Großstadtblumen
Großstadt-Blumen.
In ein Papiercouvert gepreßt, mit einem flüchtigen Wort von lieber Freundeshand, so sind sie mir damals ins Haus geflogen, die ersten Schneeglöckchen des Jahres aus dem Fallbrücker Walde ... Ein silbergrauer Nebel wogte um die Häuser Berlins; wenn er auf Sekunden zerriß, sah man den wolkendunklen Himmel oben und unten die hastig vorbeieilenden Menschen, die dem feuchten Dunst entrinnen wollten, dem Qualm, der ihnen wie tückisches Gift in die Lungen drang. Diese umschleierte, regenmüde, traurige Welt – stand sie wirklich dem Frühlinge offen, der doch nach dem Kalender heute seinen Einzug halten wollte? Ich hätte es vergessen und weiter verdrießlich an unerquicklicher Arbeit geschaffen, wenn von den Schneeglöckchen aus dem Fallbrücker Walde nicht goldenes, lenzkündendes Sonnenlicht ausgegangen wäre. Denn obgleich sie, zusammengedrückt und beschädigt, in der engen dunklen Hülle einen ganzen Tag lang unterwegs gewesen waren, hoben sie jetzt im Wasserglase doch die weißen Knospen empor, breiteten ihre Blätter behaglich aus und sandten würzigen Waldeshauch ins Zimmer hinein. Sie zauberten mit einem Schlage all das lenzfrohe Treiben und Werden draußen im Holz, das nun wie ein Dankgebet emporstieg, vor Augen, und ich sah plötzlich aus dunkler Moosdecke ihrer Tausende aufsprießen, lauter weiße Sterne, die mitten in kalter Winternacht vom Himmel auf die Erde gefallen waren. Und ich gab dem Kalender recht, der für heute Frühlingsanfang gemeldet hatte.
Eine Handvoll Blumen bewirkt so große Veränderung, und eine einzige, noch unerschlossene Knospe ruft mehr lyrische Gedanken hervor als alle Frauenschönheit der Welt. Den blasiertesten Großstädter versetzt es in helles Entzücken, wenn er auf einem zufälligen Spaziergange durch den märzlichen Park überall an Sträuchern und Bäumen die verheißungsvollen, grünen Pünktchen schimmern sieht – und weil er in entschuldbarer Unkenntnis des Pflanzenlebens nicht weiß, daß alle diese Triebe schon aus dem vorigen Herbst stammen, verkündet er, heimgekehrt, den aufhorchenden Seinen, daß die Knospen schon hervorkommen, daß es Frühling wird. Und von Stund an bereitet sich alles daheim auf kommende, schöne Tage vor, die ausgeschnittenen Kleider werden in die Garderobe gehängt, jeder Schnupfen, jede Erkältung gilt von nun an als Beweis für den Eintritt milderer Witterung. Nichts ist, das auch den gleichmütigsten, philiströsesten Menschen in eine so poetische Stimmung versetzen könnte, wie die Blume es vermag, sie gilt mit Fug für verkörperte Poesie, sie scheint keinen andern Zweck zu haben, als uns zu erfreuen und unser Herz zu rühren. Wer deshalb eine Anthologie von Liebesliedern herausgeben will, gleichgültig ob in einer europäischen oder in der Suahelisprache, der muß vor allen Dingen die Blumensprache verstehen, muß sich genaue Kenntnis der einheimischen Flora verschaffen. Denn die Dichter entnehmen seit Urzeiten ihre schönsten, üppigsten Bilder dem Pflanzenreiche und sind fast allzusehr geneigt, jede Naturschönheit ins Botanische zu übertragen. Die Sterne scheinen ihnen leuchtende Nachtviolen, der Mond eine Riesenpomeranze, eine Lotosblüte, die aus dunkler Knospe bricht. Sie verfahren instinktiv nach den Gesetzen der lyrischen Kunst, wenn sie immer und immer wieder auf die Blumen zurückbeziehen, was ihnen an Herzensereignissen begegnet; hier, auf einem Felde, daran niemand vorübergehen kann, ohne träumerisch oder mit leuchtenden Augen vor sich hinzulächeln, strömen ihnen in unerschöpflicher Fülle die Gleichnisse und Vorstellungen zu, in die sie abstakte Anschauungen übertragen müssen, um zum Herzen zu sprechen.
Die zärtliche Liebe der Menschheit zu den keuschesten und schönsten Geschöpfen der Natur wächst mit steigender Kultur und mit ihrer zunehmenden Seltenheit. Gerade wie der Städter, und in mancher Hinsicht auch nur der Städter unseres Jahrhunderts, eine fein entwickelte Empfindung für Naturschönheiten hat, die klärlicherweise dem Landbewohner abgeht, weil ihm diese Reize täglich vor Augen stehen, gerade so huldigt auch der Städter dem Blumenkult weit begeisterter als der Bruder Landwirt. Ihm ist im grauen Steinmeer jedes grüne Blatt und jede farbige Blüte ein Kleinod von unsäglicher Pracht, er kann vor hübschen Gartenanlagen, selbst vor schlichten Blumenläden, die nur Kakteen und Hyazinthenzwiebeln ausstellen, halbstundenlang bewundernd stehen bleiben. Er ist geneigt, einen unerhörten Luxus mit kostbaren und teuren Blumen zu treiben, er weiß, daß die lieben Menschenblumen, die holden Mädchen und Frauen, keine Verschwendung so gerne entschuldigen und so dankbar anerkennen wie diese. Die wahnsinnige Tulpenmanie, in der sich die holländischen Mynheers zur Zeit der höchsten finanziellen und politischen Blüte ihres Landes gefielen, in der sie es fertig [417] brachten, für eine einzige Tulpenzwiebel 13000 holl. Gulden zu zahlen, diese tolle Liebhaberei beruhte nur zum geringeren Teil auf öder Geldspekulation, man vergeudete im 17. Jahrhundert in barbarischer Weise, wofür man heute raffinierten, wenn auch ebenso vergänglichen Blumenluxus ersteht.
Von dem Millionär des Westends, der sich ohne Wintergarten und weite Gewächshäuser ungemütlich in seiner Nabobvilla fühlen würde, bis zu der kleinen Nähterin im Osten, die ihr Blumenbrettchen mit seinem blühenden und duftenden Reichtum so pflegt, daß es eine Lust für jeden ist, der hinaufschaut, sitzt die Liebe zur Blume in allen Herzen. Man muß es wissen, daß die blasse Armut darauf nicht verzichtet, einen Rosenstock, eine Fuchsie, eine „Blattpflanze“ in der dürftigen Stube zu haben, daß die erbärmlichste Spelunke in Berlin etwas Grünes, und sei es eine verkrüppelte Erbsen- oder Bohnenranke, im Scherben aufweisen kann. Man muß zugesehen haben, wie diese unter der Peitsche des Hungers und in übermenschlich harter, harter Arbeit vor der Zeit alt und grau gewordenen Arbeiterfrauen in der Markthalle um einen „Topp“ feilschen, darin irgend eine unglückliche Geranie oder Aster wuchert, wie sie mit zärtlicher Sorgfalt das „Blümken“ pflegen und aufziehen, welch kindliche Freude sie über jeden neuen Knospenansatz, jede sich erschließende Blüte, jedes frisch keimende Blatt empfinden. Wenn der Topf „eingeht“, so verursacht das fast so viel Kummer wie die Krankheit eines der zahlreich um Mutterns Füße herumkrabbelnden „Jöhren“, und ehe man sich entschließt, ihn wegzuwerfen, muß er völlig abgestorben, absolut „trocken“ sein. Die jammervollsten Stümpfe werden monatelang liebevoller noch als ihre blühenden Gefährten begossen und in die Morgensonne gestellt, und wenn sie sich dann doch noch einmal erholen – du lieber Gott, die Freude! Es ist gar nicht abzuschätzen, welchen unermeßlich hohen Wert die Blumen gerade in dieser Zeit der sozialen Gegensätze haben, sie, die beinahe das einzige Mittel sind, ins Herz der Aermsten einen Strahl reiner Lebensfreude zu senden. Diese auf Dachfirsten, an Hoffenstern, die nur im Juli dann und wann ein verlorener Sonnenstrahl bescheint, in Kellerlöchern und neben Schornsteinen angebrachten hängenden Gärten sind zehntausendmal mehr, als ein bloßer grüner Schmuck des steinernen Riesenlabyrinths; sie sind eine nie versiegende, reich fließende Quelle köstlicher Anregungen für das Gemüt der Armen und Bedrängten. Ihre Blumen sind ihr einziger Luxus ...
Hier wird die Blume, schmiegsam und gefällig, mit zum Proletarier, die Königin steigt von ihrem Thron herab und nimmt Knechtsgestalt an, hier entfaltet sie aber auch dafür ihren größten Segen, und hier scheint sie mir ungleich schöner als ihre vornehmen Schwestern in den modischen Blumenläden, in den prunkenden Vorgärten. Was hier Sache des Herzens, Liebe und innige Freundschaft ist, wird anderwärts leicht zur kühlen Höflichkeit, zu eitler Schaustellung oder zur kahlen Industrie. Die junge Braut, der ihr Verlobter zum Geburtstage ein wunderbares Geflecht der teuersten und seltensten exotischen Blüten schickt, mag dem Bräutigam noch so zugethan sein, das bietet ihr sein Geschenk nicht, was dem kleinen Fräulein in der Dachkammer seine heißgeliebte Topfparade Morgen für Morgen spenbet. Nur was uns ganz gehört, was wir selbst erworben oder aufgezogen haben, kann uns ganz glücklich machen. Nächstdem richtet sich der Wert einer Blumenspende nach der Persönlichkeit des Spenders, nach unserer Gesinnung für ihn und erst in letzter Reihe nach ihrer in Geldziffern auszudrückenden Kostbarkeit. Eine vertrocknete Grasnelke, die du plötzlich in irgend einem Gedichtbuche wiederfindest und die dir einen nie vergessenen Sommertag von neuem in blendender Klarheit vor Augen rückt – warum rührt sie dich und macht dich weinen, während du für die duftenden Prachtwerke, die man dir zum heutigen Ehrentage sandte, kaum mit einem flüchtigen Kopfnicken danktest?
Der Blumenkultur im Hause, die unseren Lieblingen nur von der Seite des Gemütes näher tritt, steht die industrielle gegenüber, die für den Markt arbeitet und in ihnen oft nur ein „Geschäft“ sieht wie in anderen Handelsartikeln. Ueber die zum Teil sehr großen Handelsgärtnereien Deutschlands und besonders seiner bedeutenderen Städte ist oft und viel geschrieben worden; wem es einmal vergönnt war, die gewaltigen Ländereien einer hervorragenden Erfurter [418] Firma, die Riesenanlagen der maßgebenden Berliner Großgärtnereien zu durchwandern, der wird Respekt bekommes haben vor der Entwicklung dieser Branche. Aber trotz des sinnverwirrenden, des berauschenden Eindrucks, den die Gigantenbeete besonders zur Rosenzeit machen, trotz der tausendfältigen, in tausend buntfarbigen Strahlen gebrochenen Schönheit dieser Blumenfelder – die Wirkung des einfachsten Hausgärtchens, darin die Liebe waltet, erreichen sie bei weitem nicht. Es ist ja das auch keineswegs ihre Absicht. Wer indessen den Dingen gern nachsinnt und sie gern in Beziehungen zu einander bringt, dem lösen sich bei solcher Gelegenheit manche, auch volkswirtschaftliche Rätsel. „Klein, aber mein“ – ist das nicht ungleich lockender und gewinnender als die Aussicht, mit Millionen zugleich Herr sein über ein Weltreich, in allen, in den intimsten Fragen des Lebens abzuhängen von dem Wollen und Wünschen der Hunderttausende neben mir?
Aus den großen, heimischen Blumenkulturen wandern die duftenden Erzeugnisse in die Bindereien, wo sie mit den Gaben der Ferne, den Rivierablüten, den italienischen Kindern der Flora, den phantastischen Luftorchideen Amerikas, deren majestätische Pracht man jetzt auch in unseren Gewächshäusern zu erzielen weiß, zusammentreffen. Jeder Blumenladen hat sein meist nach dem Hof zu gelegenes Nebenzimmer, wo oft wahrhafte Künstlerinnen ihres poetischen Amtes walten. Der Ruf einer Blumenhandlung hängt nicht sowohl von dem Material als von der Eleganz und bestechenden Schönheit, die sie auf die Form ihrer Gaben verwendet, ab, und der Geschmack des Publikums hat sich in wenigen Jahren so verfeinert, daß es unablässiger Anstrengungen bedarf, ihm zu genügen, den Nebenbuhlern zuvorzukommen. Die Blumenbinderin muß neben dem Auge des Malers den kundigen Blick der Geschäftsfrau besitzen; Gestalt und Farbe ihrer Schöpfungen wechseln noch schneller mit der rasch vergänglichen Mode als das Material selbst. In den hellen luftigen Räumen, die nicht selten auch Oberlicht empfangen und in vieler Hinsicht Ateliers ähneln, vergeht mehr Zeit über dem Prüfen und Kombinieren als über der eigentlichen Arbeit. Gilt es doch, solche Gebilde zu schaffen, deren Aussehen und deren Preis rasch Abnehmer herbeilocken, ein Blumenladen muß abends immer möglichst geräumt sein, denn sobald die empfindlichen Blumenkronblätter auch nur ein wenig zusammenschrumpfen, die auf Draht gestellten, schnell vertrocknenden Blüten leise das Haupt hängen lassen, ist es mit ihrer Verkaufsfähigkeit vorbei. Und dann ferner – wie große Rücksicht muß auf das Publikum gerade des Stadtteils genommen werden, in dem die Handlung sich befindet! Der kleinste, scheinbar unbedeutendste Mißgriff vernichtet schon ihre Existenz. Was im vornehmen Centrum der Berliner Friedrichstaße reißend abgeht, bleibt zehn Minuten weiter nördlich durchaus unverkäuflich, würde dort zum halben Preise sogar keinen einzigen Liebhaber finden; was im nördlichen Teil der Straße als beliebtestes Muster gilt, ist für den südlichen, wo das werkthätige, gewerbfleißige Kleinbürgertum sitzt, oft ein unbrauchbares Genre. O, diese Rosenhandlungen sind zumeist wahrlich nicht auf Rosen gebettet! So schwer es hält, sich einen gewissen Ruf zu erwerben, so leicht kann man ihn wieder verlieren, kein einziger Geschäftszweig ist ja mehr und ausschließlicher auf die sogenannte „Laufkundschaft“ angewiesen. Und oft genügt ein nicht ganz glücklicher Wechsel in der Auslage, eine Veränderung im Personal, um sogar die treuesten Abnehmer, die sich just an den Geschmack der Firma gewöhnt hatten, jählings und für immer zu verscheuchen. Blumen sind ein Luxus, ein verbreiteter Luxus, gewiß, aber die meisten Menschen werden auch anspruchsvoll, wenn sie sich als Verschwender empfinden.
Vor den mit erlesenem Geschmack herausgeputzten Blumenläden schwirren bis in die sinkende Nacht hinein ihre kleinen Konkurrenten über den Asphalt, den nicht zu große Auswahl bietenden Korb mit niedlichen Sträußchen im Arme. Sie sind sehr aufmerksam, sind unermüdlich, diese fliegenden Händler und Händlerinnen, und wo nur immer ein eleganter Herr mit seinem Dämchen daher gewandelt kommt, sind sie sicher zur Stelle und lassen sich nur mit Aufbietung ungewöhnlicher Energie abweisen. Ihr Gewerbe nährt sie zumeist redlich; die Straßenverkäufer zeichnen sich von den die öffentlichen Lokale und Gärten heimsuchenden durch Billigkeit und immer frische Ware aus, sie unterbieten sogar die Läden, und sie dürfen es getrost, denn die Stadt fordert keine Miete von ihnen; der Gärtner aber, der sie allmorgens versorgt, liefert seinen bewährteren Kunden „die Sträußken in Kommission“ billig genug. Und die junge Welt, die durch den regennassen, stürmischen Abend auf halbdunklem Wege zur Herzallerliebsten eilt – „er strahlte von deiner Augen Licht und glühte von deinen Küssen“ – opfert gern die vom Pferdebahngeld ersparten Nickel für ein paar Blüten. Sie sind krank und müde, scheint es, duftlos und tot – aber gemach, ihr werdet an ihrer Brust zu neuem, wenn auch kurzem Dasein erwarmen! Solch Blumentod, auch er ist schön und poesievoll wie das Blumenleben.