, von einem Schlag getroffen; in der nächsten Sekunde mußten die Räder über ihn weggehen. Wie ein körperlicher Schmerz durchzuckte es das Mädchen; auch diese Freude des Vereinsamten sollte verloren sein!

Mit einem Sprunge war sie neben dem Fuhrwerk und schrie den Kutscher an, so laut und befehlend, daß der Mann zusammenfahrend die Zügel an sich riß und das aufbäumende Pferd zum Stehen brachte, gerade noch zeitig genug, um es Grete zu ermöglichen, das blutende Thier unmittelbar vor den Rädern hervorzuziehen. Sie nahm, ohne sich weiter um den Kutscher und das verwunderte Publikum zu kümmern, das sich rasch gesammelt hatte, den winselnden Hund auf ihren Arm und eilte ihrer Wohnung zu.

Der Straßenschmutz, der an Waldmanns Füßen klebte, das Blut, das aus der verwundeten Vorderpfote troff, befleckte ihren hellen Regenmantel – sie beachtete es nicht, so wenig wie das Aufsehen, das sie erregte.

Die Mutter, welche Kartoffeln schälend in der offenen Küchenthür saß, sah sie mit ihrer Last die Treppe heraufkommen und schlug vor Erstaunen die Hände zusammen.

„Lieber Himmel, was für ein Aufzug! Grete, bist Du verrückt geworden? Der schöne Mantel! Was willst Du denn mit dem schmutzigen Köter?“

„Ein Pferd hat ihn geschlagen, um ein Haar wäre er überfahren worden. Er blutet, Mutter, wir müssen ihn verbinden.“

„So, müssen wir das? Ueber meine Schwelle kommt das Vieh nicht,“ rief Frau Meermann zornig. „Ich wohne nicht im Stalle. Was gehen Dich fremder Leute Hunde an? Wirklich, Grete, Du wirst alle Tage wunderlicher. Aber ein bißchen Rücksicht auf mich verlange ich denn doch!“

Grete wandte sich kurz zu Julius um, der an der Küchenthür lehnte, sehr guter Laune, denn in der vorigen Nacht hatte er beträchtlich gewonnen.

„Deinen Zimmerschlüssel, Julius!“

Aber er sträubte sich.

„Es ist Rövers Hund,“ sagte das Mädchen mit bebenden Lippen, und wie elektrisiert von dem Namen eilte Julius davon, um aufzuschließen.

„Du reibst Dich auf, Grete,“ flüsterte er leise der Schwester zu, die dem vierfüßigen Patienten auf des Bruders Bett ein Lager bereitete. „Glaube mir, Du nimmst es zu schwer.“

„Jeder nimmt’s eben, wie er kann. Hol’ eine Schale Wasser!“

Julius gehorchte, und Grete wusch dem Hunde sorglich den Schmutz und das Blut von der Pfote; sie zerriß eines ihrer [794] Taschentücher zu Streifen, um kalte Umschläge auf die verletzte Stelle zu legen. Es gewährte ihr eine eigene Genugthuung, Waldmann zu pflegen, liebkosend über das glänzend schwarze Fell zu streichen. Seltsame Wendung des Schicksals! Sie hatte Röver selbst hochmüthig von sich gewiesen und mußte es nun als Glück empfinden, daß sie sich seinem Hunde hilfreich erweisen durfte. Sie schleppte dem Verletzten Leckerbissen herbei, von denen er ab und zu etwas nahm; dann rollte er sich auf seinem weichen Lager zusammen und stieß nur von Zeit zu Zeit ein leises Wimmern aus.

Als Grete am Abend nach Schluß des Geschäfts zurückkehrte, fand sie den Hund bedeutend besser. Nachdem sie ihn vom Bette heruntergehoben hatte, fing er sogar an, in der Stube herumzuhumpeln. Und jetzt mußte sie an seinen Herrn denken, der jedenfalls in bekümmerter Sorge um den geliebten Kameraden war. Sie schlug den Hund in ein Tuch, nahm ihn auf den Arm und schlich sich scheu und vorsichtig durch die nächtlichen Straßen zu dem ihr so vertraut gewordenen Hofe. Von ihrem alten Lauscherposten aus sah sie Mutter und Sohn traurig um den Tisch des Wohnzimmers sitzen; Waldmann aber, seine Heimath erkennend, bellte laut auf. Schleunig setzte Grete ihn auf den Boden, denn sie bemerkte, wie sein Herr bei dem bekannten Tone aufsprang und ans Fenster eilte. Und dann entfloh sie, so rasch sie konnte.

Es war hohe Zeit gewesen, daß Waldmann sich wieder einstellte. Frau Röver, die ihren Empfindungen in Gegenwart des Sohnes sonst nicht gern die Zügel schießen ließ, konnte bei diesem neuen Mißgeschick ihre überquellende Bitterkeit nicht zurückhalten.

„Natürlich,“ fing sie an, „so mußte es kommen. Hattest noch eine Freude in der Welt, die konnte einem armen Menschen, wie Du bist, unmöglich bleiben. Irgend einer Deiner ‚guten‘ Bekannten wird sich’s gemerkt haben, wie sehr Du dem Waldmann zugethan bist, und knallt ihn weg oder ersäuft ihn – einer Deiner braven Freunde, die Dich nicht mehr grüßen, wenn sie Dir auf der Straße begegnen, wie der junge Meermann neulich!“

„Mutter, den Julius Meermann grüß’ ich nicht mehr. Und warum soll jemand absichtlich dem Hund ein Leid zugefügt haben? Er kann auch durch ein Ungefähr verunglückt sein. Für uns freilich bleibt’s dasselbe.“

Er war bei den Hundefängern gewesen, auf der Polizei, er hatte eine Anzeige ins Tageblatt aufgegeben – weiter konnte er nichts thun. Er klagte nicht, es war nicht seine Art. Aber er schob sachte das Abendbrot zurück, das seine Mutter ihm hingestellt hatte, und das zum ersten Male seit Jahren Waldmann nicht mit ihm theilen sollte.

„Wir müssen uns in Geduld fassen, Mutter,“ sagte er dabei mit wehmüthigem Lächeln.

Doch die alte Frau erwiderte unwirsch: „Gut, Du, wenn Du’s kannst. Bei mir wird die Ungeduld größer von Tag zu Tag.“

In diesem Augenblick bellte Waldmann vor dem Fenster und gleich nachher an der Hausthüre. Mit einem Sprunge war Anton an der Schwelle, um ihm zu öffnen.

„Da siehst Du’s, Mutter! Da ist er zurück, heil und unverletzt! Nein, nicht ganz. Er ist verwundet. Aber schau’ nur, ein barmherziger Mensch hat ihm die Pfote verbunden. – Still doch, Waldmann! – Ist’s nicht, als wollte er uns sein Abenteuer erzählen? Ja, ich möchte schon, daß Du mir den Namen Deines Wohlthäters nennen könntest, armer Kerl! Und was ist denn das? Trotz des Regens draußen sind ja seine Füße ganz trocken – er muß bis zu unserer Thür getragen worden sein.“

Daraufhin lief Frau Röver eilends hinaus und spähte auf den Hof und die Straße, aber nur der Regen rauschte und eilige Menschen hasteten im Schutze der Regenschirme durch die Nacht.

„Draußen ist niemand,“ berichtete sie kopfschüttelnd. „Wüßt’ auch nicht, wer uns ’was zuliebe thun sollte!“

Anton löste nachdenklich die bunt gemusterte Leinenbinde, die um den Fuß des Hundes gewickelt war – der Theil eines Taschentuches ohne Zweifel; er betrachtete den Streifen nach allen Seiten, ob nicht ein eingezeichnetes Monogramm ihn auf die Spur des unbekannten Freundes leiten konnte. Aber es fand sich nichts.

„Mußt Dir die Bitterkeit nicht über den Kopf wachsen lassen, Mütterchen,“ sagte er dann begütigend und faßte die Hand der alten Frau. „Waldmanns glückliche Wiederkehr nehm’ ich für ein Zeichen von guter Vorbedeutung; wer weiß, ob sich nicht auch das andere früher, als wir denken, zum Guten wendet.“

Frau Röver zuckte stumm die Achseln zu dieser Vertrauensseligkeit. –

Zwei Tage später wurde Röver zu seinem Chef gerufen.

„Es ist gekommen, wie ich Ihnen vorhergesagt habe, Röver. Ihre Ernte reift. Julius Meermann ist dringend verdächtig, Gelder seines Prinzipals unterschlagen zu haben. Wilson und Kompagnie haben selbst die Anzeige erstattet. Verfügen Sie sich sofort in die Wohnung Meermanns und halten Sie Haussuchung. Ist der Mann selbst anwesend, so verhaften Sie ihn. Und halten Sie die Augen offen, vielleicht fällt Ihnen irgend etwas in die Hände, was auf Ihre eigene Angelegenheit Bezug hat. Gehen Sie rücksichtslos vor und seien Sie meiner Unterstützung gewiß!“

Anton Röver wurde erst sehr roth, dann bleich; der Gedanke an Grete schoß blitzschnell durch sein Gehirn. Nun war er da, der erhoffte, ersehnte, durch zwei lange bittere Jahre hindurch ersehnte Augenblick, und doch war seine Empfindung keine freudige.

„Ich – ich soll – ich selbst –“ stammelte er.

Der Kommissar trat auf den Verwirrten zu und legte ihm die Hand auf die Schulter.

„Muth, Röver! Muth und Umsicht! Halten Sie sich wacker! Es freut mich, daß ich Ihnen diese Genugthuung bereiten kann. Es wird mich freuen, wenn es Ihnen gelingt, den letzten Verdacht von Ihrer Person abzustreifen, obgleich ich fürchte, dadurch einen zuverlässigen Beamten und Mitarbeiter zu verlieren. Denn ich sehe wohl, Sie fühlen sich nicht glücklich in Ihrem neuen Beruf und werden die erste Gelegenheit benutzen, uns den Rücken zu kehren. Doch nun gehen Sie und thun Sie Ihr Bestes!“

In tiefer Erregung verließ Anton Röver das Polizeigebäude. So sehr er entschlossen war, seine Pflicht zu erfüllen, sein eigenes gutes Recht mit Aufbietung aller Kräfte zu verfolgen und womöglich diesen Schurken zu entlarven – das bange Mitleid mit Grete hörte nicht auf, ihn zu foltern. Als er, den Verhaftsbefehl in der Tasche, begleitet von zwei Schutzleuten, die Treppe im Meermannschen Hause emporstieg, schlug ihm das Herz zum Zerspringen. Er klingelte an der Vortür, und Grete erschien, um zu öffnen.

Als sie Röver in Begleitung der Polizisten sah, wurde sie weiß wie die Wand und griff nach dem Thürpfosten, um sich zu halten.

Dem Manne schnürte heißes Mitleid das Herz zusammen, seine Stimme klang fast tonlos und seine düsteren Augen waren feucht, als er sagte:

„Fräulein Meermann, Sie werden entschuldigen – ich komme in einer traurigen Angelegenheit –“

Sie richtete sich gewaltsam auf und warf den Kopf in den Nacken. „Sie kommen in Ihrem Amte, Herr Röver. Thun Sie Ihre Pflicht, wie Sie müssen, nur –“ ihre Lippen zuckten und ihre Zähne schlugen leise aneinander – „nur, wenn Sie können, schonen Sie meine Mutter!“

Röver nickte zustimmend mit dem Kopfe. „Bereiten Sie sie vor! Wir folgen Ihnen auf dem Fuße.“

Am runden Tische in der Stube saß Frau Meermann mit zerrauftem Haare; sie hatte das Gesicht in die Hände vergraben und weinte und schrie. Vor wenigen Minuten war ihr Sohn ins Zimmer gestürzt, blaß, athemlos, mit weit aufgerissenen Augen. „Rettet mich! Rettet mich! Aus Barmherzigkeit – Geld, Geld zur Flucht! Sonst schleppen sie mich ins Zuchthaus!“ Sie hatte erst gar nicht verstanden, hatte gemeint, der Uebereifer in seinem Beruf habe seinen Geist umnachtet, aber Grete hatte entsetzt ausgerufen. „So bist Du wieder zum Diebe geworden?!“

„Wieder!“ – Nun wußte die Mutter, was auf ihrer Tochter gelastet hatte, wie tief ihr Abgott gefallen war; mit einem [795] Schrei war sie in sich zusammengesunken. Aber Grete hatte den Kopf oben behalten - sie war an den Schrank gestürzt, hatte dem Bruder das Geld aus der kleinen Kasse in die Hand gedrückt und ihn in seine Kammer geschoben. „Flieh’ – dort der Gang – – vielleicht ist’s noch möglich, daß Du entkommst! Wo nicht, verbirg Dich darin, bis die Gefahr vorüber ist.“ Julius war in dem düsteren Gange verschwunden, ohne Widerrede, ohne Dank, ohne Abschied, und hinter ihm hatte die Schwester aufathmend die Thüre geschlossen. Dann war draußen die Klingel gezogen worden –

„Mutter, Mutter!“ rief Grete, als sie jetzt der Polizei voraus ins Zimmer stürzte, „sei stark!“

Frau Meermann hob den Kopf, verstört die Tochter anstarrend, und da erschien auch schon Röver mit den Schutzleuten unter der offenen Thür. Die alte Frau brach bei seinem Anblick in ein wildes Lachen aus.

„Sie?! Sie! O, das ist ja schön, daß einer kommt, meinen Sohn fortzuschleppen, welcher selber – ein Dieb den anderen!“

„Mutter!“ fiel Grete ihr tödlich erschrocken ins Wort.

Röver aber that, als sehe und höre er nicht. Er drehte sich um und ertheilte seinen Untergebenen den Befehl zur Haussuchung so laut und rasch, daß seine Stimme die seiner Beleidigerin übertönte.

„Zeigen Sie mir das Zimmer Ihres Bruders!“ wandte er sich dann kurz an Grete.

Sie schritt ihm schweigend voran.

„Ist er zu Hause?“

„Ueberzeugen Sie sich!“

Röver trat in die Kammer – der erste Blick zeigte ihm, daß sie leer war; sein zweiter fiel auf den Schrank dem Eingang gegenüber, und erschrocken fuhr er sich an die Stirn. Daß er das hatte vergessen können - die geheime Treppe! Hastig stürzte er vorwärts. Da sah er Grete zusammenzucken, wanken; ihre Augen begegneten in tödlicher Angst den seinen, ihre Augen, die nicht lügen konnten. Seine Ahnung wurde zur Gewißheit, der Gesuchte mußte durch diesen Gang entflohen sein, wohl erst vor Minuten. Es galt die höchste Eile – – dennoch blieb er stehen wie gebannt. Wenn er die Pflicht preisgab um der Liebe willen, wenn der Beamte sich dessen nicht erinnerte, was dem Menschen bekannt war, wenn er dem geliebten Mädchen, das fast verging vor Angst und Beschämung, das Aeußerste ersparte - wer wollte ihm beweisen, daß er pflichtvergessen gehandelt habe! In seinen Schläfen hämmerte es, seine Pulse flogen.

Einer der Schutzleute erschien in der Thür. „In der Wohnung ist der saubere Vogel nicht, Herr Röver!“

Entschlossen wandte sich Röver nach ihm um; sein innerer Kampf war entschieden. „Durchforschen Sie das ganze Haus vom Keller bis zum Boden, und wenn Sie ihn dann nicht finden, erstatten Sie sofort die Anzeige davon am Bahnhof!“

Grete war’s, als drehe sich die Stube um sie. Was? Er kannte den Gang und schwieg, er ahnte, wußte, daß ihres Bruders Flucht auf diesem Wege erfolgt war, und verrieth ihn nicht! Der Mißhandelte wollte seinen Beleidiger nicht verderben! Er verletzte seine Pflicht, belastete sein Gewissen – für wen? für was? Für einen nichtsnutzigen herzlosen Buben, für eine vor Hochmuth unkluge Frau, für sie, die ihn verachtet, mißhandelt hatte?! Sie wollte es nicht! Es sollte nicht sein! Dieser Mann war ein Rasender in seiner heiligen Langmuth!

Die Hand auf seinen Arm legend, deutete sie nach dem Schranke. Sie überlegte nicht, sie dachte nicht, es trieb sie vorwärts mit übermächtiger Gewalt.

„Dort, hinter jener Thür befindet sich ein geheimer Gang! Lassen Sie dort nachsuchen!“

Sie hatte mit klingender Stimme gesprochen Der Schutzmann stürzte auf den Schrank zu, fand die Feder und verschwand auf der dunklen Treppe. Es war geschehen! – Die Schritte des Mannes verhallten, es ward totenstill um die beiden. Grete stand da, die Hände auf das Herz gepreßt, zitternd vor den Folgen ihrer That, doch ohne Reue; er sah sie an mit langem, düsterem Blicke. Endlich öffnete er die Lippen.

„Warum haben Sie das gethan?“

„Weil ich’s nicht dulde, daß Sie sich zu Grunde richten – für uns!“ Es lag eine grenzenlose Verachtung in der Betonung dieser zwei Worte. „Sie wollten schweigen ... leugnen Sie nicht! Ich sah’s, und darum redete ich.“

„– und verrathen Ihren Bruder, nur um mir nicht verpflichtet zu werden, nicht durch meine Hilfe die schwerste Stunde Ihres Lebens erleichtert zu wissen - o, ich kenne, ich verstehe Sie!“

Sie zog statt der Antwort ein zusammengefaltetes Papier aus der Tasche. „Nehmeu Sie! Es hat schwer auf mir gelastet, monatelang. Ich trag’s nicht länger, ich kann es nicht. Ich weiß, daß Julius Meermann der Dieb auch jener dreitausend Mark ist, derentwegen Sie verdächtigt wurden - hier, hier haben Sie den Beweis!“

Anton nahm betroffen den Zettel und faltete ihn auseinander. Die spurlos verschwundene Berechnung! Und sie – sie, seine Feindin, gab den Namen des geliebten Bruders preis, um den seinigen vom Makel zu befreien! Warum nur, warum? Sollte er sich getäuscht haben, sollte dennoch ihr Herz – Thorheit, es nur zu denken! Und doch – in der gleichen Sekunde fiel sein Blick auf das Muster des Taschentuchs, das Grete, in Thränen ausbrechend, vor die Augen preßte, und ein heißes Glücksgefühl durchzuckte ihn. Kein Zweifel mehr! Die ihm seinen ehrlichen Namen zurückgab, war auch die Freundin, die sich liebevoll seines verwundeten Hundes angenommen hatte!

„Fräulein Meermann,“ preßte er hervor, geblendet von der Erkenntniß, die plötzlich sonnenhell auf ihn eindrang, „haben Sie Dank, Dank für alles!“ Mit einem innigen Aufleuchten seiner dunklen Augen ergriff er ihre Hand.

In diesem Augenblick kehrte der Schutzmann zurück, ohne den Entflohenem. Julius war entkommen.

Es war ein fast hörbares Aufathmen, mit dem sich Röver zu seinem Untergebenen wandte. „Besorgen Sie die nöthigen Meldungen auf dem Bahnhof! Dem Chef werde ich selbst Bericht erstatten.“ Dann trat er zu dem jungen Mädchen.

„Leben Sie wohl, Fräulein Meermann,“ sagte er ernst. „Auf Wiedersehen!“

Sie antwortete nicht, sie hob nicht den Kopf. Sie hatte ihre Schuldigkeit gethan, er würde glücklich sein. Für sie selbst waren Glück und Hoffnung zu Ende. – –

An diesem Abend erkrankte Frau Meermann schwer und rang wochenlang zwischen Leben und Tod; Grete hatte Tag und Nacht zu schaffen und in ihrem Gemüth verdrängte eine Sorge die andere. Ins Geschäft war sie nicht mehr gegangen. Von der Außenwelt drang fast keine Kunde zu ihr. Ihre Mutter und sie hatten keine Freunde mehr, seit das Vergehen und die Flucht des Sohnes bekannt geworden waren, seit Röver unter der Beihilfe des Kommissars durch ein erneutes Gerichtsverfahren gläuzend gerechtfertigt und endgültig von dem auf ihm ruhenden schimpflichen Verdacht gereinigt worden war. Die Zeitungsnummer, die den Bericht darüber sammt einigen keineswegs schmeichelhaften Betrachtungen über den flüchtigen Dieb enthielt, bekam Grete von einem Ungenannten zugesandt; aber die Absicht, ihr damit wehzuthun, erreichte derselbe nicht. In ihr war es sehr still geworden.

Von ihrem Bruder verlautete nichts, er mußte jetzt längst in Sicherheit sein. Ihre Mutter genas. Was durfte sie darüber hinaus hoffen oder wünschen?

An dem Tage, an welchem der Arzt Frau Meermann außer Gefahr erklärt hatte, brachte ein Gärtnerbursche einen Veilchenstrauß für Grete; der ihn sandte, wünschte nicht genannt zu werden. Diese Gabe wiederholte sich alle zwei Tage, und Grete erröthete, wenn die Blumen gebracht wurden, jedesmal so tief, wie sie im Gedanken an ein Paar dunkler gefürchteter Augen zu erröthen pflegte.

„Gewiß von Märtens,“ sagte Frau Meermann, als sie wieder anfing, Interesse an ihrer Umgebung zu nehmen. „Das gefällt mir von dem jungen Manne, daß er gerade jetzt an Dich denkt.“

Grete mußte ein Lächeln unterdrücken. „Warum sollen die Blumen denn gerade von Märtens sein? Könnten wir nicht auch sonst noch einen Freund besitzen, der uns seine Treue in so zarter Weise beweisen will?“

Es war ein sonnenheller Sonntagmorgen. Grete hatte die Kammerfenster weit geöffnet, damit der Klang der Kirchenglocken [796] zu der Genesenden hereindringen könne. Die lag still da und schaute sinnend auf ihre abgemagerten Hände. Noch hatte sie den Namen des verlorenen Sohnes nicht wieder über ihre Lippen gebracht, aber mit der fortschreitenden Genesung begann ein Schimmer von Frieden sich über ihre gealterten Züge zu breiten. Die Tochter hatte die Wohnstube sauber aufgeräumt, das Veilchensträußchen auf dem Sofatisch zurecht gerückt und war im Begriff, zur Bereitung des bescheidenen Mahls hinauszugehen, als draußen die Vorthür ging, die sie nicht verschlossen hatte, und gleich darauf an die Zimmerthür gepocht wurde.

„Herein!“

„Guten Morgen, Fräulein Grete!“

„Herr Röver –“

Er war’s und doch ein anderer als früher, denn seine Lippen lächelten zuversichtlich, und ein Strahl tiefen Glückes leuchtete aus seinen Augen. Er eilte auf die Erröthende zu und faßte ihre beiden Hände.

„Sie haben einen neuen Menschen aus mir gemacht, Grete, und einen glücklichen. Allein der Erfolg macht übermüthig. Noch ist mein Glück nicht vollkommen, ich komme, zu holen, was daran fehlt.“

Grete blieb stumm. Sie wagte nicht, die Augen aufzuschlagen, und sie, die sonst so entschlossen war, zitterte vor scheuer Befangenheit.

„Vor Jahren,“ sprach er und sah den Veilchenstrauß auf dem Tische an, „träumte ich von einer geachteten Stellung in weiter Ferne, und wenn ich die gefunden hätte, dann wollte ich zurückkehren und vor ein geliebtes Mädchen treten, wollte sie bitten, mein Glück zu theilen, es erst vollkommen zu machen. Der erste Theil dieser Wünsche ist erfüllt. Ich habe den Polizeidienst aufgegeben und durch Verwendung meines früheren Chefs in einer großen Seestadt eine Anstellung gefunden, die meine kühnsten Erwartungen übertrifft. Und jetzt muß ich wohl oder übel versuchen, auch den zweiten Theil meines Programms zu verwirklichen. Grete – nur Dich habe ich lieb gehabt, solange ich denken kann! Willst Du mich begleiten? Willst Du mein Weib sein?“

Sie war sehr blaß geworden. „Ich verdiene es nicht –“ stammelte sie.

„Grete, hast Du mich lieb?“

„Nach dem Hohn und Schimpf, den ich Ihnen angethan habe – jetzt, jetzt, da wir arm sind, mit Schande bedeckt, da all unsere Freunde sich von uns wenden!“

„Hast Du mich lieb, Grete?“

Da warf sie sich erglühend in seine Arme und vergrub ihr Gesicht an seiner Brust. „O Du bester, gütigster der Menschen – nimm mich hin! Ich habe keinen Willen, keinen Stolz mehr vor Dir! Dir folge ich, wohin Du mich führst!“

*  *  *

Es geht Anton Röver gut in der neuen Heimath. Die Jahre, die er im Dienst der Polizei zubringen mußte, haben ihn gelehrt, mit Menschen umzugehen, und dadurch seinen Kenntnissen erst den rechten lebendigen Werth gegeben. Er arbeitet sich stetig empor zur Freude und zum Stolz seines alten Mütterchens, das nun endlich gute Tage genießt. Frau Meermann, sehr still und mild geworden, lebt bei ihm. Sie spricht wenig mehr von Rechtschaffenheit und Pflichttreue und niemals nennt sie den Namen ihres Sohnes. So oft jedoch ein Schiff aus entlegenen Welttheilen im Hafen gemeldet wird, wankt sie, auf ihren Stock gestützt, zur Landungsbrücke, um den ankommenden Fahrgästen ins Gesicht zu schauen. Sie sagt es nicht, aber tief im Herzen hegt sie unwandelbar die Hoffnung, daß eines Tages der verlorene Sohn, reuig und gebessert, in ihre Arme zurückkehren werde.

Grete ist eine glückliche Frau, eine glückliche Mutter. Wenn jemand das hübsche Aussehen ihres Erstgeborenen rühmt, streicht sie liebkosend über sein dichtes Haar und sagt mit besonderem Stolze: „Ja, ja – und er hat die Augen seines Vaters.“

Sie hat sie lieben gelernt, diese Augen.