Gudrun am Meere
[164] Gudrun am Meere. (Zu dem Bilde S. 161.) Während das Nibelungenlied vornehmlich die Ufer des Rheins und der Donau zum Schauplatz hat, ist das andere große Volksepos des deutschen Mittelalters, das Gudrunlied, an den Ufern der Nordsee heimisch. Das rauhe Heldentum der nordischen Seekönige, die Romantik der Wikingerfahrten, auf denen der beständige Kampf mit den Tücken des Meeres die Kräfte stählte für die Kämpfe mit Speer und Schwert, finden in diesem Heldengesang ihre Verherrlichung. Für den Zauber, den diese von Meeresrauschen und Waffengeklirr durchtönte Sagenwelt der deutschen Nordseeküste auch in Süddeutschland auf die Volksphantasie geübt hat, ist es bezeichnend, daß gerade die sie behandelnden volkstümlichen Spielmannslieder von einem oberdeutschen Dichter zu solch einem größeren Epos verschmolzen wurden. Und von eigenem Reiz ist es, sich vorzustellen, wie inmitten der verfeinerten Kultur des Lebens auf den Schlössern und Burgen von Oesterreich und Schwaben manch zartem Edelfräulein das Herz erbebte, wenn der Mund des fahrenden Sängers von der Schmach der schönen Königstochter Gudrun erzählte, die als Gefangene im Normannenland, weil sie standhaft den Werbungen König Hartmuths trotzte, zu niedrigsten Magddiensten verurteilt ward und notdürftig gekleidet am Meeresstrand mit ihrer treuen Gefährtin Hildburg die Kleider des Hofgesinds waschen mußte, während der rauhe Nord eisig um ihre Glieder fuhr. Leekes Bild zeigt uns Gudrun, das stolze Königskind der Hegelingen, am letzten Tage ihrer Leidenszeit. Wie oft hat sie nicht trostlos und verzagt, während sie aufatmend von der rauhen Arbeit rastete, an dieser Stelle hinausgeblickt in die Ferne, aus welcher sie Hilfe erhofft! Jetzt leuchtet freudige Zuversicht in ihrem Blick; der Wundervogel hat ihr ja verkündet, daß ihre Mutter Hilde daheim ein Heer gerüstet hat und daß nunmehr auf stolzer Flotte die Freunde ihres Vaters herannahen, um dessen Tod zu rächen. Vergeblich war König Hettel den frechen Räubern seiner Tochter aus Normannenland nachgesetzt, in der Schlacht auf dem Wülpensand an der Scheldemündung hatte er der Uebermacht derselben erliegen müssen. Jahre sind vergangen seitdem, und Gudrun hat in ihrer Gefangenschaft nichts von dem Schicksal der Ihrigen gehört. Nun aber schlägt die Stunde der Erlösung. Der herbe Dienst als Wäscherin, den sie nun schon so lange hier unten am Klippenstrand mit Hildburg verrichtet, wird ihr jetzt zum Segen. Als Kundschafter nahen Herwig, Gudruns getreuer Anverlobter, und Ortwein, ihr Bruder, dem Ufer; sie werden die Wäscherinnen gewahr und rufen ihnen zu. Es ist eine der schönsten Scenen des Gudrunlieds, welche uns schildert, wie die ihrer Erniedrigung und Blöße sich schämende Königstochter von ihrem Bruder und von dem Mann ihrer Liebe staunend erkannt wird.