Heldenmuth deutscher Seeleute

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Textdaten
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Autor: Lorenz Brentano
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Titel: Heldenmuth deutscher Seeleute
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aus: Die Gartenlaube, Heft 38, S. 621, 622
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1872
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[621]
Heldenmuth deutscher Seeleute.


Von L. Brentano in Chicago.


Es war am 13. Juli, als ich in Havre das Hamburger Dampfschiff „Holsatia“ bestieg, um nach New-York zu reisen. Der Dampfer hatte zwei Tage vorher Hamburg verlassen und bei schönstem Wetter und spiegelglatter See die Fahrt bis nach Havre zurückgelegt. Die Passagiere befanden sich unter solchen Umständen fast alle ganz wohl und frei von Seekrankheit, so daß ein höchst heiteres Leben auf dem Schiffe herrscht. „Wir hatten eine wahre Vergnügungsfahrt, seit wir den deutschen Hafen verließen,“ erzählten die Passagiere von Hamburg den neuen Ankömmlingen, welche nach überwundenen Paß-, Zoll- und Octroischwierigkeiten, wie man sie nur in dem Lande der „großen Nation“ noch durchzumachen hat, aus Süddeutschland und der Schweiz durch Frankreich herbeigeeilt waren, um das in Havre anlegende Schiff zu erreichen. Da wehte sie stolz in französischen Gewässern und inmitten der großartigen Hafenbefestigung, jene deutsche Flagge, welche kurz zuvor zum ersten Male dem dritten deutschen Heere, welches im Laufe von kaum mehr als einem halben Jahrhundert in die Hauptstadt Frankreichs eingezogen, vorangetragen worden war, während von der Spitze des vordern Mastes das Sternenbanner die Bestimmung des Schiffes anzeigte; aber kein Hurrah begrüßte die Ankunft oder folgte der Abfahrt des Dampfers, wie es sonst in allen Hafenstädten der gebildeten Welt schöne Sitte ist. Nein! Die Träger der Civilisation standen still, stumm und mit giftigen Blicken auf den Dampfer schauend am Ufer, keinen Glückwunsch den in’s große Weltmeer Absegelnden nachrufend, so wie etwa die Wilden der Südseeinseln ein ankommendes oder abfahrendes Schiff betrachten mögen. „Zwei Sous“, heischte der wachthabende Douanier, von jedem an Bord zu verbringenden Gepäckstücke, und auf das „Warum?“ eines neugierigen Reisenden erfolgte die kühle Antwort: „Um Herrn Bismarck zu bezahlen!“ Wird wohl viele Zweisousstücke brauchen, um auch nur den millionsten Theil der Bismarck’schen und der Napoleon-Gambetta’schen Milliardchen zu bezahlen.

Endlich waren wir aus dem Hafen in’s Meer, in’s freie neutrale Meer gelangt. Das günstige Wetter, welches das Schiff von Hamburg durch den Canal hindurch begleitet hatte, schien ihm auf seinem weiteren Laufe folgen zu wollen. Die See war so ruhig, oft wirklich so spiegelglatt wie der Züricher See, die Bewegung des Schiffes eine so regel- und gleichmäßige, daß sie nur wenige etwas schwächlichere Körperconstitutionen angriff, und der Dampfer, nur von der Dampfkraft bewegt, lief in raschem Laufe durch das Meer, welches durch keine Wogen Widerstand bot. Unterdessen waren wir, auf dem neunundvierzigsten Grade nördlicher Breite fahrend, bis etwa zum dreißigsten Grade westlicher Länge gelangt, als sich am Morgen des 17. Juli eine „gute“ Brise, wie die Schiffer sagen, erhob. Der Wind blies lustig von Südwesten in die schwellenden Segel, und so, getrieben durch Dampf und Luft, durchschnitt der Dampfer mit gehöriger Schnelligkeit die Wogen. Allein bald vermehrte sich die Kraft des Windes in einer solchen Weise, daß Segel nach Segel eingezogen werden mußte, um für den kommenden Sturm das Schiff in den erforderlichen Vertheidigungszustand zu setzen, und es dauerte auch nicht lange, so erfüllte das Brausen eines höchst anständigen Sturmes die Luft und wühlte die unendliche Wassermasse auf, die nun das Schiff bald auf die Spitze hochgehender Wogen erhob, um es sofort wieder von dem Wogenberge in das Wogenthal hinabzusenden. Der Sturm wüthete die ganze Nacht hindurch, und obgleich die „Holsatia“, stolz und unbekümmert um das Toben des Windes, die ihm in rasender Eile entgegengetriebenen Wellen durchschnitt, war doch die Bewegung des Schiffes nicht eben angenehm, und besonders der durch das Emporheben der Schraube verursachte unregelmäßige Tact der Maschine war für das Ohr nichts weniger als lieblich. Wir waren, wie die Seeleute uns sagten, in einer Region angelangt, wo solche außerordentliche Luftbewegungen keineswegs zu den Seltenheiten gehörten, und wir mußten uns daher auf eine Fortdauer des stürmischen Wetters gefaßt machen.

Es war am Morgen des 18. Juli, als die „Holsatia“, welche in direct westlichem Curse steuerte, in südwestlicher Richtung eine Barke mit eingerefften Segeln kreuzen sah. In derselben Richtung, jedoch etwas weiter entfernt, wurde ein Fahrzeug bemerkbar, dessen Aussehen schon mit unbewaffnetem Auge erkennen ließ, daß es sich in einem theilweise mastlosen Zustande befand. Eine Untersuchung mit dem Fernrohre ergab denn auch, daß der Mittelmast gänzlich und an dem andern die Spitze fehlte, sowie daß das Schiff die Nothflagge (Union Ensign down) aufgezogen hatte. Sofort gab der wackere Capitain Bahrendt den Befehl, den Curs der „Holsatia“ zu ändern und näher zu dem verunglückten Schiffe, welches wie ein Spielball von den hochgehenden Wogen hin- und hergeschleudert wurde, zu steuern. Als man nahe genug gekommen war, wurden die Signalflaggen aufgezogen, welche die Frage enthielten, ob Hülfe begehrt werde. Das Schiff, welches als eine englische Barke erkannt wurde, signalisirte sofort, daß es Hülfe bedürfe, und nun wurde mit unglaublicher Schnelligkeit eines der Rettungsboote in Stand gesetzt, um den Schiffbrüchigen zu Hülfe zu kommen. Wird sie gelingen, diese Hülfe? werden unsere wackeren Theerjacken, welche eben sich bereit machen, ihr eigenes Leben in die Schanze zu schlagen, um den mit Tode ringenden Brüdern Beistand und Rettung zu bringen, wieder wohlbehalten und unversehrt zu uns zurückkehren? Dies waren die Fragen, welche sich die in ängstlicher Beklommenheit den Vorbereitungen zuschauenden Passagiere stellten. Aber schon wird das Boot, in welchem der vierte Officier, Eduard Schuster, mit dem zweiten Bootsmann Heinrich Schee nebst fünf Matrosen Platz genommen, herabgelassen und jetzt gilt es, die äußerste Vorsicht anzuwenden, um das Boot unversehrt vom Schiffe zu entfernen, und dazu mußte der Augenblick benutzt werden, in welchem eine Woge vom Schiffe zurückprallte, denn eine gerade herankommende Welle würde es unfehlbar an dem Dampfer zerschellt haben.

Athemlos und ängstlich folgten unsere Blicke dem hinabgleitenden Fahrzeuge, in welchem sieben Menschen dem Tode trotzten, um in heldenmüthigster Weise ihren gefährdeten Mitmenschen Beistand zu bringen, und mit welchen Gefühlen müssen erst die Schiffbrüchigen dieser Operation, deren Gelingen jedenfalls die Grundbedingung der Möglichkeit einer Rettung war, zugeschaut haben! Hatten sie doch Tags zuvor sehen müssen, wie eine Barke „Lucia“ seit dreißig Stunden in der Nähe des verunglückten Schiffes herumkreuzte und ein von ihr herabgelassenes Boot wie eine Eierschale zerschmettert wurde, und hatten sie doch selbst vergeblich versucht, eines ihrer eigenen Rettungsboote auszusetzen! Dieses hatte kaum das Wasser berührt, als es auch schon von dem empörten Meere umgestürzt wurde. Aber unser Boot, an dessen Steuerruder mit stolzer Ruhe der wackere Eduard Schuster stand, war von dem Bootsmanne Heinrich Schee bereits vom Dampfer abgestoßen und schwamm von vier Rudern bewegt seinem Ziele zu, jetzt hoch auf der Spitze einer Woge dahingetragen, jetzt wieder durch einen Berg von Wasser unseren Blicken entzogen.

Wir waren dem verunglückten Schiffe allmählich so nahe gekommen, daß wir mit bewaffnetem Auge die Mannschaft zählen konnten. Es waren fünfzehn Menschen, welche sich an die Verschanzung angeklammert hatten, während das Schiff von der Brandung bald auf die eine und bald auf die andere Seite geschleudert wurde. Endlich erblickten wir unser Boot, welches in der Entfernung wie eine Nußschale auf den Wogen aussah und welches nun dem Schiffe so nahe gekommen war, wie die eigene Sicherheit erlaubte, und so, daß die Mannschaft eine von der englischen Barke ausgeworfene Boje mit den darangeknüpften Tauen ergreifen konnte. Die Rettungsmannschaft war hinreichend mit Lebensrettern versehen, und diese wurden nun vermittelst der Taue von den Schiffbrüchigen herbeigezogen. Mit einem solchen Lebensretter um den Leib sprang zuerst der Schiffsjunge in das Meer und wurde zu dem Boote gezogen. Ihm folgten dann die Matrosen meistens zu Zwei und Zwei, bis endlich der Capitain zuletzt den Sprung in die Fluthen machte, nachdem er noch zuvor die Luken hatte öffnen lassen, um dem Wasser das Eindringen in das Schiff zu erleichtern und so das Sinken der Barke zu beschleunigen.

[622] Jetzt wurde das Signal zur Rückfahrt aufgezogen und das Boot steuerte, durch die kräftigen Ruderschläge der wackeren Matrosen bewegt, dem Dampfer entgegen, von dessen Fahnenstange die deutsche Reichsflagge in dem brausenden Winde flatterte, gleichsam andeutend, daß hier unter dem Schutze des deutschen Reiches und in seinem Namen eine edle und heldenmüthige Rettungsthat ausgeführt werde. Aber noch war die Gefahr nicht vorüber, noch waren Retter und Gerettete in der Gewalt der treulosen Elemente, gegen welche die Ersteren mit aller Geschicklichkeit und Kraft ankämpften. Der Dampfer wurde in einer Weise gesteuert, um dem Boote möglich zu machen, auf der Leeseite sich dem Schiffe zu nähern, welches durch seinen Curs dem Boote zugleich entgegenzukommen wußte. Alle Vorbereitungen zum Empfange der mit den Wogen kämpfenden Leute waren gemacht. Die Strickleiter nebst zahlreichen mit Schlingen versehenen Tauen hing über der Brüstung des Schiffes herab, ein Tau, zum Wurf bereit, war in der geübten Hand eines Matrosen, die Flaschenzüge zum Aufziehen des Bootes waren gerichtet, und mit klopfendem Herzen und ängstlichem Blicke beobachteten die Schiffsbewohner jede Bewegung des Bootes. Da erschien es eben auf der Spitze einer haushohen Welle, dann war es wieder hinabgetaucht in das Wogenthal und den Blicken entzogen; aber mochten auch die Wogen kommen, von welcher Seite sie wollten, dem scharfen Auge Eduard Schuster’s entging keine Bewegung des aufgeregten Meeres und mit kundiger Hand lenkte er das Steuerruder, so daß jedesmal die Welle der Spitze des Boots begegnete.

Eine volle Stunde dauerte der Kampf der Bootsmannschaft mit den hochgehenden Wogen, ehe es gelang, dem Dampfer nahe genug zu kommen, denn mehr als einmal, wenn die Zuschauer schon glaubten, daß der Sieg errungen sei, schleuderte eine heranbrausende Welle das Rettungsboot wieder weit zurück in seinem Laufe und der schon einmal zurückgelegte Raum mußte abermals durchrudert werden. Endlich kam das Boot vom Bug des Dampfers her an die Leeseite, und jetzt galt es die vereinigte Kunst und Anstrengung des Steuermannes und des Bootsmannes, das Boot vor dem Anprallen an den Dampfer und so vor Vernichtung zu bewahren. Und es gelang! Mit welcher Hast die geretteten Schiffbrüchigen die herabhängenden Taue um den Leib schlangen und dann die Strickleiter zu gewinnen suchten! Man brauchte nur dieses anzusehen und man konnte fühlen, was diese Armen seit vierundzwanzig Stunden gelitten hatten!

Unter dem lauten Hurrah der Passagiere stieg einer der Geretteten nach dem andern über die Verschanzung des Dampfers; ihnen folgten die Matrosen, und nun wurde das Boot, in welchem sich noch Lieutenant Schuster und Bootsmann Schee befanden, heraufgewunden und auch diese sprangen, herzlich und dankbar begrüßt, auf den Boden des sicheren Dampfers, der jetzt, als wäre nichts vorgefallen, ruhig seinen westlichen Curs wieder aufnahm, ruhig, denn kaum eine Stunde später ließ der Sturm, aus dessen Wuth deutsche Seemannstüchtigkeit fünfzehn Menschenleben gerettet hatte, nach, und schon am nächsten Tage war das Meer so glatt, wie ich es noch nie auf einer meiner Fahrten gesehen habe.

Mit welchen Gefühlen mag der Capitain von der britischen Bark „Lady Love“ noch einen Blick auf sein von den Wogen umhergeschleudertes, dem Untergang geweihtes Fahrzeug geworfen haben? Das Schiff war, mit Welschkorn geladen, von Montreal in Canada nach Liverpool bestimmt. Durch den Sturm war das Getreide auf die eine Seite des Schiffes geschoben und dadurch das Gleichgewicht zerstört worden. Die wüthende See schlug über Bord, und die einzige Rettung schien in dem Kappen der Masten zu liegen. Aber auch dieses Mittel half nicht, die Barke wieder aufzurichten. Die wüthende See ging über sie hinweg, drang in Cabine und Matrosenhaus, setzte die Nahrungsmittel unter Wasser und versperrte den Zugang zu dem Trinkwasser, so daß die armen Leute während achtundvierzig Stunden keinen Tropfen zu trinken und nur ein wenig Brod zu essen hatten. In diesem Zustande wurden sie aufgefunden. Durchnäßt wurden sie aus dem Meere gezogen und in das Boot aufgenommen, wo sie stundenlang verbringen mußten, naß, hungrig, durstig, immer noch in Lebensgefahr schwebend, von einem kalt und schneidend blasenden Winde durchschauert und mehrmals von einem heftigen Regen überschüttet, bis sie endlich ihren Fuß auf den sicheren Boden des Dampfers gesetzt hatten. Der Capitain der „Holsatia“ ließ in liberalster Weise den Schiffbrüchigen deutsche Gastfreundschaft zu Theil werden, und die Passagiere thaten auch das Ihrige, um diese Unglücklichen mit dem Nöthigsten zu versehen. Den wackeren Männern aber, welche ihr Leben so muthig daran wagten, ihren schiffbrüchigen Brüdern Hülfe und Rettung zu bringen, und die durch ihren Heldenmuth die dreifarbige Flagge ehrten, welche ihnen bei ihrem Rettungswerke aufmunternd zuwehte, ein anerkennendes Denkmal in allen denjenigen Theilen des Erdenrundes zu setzen, wohin die Gartenlaube gelangt, das war die Absicht des Verfassers dieser Zeilen.