Helene

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Autor: Emilie Tegtmeyer
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Titel: Helene
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aus: Die Gartenlaube, Heft 37–46, S. 613–616, 629–632, 645–648, 661–666, 681–686, 697–700, 713–716, 729–732, 762–764, 779–780
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[613]

Helene.

Tagebuchblätter aus dem russischen Salonleben.
Woronesch, den 26. September 186–.

Seit zwei Tagen sind wir in Woronesch, und jetzt erst finde ich einen Augenblick der Ruhe und des Alleinseins. In solcher Verwirrung sind diese Tage dahingeschwunden, und so viel ungemüthliche Stunden liegen zwischen dem Morgen unserer Abreise und jetzt – dem trüben, kalten Septembermorgen und dieser stillen Abendstunde, daß es mir fast unglaublich erscheint, nur fünf Tage seien vergangen, seit wir Selo-Lazowoskaja verlassen haben, unser schönes Selo-Lazowoskaja mit seinen weiten Gärten, romantischen Bergabhängen, durch welche sich der Oskol gleich einem Silberbande hinschlängelt, und seinen dichten Wäldern. Nicht ohne einen Anflug von Wehmuth sah ich die weißen Säulen des Portals zwischen den herbstlich gefärbten Bäumen verschwinden und sagte in meinem Herzen dem schönen Landsitze Lebewohl – vielleicht für immer. Hat doch die Pracht seiner Umgebungen oft mein Herz getröstet und erquickt, wenn das Gefühl der Vereinsamung es zu überwältigen drohte. Das sind nun für ein deutsches Herz die unvermeidlichen Empfindungen beim Scheiden, und wenn sie auch nur einem Aufenthalte gelten, dem der kurze Zeitabschnitt eines Sommers in den Erinnerungen unseres Lebens seine Stätte angewiesen hat.

Woronesch, wenn es auch im Entferntesten nicht mit Moskau oder Petersburg verglichen werden kann, ist doch eine Gouvernementshauptstadt, in der man unter Menschen lebt und wo hoffentlich auch dem Geiste einige Anregung und Erfrischung zu Theil wird.

Iwan Alexandrowitsch Branikow war schon mehrere Tage vor uns abgereist, um in Woronesch einige Vorbereitungen zum Empfange seiner Familie zu treffen. Trotzdem herrscht noch in allen Räumen des weitläufigen Hauses die unbeschreiblichste Verwirrung, und an Ordnung ist nirgends zu denken. Zum Theil wird dieser Zustand allerdings dadurch hervorgerufen, daß in Folge eines an ihn gerichteten Ersuchens unser Gebieter seinen großen Saal zu dem officiellen Diner hergeliehen hat, welches morgen in Veranlassung eines hohen Kirchenfestes dem Gouverneur gegeben werden soll. Angenehm ist diese Unruhe aber keineswegs. Man hat mir noch nicht einmal mein Zimmer angewiesen, und mit Mühe nur konnte ich mir ein stilles Plätzchen erobern, um diesen Blättern, meiner einzigen Zuflucht in einsamen Stunden, die Erlebnisse der letzten Tage hinzuzufügen. Habe ich doch, alleinstehend unter so Vielen, keinen Vertrauten außer ihnen. Mögen sie denn einst nach Jahren mir ein Spiegel meines jetzigen bewegten Leben sein oder, wenn ich nie in die deutsche Heimath zurückkehren sollte, ein Vermächtniß an meine Geschwister, ein Andenken an die Schwester, die fern von ihnen im Herzen von Rußland den ernsten Kampf mit dem Leben und dem Schicksale kämpft.

Voll Spannung sehe ich der Ankunft unserer neuen Gouvernante entgegen, welche man täglich erwartet. Sie ist eine Russin. Wie schade, daß es nicht eine Deutsche sein konnte! Jedenfalls werde ich ihr freundlich entgegenkommen und suchen, ein gutes Verhältniß unter uns anzubahnen. Gebietet doch schon die Klugheit, daß die Gouvernante und die Gesellschaftsdame eines Hauses wenigstens keine Gegnerinnen sind.

Für heute bin ich zu müde, um noch ein Wort schreiben zu können.


Den 28. September.

Gestern sind wir ausgefahren, um die Procession des Kirchenfestes zu sehen. Es war der Einzug der Mutter Gottes von Kursk, welche zum Besuche bei uns einkehrte. Ich weiß nicht, ob ich je so viele Menschen durcheinander wogend gesehen habe. Begleitet von dem Geläute sämmtlicher Glocken der Stadt, zog der bunte, glänzende Zug an uns vorüber; der Gouverneur und der Gouvernementsmarschall trugen die Mutter Gottes, ein plumpes Holzbild. Ich war von Musik, Glockenläuten und Volksgeschrei vollkommen betäubt, hatte aber doch die Genugthuung, in dem Gewühle von Tausenden fremder Gesichter wenigstens ein bekanntes zu entdecken. Es war dasjenige des jungen Husarenrittmeisters Constantin Feodorowitsch Adrianoff. Während einiger Wochen des Sommers, da ihn eine Dienstangelegenheit in die Nähe von Selo-Lazowoskaja brachte, war er daselbst ein häufiger Gast und versprach, die angeknüpfte Bekanntschaft in Woronesch fortzusetzen. Sehen wir, ob er Wort halten wird.

Madame Branikow hat heute definitiv ihre Zimmer bezogen, die sich im ersten Stock des alten weitläufig gebauten Hauses befinden, welches der Familie Branikow als Winterresidenz dient. Was Eleganz und Comfort anbetrifft, so läßt die ganze Einrichtung nichts zu wünschen übrig. Es herrscht in den Wohnräumen ein solcher Reichthum an Divans, an Polstern und Teppichen, an Spiegeln, Gemälden und anderen Kunstsachen, daß Alles zusammengenommen sicher den Eindruck von Ueberladung machen würde, wenn nicht eben das Ganze mit ausgezeichnetem Geschmacke arrangirt wäre. Im zweiten Stocke sind die Schlaf- und Toilettenzimmer, das Arbeitszimmer unseres Gebieters Iwan Alexandrowitsch Branikow, das Reich der Kinder, der Gouvernante, der Bonnen und Zofen. In diesen Regionen wird sich, so Gott will, auch endlich ein bescheidener [614] Raum für mich finden. Bisjetzt werden noch verschiedene Gemächer neu tapezirt, und ich sehe mich deshalb provisorisch in irgend einem Winkel untergebracht, in welchem ich mich höchst ungemüthlich fühle.


Den 3. October.

Heute nach dem Frühstücke war ich mit Madame ausgefahren, um verschiedene Besuche und Besorgungen zu machen. Bei unserer Rückkehr, als mein Mädchen kaum Zeit gefunden, mir Hut und Mantel abzunehmen, verkündete sie mir augenblicklich die große Mähr, daß vor einer Stunde die erwartete Gouvernante angekommen sei. Sie selbst habe nur durch eine Thürritze den Zipfel ihres Kleides gesehen, aber Wassili, der ihr aus den Wagen geholfen und sie nach oben geführt, habe gesagt, sie sei häßlich und unfreundlich.

Ich wies Masche mit ihrer entschieden dargelegten Neigung, sogleich meine neue Hausgenossin nach Herzenslust bei mir zu verklatschen, ab, nichtsdestoweniger war meine eigene Neugier stark genug, mich rasch in den Salon zu treiben, der unmittelbar an Zenaïde Petrowna’s Privatzimmer stößt und so groß ist, daß eine ganze Gesellschaft bequem Verstecken darin spielen könnte. Ich bemerkte sogleich die neu Angekommene, welche bereits unserer Gebieterin daselbst gegenüberstand, und auf den ersten Blick fühlte ich Neigung, Wassili Recht zu geben.

Die Gouvernante erschien mir häßlich. Sie ist kaum mittlerer Größe, und zu der hohen, eleganten Gestalt Madame Branikow’s bildete die ihrige einen entschieden unvortheilhaften Contrast. Ein dunkler Teint und sehr unregelmäßige Züge berührten mein Auge nichts weniger als angenehm, aber ich entdeckte zu gleicher Zeit, daß die Fremde prachtvolles schwarzes und sehr geschmackvoll geordnetes Haar und wundervolle Zähne besitzt.

„Kommen Sie!“ rief die Herrin des Hauses mir winkend. „Hier sehen Sie Olga Nikolajewna, unsere Gouvernante. Mademoiselle Helene, meine deutsche Gesellschafterin.“ Sie begleitete ihre Vorstellung mit einer leichten Handbewegung, und in demselben Augenblicke schlug die junge Dame ihre Augen zu mir auf. Sie sind vom intensivsten Blau, aber der erste Blick aus denselben, der rasch wie ein Blitz und prüfend über mich hinflog, übte eine durchaus erkältende Wirkung auf mich aus und hielt das warme „Willkommen“ zurück, welches mir bereits auf der Lippe geschwebt. Wir sagten uns gegenseitig einige höfliche Worte, und obgleich die ganze Vorstellung nur wenige Minuten in Anspruch genommen, schien sie Zenaïde Petrowna bereits zu lange zu dauern, der Falte nach zu urtheilen, welche plötzlich ihre hochgeschwungenen Brauen und ihre weiße Stirn leicht zusammenzog.

„Bitte, Helene,“ sagte sie, „führen Sie Mademoiselle zu Juliette und Alexandra, damit sie sich mit ihnen bekannt macht. Ich bin zu angegriffen, um noch einen Schritt gehen und ein Wort sprechen zu können.“

Wie zur Bestätigung des Gesagten ließ die Dame sich in einen großen weichen Lehnsessel nieder, den ihre bauschende Seidenrobe allerdings vollkommen ausfüllte.

„Eilen Sie, Helene, und kommen Sie bald zurück!“ fügte sie mit einem müden Augenaufschlage hinzu. „Sie können mir noch vor dem Diner die neue Phantasie von Chopin vorspielen.“

Zenaïde Petrowna Branikow liebt es nicht, zu warten, ich entledigte mich also möglichst rasch meines Auftrages und mußte aus demselben Grunde für jetzt darauf verzichten, meine Bekanntschaft mit Olga Nikolajewna weiter auszuspinnen, obgleich mich die Art und Weise tief innerlichst empörte, in der man sie gleichsam den Kindern zuschob, deren Lehrerin und Erzieherin sie künftig sein wird.

Es bedurfte einer wirklichen Anstrengung für mich, die rebellischen Empfindungen, durch solche Reflexionen in mir wachgerufen, wieder niederzukämpfen. Fand Madame in ihrer Ungeduld, die Phantasie zu hören, doch nicht einmal Zeit, sich bei meiner Rückkehr nach dem Verlaufe der ersten Begegnung ihrer Kinder mit der neuen Lehrerin zu erkundigen. Ich setzte mich an den Flügel und – Dank dir, heilige Kunst! Welche zugleich beruhigende, versöhnende und erhebende Kraft liegt doch in der Musik! Bildet sie nicht eine Brücke, um die verschiedensten Charaktere, momentan wenigstens, in gleicher Freude, gleichem Interesse zu verbinden?

Madame Branikow zeigt sich niemals so liebenswürdig, als wenn ich gespielt habe, und ich vergesse niemals so sehr, was mich an ihr verletzt, als wenn wir über Musik plaudern. Es fehlt ihr weder an musikalischem Verständniß noch Geschmack, und ich glaube, sie würde es selbst zu bedeutender Fertigkeit im Vortrage gebracht haben, wenn ihre Trägheit ihr erlaubt hätte, dem Talente, welches sie besitzt, durch Fleiß und Uebung zu Hülfe zu kommen. Bin ich doch überzeugt, daß sie es schon für eine weit bedeutendere Anstrengung ihrerseits hält, einem Musikstücke mit Aufmerksamkeit zu folgen, als für mich, es vorzutragen. Doch still, Helene, keine Spöttereien! Ist deiner Gebieterin vorzuspielen denn nicht deine angenehmste Pflicht? Ja, gewiß – und zwar eine weit angenehmere, als in Deutschland das harte Brod einer Musiklehrerin zu essen, deren Ohr den lieben, langen Tag von den Etuden und falschen Accorden ihrer Schülerinnen zerrissen wird.

Madame sagte mir heute, daß sie versuchen wird, einen Violin- und einen Violoncellspieler zu engagiren, mit denen ich wöchentlich einen Abend gemeinschaftlich musiciren soll. Darauf freue ich mich und denke, es soll recht hübsch werden.


Den 5. October.

Warum wird es mir nur so schwer, mich an ein neues Gesicht zu gewöhnen, mich anzuschließen, wenn ich es doch möchte! Gestern Abend war ich entzückt von Olga Nikolajewna. Sie besitzt eine eminente Unterhaltungsgabe und amüsirte uns so gut beim Thee, indem sie mit sprudelndem Humor ihre Reise-Abenteuer und ihr früheres Leben schilderte, daß Iwan Alexandrowitsch fast nicht aus dem Lachen herauskam und unsere Gebieterin sich so animirt zeigte, wie ich sie noch nie gesehen habe. Heute, da ich beim Lichte des neuen Morgens kühl über ihr Benehmen nachdenke, scheint es mir unweiblich und herzlos. Die Personen, deren Eigenthümlichkeiten und Schwächen sie ohne Schonung durch ihre witzigen Bemerkungen geißelte, sind eben die, mit denen sie bis vor Kurzem unter einem Dache gelebt, Freude und Leid getheilt hat. Das gefällt mir nicht, und ich werde Mühe haben, ihr ohne Zwang heute entgegen zu treten. Es ist und bleibt eine unbequeme Schwäche meines Charakters, daß es mir immer wieder fast unmöglich ist, meine Gedanken über die Menschen ein wenig hinter einer verbindlichen Außenseite zu verbergen. Warum nur kann ich ihr Thun und Treiben nicht gleichgültig und lächelnd ohne scharfe Kritik im Innern an mir vorübergehen lassen? Olga war in ihrer Lebendigkeit fast schön. Ich will mich bemühen, in dem Gedanken, daß sie eine Russin ist, ihr Benehmen von gestern milder zu beurtheilen. Vielleicht lernen wir uns noch verstehen.


Den 8. October.

Gestern machte uns Constantin Feodorowitsch einen Besuch mit seiner Mutter, der Generalin Adrianoff. Es war eine große Aufmerksamkeit, daß die feine, stolze Dame zuerst zu uns kam. Sollte ihr Sohn sie dazu veranlaßt haben? Er erzählte mir wieder von seiner Schwester, die er leidenschaftlich zu lieben scheint. Wie er versichert, ist sie sehr musikalisch und wünscht nach der Rückkehr von ihrer Reise mit mir vierhändig zu spielen. Wie gern erkläre ich mich bereit dazu!

Den 12. October.

Wunderbar! Seit gestern wandle ich in einem Zustande träumenden Nachsinnens umher, in meiner Einbildungskraft die Befestigung eines Bildes suchend, das ich nicht finden kann. Wo im Leben habe ich nur jene dunkeln, brennenden Augen schon einmal gesehen? Unaufhörlich verfolgt mich seit gestern ihr glühender Blick, und wenn ich mir hundertmal wiederholt, es sei eine Täuschung, eine Unmöglichkeit, daß er schon je dem meinigen begegnete, so ertappe ich mich im nächsten Augenblicke wieder auf dem unfruchtbaren Bemühen alle meine Erinnerungen zu durchstöbern nach dem Besitzer der schönsten schwarzen Augen, welche die meinigen noch erblickt haben und welche mir trotz aller Vernunftgründe wunderbar bekannt vorkommen.

Iwan Alexandrowitsch nahm gestern Olga und mich mit in’s Theater, da seine Gemahlin zu träge war, um ihn zu begleiten. Eine herumziehende Truppe gab Vorstellungen, die natürlich nur sehr mittelmäßig ausfielen, zudem ist das Theater klein und schmutzig, aber es war doch einmal wieder ein Theater, und die Musik, welche die Zwischenacte ausfüllte, gewährte durch [615] ihre Vortrefflichkeit einen wirklichen Genuß, so daß ich ihr, wie leicht begreiflich, mein Interesse weit mehr zuwendete, als der Vorstellung selbst.

Den Platz vor dem Dirigentenpulte nahm ein schlanker, junger Mann ein, von dessen Antlitz, da wir in einer Seitenloge saßen, mitunter eine scharf geschnittene Profillinie mir sichtbar ward; im Uebrigen sah ich von seinem Kopfe nur eine etwas regellos zurückgeworfene Masse schwarzen Haares. Es gab trotzdem etwas in der Erscheinung dieses Mannes, das meine Blicke unwillkürlich anzog. Vielleicht war es der Eifer, mit dem er die Töne zu leiten, gleichsam zu beherrschen schien.

Ich saß in mich selber verloren, aufhorchend, als plötzlich – giebt es wohl eine geheimnißvolle, unsichtbare Gewalt, welche die Gedanken zweier Menschen zwingt, einander zu begegnen, ihre Seelen gleichsam, sich zu antworten? – als plötzlich, da die Schlußaccorde des Tonstückes verrauschten, der Capellmeister sich jäh umwandte, und uns sein bleiches, ausdrucksvolles Gesicht voll zukehrte. In dem Moment war es, wo die dunkelglühenden Augen sich zum ersten Male auf mich richteten, wie blitzschnell eine überraschte Frage in ihnen aufleuchtete. Oder sollte das nur eine Täuschung meiner eigenen erregten Phantasie gewesen sein? Sah ich etwa nicht deutlich, wie die schwarzen Brauen sich zusammenzogen, als wolle ihr Besitzer, schärfer sehend, zugleich seine Erinnerungen wecken? Bis in’s innerste Herz erschrocken verbarg ich das Gesicht hinter meinem Fächer und wagte erst später im Laufe des Abends, als das langweilige französische Lustspiel unsere Aufmerksamkeit eben nicht zu sehr fesselte, eine Frage an unsern Gebieter, um mich über die Persönlichkeit des interessanten Musikers zu orientiren.

Ueber Iwan Alexandrowitsch’s Gesicht lief ein breites Lächeln. „Ei, ei, mademoiselle Hélène,“ sagte er und drehte wohlgefällig seinen glänzend gewichsten Schnurrbart, „nehmen Sie sich in Acht! Dieser Regimentscapellmeister ist ein Teufelskerl, der allen Frauenzimmern die Köpfe verdreht. Diverse Ehemänner und Mütter in Woronesch wissen davon ein Lied zu singen, und Madame Adrianoff nicht am wenigsten.“

Selbstverständlich war mir nach der Erwiderung die Lust am Fragen vergangen. Zum zweiten Male erschreckt und in Verlegenheit gesetzt, zog ich mich in den Hintergrund der Loge zurück, aber es erregte mir eine äußerst widerwärtige Empfindung, Olga Nikolajewna zu sehen, wie sie mit ganz unverhülltem Interesse zu dem jungen Musiker hinüberlorgnettirte und dann unserem Gebieter eine Bemerkung zuflüsterte, die einen kaum zu unterdrückenden Ausbruch der Heiterkeit bei ihm hervorrief.

Ob sich ein leidlich freundliches Verhältniß zwischen der Gouvernante und mir entwickeln wird, ist mir überhaupt in den letzten Tagen mehr als zweifelhaft geworden. Es handelte sich endlich um ein paar Zimmer für uns, das eine, im ersten Stock, groß, hell und freundlich decorirt, mit breiten Fenstern nach der Straße, das andere, eine Treppe höher, mit niedriger Decke, schmutzigen, weiß getünchten Wänden und kleinen Scheiben. Ich überließ sofort das Erstere an Olga, da ich zu bemerken glaubte, wie sehr sie dessen Besitz erstrebte, und wartete geduldig, bis man in das zweite eine mäßig hübsche Tapete geklebt hatte. Dann stellte ich meine Toilette mit rosa Umhang hinein, ebenso mein Sopha mit Tisch und Teppich und einen Schirm mit rosafarbigem Bezuge vor mein Bett. Ich hing meine Bilder auf und über der Kommode ein Regal mit meinen hübschesten Büchern, dann Gardinen, und siehe da – es war das wohnlichste kleine Stübchen. Als Olga kam, mich zu besuchen, gerieth sie außer sich vor Erstaunen, fand ihr eigenes Zimmer abscheulich, wollte es nicht mehr sehen und durchaus mit mir tauschen. Natürlich behandelte ich letzteres Verlangen als Scherz, gewann aber in mir doch die Ueberzeugung, daß sich mit einem so launenhaften Wesen nicht leicht werde leben lassen.

Wir haben in dieser Zeit so viele Besuche empfangen und gemacht oder Karten abgegeben, daß mir von all den fremden Namen und Gesichtern ganz wirbelig geworden ist.

Auf übermorgen zum Thee hat Madame Branikow viel Besuch eingeladen, auch die Adrianoff’s. Es soll musicirt werden. Der Violin und Violoncellspieler sind engagirt, und ich übe verschiedene Trios dazu ein, darunter ein großes, sehr schweres von Hummel. Ein wenig ängstigt mich doch der Gedanke an dieses Vorspielen im größeren Kreise.


Den 15. October.

Gestern war unser erster Musikabend. Blamirt habe ich mich wenigstens nicht, und das Zusammenspiel gewährte mir unendliches Vergnügen. Madame Branikow’s schöne Empfangzimmer strahlten im Glanze von Lichtern und Blumen. Ihre Ausschmückung mit Letzteren und vielen immergrünen Gewächsen durch den Gärtner hatte ich selbst geleitet. Es machte mir Freude, und als ich dann vor Ankunft der Gäste durch die prächtig glänzenden Räume ging, erschien mir Alles fast wie ein bunter Traum aus „Tausend und eine Nacht“.

Die Gestalt in bauschender, grauer Seidenrobe, einfach aber doch elegant, die mir aus einem der hohen Spiegel entgegenschaute – war das wirklich ich selbst? Ich, Helene Heimreich, die vor noch nicht allzu viel Jahren als kleines Schulmädchen in der Einsamkeit meiner ländlichen deutschen Heimath durch Wald und Flur gestreift war, ohne eine Ahnung von dem halb orientalischen, märchenhaft üppigen Luxus, inmitten dessen ich mich jetzt, aus meinem Nachsinnen erwachend, wiederfand? Zenaïde Petrowna empfing ihre Gäste in starrend schwerer kaukasischer Seide und mit lächelnder Anmuth. Sie war wirklich schön, da sie endlich einmal ihre Trägheit abstreifte und die kohlschwarzen Augen glänzend ihr bleiches Antlitz belebten.

Nach der glücklichen Beedigung meines ersten Trio war ich eben beschäftigt, den Dienern Befehl zum Serviren von Eis und eingemachten Früchten zu geben, als plötzlich mein Ohr eine Bewegung am Eingange des Salons vernahm. Die Adrianoff’s waren noch nicht gekommen – sollten vielleicht sie es sein, die jetzt eintraten? Ich beeilte mich, zu meiner Gebieterin zurückzukehren, und schloß im nächsten Augenblick wie geblendet die Augen, um sie dann, von Interesse erfüllt, nur um so weiter zu öffnen.

Neben Madame Branikow stand eine junge Dame, wie ich sie von so hinreißender Schönheit noch nicht glaubte gesehen zu haben. Groß und schlank, den in den Formen einer Juno gemeißelte Oberkörper leicht und graziös auf den Hüften wiegend, das anmuthig zurückgebogene Haupt von dem prachtvollsten, goldblonden Haar in Flechten und zwanglos herabfallenden Locken umrahmt, stand sie und lauschte mit liebenswürdigem Lächeln auf die vielen verbindlichen und schönen Dinge, die ihr von allen Seite über ihre Rückkehr gesagt wurden. Die feinen Lippen lächelten, und doch schien es mir, als läge über dem entzückend lieblichen Antlitze neben allem Schmelz und Zauber der ersten Jugendblüthe ein leiser, leiser Hauch von Sentimentalität und in den großen rehbraunen Augen ein kaum bemerkbarer Zug von Melancholie. Ich war in dem Anschauen der reizenden Fremden noch ganz und gar vertieft, und es bedurfte erst der directen Anrede Constantin Feodorowitsch’s, um mich neben ihr sein ungewöhnlich vergnügtes Gesicht erkennen zu lassen.

Mein freudiges Erstaunen schien ihm sichtlich zu gefallen. „Mademoiselle Helene“, sagte er und nahm die Hand der jungen Dame, „endlich heute bringe ich Ihnen meine Schwester Wéra. Sie hat sich wie ein Kind auf diesen Abend und auf die Bekanntschaft mit Ihnen gefreut. Im Geiste sehe ich schon, wie Ihr Beide über Musik plaudern werdet, ohne noch einen Gedanken für irgend etwas Anderes übrig zu behalten.“

Wéra streckte mir aus dem Spitzenärmel ihres duftigen, weißen Kleides die zierlichste, weiche kleine Hand entgegen, die ich noch je in den meinigen gehalten, und sagte mir so viel Liebenswürdiges und Angenehmes, wie sie mich aus den Erzählungen ihres Bruders schon kenne, und wie sie nun durch meine persönliche Bekanntschaft auf manche genußreiche Stunde hoffe, daß ich von diesem Uebermaße an Güte vollständig in Verlegenheit gesetzt wurde.

Sie begleitete mich dann an den Flügel, und in jeder Bewegung, in jedem ihrer Worte erschien sie mir wie die verkörperte Anmuth und Grazie. Ich trug mit Eifer und doppelter Lust meine schwerste Pièce vor, weil ich hoffte, ihren Beifall zu gewinnen, und mehr noch, um dem liebenswürdigen Geschöpfe womöglich Vergnügen dadurch zu bereiten. Letzteres gelang mir auch anscheinend vollkommen. Fräulein Adrianoff spielte auf stürmisches Bitte von allen Seiten ebenfalls mit Geschmack und viel Fertigkeit mehrere Stücke, und sagte mir auch, Madame Branikow habe sie eingeladen, jeden Donnerstag an unserm [616] Musikabende Theil zu nehmen. Wir verabredeten, was wir zum nächsten Male einüben wollten; eine andere junge Dame sang noch mehrere Lieder, und es scheint sich ein großer musikalischer Wetteifer entwickeln zu wollen.

Als ich, so froh gestimmt wie noch nie seit meinem Aufenthalte hier, vom Flügel zurücktrat, begegneten meine Blicke von ungefähr denen Olga Nikolajewna’s, die, wie es schien, Wéra und mich beobachtet hatte. Für einen Augenblick durchzuckte es mich fast, als läge in den blauen auf uns gerichteten Augen der Gouvernante ein böser, falscher Ausdruck, aber schon in der nächsten Minute schämte ich mich meines wunderlichen Mißtrauens, denn das junge Mädchen kam mir freundlich entgegen.

„Fräulein Adrianoff ist sehr schön,“ sagte sie.

Ich stimmte voll Ueberzeugung ihren Worten bei.

„Und,“ fuhr Olga fort, indem ihre Blicke der elastischen Gestalt Wéra’s folgten, wie sie durch den Schwarm der Gäste schritt und hier und da ein an sie gerichtetes Wort freundlich beantwortete, „und ach, sie erscheint mir noch weit mehr beneidenswerth als schön. Sie wissen doch,“ fuhr sie dann hastig zu mir gewendet fort, „daß Fräulein Adrianoff das vornehmste und reichste Mädchen in ganz Woronesch ist?“

„Ich weiß allerdings, daß ihre Familie sehr angesehen ist und ihr Vater eine einflußreiche Stellung einnimmt.“

Olga lachte mit einem versteckten geräuschlosen Lachen, welches ich bereits an ihr kenne. Ihre Blicke richteten sich wieder auf die besprochene junge Dame, die eben geduldig unseres Gebieters sicher nicht allzu feine Schmeicheleien anhörte. „Wenn man Wéra Feodorewna Adrianoff heißt,“ begann sie von Neuem, „so darf man sich schon Mancherlei erlauben, was anderen armen Wesen den Hals brechen würde. Hat man Ihnen denn auch gesagt, Helene, warum Fräulein Adrianoff längere Zeit verreist war?“

Ich sah die Fragende, durch deren Worte und noch mehr durch den Ton, in dem sie gesprochen wurden, ich mich unheimlich berührt fühlte, verwundert an. „Ich denke, sie war zum Besuche bei Verwandten in Petersburg,“ lautete dann meine Antwort.

Die Gouvernante lachte abermals in sich hinein und trat mir einen Schritt näher. „Es hat wenig zu bedeuten, wo sie war, sondern es handelt sich darum, weshalb sie ging,“ sprach sie leise. „Jedermann sagt, daß sie eine Liebschaft mit einem – ja, was weiß ich – mit irgend einem Lehrer hatte. Ihre Excellenz, die Generalin Mutter, kam dahinter und schickte sie Hals über Kopf auf Reisen. Den Liebhaber, nun, den hat sie wahrscheinlich die Treppe hinunter werfen lassen. Man macht bei uns zu Lande sehr wenig Umstände mit dergleichen unbequemen Persönlichkeiten; jedenfalls hat man ihm sofort das Haus verboten.“

Ich sah wie erstarrt die Redende an. Arme Wéra! War das vielleicht die Erklärung Deiner melancholischen Augen, oder hefteten sich Neid und Bosheit verleumderisch an Deine Fersen?

Olga Nikolajewna’s lächelndes Gesicht flößte mir in dem Augenblicke vollständigen Widerwillen ein. Warum wußte doch sie, die kürzere Zeit hier war als ich, so genau von Dingen Bescheid, von denen mir noch Niemand ein Wort anvertraut hatte?

Zu irgend einer Erwiderung nicht aufgelegt, begnügte ich mich mit einem Achselzucken und entfernte mich, um nicht noch mehr von Olga’s zweifelhaften Nachrichten zu profitiren. Mir für den Rest des Abends meine heitere Stimmung zu nehmen, das war ihr freilich vollkommen gelungen.


Den 20. October.

Wie ein schwerer Traum ist es mir, und immer von Zeit zu Zeit denke ich, daß Alles, was ich erlebt, eine Unmöglichkeit ist, daß ich eines Tages aus diesem Zustande von Betäubung wieder erwachen werde; leider aber ist es Wahrheit und nackte Wirklichkeit. Bin ich in der That noch dieselbe Helene, deren kühle, verständige Ruhe stets das Erstaunen ihrer leicht empfänglichen, enthusiastischen Altersgenossinnen hervorrief?

Es war am zweiten Tage nach unserer Soirée; ich las eben Madame Branikow vor, als plötzlich ein Diener kam und mir einen Herrn anmeldete; mir, die ich mir doch nicht bewußt war, Bekanntschaft in Woronesch zu haben. Er präsentirte mir zugleich eine Karte, und nach dem ersten Blicke, den ich auf dieselbe geworfen, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Urplötzlich wußte ich, wem jene schwarzen Augen gehörten, deren durchdringender Blick mich tagelang verfolgt hatte und noch immer mehr oder minder mein Nachdenken reizte. Auf der Karte stand der einfache Name: Alexis Gregorowitsch Hirschfeldt.

Seltsam verschlingen sich die Wege, auf denen Menschen einander wieder begegnen! Als ich behufs meiner Ausbildung in der Musik ein Jahr lang am Conservatorium zu Berlin mich aufhielt, lernte ich dort unter andern jungen Leuten auch flüchtig ein Geschwisterpaar aus Rußland kennen, einen Bruder mit seiner Schwester. Da ich jedoch von den übrigen Conservatoristen und Conservatoristinnen, nur mit meinen Studien beschäftigt, mich fast ganz fern hielt, blieb die Bekanntschaft mit den erwähnten Russen ebenfalls eine durchaus oberflächliche, die sich eigentlich nur auf das Sehen bei den gemeinschaftlichen Gesangübungen und in den Concerten beschränkte. Aufgefallen waren mir beide junge Leute damals allerdings durch ihr fremdländisches Aussehen und der Bruder zumal durch sein geistvolles, energisches Gesicht und seine großen, glänzend schwarzen Augen.

Als ich in gelinder Aufregung wenige Minuten nach Empfang der Anmeldung den Salon betrat, stand er mir gegenüber. Es ist der Regiments-Capellmeister, Herr Hirschfeldt, der neulich im Theater die Musik dirigirte, wie er es auch häufig in den Concerten thut, und außerdem noch Zeit findet, in seiner Kunst zu unterrichten. Seit ich ihn in Berlin gesehen, hat sein Aeußeres sich wunderbar zu voller männlicher Schönheit entwickelt. Das war der erste Eindruck, den ich bei seinem Anblick empfing, und der sich bei längerem Beisammensein immer mehr geltend machte, obgleich seine Züge, freilich vergeistigt und idealisirt, doch unverkennbar einen Anflug seiner semitischen Abstammung tragen. Der Vater des jungen Capellmeisters ist nämlich ein getaufter Jude, der in Charkow eine lithographische Anstalt besitzt. Ich wunderte mich jetzt, daß ich ihn neulich im Theater nicht auf der Stelle wiedererkannt hatte.

[629] Herr Hirschfeldt verbeugte sich tief bei meinem Eintritt und dann, mir einige Schritte entgegenkommend, sagte er: „Verzeihen Sie, gnädiges Fräulein, daß die Erinnerung an frühere Bekanntschaft mir den Muth giebt, Sie aufzusuchen! Ich baute darauf, daß hier in der Fremde ein Gesicht, welches Sie einst in der Heimath gesehen, Ihnen vielleicht nicht ganz unwillkommen sein dürfte. Habe ich zuviel gehofft, so heißen Sie mich einfach wieder gehen!“

Diese Worte, mit einer Stimme voll musikalischen Wohllautes in meinem geliebten, lange nicht vernommenen Deutsch gesprochen, ließen jede Fiber meines Herzens, wie von einem elektrischen Strome berührt, wonnevoll erbeben. Unwillkürlich streckte sich dem Redenden meine Hand entgegen, die er in die seinige nahm und leicht mit den Lippen berührte. „Das war eine Ueberraschung,“ sagte er, „eine Berliner Collegin hier in Woronesch wiederzusehen!“

Ich begrüßte ihn jetzt ebenfalls mit Herzlichkeit, lud ihn ein, Platz zu nehmen, und es war wunderbar, mit welcher Leichtigkeit und Zwanglosigkeit wir uns alsbald inmitten der lebhaftesten Unterhaltung befanden über alte Berliner und neue russische Erlebnisse, über das Conservatorium, über Musik etc. Ich endigte mit dem Vorschlage, Herrn Hirschfeldt meiner Gebieterin vorzustellen, und er ging bereitwillig darauf ein.

Zenaïde Petrowna’s Launen sind unberechenbar wie Aprilwetter. Ich zitterte also im Geheimen für den Erfolg, als ich ihr meinen Gast zuführte, aber siehe da – Alles ging gut über Erwarten. Er wußte sich freilich ihr gegenüber zu benehmen, wie der gewandteste Hofmann, und es kostete mich Mühe, unter einer unverändert ruhigen Außenseite meinen freudigen Schreck zu verbergen, als sie schließlich, indem sie den jungen Capellmeister huldvoll entließ, ihn zu unseren musikalischen Soireen einlud. Er sagte mit verbindlichem Danke zu, und Madame wußte ebenfalls, was sie that, als sie sich den „Künstler“ anwarb, um ihren Gesellschaften ein erwünschtes Relief zu verleihen.

Fort war er, und ich blieb zurück in einer unbeschreiblichen Stimmung – hingerissen, bezaubert. Was war es nur, das all mein Sinnen und Denken augenblicklich, unwiderstehlich und unrettbar an diesen mir beinahe ganz Fremden fesselte? Ich denke, es war der Geist, der da hinreißt, wo alle Andern dumm und alltäglich erscheinen. Und Geist ist es, der aus jenen dunkeln Augen blitzt, jedem seiner Worte Bedeutung giebt. Ich habe hier wahrlich schon genug Herren kennen gelernt, und unter ihnen manchen, der auf seine Schönheit stolz sein durfte, doch Alle ohne Ausnahme blieben sie mir gleichgültig. Ist nicht Constantin Feodorowitsch schön und der vollendetste Cavalier, den man sehen kann? Und doch würde er mir nie ein anderes Interesse einflößen als eben das, welches wir für einen amüsanten, gut erzogenen Gesellschafter haben. In seinen Augen begegnet mir zu oft ein Ausdruck von Blasirtheit, der mich unangenehm berührt, und unwillkürlich, wenn ich sein Urtheil über Welt und Menschen höre, drängt sich mir der Gedanke auf, das Leben habe den Schmetterlingsstaub bereits von seiner Seele gestreift. Wie anders dieser junge Musiker, dessen energischer Wille frisch und lebendig von seiner Stirne leuchtet, der einfach sagt: „Alles ist gegen mich in diesem Lande, in dem der Kastengeist regiert, Mangel an Rang und Reichthum, meine Abkunft, und dennoch – trotz Allem werde ich meinen Weg machen.“ Und man fühlt in demselben Augenblick mit Sicherheit: er wird ihn machen. In wirrem Durcheinander stürmten diese Gedanken durch meinen Kopf, als ich die vorhin unterbrochene Lectüre des langweiligen französischen Romans wieder aufnehmen mußte. Ich las vollkommen mechanisch, ohne selber ein Wort zu begreifen oder zu behalten, und dankte Gott in meinem Herzen, als neuer Besuch dieser Tortur ein Ende machte.

Ruhe freilich gab es darum doch nicht für mich; mein Herz befand sich in immerwährendem Zwiespalt mit der eigenen Vernunft und besseren Ueberzeugung. Herr Hirschfeldt hatte mir nämlich gesagt, daß seine Mutter und Schwester seit einiger Zeit zum Besuch bei ihm seien, daß Letztere mich neulich im Theater gesehen habe und ebenfalls meine Bekanntschaft zu erneuern wünsche. Er hatte an diese Mittheilung die dringende Bitte geknüpft, ich möge den Damen einen Besuch machen, und ich Unbedachtsame gab das Versprechen, noch bevor ich mich recht besonnen. Was sollte ich jetzt thun? Das Herz sprach unbedingt; Hingehen. Die Vernunft dagegen hieß mich zurückbleiben und mit aller mir zu Gebote stehenden Kraft, anstatt es noch zu nähren, gegen ein Gefühl ankämpfen, welches mich zu überwältigen drohte. Die Vernunft trug endlich in mir den Sieg davon, und ich beschloß, so schwer es mir wurde, und auf die Gefahr hin, wortbrüchig zu erscheinen, mich zurückzuhalten, doch – wer kann seinem Schicksal entrinnen? Ich ging am Sonntage in die deutsche Kirche, und auf dem Rückwege begegneten mir auf der Promenade sämmtliche Hirschfeldt’s, Mutter, Bruder und Schwester. Sie redeten mich an, und nunmehr wurde es mir zur Unmöglichkeit, die erneute freundliche Einladung abzulehnen. Ich begleitete sie nach Hause und lernte in der [630] Schwester ein durchaus angenehmes Mädchen kennen, das mir gleich nach unserer Ankunft erklärte, mich keinenfalls fortzulassen, bis ich Kaffee mit ihnen getrunken habe. Ich versuchte dankend abzulehnen – da trat der Capellmeister zu uns.

„Sie werden bleiben, nicht wahr?“ sagte er und sah mich mit seinen wunderbaren Augen an, daß mir ganz warm um’s Herz wurde. „Wir wollen einen rechten, echten gemüthlichen Berliner Kaffeeklatsch halten.“

Wo waren jetzt deine guten, in schwerem Kampfe dir abgerungenen Vorsätze, Helene? Ich blieb. Ich blieb zwei ganze Stunden und fühlte mich zum ersten Mal, seit ich auf russischer Erde bin, so recht gemüthlich. Wir plauderten immer in deutscher Sprache, über alles Mögliche, über das, was wir schon erreicht im Leben oder noch zu erreichen hofften, und Herr Hirschfeldt und ich gaben einander das Versprechen uns stets als gute Collegen zu behandeln, das heißt, aufrichtig, ohne uns je Complimente zu sagen, Einer den Andern fördernd, wo es sich thun läßt.

Die Mutter, obgleich sie von unserer Unterhaltung nichts verstehen konnte, litt es doch nicht, daß wir uns der französischen oder gar der russischen Sprache, in der ich noch sehr Anfängerin bin, bedienten, weil sie begriff, welche Freude mir die heimischen Laute bereiteten. Der klare, kluge Blick ihrer dunkeln Augen, die der Sohn von ihr geerbt hat, ruhte trotzdem mit wohlwollender Theilnahme auf uns. Sie kam mir vor wie eine jener Patriarchinnen aus der alten Zeit, die ruhig im Gefühle ihrer Würde den Familiengliedern gestattet, in ihrer Weise sich zu erfreuen und zu unterhalten, da sie doch stets ihrer Ehrfurcht einflößenden Stellung sicher ist und weiß, Alle sind bereit, auf einen Wink von ihr sich aufhorchend und ehrerbietig um sie zu versammeln.

Leider ging im Verlaufe dieser Stunden mein Herz vollständig verloren. Ich kämpfte nicht mehr. Ich überließ mich willenlos dem Strome, der mich fortriß, und erwarte jetzt mit verzehrender Ungeduld den Donnerstag Abend, mitunter auch mit Herzklopfen und einer tüchtigen Portion Angst, denn ich war doch nur ein Jahr am Conservatorium, um mich, weit entfernt von Künstlerideen, zur tüchtigen Lehrerin in der Musik auszubilden. Herr Hirschfeldt dagegen brachte volle drei Jahre daselbst zu, hat seinen Cursus beendet und ist Künstler und Componist. Wie werde ich mit meinem Spiel vor ihm bestehen? Ich denke zitternd daran.

Mitunter kommt es über mich, wie das Gefühl eines unaussprechlichen, überwältigenden Glückes, und dann wieder gleich einem Zustande schwerer Betäubung, in welchem mir erschreckend klar wird, daß eine fremde, mir bisher unbekannte Gewalt unwiderstehlich in mein Leben einzugreifen droht, daß sie mein ganzes Sein zu einem verzweifelten Kampfe herausfordert, von dem ich noch nicht einmal ahne, ob ich siegreich daraus hervorzugehen im Stande bin.


Den 23. October.

Gestern war der halb ersehnte, halb gefürchtete Musikabend. Da stehen die Buchstaben schwarz und unbeweglich vor mir, und Niemand ahnt, welch schweres Gewicht für mich in den wenigen Worten liegt. Noch weiß ich nicht, wie ich es ertragen werde, und immer wieder muß ich mich selber fragen, ob es denn möglich ist. Warum doch mir dieses Schicksal? Mein Leben gestaltete sich wahrlich ohnehin nicht allzu rosig, da es mir auferlegt ward, in der Fremde mich mühsam durchzukämpfen. Doch ich will versuchen ohne unnütze Reflexionen einfach die Thatsachen zu berichten.

Der Donnerstag Abend kam, doch mit ihm, da außerdem mehrere große Gesellschaften in Woronesch stattfanden, nur wenige Gäste, aber unter ihnen die Generalin Adrianoff mit ihrem Sohne und ihrer Wéra. Letztere hatte ich in der Woche einige Male kurze Zeit am dritten Orte gesehen und sie immer gleich reizend und liebenswürdig gefunden. So kam sie mir auch gestern entgegen.

Sie trug diesmal ein Kleid von schwarzer Seide und dabei kostbare Korallenschnüre im blonden Haare. Sie sah entzückend aus und spielte sehr gut zwei Sätze aus einem Trio von Reissiger, und dann trug ich zwei aus dem großen Trio von Mendelssohn vor. Es war mein Glück, daß ich nicht bemerkte, wie währenddessen Hirschfeldt leise eingetreten war. Dienstpflichten hatten ihn verhindert, früher zu kommen, und in dem Augenblicke, als ich, vom Instrumente aufstehend, ihn gewahrte, hatte ich eine Empfindung, als ob plötzlich ein Lichtmeer den ganzen Saal überfluthe. Ich fühlte, daß ich erröthete, als er zu mir kam und mir einige anerkennende Worte über mein Spiel sagte, und dann erschrak ich, als er die Ouverture zu „Elisa“ von Cherubini zu vier Händen auf das Instrument stellte und sagte. „Wir werden sie zusammen spielen.“

Ich hatte das Bewußtsein, einmal um’s andere blaß und roth zu werden, obgleich es mir im Ganzen an der Fähigkeit nicht fehlt, auch bei größter innerer Aufregung meine äußere Ruhe wohl zu bewahren „Ich kann nicht. Die Ouvertüre ist mir zu schwer,“ stieß ich hastig hervor.

Einige Secunden lang sahen mich die schwarzen Augen in fragender Verwunderung an. „Ich habe Sie soeben spielen hören und weiß, daß sie Ihnen nicht zu schwer ist,“ gab ihr Besitzer mir zurück.

„So versuchen wir es.“

Jede andere Empfindung trat in dem Augenblicke in mir zurück vor der Nothwendigkeit, Herr meiner selbst zu bleiben. Was mußte er von mir denken? „Ich will,“ sagte ich mir selber, und nahm den verlassenen Platz wieder ein. Bebend glitten zuerst meine Finger über die Tasten, dann aber, und zwar wunderbar schnell, riß die Sicherheit des Capellmeisters mich mit sich fort. Es ging wie von selber, und ich fühlte mich durch und durch getragen von freudigem Wohlbehagen. Bei der letzten Note nickte mein Begleiter mir zu, als wolle er sagen: „Sehen Sie, daß es ging.“

„Ich würde es nie für möglich halten,“ fuhr er dann, gleichsam den unausgesprochenen Gedanken ergänzend, fort, „daß Sie aus irgend einem Grunde sich sperren oder zieren könnten.“

Er stand auf, während ich noch vor dem Flügel sitzen blieb, nahm das Notenheft, aus dem wir eben gespielt, blätterte darin und richtete verschiedene Bemerkungen über die Composition an mich. Plötzlich sagte er, in dem anscheinend gleichgültigen Conversationstone fortfahrend, aber leiser und auf deutsch: „Sind Sie verschwiegen, Fräulein Helene?“

„Gewiß, das ist eine Eigenschaft, die mir selbst meine Feinde lassen müssen,“ antwortete ich, ohne noch zu begreifen, warum es mich bei des jungen Musikers Worten wie Schreck ergriff.

„Wenn Sie wollen,“ fuhr er fort, „werden Sie zwei Freunde in Woronesch haben.“

„Wen denn?“

„Fräulein Wéra und mich.“

„Ah, und wie das? Wie muß ich es anfangen, Ihr Beider Freundschaft zu gewinnen?“

Er sah mich an, so fragend und so durchdringend, daß es mich wie ein Schauer überlief. „Wissen Sie nicht, welch ein Drama hier spielt?“ fragte er. „Ich möchte in den nächsten Tagen kommen, um die Symphonie von Schumann vierhändig mit Ihnen zu üben. Dann hoffe ich, Sie allein zu sehen und Ihnen Alles zu erzählen, jetzt kann ich es nicht, denn man bemerkt uns. Bitte, kommen Sie mit mir!“

Er führte mich, die ich in einer Art von ahnender Betäubung an seiner Seite schritt, zu Fräulein Adrianoff. Wir fanden sie, den Kopf in die weiße Hand gestützt, nachsinnend und aufhorchend, wie sie wahrscheinlich unserm Vortrage gefolgt war, allein auf einem Eckdivane sitzend.

Der Capellmeister begrüßte sie ehrerbietig und sagte ihr in französischer Sprache: „Hier stelle ich Ihnen Fräulein Helene vor – eine Künstlerin!“

Ich fuhr auf und wollte mich gegen die Bezeichnung „eine Künstlerin“ verwahren, aber er fügte rasch und deutsch hinzu. „Lassen Sie sich von Fräulein Wéra erklären, wie ich das Wort verstehe!“ Dabei verbeugte er sich, als habe er irgend eine gesellschaftliche Phrase ausgesprochen, und verließ uns. Wenige Minuten später sah ich ihn bereits auf einem Tabouret neben unserer Gebieterin sitzen und so angelegentlich mit dieser plaudern, als sei er mit seiner ganzen Seele nur bei ihr.

Wéra hatte unterdeß meine Hand genommen und drückte sie mit einer Innigkeit, die meine Aufmerksamkeit ausschließlich wieder auf sie hinlenkte. Wahrheit, Aufklärung um jeden Preis, [631] das war der einzige Gedanke, der in diesem Augenblicke Raum in meiner Seele fand.

„Gnädiges Fräulein,“ richtete ich das Wort an die junge Dame, „in der Galerie ist jetzt eine der seltenen und prachtvollen weißen Camelien aufgeblüht, von denen wir neulich sprachen. Gefällt es Ihnen, so gehen wir, und ich werde sie Ihnen zeigen.“

Wéra nahm mit einem Blicke des Einverständnisses meinen Arm, und gleich darauf traten wir in die Galerie, die zu dem im entgegengesetzten Flügel des Gebäudes befindlichen großen Saale führt. Zwei Reihen hoher, umfangreicher, oben durch Rundbögen verbundener Säulen füllen beinahe diese Galerie aus. Zwischen ihnen stehen in großen Kübeln riesige Orangenbäume, und den Fuß einer jeden Säule umgeben pyramidalisch geordnete Gruppen immergrüner und selbst in dieser Jahreszeit blühender Gewächse. Versteckt angebrachte, mattweiße Glaskugeln erleuchteten sanft den sich vor uns ausdehnenden Raum, und wir ließen uns auf einigen der carmoisin gepolsterten Sessel nieder, die, überall zwischen den Säulen und dem Grün verstreut, zum Sitzen einluden.

„Nicht wahr, gnädiges Fräulein,“ nahm ich, äußerlich ruhig, aber von innerer Aufregung fast erstickt, wieder das Wort, „hier, wo wir ungestört sind, werden Sie mir das Räthselwort des Herrn Hirschfeldt erklären.“

Ein Zug liebreizender Zutraulichkeit gab dem schönen Gesichte meiner Gefährtin einen noch gewinnenderen Ausdruck, als sie sich zu mir neigte und flüsternd in deutscher Sprache mir mittheilte: „Es ist eine Art von Losungswort unter uns. Wenn Hirschfeldt von Jemandem zu mir sagt: ‚Es ist ein Künstler oder eine Künstlerin,‘ so bedeutet das: ‚Ich stelle Ihnen hier eine Person vor, auf die Sie sich verlassen, der Sie unbedingt Alles anvertrauen können.‘“

Mir wurde immer wirrer zu Sinne; trotzdem bewahrte ich meine Kaltblütigkeit. „Und darum glauben Sie an meine Aufrichtigkeit?“ fragte ich.

„O, unbedingt; er wird mir nie etwas sagen, was mich irre leiten könnte. Zudem bedurfte es kaum seiner Empfehlung. Von dem Momente an, da zuerst Ihre Augen mich klar und voll Theilnahme anblickten, lag für mich etwas Vertrauenerweckendes darin. Ein sympathisches Gefühl zog mich zu Ihnen und ließ mich hoffen, in Ihnen vielleicht eine Freundin zu gewinnen.“

„Und Sie, gnädiges Fräulein,“ konnte ich mich nicht enthalten zu fragen, „Sie, inmitten Ihrer Familie, Ihrer Heimath“ – in meinem Herzen fügte ich hinzu: und so schön so reich und gefeiert – „Sie bedürfen einer Freundin und Vertrauten?“

Wéra schlug ihre großen Augen zu mir auf mit einem unsäglich traurigen Ausdrucke. „Und wie sehr!“ rief sie aus. „Sie wissen nicht, wie verlassen und rathlos, wie unglücklich ich oftmals bin.“

Unfähig, den Zustand der Ungewißheit noch eine Minute länger zu ertragen fragte ich mit Hast: „Betrifft es Hirschfeldt?“

Die junge Dame nickte zustimmend; ihre so überaus fein geformten, weißen und mit blitzenden Brillanten geschmückten Hände legten sich auf meinen Arm. „Sie wissen nicht –?“

„O, ich errathe es: Sie lieben ihn,“ rief ich aus, und in meiner Erinnerung tauchte plötzlich die Klatschgeschichte Olga Nikolajewna’s wieder auf. Das war also der Lehrer, wegen dessen man Wéra fortgeschickt hatte. Wie ein Nebel zerriß es vor meinem Geiste. „Sie lieben ihn.“

„Ja, ich liebe ihn, nein, ich bete ihn an.“ In schwärmerischer Begeisterung erglühten bei diesen Worten ihre Züge. Ihr Auge blickte mich in schwimmendem Glanze an. „Ich bete ihn an. Alexis ist für mich Alles, ist die Sonne, deren Strahl allein meinem Leben Werth verleihen kann.“

„Und er?“ Ich fühlte, wie sich all mein Blut zum Herzen drängte und Letzteres klopfte, als solle es mir die Brust zersprengen. Aber ich drückte die Hand darauf, und bleich, athemlos starrte ich das junge, liebliche Wesen an, welches mir gegenüber saß und, ganz mit sich selber beschäftigt, keine Ahnung von dem Seelenzustande hegte, in dem ich mich befand.

„Er?“ Sie verbarg ihr Antlitz in beide Hände, und dann, als sie es nach einer kurzen Pause wieder emporhob, strich sie die darüber herabgefallenen goldenen Locken von ihrer Stirn. „Er,“ sagte sie hochaufathmend, „liebt mich mit einer Leidenschaft, vor der ich oft selber erschrecke.“

„Und Sie können sagen daß Sie unglücklich sind?“ entfuhr es in zitternder Erregung meinen Lippen.

Fräulein Adrianoff sprang auf. Die schlanke und elastische Gestalt hoch aufgerichtet, stand sie vor mir; ihre kleinen Hände ballten sich; ihre fein geschnittenen Nasenflügel hoben und senkten sich, und ich entdeckte in diesem Augenblicke, daß die melancholisch-sanften Augen unter Umständen auch in funkelndem Glanze aufleuchten konnten. „Wissen Sie, was es bedeutet,“ sagte sie hastig und mit unterdrückter Heftigkeit, „durchaus ohne Hoffnung zu lieben, stets von dem Gegenstande unserer Anbetung getrennt und überdies bewacht, umlauert und von Spionen umringt zu sein? Fräulein Helene!“ Ich hatte mich ebenfalls erhoben, und sie umklammerte, bevor ich mich recht besonnen, mein Handgelenk, neigte ihr Haupt auf meine Schulter und brach in Thränen aus. „Fräulein Helene, Sie wissen nicht, wie elend ich bin.“

Zum Tode erschrocken, legte ich ihren Arm in den meinigen, führte sie die Galerie entlang und suchte, so schwer es mir wurde, das aufgeregte Mädchen durch einige ermuthigende Worte zu beruhigen. Es half mir wenig. Wéra schüttelte als Antwort nur stets den Kopf, aber wenigstens trocknete sie ihre Thränen.

„Sie kennen dieses Land und seine Sitten nicht,“ nahm sie endlich wieder das Wort, „wenn Sie irgend wie auf Hoffnung für mich hindeuten wollen. Nie, niemals wird meine Familie eine Verbindung zwischen Alexis und mir dulden. Ich verabscheue diesen Unterschied des Ranges und Standes, aber die Meinigen würden ihn aufrecht erhalten, und müßte ich darüber zu Grunde gehen.“

„Aber mein Gott, was soll denn daraus werden?“ Meine deutsche Anschauungsweise legte mir unwillkürlich die bürgerlich naive Frage auf die Lippen.

Wéra sah mich groß an. „Ich weiß es nicht,“ erwiderte sie dann. „Daran denke ich auch nicht. Ich weiß nur, daß Hirschfeldt mein Alles ist, daß ich sterben werde, wenn ich ihn nicht mehr sehen darf.“

„Und weiß Ihre Mutter um diese Liebe?“

Die junge Dame schüttelte melancholisch den Kopf. „Wenn sie darum wüßte,“ lautete ihre Antwort, „so wäre ich nicht hier; davon seien Sie überzeugt! Aber ich glaube, daß sie Verdacht schöpfte und mich deshalb verreisen ließ gegen meinen Wunsch und Willen. Auch betritt seit meiner Rückkehr Alexis unser Haus nicht mehr, so daß ich muthmaße, man hat ihm zu verstehen gegeben, daß sein Erscheinen daselbst nicht gewünscht wird. Begreifen Sie jetzt, in welcher Aufregung ich mich heute befinden muß, da ich ihn nach längerer Trennung zum ersten Mal wiedersehe und bis jetzt nur fremde, gleichgültige Worte von ihm gehört habe?“

O, ich begriff nur zu gut, empfand jedoch zu gleicher Zeit eine nicht zu beschreibende Angst, daß das exaltirte Mädchen sich einem neuen Gefühlsausbruche hingeben möchte. „Aber Ihr Bruder,“ sagte ich daher, immer bemüht, ihr Muth einzusprechen. „Da ist noch Ihr Bruder, gnädiges Fräulein, der Sie so sehr liebt.“

Sie machte eine energisch abwehrende Bewegung. „Ja, mein Bruder liebt mich,“ rief sie fast heftig, „aber eben darum haßt er Alexis. Wenn er Gewißheit hätte von dessen Verhälntiß zu mir, seien Sie versichert, er würde ihn tödten ohne sich fünf Minuten zu besinnen. Mit derselben Entschlossenheit freilich würde er auch sein Leben für mich in die Schanze schlagen, das heißt – in seinem Sinne; für das, was er als mein Glück betrachtet. Bitte, sprechen Sie mir nicht von ihm! Ich zittre ohnehin, wenn ich weiß, daß er und Hirschfeldt sich in demselben Zimmer oder nur in derselben Gesellschaft befinden, und ich bin sicher, daß es ihn und meine Mutter schon nicht angenehm berührt hat, den Letzteren heute hier zu finden.“

Ich hörte ihre Worte, aber eigentlich nur wie im Traume und hatte eine Empfindung dabei, als ob alle Gegenstände um mich her einen Rundtanz aufführten. Die Säulen, die grünen Gewächse und schwebenden Lampen drehten sich vor meinen schwindelnden Blicken, und mir war zu Muthe wie Einem, der, am Krater eines Vulcanes hinwandelnd, deutlich und immer deutlicher erkennt, daß der Boden unter seinen Füßen zu [632] wanken beginnt und die Explosion über kurz oder lang unvermeidlich erfolgen muß.

Wir waren während unserer Unterredung in der Galerie auf- und abgewandert, und als wir uns allgemach wieder der Seite näherten, von welcher wir ausgegangen waren, sahen wir in der geöffneten Thür des Musiksaales einen hohen Schatten auftauchen, bei dessen Anblick wir Beide zusammenzuckten. Fräulein Adrianoff preßte meinen Arm mit Ungestüm an sich und zog mich näher zu der bewußten Thür.

Der Capellmeister kam uns bereits entgegen. Mit der Sicherheit, die ihn nie zu verlassen scheint, verfügte er auch jetzt wieder über einige Salonphrasen und begann sogleich bei der nächsten Blumengruppe eine so eifrige Unterhaltung über diesen Gegenstand, als hätten wir Alle an dem Abende für nichts Sinn als für botanische Studien. Ein einziger seiner adlerartigen Blicke mochte ihn übrigens belehrt haben, daß Wéra und ich uns verständigt hatten, denn alsbald begann er, nur dem Eingeweihten verständliche Bemerkungen einzuflechten, die sie schnell genug begriff und in ähnlicher Weise zurück gab. Jetzt strahlte ihr Antlitz vor innerer Glückseligkeit. Bald französisch, bald deutsch, rasch wie Blitzfunken flogen die Worte, die bald einen Doppelsinn, bald verdeckte zärtliche Betheuerungen enthielten, hin und wieder, und ich Unglückliche stand dabei mit äußerlich lächelnden, gleichgültigen Mienen, innerlich zerschmettert von dem deutlichen Bewußtsein, daß meine Gegenwart als diejenige einer unverdächtigen Dritten nur dazu diente, das verliebte Paar zu decken, indem es sich verbotene Liebeserklärungen machte. Und – o, er hatte Alles so fein eingefädelt, daß ich nichts daran ändern konnte, ohne mir eine Blöße zu geben. Es war um den Verstand zu verlieren, und wäre in diesem Augenblicke die Decke des Saales über uns herabgebrochen, uns Alle in einem Sturze begrabend – ich würde nicht einmal Schreck empfunden haben. Endlich kommt indessen der Mensch doch an die Grenze dessen, was ihm zu ertragen möglich ist. Als ich auch Constantin Feodorowitsch, der bis dahin, von unserem Gebieter in lebhafter Unterhaltung festgehalten, mit diesem im Saale auf- und abgewandert war, scharfe Blicke zu uns herüberwerfen sah, richtete ich an Hirschfeldt die dringende Aufforderung, noch einige Musikstücke vorzutragen.

„Für Sie thue ich Alles,“ antwortete er, „was Sie nur wollen. O Fräulein Helene, wenn Sie wüßten, wie dankbar ich Ihnen bin!“

Ich hielt seinen leuchtenden Blick aus, ohne zu zucken oder die Farbe zu wechseln, das fühlte ich, und fragte ziemlich kühl: „Wie wissen Sie denn eigentlich, daß Sie sich auf mich verlassen können?“

Ueber seine Züge glitt ein unnachahmliches Lächeln. „Ich weiß es aus Ihrem Spiel,“ erwiderte er. „Sie haben mit Gefühl gespielt, also wußte ich, daß Sie ein Herz haben, und wenn ich sage, Sie sind Künstlerin, so wende ich es nicht auf das Spiel an, sondern auf das Herz. Sie haben ein warmes, fühlendes Künstlerherz, Sie verstehen also, daß der Geist und die Kunst den Menschen adelt und nicht die Geburt, was die Menschen nicht begreifen wollen in diesem Lande der Vorurtheile.“

Er ging an den Flügel und spielte hinreißend. Ich konnte ihm nicht zürnen, obwohl ich begriff, daß dieser Hymnus des Glückes nicht an mich gerichtet war, obwohl ich nur zu gut verstand, wie Alles, was an diesem Abende mächtig wogend durch sein Herz fluthete, was er mit Worten nicht aussprechen durfte, jetzt in brausenden Jubeltönen hervorbrach, bald durch rauschende Accorde sich verkündend, bald im sanften Adagio mit süßen Schmeicheltönen die Seele bestrickend.

Ich verstand, was diese Sprache sagen wollte, und dabei ließ Wéra für den Rest des Abends meine Hand beinahe nicht mehr aus der ihrigen und sah mich mit seligen, dankbaren Blicken an. Es war wie ein Rausch, wie ein Fieber, in dem ich mich befand, und dann, als sie Abschied genommen hatten, als ich endlich auf meinem Zimmer allein war, brach ich fast zusammen. Ich schlief in dieser langen, ruhelosen Nacht keinen Augenblick. Und am folgenden Morgen, da ich mich wieder von meinem Lager erhob, war ich gerade so wach, wie ich mich niedergelegt hatte. Ich fühlte mich matt zum Sterben und an allen Gliedern wie zerschlagen, aber ein Entschluß hatte sich doch in mir durchgerungen durch alle Verwirrung meines Geistes und Gemüthes in den Kämpfen dieser Nacht. Die schwache Menschennatur in mir möchte sich empören, Wéra zu hassen als meine Nebenbuhlerin, und dennoch kann ich es nicht, denn sie hat meine Seele eingenommen durch ihren Liebreiz, ihre hingebende Offenheit. Diese beiden Menschen, deren Vertraute ich so wider Willen geworden bin, sollen sich ungeachtet dessen nicht in mir getäuscht haben. Ich will thun, was in meinen Kräften steht, Wéra vor böser Nachrede zu bewahren, denn das ist mir bereits klar geworden, daß von allen Seiten Blicke voll Neugierde und Böswilligkeit spähend auf sie, die Vielbeneidete, gerichtet sind. Ich werde immer suchen, im geeigneten Augenblick an ihrer Seite zu sein, um hier bei uns wenigstens Unvorsichtigkeit ihrerseits zu verhüten, sie zu warnen. Was weiter werden soll? Gott helfe mir – ich habe keine Ahnung davon.

Als ich das Frühstückszimmer betrat, fand ich Olga in lebhafter Unterhaltung mit unserm Gebieter, und diesen allem Anscheine nach in der behaglichsten Stimmung. Sobald die Gouvernante mich erblickte, wechselte sie indessen, wie mir nicht entgehen konnte, das Gesprächsthema. Sie wendete sich an mich und sagte in einem Tone, dessen bedauernder Ausdruck unwillkürlich mein Mißtrauen weckte:

„Aber wie angegriffen Sie aussehen, Helene! Sollten das die Folgen der gestrigen Anstrengung sein?“

Ich gab mir Mühe, so gleichgültig wie möglich zu erscheinen, indem ich ihr erwiderte, daß sie sich wohl täuschen müsse, da ich mich vollkommen wohl fühle.

„Wer Ihnen das glauben wollte!“ sagte Olga Nikolajewna, und aus ihren glänzenden, blauen Augen flimmerte es mir wie versteckte Bosheit entgegen. „Sollten nicht am Ende gar die musikalischen Studien an der Blässe Ihrer Wangen schuld sein?“

„Es ist möglich,“ antwortete ich kühl und nahm dem Diener die Tasse ab, die er mir eben präsentirte. „Ich habe in den vorhergehenden Tagen recht viel geübt, und das greift stets ein wenig die Nerven an. Wie ich Ihnen aber schon bemerkte, ich spüre nichts davon.“

Olga versicherte mir, daß sie darüber entzückt sei, weil im ersten Augenblick mein Aussehen sie wirklich erschreckt habe, und dann erging sie sich in einem wahren Schwall von Lobeserhebungen über unsere gestrigen Musikaufführungen. Ich mußte ihr darauf antworten mit dem deutlichen Bewußtsein, daß von einigen Menschen ein zuvorkommendes Wesen unangenehmer berührt als ein gleichgültiges oder gar rücksichtsloses. Iwan Alexandrowitsch schien jedoch in dem Punkte anderer Meinung als ich.

Er ließ sich wenigstens die Aufmerksamkeiten, mit denen ihn Olga während des Frühstücks überschüttete, äußerst gnädig gefallen und richtete mehrmals in Anerkennung derselben Schmeicheleien an sie, deren vertraulicher Ton mich in Verwunderung setzte.

Ich kenne Iwan Alexandrowitsch weit länger als sie, und doch hat er in solcher Weise noch nie mit mir gesprochen, was ich freilich in keiner Weise bedaure. Diese kleine Gouvernante versteht die Männer entschieden an sich heran zu ziehen. Ich denke, es kommt daher, daß sie versteht, dieselben immer zu amüsiren, wenn sie auch in den Mitteln zur Erreichung dieses Zweckes nicht eben wählerisch ist.

[645]
Den 27. October

Alle diese letzten Tage waren für mich schwer zu ertragen, aber der gestrige doch am schwersten, weil ich mich gern still zurückgezogen und nichts mehr von dieser wunderlichen Welt, in der ich lebe, gehört oder gesehen hätte. Wie Vieles mußte ich statt dessen erfahren!

Gleich nach dem Diner kam Hirschfeldt, um die bewußte Symphonie mit mir zu üben. Ich nahm alle meine Kräfte zusammen, machte aber doch meine Sache schlecht. Man ließ uns keinen Augenblick allein. Madame geruhte in höchst eigener Person in den Musiksaal zu kommen und sich von dem Capellmeister ihre Lieblingsmelodien vortragen zu lassen. Als er selbst ihren capriciösesten Anforderungen mit spielender Leichtigkeit und sichtbarem Vergnügen genügte, als die perlenden Töne so sicher unter den Fingern ihres Beherrschers hervorquollen, während seine Augen lebhaft strahlten – da fühlte ich mich klein neben ihm. Ein widerwärtiges, mir sonst fremdes Gefühl bemächtigte sich meiner und verkümmerte mir den Genuß an der Musik. Es mißfiel mir entschieden, wenn ich sah, wie Madame Branikow sich wohlgefällig Herrn Hirschfeldt’s Aufmerksamkeiten gefallen ließ, und doch hatte ich kein Recht, sie ihr zu mißgönnen. Was bin ich ihm und wie durfte ich mir anmaßen, über sein Benehmen irgend welchen Aerger zu empfinden?

Als er sich verabschiedete, fand er nur einen Augenblick Zeit, um mir zuzuflüstern: „Von Allem, was ich Ihnen heute sagen wollte, habe ich kein Wort anbringen können; aber ich tröste mich, denn Sie wissen schon genug, und hoffentlich sehe ich Sie schon in den nächsten Tagen wieder.“

Er ging, und Olga, die soeben im Saale erschienen war, sandte ihm einen langen Blick nach, über dessen Bedeutung ich bis jetzt nicht recht zur Klarheit gelangt bin. Mangel an Interesse lag jedenfalls nicht darin. Für den Rest dieses unglücklichen Abends schien die Gouvernante sich den jungen Musiker zum Gegenstande der Unterhaltung auserlesen zu haben. Es ist ihr nunmehr gelungen, glücklich herauszubringen, daß er und der von den Adrianoff’s verbannte Lehrer eine und dieselbe Persönlichkeit sind, und sie trug alle darüber umlaufenden Klatschgeschichten nebst vielen anderen mit ihrer ganzen Beredsamkeit beim Thee vor. Es waren noch mehrere Damen anwesend, und ich mußte Zeuge sein, wie darüber debattirt und gestritten wurde, ob an der Geschichte von Wéra und Hirschfeldt etwas Wahres sei oder nicht.

Madame, die bequem an ihrem gewohnten Platz auf der Chaiselongue ruhte und sich damit beschäftigte, aus einem neben ihr stehenden silbernen Körbchen ein Stück Biscuit nach dem andern hervorzunehmen und zu verzehren, erklärte endlich mit Gemüthsruhe, daß sie den Musiker charmant finde, daß er spiele wie ein Gott, und daß er, nach ihrem Dafürhalten, zuviel Verstand besitze, um sich auf eine Tollheit einzulassen, die ihm nothwendigerweise eines Tages den Hals brechen müsse.

Dem,“ sagte unser Gebieter und strich seinen Schnurrbart, „ist jede Tollheit zuzutrauen, und wenn ich Constantin Feodorowitsch wäre, würde ich meine schöne Schwester sorgfältiger hüten und dem Abenteurer, der sie in’s Gerede gebracht hat, lieber eine Kugel vor den Kopf schießen, als daß ich ihm erlaubte, überhaupt noch ein Wort an sie zu richten.“

Zenaïde Petrowna lachte, daß man alle ihre weißen Zähne sah. Sie meinte, es würde eine schwere Aufgabe sein, Wéra zu hüten, wenn es dieser eben nicht gefiele, sich bewachen zu lassen; übrigens finde sie die Geschichte äußerst amüsant.

Ich stand im Geheimen alle Qualen der armen Seelen im Fegefeuer aus und durfte mir doch keine Blöße geben; ich hielt mit furchtbarer Anstrengung das gleichgültigste Lächeln auf meinen Mienen fest, ertrug das Kreuzfeuer von Olga Nikolajewna’s spähenden Blicken, ohne mit den Wimpern zu zucken, und dankte Gott aus tiefstem Herzen, als der Abend sein Ende erreicht hatte.

Mit welchen gemischten Gefühlen ich unter diesen Verhältnissen dem Donnerstag entgegen sehe, ist leicht begreiflich.


Den 30. October.

Unser Musikabend hat gestern stattgefunden. Er war zahlreicher besucht als der vorige, und Madame schwelgte in Wohlbehagen, denn Jedermann sagte ihr Verbindliches über die Anordnung dieser hübschen Soiréen. Ihre Chaiselongue war stets umringt, und sie sah sich angenehm unterhalten, ohne daß es der geringsten Anstrengung ihrerseits bedurft hätte.

Der Capellmeister kam diesmal früh. Im Bewußtsein alles Dessen, was in meiner Gegenwart über ihn geredet war, klopfte mir das Herz in heftiger Unruhe, als ich ihn erblickte. Er sah düster aus – „préoccupé“ würde Zenaïde Petrowna gesagt haben, wenn sie ihn genauer betrachtet hätte. Ich verstand den unruhig suchenden Blick, den er über die Versammlung gleiten ließ, denn von den Adrianoff’s war noch Niemand da. Er und ich, wir sollten gleich zum Anfang unsere Symphonie vierhändig spielen, und vor Beginn derselben [646] richtete er eine hastige Frage in Betreff der Fehlenden an mich. Ich konnte ihm nur mit Achselzucken die leise Erwiderung geben, daß wir sie bestimmt erwarteten. In der That wurden wir noch vor Beendigung unseres Vortrages dadurch gestört, daß Fräulein Adrianoff am Arme ihres Bruders eintrat. Die Generalin war nicht mit erschienen, und Wéra erklärte sogleich, daß sie nur eine Stunde bleiben könne – dringender Abhaltung wegen, sie habe aber doch, um nicht ganz wortbrüchig dazustehen, wenigstens für die kurze Zeit kommen wollen. Sie war liebreizend wie immer, und ihre Schönheit ist eine derartige, daß man jedesmal zu glauben versucht ist, man habe sie noch nie so bezaubernd gesehen. Sie blieb für einige Zeit so umringt, daß es mir nicht gelingen wollte, mich ihr zu nähern, als sie indeß meiner ansichtig wurde, kam sie zu mir, nahm meinen Arm und begann mit mir auf- und abzugehen.

„Wie kommt es nur, daß Sie nicht bleiben können?“ fragte ich sie.

Ein Schatten glitt über die feinen Züge meiner Begleiterin. „Ich kann nicht; o, fragen Sie mich nicht!“ lautete ihre Antwort. „Und doch, Sie wissen schon so Vieles, daß ich Ihnen auch dieses noch mittheilen muß. Sie haben sicher erfahren, wie geschäftig die Verleumdung sich meiner bemächtigt hat. Gestern war nun eine Dame bei uns, die mich warnte, am Donnerstage zu Branikow’s zu gehen, denn man sage in der ganzen Stadt, meine Eltern hätten Herrn Hirschfeldt das Haus verboten, und weil er nicht zu uns kommen dürfe, hätten wir uns bei Madame Branikow Rendezvous gegeben. Ich bin trotzdem gekommen, damit die Dame nicht glaube, sie habe mich eingeschüchtert, aber Sie begreifen, daß ich nicht bleiben kann.“

„Das ist in der That traurig. Auf die Weise werden Sie uns niemals besuchen können,“ sagte ich, wirklich erschrocken.

Wéra lächelte matt. „Seien Sie ruhig!“ erwiderte sie. „Ich werde wiederkommen, ich werde Mittel und Wege finden es für ein anderes Mal möglich zu machen, aber bitte, Fräulein Helene, helfen Sie mir heute! Ich muß mit Alexis einige Worte sprechen, verschaffen Sie mir die Möglichkeit dazu! Sie können nicht die entfernteste Ahnung davon haben, wie unglücklich ich bin.“

Ihre zierliche kleine Hand schloß sich dabei krampfhaft und leise bebend um die meinige. Ich sagte mir selber, daß ich vielleicht die unverantwortlichste Thorheit, ja sogar ein Unrecht begehe, indem ich ein Verhältniß begünstige, welchem zum wirklichen Wohle der Nächstbetheiligten besser so bald als möglich für immer ein Ende zu wünschen sei; da aber das junge Mädchen mich ansah mit einer so verzweifelten Bitte in der Tiefe ihrer großen seelenvollen Augen, hieß ich meine Bedenken schweigen. Armes Kind! Die Qual im eigenen Herzen ließ mich zu deutlich ermessen, was sie leiden mußte, und das meinige ist doch bereits in harter Lebensschule gestählt, in Selbstbeherrschung und Selbstüberwindung geübt. Doch sie? Was soll aus ihr werden? Als ich suchend meinen Blick umhersandte, entdeckte ich den Capellmeister, welcher neben der Thür, die vom Musiksaale in den Salon führt, an einem Pfeiler lehnend, auf Olga Nikolajewna hörte, die vor ihm stand und in ihrer quecksilberigen Lebendigkeit auf ihn einredete.

„Halten Sie sich in der Nähe des Flügels!“ sagte ich leise meiner Begleiterin und entfernte mich dann mit einer ceremoniösen Verbeugung von ihr, um nach einer Weile mich Hirschfeldt zu nähern. Ich ersuchte ihn, über die demnächst vorzutragenden Musikstücke Verabredung mit mir zu treffen und er begleitete mich sofort an den Flügel, wo wir in den Notenheften blätterten und wo nach kurzer Zeit auch Wéra sich einfand, um ihre Aufgabe für ein nächstes Mal zu erbitten. Ich überließ die Beiden alsbald sich selber. Sie begannen eine Unterhaltung in deutscher Sprache, von der ich mich bemühte nichts zu verstehen, aber ich sah mit Bewunderung, wie völlig ruhig und unbefangen Hirschfeldt äußerlich blieb und sprach, während doch das Heft in seiner Hand merklich bebte. Wéra, die bei Weitem nicht seine Selbstbeherrschung kennt, erregte mir Unruhe. Ihre Blicke erglänzten mit jeder Minute fieberhafter; ihre Worte nahmen dringendere, betheuernde Accente an; ich hielt es für durchaus gerathen, mich endlich mit einer gleichgültigen Phrase in das Gespräch zu mischen und die junge Dame begriff meine Absicht, demselben ein Ende zu machen auch sofort. Sie fuhr sich mit ihrem duftigen Spitzentuche über die heißen Wangen, preßte es eine Secunde lang auf ihre feuchten Augen und sah mich mit einem Lächeln an, das mir wehe that, da ich verstand, welche furchtbare Anstrengung es sie kostete.

„Dank Ihnen!“ flüsterte sie mir unter einem warmen Händedrucke zu, und in der folgenden Minute bereits durchschritt sie in ihrer unnachahmlich graziösen Weise den Saal, um sich bei Madame Branikow zu verabschieden. Nach allen Seiten grüßend und von ihrem Bruder geführt verließ sie die Gesellschaft. Als ich den letzten Schimmer ihrer feenhaften Gestalt verschwinden sah, dämmerte eine Ahnung in mir auf, klar und immer klarer, daß es ein glänzendes Elend giebt, schlimmer als jedes andere, welches uns doch wenigstens die Freiheit des eigenen Willens im Kampfe mit diesem feindlichen Leben läßt.

Zwei junge Damen sollten jetzt mit Violinbegleitung ein Duett singen. Ich glaubte mich in dem Augenblicke von Niemandem beobachtet und zog mich, gedrückt in meinem Herzen und traurig zum Sterben, in einen Winkel hinter zwei riesige Blumentische zurück, um meinen Gedanken nachzuhängen. Kaum hatte ich jedoch meinen Platz eingenommen, so stand, wie aus der Erde gewachsen, Hirschfeldt vor mir. Er sah nicht oder wollte nicht sehen, daß ich erschreckt zusammenfuhr.

„Sie haben soeben ein gutes Werk gethan,“ sagte er, und jede Fiber meines Herzens zuckte bei dem sympathischen Klange dieser männlich kräftigen und doch in dem Augenblicke weich gedämpften Stimme.

Meine Finger preßten sich mechanisch ineinander, und es gelang mir, ihm in kühl reservirtem Tone zu antworten. „Das ist noch nicht gewiß. Ich selbst bin mit mir durchaus nicht darüber im Klaren.“

Er machte eine Bewegung, und aus seinen Augen glänzte fragendes Erstaunen.

„Aufrichtig gesagt,“ fuhr ich unbeirrt fort, „kenne ich Sie noch nicht genug. Ich suche erst zu enträthseln, ob man sich auf Sie verlassen kann.“

„Auf mich?! Fragen Sie Fräulein Wéra, die wird es Ihnen sagen.“

„Fräulein Adrianoff wird mir nichts Schlimmes von Ihnen sagen,“ entgegnete ich, „aber wissen Sie, daß man übrigens sehr viel Böses von Ihnen spricht?“

„Von mir? Glauben Sie es nicht!“

Ich spielte mechanisch mit meinem Fächer, dann erhob ich meinen Blick zu dem jungen Musiker und sagte mit ruhiger Festigkeit: „Wenn ich Alles glaubte, was man über Sie redet, so spräche ich jetzt nicht mit Ihnen und würde es noch viel weniger Ihnen wiedererzählen. Es sind aber so viele Geschichten von Ihnen im Umlaufe, daß, wenn nur die Hälfte davon auf Wahrheit beruhte, Sie ein gefährlicher Mensch sein müßten.“

Seine Stirn zog sich zusammen. „Sie werden mir Alles wiedererzählen,“ stieß er hastig hervor.

„Das werde ich nicht thun.“

„Doch, als gute Collegin müssen Sie es thun. Sie müssen mir beistehen, Fräulein Helene, denn Sie wissen nicht, von wie viel Feinden ich umringt bin.“

„Das weiß ich, ohne daß Sie es nur sagen,“ antwortete ich, immer bemüht, jedes meiner Worte, jede Miene so zu beherrschen, daß sie keine Spur von der Spannung ahnen ließen, die mein Herz während dieser wunderlichen Unterredung rascher und immer rascher klopfen ließ.

Der Capellmeister hatte sich gleich zu Anfang auf einen Sessel mir gegenüber niedergelassen. Er rückte mir jetzt um ein Weniges näher, und in seiner Stimme zitterte ein seltsamer Ton innerer Erregung, als er wieder begann: „Handeln Sie als Freundin an mir! Wir sind Collegen und müssen zusammenhalten. Sie können mir große Dienste leisten, wenn Sie mir mittheilen, inwiefern man Nachtheiliges über mich spricht, und mich so meine Feinde kennen lehren, damit ich immer vorbereitet bin. Sie sagen, Fräulein Helene, Sie kennen mich noch nicht genug, ich will Ihnen sagen, wie ich bin. Ich bin ein Mensch,“ fuhr er fort, und seine Stimme ward leidenschaftlicher erregt, „dem es unmöglich ist, in der breit getretenen Bahn des Gewöhnlichen fein still und bescheiden die vorgeschriebene Straße zu ziehen. Es ist ein unbestimmtes, unerklärbares Etwas in mir, das mich vorwärts treibt und stößt, [647] das mich zwingt, nach einem höheren Ziele zu streben, als um das Brod für’s tägliche Leben mühsam zu ringen. Und sehen Sie, ich fühle die Kraft in mir, Ruhm, Stellung und Ehre im Leben zu gewinnen, und darum eben hassen mich diese stolzen Edelleute, die es mir nicht verzeihen können, daß ich mir bis in ihren Kreis Bahn gebrochen habe, die es mir nie verzeihen werden, daß ich – bürgerlicher und jüdischer Abkunft – ihnen doch an Verstand und Wissen überlegen bin, ja, die mich hassen“ – ein seltsamer Ausdruck glitt hier über seine ausdrucksvollen Züge – „des fabelhaften Glückes wegen, welches ich stets bei den Damen gemacht habe. Sehen Sie mich nicht strafend und mißbilligend an, Fräulein Helene, ja – wenden Sie sich nicht von mir. Indem ich es unternahm, mich selbst Ihnen zu schildern, bin ich Ihnen auch in allen Punkten Wahrheit schuldig, und es ist wahr, wo ich mich noch ernstlich darum bemühte, hat kein Frauenherz mir widerstehen können.“

„Aber das ist abscheulich,“ rief ich, meiner Empörung Worte gebend. „Sie rühmen sich noch des frevelhaften Spieles, das Sie zur Kurzweil oder aus Eigennutz getrieben haben.“

„Mich rühmen? Nein,“ sagte er. „Ich führe nur die einfache Thatsache an. Würde ich mich besser bei Ihnen empfehlen, wenn ich die Wahrheit zu vertuschen oder zu beschönigen suchte?“

Als läge in seinem Blicke eine magnetische Gewalt, die den meinen unwiderstehlich und wider Willen zu sich hin zu zwingen verstand, mußte ich das Auge zu dem Antlitze mir gegenüber aufschlagen, und als ich in diese geistig belebten Züge blickte, da ward ich mir bewußt, daß – obwohl meine eben geäußerte Empörung wahrlich nicht erheuchelt war – daß ich ihn liebte wie noch nie, ohne Rettung, ohne Hoffnung, mich je von diesem mich vor mir selber so tief demüthigenden Gefühle befreien zu können. Aber ich biß die Zähne zusammen und legte mir in der einen Secunde tief in meinem Herzen das Gelübde ab, daß er nie, niemals auch nur ahnen solle, wie auch ich zu der langen Liste Derer gehöre, bei denen er „fabelhaftes Glück“ gemacht. Ich zwang meine Stimme zur Festigkeit und bemerkte, ohne auf seine Frage etwas zu erwidern, nur abwehrend: „Wie Sie selber mir jetzt bestätigen, sind alle schlimmen Gerüchte über Sie also doch nicht erdichtet.“

Er zuckte mit den Achseln. „Was wollen Sie? Ich stehe einer Gesellschaft gegenüber, die mich vielfach als Feind behandelt, und im Kampfe gehören, wie Sie wissen, die Kriegslisten nicht zu den verbotenen Dingen. Glauben Sie mir, zarte Hände öffnen auch die unzugänglichsten Pforten im Wege der Güte weit leichter, als rauhe Gewalt. Ueberdies traue ich Ihnen hinreichend Geist zu, Fräulein Helene, um auch in diesem Punkte beurtheilen zu können, wo die Grenze des Erlaubten gezogen ist. Werden Sie mir ein Verbrechen daraus machen, wenn ich diesen jungen Damen, die durchaus nichts Besseres verlangen, als sich von mir den Hof machen zu lassen, den Gefallen thue?“

Ich wollte ihm erwidern, daß diese Art bequemer Moral, die er sich selber geschaffen, meine Billigung entschieden nicht habe und nie erhalten werde, aber er schnitt mir das Wort ab, indem er schnell hinzufügte: „Mit Ihnen freilich ist das etwas Anderes, Fräulein Helene. Ihnen den Hof zu machen, würde ich niemals wagen. Ich biete Ihnen statt dessen meine Freundschaft an und füge nur das Eine hinzu: weisen Sie dieselbe nicht zurück! Denken Sie, wir kennten uns bereits fünfzehn Jahre! Sie können sich auf mich verlassen. Für Diejenigen, die gut mit mir sind, bin ich der treueste Freund, aber für die Falschen –!“ Er ballte die Hand; seine Augen funkelten, und ich war mir nur zu deutlich bewußt, daß kühle Gleichgültigkeit diesem wandernden Vulcane gegenüber eine Unmöglichkeit sei. Ich that also, wozu die innere Nothwendigkeit mich zwang, indem ich meine Hand in seine dargebotene Rechte legte.

„Jetzt sollen Sie auch erfahren,“ nahm Hirschfeldt nach einer kurzen Pause den Faden der Unterhaltung wieder auf, „was Fräulein Wéra mir heute mitzutheilen hatte. Meine schlimmsten Befürchtungen scheinen leider der Verwirklichung nahe. Stellen Sie sich vor, daß ihre Eltern sie verheirathen wollen!“

Er war bei diesen Worten leichenblaß geworden, und seine Züge nahmen einen solchen Ausdruck finsterer Erbitterung an, wie ich sie noch nicht bei ihm kennen gelernt hatte. Ich versuchte, ihm ein Wort der Theilnahme zu sagen, aber er hörte kaum darauf. „So sind diese Menschen!“ sagte er. „Ob ihre Tochter glücklich wird, oder ob sie ihr das Herz brechen, das sind ihnen Fragen von untergeordneter Bedeutung, die sie nicht einmal in Erwägung ziehen. Daß sie eine sogenannte standesgemäße Heirath macht, das ist das Ziel, nach dessen Erreichung sie vor allen Dingen jetzt streben, da sie Verdacht geschöpft haben, Wéra könne kühn genug sein, über ihr Herz und ihre Person selbst verfügen zu wollen.“

Ein unendliches Bedauern erfaßte mich, da ich nur zu gut erkannte, wie die stolze Natur des jungen Künstlers sich aufbäumen mußte, und wie er kämpfte gegen den Schmerz, der ihn doch fast zu überwältigen drohte.

„Ich sage Ihnen,“ knirschte er, „in dem Augenblicke, da Wéra mir mittheilte, daß die Gefahr drohend und nahe sei, daß man sie auf die bevorstehende Ankunft des ihr bestimmten Gatten schon vorbereitet habe, glaubte ich, ich solle niederstürzen.“

„Aber was werden Sie thun?“ fragte ich ihn.

Er sah mich mit seinen blitzenden Augen fast staunend an und erwiderte ohne Bedenken: „Kämpfen bis auf’s Aeußerste. Ich habe Wera beschworen, fest zu bleiben. Vielleicht, daß die Gefahr noch einmal abzuwenden ist und – Zeit gewonnen, Alles gewonnen. Im schlimmsten Falle,“ er war vorhin schon aufgesprungen, und jetzt beugte er, nahe zu mir herantretend, das Haupt tief herab und sagte gedämpften Tones: „Im schlimmsten Falle bleibt uns die Flucht.“

Ich fuhr zusammen und hob erschrocken meinen Blick zu ihm empor. Auf seinem Antlitz lag in diesem Augenblicke eine eiserne Entschlossenheit ausgeprägt.

„Wéra, das verwöhnte Kind des Reichthums, würden Sie wagen, es in eine unbestimmte Zukunft mit hineinzureißen?“

Mein neuer Freund hatte sich wieder aufgerichtet, und während seine Blicke fast durchbohrend den meinigen begegneten, fragte er: „Glauben Sie nicht, daß die volle, ungetheilte Liebe des Mannes eine Frau für Alles, was sie anderweitig aufgiebt, entschädigen kann?“

Ich blickte nieder. Ich empfand zu deutlich bei dieser Frage, wie man im Stande sein müsse, für seine Liebe all jene äußeren Dinge zu opfern, und doch – Wéra, jene zarte Blume, die von der rauhen Prosa des Lebens nicht einmal eine Ahnung hat, und dann –? „Ja, für eine ganze ungetheilte Liebe,“ antwortete ich zweifelnd.

Eine dunkle Röthe überflog plötzlich seine Stirn.

„Sie werden doch hier nicht an jene flüchtigen Tändeleien denken,“ sagte er, „die ich mir mitunter gestattet habe, – Wéra liebe ich.“

Ich gab ihm den stolzen Blick, mit welchem er diese Worte begleitete, ebenso stolz zurück und entgegnete mit Entschiedenheit: „Von dem Manne, dem ich eines Tages mein Herz schenken könnte, würde ich auch nicht die geringfügigste jener Tändeleien dulden.“

Er erwiderte nichts, aber er sah mich lange mit einem Ausdruck in den Augen an, den ich nicht zu deuten wußte. „Ja,“ sprach er dann endlich nachdenklich und langsam, „mit Ihnen ist es etwas Anderes, Sie sind nun einmal gar nicht zu vergleichen mit den übrigen jungen Damen hier, Sie – nun, Sie sind eben ein deutsches Mädchen.“

Ich begriff nicht, ob Herr Hirschfeldt mit dieser Heraushebung meiner Nationalität ein Lob oder einen Tadel aussprechen wollte, und verspürte auch keine Lust, mir solches näher von ihm erklären zu lassen, ich ersuchte ihn vielmehr dringend, sich wieder unter die Gesellschaft zu mischen, und er that es, nachdem er mir noch angekündigt hatte, daß seine Mutter und Schwester in der nächsten Woche wieder abzureisen gedächten und mich noch dringend um einen Besuch am Sonntag bitten ließen. Ich sagte ihm, daß ich, wenn möglich, kommen würde, und begab mich alsdann an den Flügel, um mit Aufbietung aller meiner Kraft noch ein langes und schweres Trio zu spielen.


Den 4. November.

Vorgestern blieb mir nur sehr kurze Zeit, zu Hirschfeldt’s zu gehen und zwar früh, da ich später mit unserer Gebieterin [648] ausfahren sollte. Als ich ankam, waren in Folge dessen die Damen noch bei der Toilette, und der Capellmeister empfing mich mit der Bitte, mich nur kurze Zeit zu gedulden. Wir blieben also für einen Moment allein, und er benutzte ihn sofort, um aus seiner Brieftasche ein zierliches Billet herauszunehmen und es mir zu reichen.

„Lesen Sie, ich bitte,“ rief er beinahe ungeduldig, als ich zögerte, den duftigen Liebesboten zu berühren, denn ich hatte in der Adresse Fräulein Adrianoff’s Handschrift erkannt, von der ich oftmals kleine Briefe empfange. Ich that, wie er geboten, und zwang meine Hand, nicht zu zittern, indem sie das feine Blättchen auseinanderschlug, welches den rückhaltlosesten Erguß schwärmerischer Leidenschaft enthielt und zugleich die Nachricht, daß die Ankunft ihres „Zukünftigen“ sich glücklicher Weise noch um ein Weniges verzögern werde, so daß sie für den Augenblick wieder aufzuathmen wage.

„Freuen Sie sich!“ sagte ich und gab den Brief zurück.

Er zuckte die Achseln. „Es ist eine Henkersfrist,“ erwiderte er finster. „Aber noch Eins, Fräulein Helene,“ – er war plötzlich nahe zu mir herangetreten – „in einer Minute wird meine Schwester hier sein. Sprechen Sie in ihrer Gegenwart nicht von diesen Dingen!“

Ich sah ihn voll Erstaunen an. „Nicht in Gegenwart Ihrer Schwester? Und warum nicht?“

Er zögerte. „Nun, wissen Sie, es ist des Geheimnisses wegen, das bewahrt werden muß, und meine Schwester ist – ist ein Frauenzimmer.“

„Und ich?!“

„Sie! Nun, ich sagte Ihnen schon, – Sie sind eine Künstlerin.“

Er durchmaß mehrmals das Zimmer mit hastigen Schritten, und dann plötzlich trat er wieder dicht vor mich hin und ließ seine Blicke auf mir ruhen, als wolle er im Grunde meiner Seele lesen. „Wunderbar,“ begann er von Neuem, „unfaßlich bleibt es trotz Allem. Erklären Sie mir nur das Eine: wie es doch kommt, daß ich zu Ihnen, ohne Sie weiter gekannt zu haben, so unbedingtes Vertrauen fassen mußte. Ich glaube, es rührt von der sicheren, harmonischen Ruhe in Ihrem Wesen her. Man sieht Sie an und fühlt sich überzeugt, daß alles Unedle, Unüberlegte oder auch Unpassende Ihnen gänzlich fern liegt, Sie –“

Zum Glück machte die Ankunft der Damen in eben dem Augenblicke allen Erörterungen ein Ende, denn – läßt er sie gleich nicht gelten, so war ich mir doch meiner Frauennatur klar genug bewußt, um nicht zu fürchten, daß sie sich nächstens in mir empören werde, wenn der Mann, dem sich nun einmal mein Herz zugewendet hat, noch länger fortführe, mein Ich gleich einer Sache zu zergliedern, die ihm einigermaßen nützlich und darum interessant erschien.

Ich verabschiedete mich nach kurzem Beisammensein mit Freundlichkeit von den Damen und legte während des Nachhausegehens still im Innern das Gelübde ab, mich von dem Herrn Sohn und Bruder in Zukunft auch möglichst fernzuhalten.


Den 25. November.

Es ist wohl recht nachlässig, aber es ist nun einmal so – volle drei Wochen sind vergangen, seitdem ich zuletzt an diesen Blättern schrieb, und so schnell sind sie dahin, daß ich nicht begreife, wo die Zeit geblieben ist. Volle drei Wochen! Und wenn ich an Alles denke, was in der Zeit sich begeben hat, so fühle ich die Unmöglichkeit, ausführlich das Versäumte nachzuholen, und nur um nicht den Faden zu verlieren, will ich das Wichtigste anführen.

Alle zehn Fingerspitzen thun mir weh, so daß ich kaum die Feder halten kann, und zwar von nichts als vom Fortepianospielen. Selbst nicht in den Zeiten meiner anstrengendsten Studien habe ich so mit Eifer gespielt; aber dafür ist uns auch der Triumph geworden, daß unsere musikalischen Abendunterhaltungen glänzenden Aufschwung genommen haben. Man spricht überall in der Stadt davon; es sind förmliche Concerte daraus geworden, und die ganze Gesellschaft plätschert in Musik. Während der vorigen Woche war Hirschfeldt fünf Tage nacheinander hier, immer um zu üben, und am Mittwoch halten wir ordentliche kleine Proben. Madame Branikow, deren Launen weit erträglicher geworden sind, seit sie sich nicht mehr wie im Sommer langweilt „zum Sterben“, hat ein zweites Instrument angeschafft, damit wir zu acht Händen spielen können. Am letzten Donnerstag haben der Capellmeister und ich den Alexander-Marsch auf beiden Instrumenten vorgetragen und, wie ich der Wahrheit gemäß wohl eingestehen darf, Furore damit gemacht.

Wenn ich nur diese thörichte Angst und das Herzklopfen überwinden könnte, mit dem ich immer zu kämpfen habe, wenn der Musikabend herankommt! Sowie ich im Augenblicke des Beginnens vor dem Instrumente sitze, geht Alles gut, zuvor aber quält mich das Mißtrauen in mich selbst, und eine unüberwindliche Unruhe beherrscht mich. Dazu ist schon von verschiedenen Seiten eine Andeutung gefallen, daß durch unsere kleinen Concerte allmählich ein großes für die Armen sich vorbereiten könne, und wenn ich daran denke, wird mir ganz bange um’s Herz.

Fräulein Adrianoff kommt wieder zu unseren Soiréen. Sie hielt sich einige Male zurück, aber Madame vermißte sie beim Spiele und fast mehr noch, weil sie den Verkehr mit der Familie, einer der vornehmsten in Woronesch nach derjenigen des Gouverneurs, nicht wieder entbehren möchte. Sie fuhr also eines Tags zu den Adrianoff’s, wobei ich sie begleiten mußte, lud Wéra auf’s Neue zu den Musikaufführungen ein und sagte den Eltern so viele schöne Dinge mit all’ der Liebenswürdigkeit, die ihr nach Gefallen zu Gebote steht, daß sie alsbald ihren Zweck erreichte.

[661] Bei der Gelegenheit sah ich auch zum ersten Male den General, Wéras Vater, der bisher, wie ich glaube, auf einer Inspectionsreise abwesend war. Es ist ein großer, stattlicher Mann mit dunkeln, etwas stechenden Augen und soll polnischer Abkunft sein. Er könnte mir Furcht einflößen; ich fühlte mich in seiner Gegenwart unwillkürlich beengt. Sein Anblick gemahnt mich sofort an jene halbcivilisirten Aristokraten, die den Gegner, der ihnen im Wege steht, kaltblütig vernichten können. Constantin ist, obgleich eine viel gewinnendere Persönlichkeit, doch dem Vater sehr ähnlich. Olga, von der man sicher überzeugt sein kann, daß sie in jeden die Stadt durchlaufenden Klatsch eingeweiht ist, sagte mir neulich: als man den General auf das Gerücht hinsichtlich seiner Tochter und Hirschfeldt’s aufmerksam gemacht, habe er mit einer unbeschreiblich wegwerfenden Miene nur die Achseln gezuckt, als wenn dergleichen bei seiner Wéra gar nicht vorkommen könne und der Capellmeister ihm selbst für den Argwohn zu unbedeutend sei. Selbstverständlich weiß ich nicht, ob an diesem Gerede irgend etwas Wahres ist, doch hatte General Adrianoff gegen Madanne Branikow’s Ersuchen weniger einzuwenden als die Mutter, und so besucht das Fräulein wieder unsere Soiréen und kommt auch an den Zwischentagen oftmals zum Ueben, aber ihr Bruder begleitet sie fast immer, und zu vertraulichen Mittheilungen zwischen ihr und Hirschfeldt findet sich sehr selten Gelegenheit. Ich habe sie auch mit aller mir zu Gebote stehenden Beredsamkeit zur Vorsicht ermahnt. Das junge Mädchen folgt einigermaßen meinen Rathschlägen, um wenigstens in ihrer Freiheit, uns zu besuchen, nicht wieder eingeschränkt zu werden. Für sie scheint es schon neues Leben, wenn sie nur mit dem Geliebten eine und dieselbe Luft athmen, wenn sie ihn sehen darf. Mit ihm freilich ist das anders. Er erträgt diesen Zustand oft mit knirschender Ungeduld, wenn er bei derselben auch niemals äußerlich die Selbstbeherrschung verliert, nicht selten aber mit einer bei seinem Charakter bewundernswerthen Resignation.

Seit der vorigen Woche bin ich übrigens ernstlich böse mit ihm, einer Unvorsichtigkeit wegen, die uns noch viel Unangenehmes bereiten kann. Ich hielt es nämlich für meine Pflicht, Hirschfeldt darauf aufmerksam zu machen, daß seit einiger Zeit Olga Nikolajewna sowohl ihn als Wéra, wo es nur irgend thunlich, mit Falkenblicken beobachte. Offenbar hat sie sich vorgenommen, Gewißheit über das wahre Verhältniß der Beiden zu erlangen, und da die Gouvernante mit Allem, was sie thut, sehr bestimmte Zwecke zu verbinden pflegt, so stieg mir bereits die unheimliche Ahnung auf, ein bedeutsameres Motiv, als reine Neugier, möge sie zu diesen Beobachtungen anspornen.

Der Musiker begegnete meinen Andeutungen mit jenem Lachen, das ihn den Frauen so gefährlich macht. „Seien Sie ruhig!“ sagte er. „Die Kleine fürchte ich nicht. Ich werde ein wenig liebenswürdig mit ihr sein und sie dadurch zufriedenstellen.“

Ich erwiderte nichts, weil mich die Antwort ärgerte, aber es sollte schlimmer kommen, denn am Abend entdeckte ich plötzlich Hirschfeldt in der animirtesten Unterhaltung mit Olga. Aus all’ ihren Zügen strahlte innere Befriedigung, und sehr häufig noch entdeckte ich sie später in des Capellmeisters Nähe und vernahm, wie sie nicht allein Witz- und Scherzworte mit ihm wechselte, sondern auch Blicke, die ihrerseits wenigstens an schmachtender Zärtlichkeit nichts zu wünschen übrig ließen. Mit einem Worte – Hirschfeldt machte Olga den Hof, und sie ließ es sich mit wohligstem Behagen gefallen. Seitdem nun ist die Gouvernante wie umgewandelt. Die Beachtung, welche der Musiker ihr vielleicht zu ihrer eigenen Ueberraschung urplötzlich widmet, hat die verborgene Leidenschaft, die sie wahrscheinlich schon längere Zeit für ihn gehegt, zu hellen Flammen angefacht. Sie befindet sich in einer wahrhaft beängstigenden Aufregung, sodaß sie selbst in den Unterrichtsstunden die befremdlichsten Zerstreutheiten begeht. Fast das dritte Wort, welches sie spricht, ist Hirschfeldt’s Name. Gegen mich erging sie sich anfangs in sehr durchsichtigen Anspielungen und konnte sich endlich nicht versagen, mir geradezu und triumphirend die Mittheilung zu machen, der Capellmeister bete sie an, sie sei nur noch nicht mit sich im Reinen, ob sie seinen Bewerbungen Gehör schenken werde.

Ich fühlte mich diesen Gefühlsergüssen gegenüber nicht wenig in Verlegenheit gesetzt und konnte mich doch nicht enthalten, das erregte Mädchen darauf hinzuweisen, daß einige Aufmerksamkeiten von Seiten der Männer noch lange kein Beweis für deren ernstliche Absichten seien. Meine Worte hatten indessen eine der guten Absicht entgegengesetzte Wirkung. Olga Nikolajewna [662] fuhr gegen mich auf wie ein kleiner Sprühteufel. Jeder Zweifel an der Liebe Hirschfeldt’s würde ihr wie ein Frevel erscheinen, setzte sie mir in ungemeiner Ueberschwenglichkeit auseinander und machte nicht mißzuverstehende Andeutungen über den Neid von gewissen Personen, die ein Glück, wie es ihr zu Theil geworden, vielleicht vergebens ersehnt hätten.

Ich überließ sie nunmehr mit einem Achselzucken ihren Phantasiegebilden, aber die Geschichte erregte mir fortwährend ein höchst unbehagliches Gefühl, und ich fasse bis jetzt durchaus nicht, wie das seelische Gleichgewicht der Gouvernante sich wieder herstellen soll.


Den 27. November.

Gestern Abend hatten wir wieder unsere Soirée, aber es war ein rechter Unglückstag. Alle machten Fehler beim Spiele. Ich trug das neue große Trio von Rubinstein vor, welches die Musiker so schlecht begleiteten, daß es eine Schande war. Bei der Jubel-Ouverture von Weber, zu acht Händen gespielt, kam selbst Hirschfeldt ganze zwei Tacte zu früh. Wéra klagte über Kopfschmerzen und schien verstört. Ich wollte mich ihrer annehmen und sie, damit sie frische Luft schöpfe, in die Galerie führen, aber Herr Bessedofski, ein alter Musikschwärmer, bemächtigte sich meiner.

„Kommen Sie, Mademoiselle Helene!“ sagte er. „Zenaïde Petrowna will nicht glauben, daß der Componist des ‚Freischütz‘ ein Deutscher war. Sie meint, so göttliche Melodien könnten nur dem Kopfe eines Italieners oder Franzosen entsprungen sein. Kommen Sie also und helfen Sie mir die Nationalität Ihres genialen Landsmanns retten!“

Ich folgte der Aufforderung mit einen unterdrückten Seufzer und sah mich alsbald in eine so lange musikalische und eifrig geführte Unterhaltung verwickelt, daß ich nicht daran denken durfte, mich um sonst Jemanden zu bekümmern. Als es mir später endlich gelang, mich wieder zu befreien, mußte ich eine ganze Weile suchend umherspähen, bis ich einen Schimmer von Wéras lichter Seidenrobe im Winkel einer Fensternische entdeckte. Ich wollte mich ihr nähern, aber wie soll ich mein Erstaunen schildern, als ich neben ihr Olga entdeckte, die mit aller deckbaren Liebenswürdigkeit um sie bemüht schien und in ihrer sprudelnd lebendigen Manier sie sowohl wie den daneben stehenden Constantin Feodorowitsch so gut unterhielt, daß des Letzteren ernstes Gesicht in ungewohnter Heiterkeit erglänzte und er sich vor Lachen schüttelte, während selbst seiner Schwester sanfte Züge sich durch einen Schimmer von Frohsinn rosig angehaucht zeigten.

Einen Augenblick stand ich wie angewurzelt. Die Gouvernante in so herzlichem Beisammensein mit Derjenigen, in der sie doch vor allen Anderen eine gefährliche Nebenbuhlerin fürchten mußte! Es durchzuckte mich wie ein unheimlicher Schreck; einen besondern Grund mußte das haben, und sicher hatte es keinen guten. Ich trat zu der Gruppe, aber es wurde mir beinahe unerträglich, zu sehen, wie Olga, deren Herzenszustand ich doch kannte, vor meinen Augen mit dem jungen Rittmeister die Coquette spielte und zur Abwechselung wieder Fräulein Adrianoff mit fein angebrachten Schmeicheleien überschüttete. Ich freute mich von Herzen, als der allgemeine Aufbruch der Gesellschaft dieser mir unerträglichen Situation ein Ziel setzte.

Ja, ein Ziel für das eine Mal, aber wann werden alle mich umgebenden Wirrnisse ein Ende nehmen! Mitunter fühle ich mich unsäglich angewidert von all diesen Verhältnissen, in die ich gegen mein Wollen hineingerissen bin, von diesen Heimlichkeiten und Intriguen, denen meine offene Natur so durchaus widerstrebt. Mir ist, als sollte ich entfliehen von hier, weit, weit hinweg, je eher desto lieber. Es überfällt mich oft jetzt wie eine Sehnsucht nach den kleinsten, bescheidensten Verhältnissen, wenn nur Ruhe und Frieden im Herzen dabei zu erkaufen wären. Aber es geht nicht, kann nicht sein; noch stehe ich inmitten des Kampfes, und vorwärts muß ich, will ich – hindurch ohne zu erlahmen und zu ermatten, obgleich ich ohne Hoffnung kämpfe, obgleich oftmals mein Herz in der heißen Qual der Verdammten zuckt. Kein Galeerensclave hat jemals deutlicher die Kette gefühlt, an die man ihn angeschmiedet, als ich die Fessel, die mich hier zurückhält. – Warum nur diesen Mann lieben, der mir nichts bieten kann und will, als eine kühl verständige Freundschaft? Warum, ja – warum wendet die Blume ihr Haupt dem Alles belebenden Sonnenstrahle zu?

Es ist nicht der schöne und schön spielende, formengewandte Salonmensch, in den die übrigen jungen Damen sich verlieben, der mir gefallen könnte. Nein, im Gegentheile, mein Interesse fesselt der Mann, wenn er ernst ist, wenn er mit starkem, muthigem Herzen vor kühnem Wagen um die höheren Ziele des Lebens nicht zurückschreckt. Wenn seine Stirn in finsterem Unmuthe sich zusammenzieht, seine Hand sich ballt und der verhaltene Schmerz um die verkümmerte Liebe um seine Lippen zuckt, dann liebe ich ihn. Ich bin nicht blind gegen seine Fehler, gegen seinen Uebermuth, seine trotzige Selbstüberhebung; ich zürne ihm darum und ärgere mich über ihn, und dennoch weiß ich, fühle ich zu gleicher Zeit, daß es nur Flecken an der Sonne sind, daß sein edles Selbst im Augenblicke der That sich darüber erheben, sie, wie der Adler den Staub von seinen Flügeln schüttelt, von sich abstreifen wird, daß der Genius, dessen Hauch seine Stirn berührt hat, ihn emportragen muß über die kleinlichen Erbärmlichkeiten des Lebens. Und ich, ich will ihm zur Seite bleiben, rathend, helfend, oder auch nur tröstend, bis er mich entbehren kann, weil – er glücklich ist.

Es ist heute ein klarer, kalter Wintertag. Die Sonne funkelt auf der dichten, blendenden Schneedecke draußen, daß mir die Augen weh thun, und doch sehne ich mich nach der frischen Luft und freue mich auf die Spazierfahrt, auf der ich sogleich Madame Branikow begleiten werde. Die Zeit, die sie jetzt noch zu ihrer Toilette verwendet, gab mir die willkommene Ruhepause zum Schreiben, die sich später im Laufe des Tages wohl schwerlich noch gefunden hätte, denn zum Diner sind schon Hirschfeldt und noch mehrere Herren eingeladen, und diesen Abend soll wegen des Namensfestes der kleinen Alexandra eine Kindergesellschaft stattfinden, welcher von neun Uhr an eine Soirée für die Erwachsenen sich anschließen wird.


Den 28. November.

Die Uhr hat mit langsamen Schlägen bereits Mitternacht verkündet, im Hause wird es still und immer stiller, und doch sitze ich noch vollkommen wach in meinem einsamen Stübchen und kann keine Ruhe finden. Ich fühle, daß ich meine Gedanken ordnen, noch einmal ungestört in mein Gedächtniß zurückrufen muß, was sich gestern Abend und heute Alles begeben hat, wenn ich endlich volle Klarheit des Geistes und die nothdürftigste Ruhe im Gemüthe wiederfinden will. Hinreichend, um mir Beides zu rauben, waren die Wirrnisse in der That, die während der letzten vierundzwanzig Stunden auf mich einstürmten, und doch bedurfte ich aller meiner Geistesgegenwart niemals mehr. Schon gestern lag es schwer wie eine Ahnung kommenden Unheils in der mich umgebenden Luft. Ich kleidete mich mit Widerwillen zum Diner und der später folgenden Festlichkeit an und ließ mich selbst durch Masche’s eindringlichste Bitten nicht bewegen, meinem Anzuge von schwarzer Seide einen weiteren Zierrath hinzuzufügen, als Schleife und Gürtel von veilchenfarbigem Atlas.

„Fräulein sehen so blaß aus,“ sagte das gutmüthige Mädchen, „wenn Sie denn nicht ein blaues oder rothes Band nehmen wollen, sollten Sie mindestens ein wenig, nur ein ganz klein wenig Roth auf die Wange legen.“

„Masche, wie oft soll ich Dir wiederholen, daß ich nicht einmal Roth besitze und es nie in mein Gesicht bringen werde,“ rief ich voll wirklicher Ungeduld, aber die Zofe ließ sich nicht entmuthigen.

„O, wenn weiter nichts als das fehlt,“ meinte sie, ohne meinen letzten Ausspruch zu berücksichtigen. „Fräulein Olga hat eine ganze Menge von Schächtelchen, voll von allen möglichen Pulvern, und ihr Mädchen wird uns gern eins davon borgen.“

Ich sah mich genöthigt, die Schwätzerin ernstlich zur Ruhe zu verweisen, aber indem ich es that, regten sich in mir allerlei Gedanken hinsichtlich der frischen Farben, die seit einiger Zeit auf Olga’s Wangen erblüht sind. Früher würden diese Gedanken mich heiter gestimmt haben, gestern jedoch konnten sie mich nur bedenklicher machen. Die kleinen Verschönerungsmittel, deren sie sich geschickt genug bedient, stehen übrigens der Gouvernante ausgezeichnet. Sie sah bei Tische gut aus und machte so lebhaften Gebrauch von ihren geselligen Talenten, daß ich mir neben ihr wie eine Nonne vorkam.

Bis dahin ging Alles nach Wunsch. Ich bemühte mich, [663] dem Capellmeister auszuweichen, wie ich es beharrlich versucht, seit er Olga Nikolajewna den Hof macht. Er weiß sich mir freilich mit einer erstaunlichen Ungenirtheit wieder zu nähern und übersieht dabei ganz meinen Zorn. Wenn mich die schwarzen Augen dann mit einer verwunderten Frage in ihrer dunklen Tiefe so freundlich anschauen, bin ich leider oft nicht genug Herrin meines Willens, um die Hand, die unwillkürlich sich ihm entgegenstreckt, zurückzuhalten.

Der Verlauf einer Kindergesellschaft ist, denke ich, in aller Herren Ländern derselbe. Ich habe die Kinder gern, und so begann ich auch gestern, mich wirklich wohl zu fühlen, als ich mich nach Gefallen unter den fröhlichen Schwarm mischte, in dem so viel Lieblichkeit, Anmuth und Unschuld vereinigt war. Auch Hirschfeldt ist ein Kinderfreund, und das gefällt mir an ihm. Wie ich die schlanke Gestalt inmitten der Kleinen erblickte, wie ich ihn nicht müde werden sah, auf ihre Neckereien einzugehen, mit ihnen zu spielen und endlich zu tanzen, da fühlte ich in meinem Herzen den Groll gegen ihn verschwinden.

Fräulein Adrianoff kam mit ihrer Mutter, da Constantin erst um neun Uhr erwartet wurde. Sie strahlte in Schönheit und Glück. „Fräulein Helene,“ war das erste Wort, welches sie mir zuflüsterte, „keiner Ihrer kleinen Gäste kann sich mehr auf dieses Fest gefreut haben, als ich.“

Ihre Freude war mir nur zu begreiflich. Heute, in der Zwanglosigkeit der Kindergesellschaft, dem Bereiche von Constantin’s scharfen Augen entrückt, fühlte sie sich frei, hatte auch den besten Willen, diese Freiheit zu genießen, und that es nach Herzenslust. Ich habe sie noch niemals so belebt gesehen, wie gestern. Sie setzte offenbar den Becher, den die Gunst des Augenblickes ihr bot, frisch an die Lippen und schlürfte den goldenen Trank, ohne vorwärts oder rückwärts zu blicken. Sie fand Gelegenheit, mit Hirschfeldt hier und da ein unbeachtetes Wort zu wechseln, ja, ich entdeckte mehrmals die Beiden in einem Winkel oder von einer Blumengruppe halb versteckt, und als Wéra später zu mir kam und mit einem vielsagenden Händedrucke ihren Empfindungen Ausdruck gab, legten ihre feucht glänzenden Augen, ihre glühenden Wangen deutlich genug Zeugniß von dem Inhalte der gehabten Unterredung ab.

Sie tanzten miteinander. Wéra tanzen zu sehen, ist schon an und für sich ein Genuß. Die russischen Damen ähneln überhaupt, was Grazie und Leichtigkeit der Bewegung anbetrifft, den Französinnen, übertreffen sie vielleicht sogar, und zumal Fräulein Adrianoff ist im Tanzen die vollständige Sylphide. Ihre prachtvoll ebenmäßig gebaute, biegsame Gestalt folgt dem Rhythmus der Musik in so natürlich anmuthiger Sicherheit, daß sich dem Zuschauer sofort die Ueberzeugung aufdrängt: das ist nichts Studirtes oder auch nur Erlerntes, sondern die vollständigste Natur. Sie kann eben nicht anders, als sich vollkommen der Musik anschmiegen, und dabei berühren ihre zierlichen, kleinen Füße in spielender Leichtigkeit kaum das glänzende Parquet. Wéra, tanzend im Arme des Geliebten, war ein bezauberndes Bild. Beide gleich schön und in diesem Augenblicke gleich selig, vergaßen sie, daß das Antlitz der Spiegel der Seele ist, vergaßen die Maske der Convenienz auf demselben fest zu halten, und daß es Augen in ihrer Nähe geben könne, die, minder strahlend als die ihrigen, versuchen möchten, in diesem unbewachten Moment darin zu lesen.

Mir erzitterte das Herz in glühendem Weh, und dennoch konnte ich meine Blicke, die wie gebannt dem Paare folgen mußten, nicht losreißen. Ich that es endlich gewaltsam und eilte an das Instrument, von welchem ich den für diesen Abend engagirten Pianisten mit dem Bemerken fortcomplimentirte, daß, da ich nicht tanze, es mir Vergnügen machen würde, wenigstens für eine Weile zum Tanze zu spielen. Ich that es in dem verzweiflungsvollen Bestreben, etwas zu beginnen, das meine Gedanken betäubte und abzog. Ich spielte, ohne zu denken oder mich einmal umzusehen, ohne Aufhören Alles, was ich eben in den vor mir liegenden Heften fand, vom schwermüthigsten deutschen Walzer bis zur wildrauschenden Mazurka, zu deren Klängen die Knaben vor Freude jauchzten und sich mit hellem Gelächter mühten, dem schwindelnden Tempo zu folgen. Ich fühlte wirklich fast eine Art von Betäubung. Es war wie ein Traum, aus dem ich nicht erwachen wollte. Aber das Erwachen kam ohne mein Zuthun, indem eine Hand leicht und elastisch meine Schulter berührte. Als ich empor sah, schaute ich in Hirschfeldt’s unruhig bewegte Züge.

„Wo ist Wéra?“ fragte er.

Ich, ohne mich stören zu lassen und nur etwas leiser die Tasten anschlagend, antwortete ihm:

„Als ich sie zuletzt sah, tanzten Sie mit ihr.“

„O, das war vorhin“ – seine Stimme zitterte fast in unterdrückter Ungeduld –, „aber ich wurde in den Salon gerufen und dort von der alten Kleopatra Feodorowna, die an Nichts mehr denkt als an das Wohlthätigkeitsconcert, fast eine halbe Stunde mit langweiligen Reden festgehalten. Als ich darauf zurückkehrte, war Wéra verschwunden; ich sehe sie weder hier noch im Salon, und … und … auch Olga Nikolajewna erblicke ich nirgends. Beide sind, wie die kleine Alexandra mir sagte, zusammen fortgegangen.“

Ich spielte einen Schlußaccord und stand langsam auf. Wie immer, wenn eine Thatsache unmittelbar an mich herantritt, war auch jetzt vollkommene Ruhe über mich gekommen. Ich wußte, daß der Capellmeister in der That Ursache hatte, sich zu beunruhigen, denn Fräulein Adrianoff ist nichts weniger als vorsichtig und Olga – eine Intriguantin.

Die Thür nach der Galerie war der Kälte wegen geschlossen; die jungen Damen mußten also, wenn nicht im Salon, so doch an der gegenüber befindlichen Seite desselben zu finden sein, und ich ging, sie zu suchen. Kaum hatte ich jedoch einige Schritte gethan, als ich einen der Diener gewahrte, der, sichtbar verstört und mit spähenden Blicken, im Eingänge des Salons erschien und, sobald er mich erblickt, auf mich zueilte.

„Was giebt’s, Wassili?“ fragte ich, ihm entgegen tretend.

„Ach, Fräulein,“ lautete die leise und hastig gegebene Antwort, „Sie möchten doch rasch kommen: die Gouvernante ist ohnmächtig geworden.“

Hirschfeldt, der sich an meiner Seite gehalten, schien mit einer Fluth von Fragen auf den erschrockenen Boten zustürzen zu wollen, doch ich schob ihn beschwichtigend zurück und fragte nur den Letzteren, wo Olga sich befände.

„In Zenaïde Petrowna’s kleinem Salon, und es ist Niemand bei ihr als Fräulein Adrianoff.“

Gut – um in Madame Branikow’s kleines Empfangszimmer zu gelangen, mußte man entweder die Schlafzimmer oder den mit Gästen angefüllten großen Salon durchschreiten, es war demnach unmöglich, daß der Capellmeister, ohne Aufsehen zu erregen, mich dahin begleiten konnte. Auf meine Erinnerung daran blieb er allerdings zurück, aber ich hatte noch nie eine solche Unruhe bei ihm wahrgenommen, wie sich in Folge meiner Worte auf seinem Antlitze abspiegelte. Ich gebot noch Wassili, Niemand weiter von dem Vorfalle zu benachrichtigen, da man die Gäste nicht beunruhigen dürfe, und dann suchte ich, so unvermerkt wie möglich an all’ den lachenden, schwatzenden kleinen und großen Menschen vorüber gleitend, das bezeichnete Gemach zu erreichen.

Es ist ein Raum, nahezu ebenso groß wie der Salon, aber man hat ihn durch einen schweren, großen Vorhang von violettem Sammet in zwei Hälften getheilt, deren eine, wie das häufig in Rußland geschieht, als Schlafzimmer benutzt wird, während in der vorderen Madame sich vorzugsweise aufhält, wenn sie es sich bequem machen will, wenn sie nicht für Jedermann daheim ist und nur nahe Bekannte empfängt. An der einen Seite befindet sich hier ein großer, ringsum freistehender ruhebettartiger Divan, dessen Kopfende von den vorzüglich schönen Kronen einiger schlanken Palmen überragt wird, die so geschickt angebracht sind, daß die ganz mit Polstern umkleideten Kübel allerliebste Ruhesitze bilden. Hier, unter dem grünen Blätterdache, auf Zenaïde Petrowna’s Lieblingsplatze, lag die Gouvernante, nicht mehr, wie Wassili gesagt, in Ohnmacht, sondern in Krämpfen. Sie stieß immerwährend entweder halblaute, kaum verständliche Worte oder unarticulirte Töne aus, griff mit den Händen wild um sich und schüttelte sich in Convulsionen, während Fräulein Adrianoff, Todesangst in allen Zügen, sie zu halten suchte und sie mit einer starkduftenden Flüssigkeit aus ihrem Flacon überschüttete. Sobald das Fräulein meiner ansichtig wurde, stieß sie einen hörbaren Seufzer der Erleichterung aus.

„O, Fräulein Helene, welch Glück, daß Sie kommen! Helfen Sie!“

[664] „Mein Gott, was ist vorgefallen?“ fragte ich, indem ich aus einer Krystallflasche ein Glas mit Wasser füllte und zu der Gruppe herantrat.

Wéra, die mir sofort den Platz neben Olga abtrat, starrte mich mit ihren großen Augen rathlos und ängstlich an. „Es ist entsetzlich,“ sagte sie, „ich bin beinahe gestorben vor Angst.“

„Aber was ist geschehen?“ wiederholte ich, während ich versuchte, die Leidende emporzurichten und ihr einige Tropfen Wasser einzuflößen. „Olga war doch vor einer Stunde noch vollkommen wohl.“

Wéra’s Wangen überhauchte bei meiner dringenderen Frage ein mattes Roth, und ihr Blick suchte den meinigen zu vermeiden. „Wir wollten einen Augenblick hier ausruhen,“ sagte sie, fast bei jedem Worte stockend. „Wir plauderten – über – mancherlei, und –“

„Und –?“ Ich wollte der Sache auf den Grund kommen und sah deshalb die junge Dame so fest und fragend an, daß sie noch mehr erröthete, aber sich zu gleicher Zeit zum Antworten gezwungen fühlte.

„Und – wir – wir sprachen über Hirschfeldt,“ fuhr sie langsam fort, „als dieser furchtbare Zufall eintrat, als –“

„Alexis!“ kreischte in demselben Augenblick Olga laut auf und fuhr abermals wild empor.

Ich sah unwillkürlich, fast entsetzt nach dem Eingange zum Salon, der nur durch einen dichten Vorhang geschlossen war und von wo aus wir keine Minute vor Ueberraschung sicher waren. „Vor allen Dingen müssen wir sie von hier fortschaffen,“ dachte ich, machte aber in eben der Secunde auch die wenig tröstliche Entdeckung, daß ich auf Hülfe von Seiten des Fräulein Adrianoff schwerlich würde rechnen können, denn diese war neben dem Divan niedergesunken und verbarg schluchzend das Antlitz in den Kissen desselben.

Wäre nur meine treue Masche zu erreichen gewesen! Ich wollte einen Augenblick der Ruhe, der in Olga’s Zustand eingetreten war, benutzen, um mich in dem Gemache nebenan nach einer Kammerzofe umzusehen, und näherte mich deshalb dem großen Vorhange. Noch bevor ich ihn erreicht hatte, thaten sich jedoch die Falten desselben auseinander, und – ich prallte erschrocken zurück – der Capellmeister trat mir entgegen.

Dieser Mensch wagt in der That Alles. Hätte Madame ihn aus ihrem Schlafzimmer kommen sehen, ich bin gewiß, sie würde ihm sofort die Thür gezeigt haben.

„Woher kommen Sie?“ frug ich ernst.

Er zuckte die Achseln und sagte, vollends näher kommend. „Ich mußte wissen, was vorgeht, und darum habe ich mir durch die verschiedenen Corridore und Nebenzimmer einen Weg gebahnt. Aber wo ist Wéra?“

Die Genannte war bei dem ersten Laut seiner Stimme bereits wie eine Feder emporgeschnellt, und auch auf die Gouvernante hatte dieselbe eine bemerkenswerthe Wirkung geäußert. Zuerst hatte es wie ein Beben ihren Körper durchzuckt, dann richtete sie sich in eine sitzende Stellung empor, strich das herabgeglittene Haar aus der Stirn und schaute mit weitgeöffneten Augen Hirschfeldt an. Er aber warf nur einen flüchtigen Blick auf sie, der ihm freilich den Stand der Dinge vollkommen klar zu machen schien. Er ging zu Fräulein Adrianoff und sagte zitterd vor Erregung, fast drohend: „Haben Sie vergessen, Wéra, was ich Ihnen verboten habe? Haben Sie meine Warnungen vergessen?“

„O nein!“ Sie sah flehend in seine blitzenden Augen und erbebte leise. „Ich werde sie nie vergessen.“

„Sie dürfen nicht hier bleiben,“ fuhr er dringender fort. „Unter keiner Bedingung darf man Sie hier finden. Begreifen Sie nicht, Wéra, was auf dem Spiele steht? Sie müssen sofort in den Saal zurückkehren. Sie müssen sogar tanzen.“

„Ich kann nicht. O nein, Alexis, ich kann es wirklich nicht,“ entgegnete Fräulein Adrianoff, welche sich vergebens bemühte, ihre Thränen zurückzuhalten.

„Wéra!“ In dem einen Rufe seiner modulationsfähigen Stimme lag Alles ausgedrückt – eine zärtliche Bitte und ein drohender Befehl. „Wéra, ich will es; kehren Sie in den Saal zurück! Wenn es hier zu irgend einem heftigen Auftritt kommen sollte – begreifen Sie nicht, daß die Folgen unberechenbar sein würden? Kommen Sie,“ er zog das junge Mädchen, welches unfähig war, ihm noch irgend einen Widerstand entgegen zu setzen bis an den Vorhang. „Gehen Sie durch die nächsten beiden Zimmer!“ gebot er. „Auf dem Corridore finden Sie Wassili, dem ich einen Rubel gegeben habe; er wird Sie in den Musiksaal führen.“

Er sah ihr nach, bis der letzte Schimmer ihrer knisternden Seidenrobe hinter den dunklen Falten des Vorhanges verschwunden war, und als er sich dann in’s Zimmer zurück wendete, stand Olga Nikolajewna vor ihm.

Diese Letztere hatte von dem Momente an, als er das Gemach betreten, ihn nicht aus den Augen gelassen. Sie war seitdem wie mit einem Schlage wieder Herrin ihrer selbst, wenn auch ihre Aufregung noch immer etwas Beängstigendes hatte. Ob die zwischen Wéra und Hirschfeldt gewechselten Worte ihr trotz ihres Aufhorchens unverständlich geblieben waren, vermag ich nicht zu entscheiden, glaube es jedoch, da sie in deutscher Sprache und gedämpften Tones gesprochen waren und Alles nur den Verlauf weniger Secunden in Anspruch genommen hatte.

Wie dem aber auch sei, sie hatte genug begriffen. Ich hätte sehr wenig Fassungsgabe besitzen müssen, um nicht von vorne herein zu verstehen, daß sie all ihr Geschick für die Intrigue angewendet hatte, Fräulein Wéra zutraulich zu machen, daß sie sich mit derselben isolirt hatte, um sie über ihr Verhältniß zu Hirschfeldt auszuforschen und daß sie vorhin, durch irgend welche unvorsichtige Aeußerungen des Fräuleins, in eine Aufregung versetzt war, die ihr alle Besinnung geraubt hatte. Jetzt stand sie dem Musiker gegenüber mit funkelnden Augen und bebenden Lippen.

„Verräther!“ zischte sie ihm zu.

Eine plötzliche Gluth überflog seine Stirn; seine Blicke trafen sie wie zwei Blitze, und während einiger Secunden glaubte ich, der in ihm wogende Unmuth würde gegen sie losbrechen. Hirschfeldt faßte sich indessen schnell wieder und sagte mit vollkommener Selbstbeherrschung im leichten Conversationstone: „Sie sind erregt, mein Fräulein. Ich denke, eine Stunde der Ruhe und ungestörten Nachdenkens würde Sie wieder herstellen.“

Olga’s Hände ballten sich; sie rang nach Athem, als wolle der Zorn sie ersticken, und im Geiste sah ich bereits den Krampfanfall zurückkehren, aber die Wuth siegte in ihr und ließ sofort mit Gedankenschnelle die Worte über ihre Lippen sprudeln: „Ah, mein Herr,“ rief sie, „man kennt Sie endlich, man weiß, was Ihre Liebesbetheuerungen zu bedeuten haben. O, ich danke dem Himmel, daß Sie gerade in diesem Augenblicke vor mir stehen, daß ich gleich jetzt meiner Empörung Worte geben kann. Sie haben mit meinem Herzen ein unwürdiges Spiel getrieben, ein falsches, schändliches, nichtswürdiges Spiel. Aber wenn Sie wähnten, man dürfe mich ungestraft mit Füßen treten, so sollen Sie eines Tages Ihren Irrthum erkennen, und ich will wenigstens die Genugthuung haben, Ihnen zu sagen, daß ich Sie verabscheue.“

Um Luft zu schöpfen, hielt sie einen Moment inne. Der Gegenstand ihrer zornigen Aufregung ließ den Blick von ihr zu mir mit einem Achselzucken herüber schweifen, welches zu sagen schien: „Was will sie eigentlich von mir mit all dieser tollen Wuth?“

Olga aber hatte diese Bewegung mit raschem Blick erfaßt. Ein erneutes Zittern überlief ihren Körper. Sie schüttelte die kleine Faust gegen ihren Widersacher und schleuderte ihm giftig die Worte zu: „Spielen Sie nicht den Unschuldigen, den Unwissenden – ich weiß Alles.“

Da schient auch ihn die Geduld zu verlassen. Er stampfte mit dem Fuße und rief heftig, ihr einen Schritt näher tretend: „Was wissen Sie?“

„Genug, um mich zu rächen,“ lautete Olga Nikolajewna’s Antwort, und indem sie Hirschfeldt herausfordernd anschaute, strich sie hoch aufathmend das dunkle Haar von der Stirn. Es schien ihr eine Art von Befriedigung zu gewähren, daß endlich sein Gleichmuth ihn verlassen, daß sie die verwundbare Stelle getroffen habe.

Mich empörte die ganze Scene in tiefster Seele, und da die Gouvernante auf’s Neue in Verwünschungen und Drohungen ausbrach, ging ich auf sie zu, fest entschlossen, ein Ende zu machen – da plötzlich rauschte die Portière hinter uns, und als [665] wir alle Drei wie auf Commando uns umsahen, stand – stolz aufgerichtet wie eine Fürstin – Zenaïde Petrowna uns gegenüber, äußerste Verwunderung in allen Zügen.

„Was ging hier vor?“ fragte sie, näher rauschend, in französischer Sprache.

In Olga’s Gesicht leuchtete ein boshafter Triumph auf. Sie setzte ihre Schmähungen und Anklagen gegen den Capellmeister in womöglich noch stärkeren Accenten fort.

Madame ließ die Blicke mit einem Gemisch von Erstaunen und Entrüstung von Einem der Beiden zum Andern gleiten, bis dieselben drohend an Hirschfeldt haften blieben.

„Mein Herr, ich begreife nicht –?“

Aber ihn verließ im entscheidenden Augenblicke die Geistesgegenwart nicht. „Ich ebenfalls nicht, Madame,“ sagte er mit ungeheuer imponirender Sicherheit und stellte sich neben Zenaïde Petrowna, seine Feindin mit den Blicken messend.

Diese stieß einen Schrei der Wuth aus, stürzte zu ihm hin und rief, seinen Arm umklammernd: „Mein Herr, Sie sind ein niederträchtiger Mensch. Spielen Sie nicht den Unschuldigen! Soll ich Ihnen Ihre Liebesbetheuerungen etwa jetzt in’s Gedächtniß zurückrufen? Aber nein, ich verachte dieselben und begehre sie nicht mehr. Ebenso wie ich Sie geliebt habe, hasse ich Sie nunmehr. Hören Sie, ich hasse Sie, da ich Ihre Falschheit kenne, da ich weiß –“

[666] Sie vollendete nicht, denn zornig, wie ich ihn noch niemals gesehen, mit blitzenden Augen und drohend zusammengezogenen Brauen, riß der Capellmeister sich los und schleuderte Olga’s Hand von sich. „Schweigen Sie!“ donnerte er ihr zu. „Halten Sie inne mit diesen wahnsinnigen Anschuldigungen, an denen kein wahres Wort ist! Niemals habe ich Ihnen Liebesbetheuerungen gemacht, niemals, und ich begreife nicht, was Sie mit alledem eigentlich von mir wollen.“

Sie öffnete noch einmal ihre Lippen, doch in dem Augenblicke, da ihr Blick dem seinigen begegnete, erschrak sie vielleicht vor dem Ausdrucke, der ihr daraus entgegensprühte; sie verstummte, und da sie alle ihre anderen Waffen als machtlos erkannt, nahm sie ihre Zuflucht zu dem letzten Hülfsmittel der Frauen, warf sich wiederum auf Zenaïde Petrowna’s Divan unter den Palmenkronen und brach in ein hysterisches Schluchzen aus.

[681] Die Gebieterin des Hauses hatte schon zu wiederholten Malen unruhige Blicke nach dem Eingange zum Salon geworfen.

Wenn die Gäste etwas merkten! Ein Scandal in ihren Salons, in denen eben die vornehme Gesellschaft von Woronesch sich versammelte! Sie bebte vor Aerger bei diesem Gedanken, und doch regte sich in ihr die Neugier. Sie hätte gar zu gerne den Zusammenhang der tollen Scene ergründet.

„Mein Herr,“ wendete sie sich an Hirschfeldt, „zu gelegenerer Stunde werde ich Rechenschaft von Ihnen fordern über die unheilvolle Verwirrung, zu deren Schauplatz Sie unpassender Weise meine Zimmer auserlesen haben.“

Der Angeredete ließ sich durch den hochfahrenden Ton dieser Worte keineswegs einschüchtern. „Gnädige Frau sehen mich ebenso erstaunt, wie Sie selber sind,“ lautete seine Erwiderung. „Ich bin hier in einer Weise angegriffen worden, deren Grund mir durchaus unerklärlich ist.“

Madame Branikow heftete mit einem mir sehr bekannten, unheilverkündenden Zusammenkneifen der Lippen ihre Blicke ironisch auf den Sprechenden. Ich wußte, daß sie im nächsten Augenblicke ihm eine Bosheit sagen würde oder gar eine Beleidigung, die ihm das Bleiben in ihrem Hause zur Unmöglichkeit machte.

„Madame,“ nahm ich daher, rasch vortretend und indem ich meine Uhr herauszog, das Wort, „um neun Uhr hat die Frau Gouverneurin ihr Eintreffen in Aussicht gestellt, und es sind bereits fünf Minuten nach Neun.“

„Ah, es ist wahr,“ rief Zenaïde Petrowna, „ich vergaß, daß ich Ihnen auftragen wollte, noch einmal diese faulen Schlingel von Bedienten anzutreiben, damit Alle an ihrem Platze sind. Kommen Sie rasch, Mademoiselle Helene! Mein Gott, vielleicht ist schon der rechte Augenblick versäumt.“

Die Dame schritt mir eilend voran, und während sie ihren nachlässig herabgeglittenen schwarzen Spitzenshawl zurecht zog und die lange Schleppe ihres weißen Caschmirkleides majestätisch über den Teppich gleiten ließ, fand ich gerade Zeit genug, durch einen rasch zurückgeworfenen Blick mich zu überzeugen, daß Olga noch schluchzend wie eine Unsinnige auf dem Divan lag und Hirschfeldt mit langen Schritten und wüthenden Blicken in dem Boudoir auf- und abwanderte.

Der wichtige Augenblick war Gott sei Dank noch nicht versäumt, da meine Uhr möglicher Weise ein wenig vorging. Die Gouverneurin machte ihr Entrée mit sehr vielem Geräusch, sehr vielem Aufwand an bauschender Seide und blitzenden Steinen und wurde mit unbeschreiblicher Würde von Madame Branikow empfangen. Letztere, als sie die beiden vornehmsten Damen der Stadt, die Generalin Adrianoff und die Gouverneurin, neben einander in ihrem Salon erblickte, schwamm in einem Meere befriedigten Ehrgeizes. Sie vergaß, wenigstens für den Augenblick, den eben erlebten Zwischenfall, durch den ich mich noch immer in eine Art von Betäubung versetzt fühlte. Ich traf meine Anordnungen mechanisch wie im Traume und würde mich nicht gewundert haben, wenn mir dabei Alles wirr durcheinander gegangen wäre.

Wéra entdeckte ich wirklich inmitten der Gesellschaft; sie kehrte anscheinend heiter vom Tanze zurück, ihr süßes, liebliches Lächeln auf den Lippen. Verwirrt fragte ich mich, indem ich mir ihr trostloses Gesicht von vorhin vergegenwärtigte: „Ist denn Alles Schein und Verstellung auf diesen trügerischen Parquets?“ Zugleich mußte ich immer von Neuem die Gewalt bewundern, welche Hirschfeldt’s Wille über sie, wie über die meisten Personen, mit denen er in nähere Berührung kommt, ausübt, und wie schon oft legte ich in meinem Herzen auch jetzt das Gelübde ab, die Freiheit des meinigen ihm gegenüber wenigstens zu bewahren.

Auch er hatte sich wieder unter die Gäste gemischt und suchte mich sobald wie möglich auf, obgleich ich mir Mühe gab, ihm auszuweichen. Ich wappnete mich mit einer Erbitterung, wie ich sie noch nie gegen ihn empfunden, und als er dann mit einmal vor mir stand, mich freundlich anblickte und ganz einfach sagte: „Haben Sie jemals einen größeren Thoren gesehen, als mich? Ich weiß, daß Sie mir zürnen, und Sie haben vollkommen Recht,“ da fühlte ich den Unmuth in mir hinschmelzen, wie Märzschnee im Sonnenscheine, aber ich hütete mich doch, meine reservirte Haltung aufzugeben, und beobachtete ein kühles Schweigen.

„Es ist eine verteufelte Geschichte,“ fuhr der Capellmeister fort, „und ich habe gründlich meine Strafe dafür bekommen, daß ich neulich Ihre Warnung mißachtete. Glauben Sie, Fräulein Helene, daß Wéra geplaudert hat?“

„Sicher,“ erwiderte ich. „Wodurch ließe sich sonst das Benehmen der Gouvernante erklären?“

„Verwünscht!“ Hirschfeldt stieß mit Energie das eine Wort zwischen den Zähnen hervor und schwieg dann nachdenklich.

Wir wanderten an der Seite des Musiksaales, von den [682] Tanzenden unbeachtet, auf und ab, und es konnte mir nicht entgehen, wie mein Begleiter mich verschiedentlich von der Seite ansah.

„Fräulein Helene,“ begann er dann wieder, als habe er plötzlich seinen Entschluß gefaßt, „werden Sie mir als Freundin und Bundesgenossin helfen, den Folgen dieser unangenehmen Geschichte vorzubeugen?“

„Wie könnte ich das, auch wenn ich es wollte?“

„Sie können es, indem Sie Ihren bedeutenden Einfluß hier im Hause zu meinen Gunsten aufbieten, indem Sie namentlich Madame Branikow’s Zorn beruhigen und zu erfahren suchen, inwieweit es der boshaften kleinen Person, der Gouvernante, gelungen ist, in unser Geheimniß einzudringen.“

Ich konnte, indem ich seine Worte anhörte, nicht umhin darüber nachzudenken wie sonderbare Dinge doch im Leben schon von mir verlangt seien.

„Nicht wahr, Sie werden es thun, Fräulein Helene?“ fügte er dringender und bittend hinzu.

Ich schlug langsam die Blicke zu ihm auf und fragte ernst: „Herr Hirschfeldt, haben Sie in Wahrheit Olga Erklärungen gemacht, wie diese es behauptet?“

Er zuckte bei meinen Worten zusammen und wechselte jäh die Farbe, dann hielt er den Schritt an und sagte mit einer Stimme, die in mühsam unterdrückter Bewegung zitterte: „Glauben Sie, Fräulein Helene, daß ich im Stande wäre, Ihnen eine Lüge zu sagen?“

Seine Blicke ruhten fest auf mir, und eine Minute lang kreuzten sie sich scharf und forschend mit den meinigen. „Nein,“ drängte sich dann aus tiefstem Herzen, fast ohne daß ich es noch gewollt, die Antwort über meine Lippen.

Der Künstler athmete auf. Er nahm, indem wir weiter schritten, meine Hand in die seinige und sagte leise und sich zu mir herabbeugend: „Hätten Sie an mir gezweifelt, Helene, so würde ich kein Wort mehr mit Ihnen gesprochen haben. Olga Nikolajewna hat nichts aus meinem Munde gehört, als die oberflächlichsten Galanterien, aus denen ihre Eigenliebe sich Gott mag wissen welche Thorheiten herausgedeutet hat. Aber – sagen Sie nichts mehr – ich weiß Alles, was Sie mir entgegnen könnten; ich gebe Ihnen mein Wort, was ich auf der Welt ernstlich will, daran rüttelt keine Möglichkeit, nie – ich gelobe es Ihnen, Helene – nie wird eine Schmeichelei einer Dame gegenüber wieder über meine Lippen kommen. Sind Sie nun zufrieden? Und jetzt helfen Sie mir, die Folgen dieser letzten Thorheit abzuwenden! Ich würde es nicht ertragen, wenn man es mir unmöglich machte, dieses Haus ferner zu betreten.“

Warum nur ging es mir bei seinen Worten erschütternd wie ein Stich durch’s Herz? Ich wußte ja, daß Zenaïde Petrowna’s Empfangszimmer der einzige Ort war, an dem er Wéra mitunter ungestört sehen und sprechen konnte. „Ich werde thun, was ich vermag,“ sagte ich, ihm meine Hand entziehend, „aber täuschen Sie sich nicht! Vielleicht ist es wenig genug, und nun verlassen Sie mich, Herr Capellmeister! Sie begreifen, daß, wenn ich Ihnen auch nur im Entferntesten nützen soll, Niemand ein anderes Einverständniß zwischen uns argwöhnen darf, als das, mit welchem die Kunst ihre Jünger verbindet.“

Hirschfeldt nahm mit einem vielsagenden Blicke Abschied von mir, und das war ein Glück für mich, denn die Kraft, bei Allem, was ich erlebt, meine äußere Selbstbeherrschung nicht zu verlieren, drohte mich allmählich zu verlassen und ich empfand nur noch das einzige Bedürfniß nach Ruhe.

Ja, Ruhe – allzu viel davon sollte mir nicht beschieden sein in dieser unheilvollen Nacht. Als spät der letzte unserer Gäste sich entfernt, als ich mein Zimmer betreten und Masche entlassen hatte, hoffte ich, der Augenblick sei endlich für mich gekommen über das Erlebte nachdenken zu können – vergebliche Hoffnung!

„Gott sei Dank, daß ich Sie allein treffe!“ rief mir, als kaum des Mädchens Schritte verhallt waren, eine Stimme von der Thür her zu, und als ich mich erschrocken umsah, erblickte ich eine Gestalt, die wohl im Stande gewesen wäre, schwachnervige Personen mit Gespensterfurcht zu erfüllen. Ein schärferes Hinblicken belehrte mich, daß es die Gouvernante im lang herabfallenden weißen Nachtkleide war. Das schwarze Haar flatterte ihr aufgelöst um die Schultern, und in der Hand hielt sie einen Leuchter mit einer brennenden Wachskerze. Nachdem sie letzteren eilend auf einen Tisch gestellt, stürzte die unwillkommene Besucherin neben meinem Sessel auf die Kniee, klammerte sich in wilder Ekstase an mich und rief:

„Sie müssen mir rathen und helfen, Helene. Sie allein sind unbefangen und kühl genug dazu, Sie kennen Hirschfeldt am besten.“

Das hatte mir noch gefehlt – allein mit diesem fast rasenden Weibe in stiller Nachtzeit! In der That überlief mich ein Schauder, und ich bemühte mich vor allen Dingen, Olga zu beruhigen, aber was half mein Zureden! Es war, als habe alle Vernunft und Besinnung sie verlassen. Bald ergoß sie sich schluchzend in Liebesklagen und bejammerte ihr Schicksal, ihr mißhandeltes Herz, dann wieder schwor sie hoch und theuer, daß sie Himmel und Hölle in Bewegung setzen werde, um sich zu rächen. Aus ihren verwirrten Reden wurde mir jedoch am Ende das Eine klar, daß sie wohl über Wera’s Leidenschaft für Hirschfeldt und die Erwiderung derselben aufgeklärt war, aber doch von dem wirklichen Einverständnisse der Beiden etwas Gewisses noch nicht wußte, daß sie sich sogar trotz ihrer anscheinend alle Ueberlegung erstickenden Aufregung schlauer Weise bemühte, mich in diesem Punkte auszuforschen. Es bedarf wohl kaum der Erwähnung, daß sie durch mich nichts erfuhr, ebenso wenig, wie ich geneigt war, der gefährlichen Person irgend einen Rath zu geben; ich bemühte mich, sie einzig und allein darauf hinzuführen, daß einem Mädchen, welches seine Liebe verschmäht sieht, klüglich nichts Anderes übrig bleibt, als seinen weiblichen Stolz zu Hülfe zu nehmen, um die empfangene Wunde zu verbergen, wenn es nicht rettungslos auch noch der allgemeinen Verspottung anheimfallen will. Ich sagte ihr, daß ich einem Manne, der mich mit beleidigender Gleichgültigkeit behandle, nachdem er mir zuvor seine Aufmerksamkeit zugewendet, nur mit der eisigste Kälte gegenüber treten würde.

„Ja, Sie,“ rief die Gouvermante, während sie mit den schmalen wachsbleichen Fingern ihr wild um die Stirn hängendes Haar zerraufte. „Sie begreifen mit Ihrem kalt verständigen, deutschen Herzen gar nicht, was eine rechte Leidenschaft bedeuten will, so eine, die uns ganz erfüllt, alle Tiefen unseres innersten Seins aufwühlt und erschüttert. Aber Sie haben doch Recht,“ fügte sie dann, plötzlich sich erhebend, mit theatralischem Pathos hinzu, „ich werde Hirschfeldt mit Verachtung strafen. Von dieser Stunde an ist er für mich nicht mehr in der Welt.“

Vielleicht hatte Olga allgemach auch begriffen, daß von mir in keiner Weise mehr zu erlangen oder zu erfahren sei, denn nachdem sie mir noch wiederholt versichert hatte, daß der Capellmeister ein Nichtswürdiger sei, den sie in Zukunft nur verabscheuen werde, glitt sie in eben so gespenstiger Weise, wie sie es vorhin betreten, wieder aus dem Zimmer. Ich athmete nach ihrem Verschwinden erleichtert auf, aber um meine Nachtruhe sah es in Folge dieser letzten Störung traurig aus. Der peinliche Gedanke, daß das, was die Gouvernante von des Musikers und Wéra’s Geheimniß bereits herausgebracht hatte, künftig wie ein Damokles-Schwert über ihnen schweben würde, quälte mich unanfhörlich. Erst gegen Morgen bemächtigte sich meiner ein schwerer Schlaf und ließ mich die gewohnte Zeit des Aufstehens versäumen. Ein unbehagliches, störendes Gefühl, ein leises Geräusch erweckte mich endlich, und als ich die Augen aufschlug, stand Madame, in einen weite Schlafrock von weichem, türkischem Caschmir gehüllt, vor meinem Bette.

Der Schreck über dieses noch nie dagewesene Ereigniß ermunterte mich augenblicklich. Ich flog empor, aber Zenaïde Petrowna winkte beruhigend mit der Hand. „Bleiben Sie liegen!“ sagte sie und setzte sich auf den Rand meines Bettes. „Ich beabsichtige nur ein Weilchen mit Ihnen zu plaudern. Wir sind jetzt ganz ungestört, und Sie können mir vortrefflich erzählen, was das eigentlich gestern für eine Geschichte war mit dem Capellmeister und Olga.“

Ein Stoßseufzer fand den Weg über meine Lippen, als ich wie geschlagen auf mein Lager zurück sank. Es war keine Frage, Madame brannte vor Neugier, und sie hatte ihre Zeit in der That gut gewählt; ich konnte ihr nicht entfliehen noch ausweichen. Wohl oder übel mußte ich ihr die Ereignisse des gestrigen Abends mittheilen, und ich that es selbstverständlich der Wahrheit gemäß, aber ich hielt mich strenge an die Thatsachen, [683] ohne zu berühren, was ich außerdem schon wußte, und glitt über Wéra’s Betheiligung so leicht wie irgend möglich hinweg.

Trotz meiner verzweifelten Stimmung belustigte es mich innerlich ein wenig, zu sehen, wie meine Gebieterin sich den Kopf zerbrach und für ihr Leben gern herausgebracht hätte, wie es zwischen Fräulein Adrianoff und dem Capellmeister stehe. Gegen Letzteren trug sie einen mächtigen Zorn zu Schau, aber ich bemerkte alsbald, daß derselbe mehr fingirt als aufrichtig gemeint war und daß die Dame im Grunde ihres Herzens wünschte, sich nicht mit Hirschfeldt zu entzweien. Es sollte mir auch alsbald klar werden, weshalb. Ich habe, däucht mir, schon erwähnt, daß wir wahrscheinlich ein Concert für die Armen haben werden, zur Zeit der Wahlen nämlich, welche am 20. Januar beginnen und eine Dauer von vierzehn Tagen haben.

Es sind die Wahlen eines neuen Adelsmarschalls, die jedes dritte Jahr stattfinden, zu denen viele Menschen in Woronesch zusammenströmen und während welcher die gute Gesellschaft in der Regel einen derartigen Wohlthätigkeitsact in Scene setzt. Die Gouverneurin hat nun gestern Madame aufgefordert, mit ihr die Anordnung des Concertes zu übernehmen, und Letztere ist entzückt von der ihr widerfahrenen Ehre, aber beide Damen können Hirschfeldt zur Leitung des technischen Theiles keinesfalls entbehren, und nachdem ich das Alles von Zenaïde Petrowna erfahren, begriff ich, warum sie geneigt war, gegen meinen Freund die Großmüthige zu spielen. Sie gab mir zu verstehen, daß, wenn ich ihn veranlassen könne, sich des gestrigen störenden Zwischenfalles wegen bei ihr zu entschuldigen, sie ihm huldvoll verzeihend entgegenkommen werde. Ich versprach mit möglichst gleichgültiger Miene, ihm einen Wink in dem Punkte zu geben, und sah einigermaßen erleichtert die Thür hinter der hohen Gestalt unserer sich entfernenden Gebieterin wieder in’s Schloß fallen.

Wenn ich indessen gehofft hatte, mit den unliebsamen Ueberraschungen nunmehr am Ende zu sein, so sollte diesem Wahn alsbald die bittere Enttäuschung folgen. Nachdem ich mich nämlich beeilt hatte, ebenfalls in die Morgenkleider und zum Frühstück hinunter zu kommen, fand ich im Salon den Herrn des Hauses, wie er, dunkelroth vor Erregung, scheltend und pustend gleich einer Dampfmaschine, auf und ab schritt.

Olga hatte die Zeit des Alleinseins mit ihm an diesem Morgen bereits nach Kräften ausgenutzt. Sie hatte mit größtem Geschick die leidende Madonna, die gekränkte Unschuld gespielt, und da Iwan Alexandrowitsch, wie ich längst bemerkt, eine Zuneigung zu ihr hegt, und ungern ihre heitere Laune vermißt, war ihm alsbald ihre gedrückte Miene bemerkbar geworden. Auf seine theilnehmenden Fragen hatte sie mit größtem Geschick die Ereignisse von gestern so hinzustellen, so aufzupuffen verstanden, daß sie wie eine ihr zugefügte empörende Beleidigung erscheinen mußten, und unser Gebieter kannte sich selber nicht mehr vor Zorn, daß eine solche Kränkung in seinem Hause hatte einer Dame widerfahren können, die unter seinem Schutze steht. Er ballte die Fäuste und schwor bei allen Heiligen des Kalenders, daß das nächste Mal, wenn der Musiker wagen sollte, seine Schwelle zu betreten, er den Dienern befehlen werde, ihn die Treppe hinunterzuwerfen und daß er ihm sein Haus verbieten werde. Die Sache war ernst, denn die Russen mit ihren despotischen Gewohnheiten sind zu Allem fähig, besonders wenn, wie in diesem Falle vielleicht, versteckte Eifersucht im Spiele ist.

„Auf die Straße lasse ich ihn werfen vor Aller Augen,“ wiederholte Herr Branikow, bebend vor Wuth.

Ich hatte nach kurzem Ueberlegen meinen Feldzugsplan entworfen.

„Das sollte mir Olga’s wegen leid thun,“ sagte ich sehr bestimmt, indem ich dem Scheltenden einige Schritte näher trat.

Er wandte, seine rasche Wanderung unterbrechend, sich hastig nach mir um und starrte mich mit weit aufgerissenen Augen verwundert an.

„Es würde die fürchterlichste Scandalgeschichte daraus entstehen,“ fuhr ich unbeirrt durch sein drohendes Stirnrunzeln fort, „und Olga’s Name würde rettungslos darin verwickelt. Glauben Sie denn, daß die Klatschschwestern von Woronesch sich dieses ergiebige Thema würden entgehen lassen? Im Gegentheil, sie würden sich angelegen sein lassen, es auszuspinnen, zu variiren, zu verdrehen. Man würde, was man nicht weiß, hinzudenken, die skandalösesten Schlüsse ziehen, und was jetzt eine Genugthuung für Olga sein soll, könnte leicht in seinen Folgen für sie so verhängnißvoll werden, daß – – daß es ihr zeitweise wenigstens den Aufenthalt in der Stadt unmöglich machte.“

Unser Gebieter stampfte mit dem Fuße. „Ich werde Jedermann sagen, wie die Sache zusammenhängt,“ rief er hochmüthig.

„Um Gotteswillen, da machen Sie es immer ärger,“ wagte ich ihm zu entgegen, „und die arme Olga würde in ein Gerede ohne Ende kommen. Außerdem hat Herr Hirschfeldt viele Freunde, darunter die Frau Gouverneurin, die ihn für ihr Concert nicht entbehren kann –“

„Zum Teufel mit der verwünschten Musikmacherei!“ unterbrach mich der Beschützer Olga Nikolajewna’s unhöflich genug, und dann murmelte er, die Augen wild rollend, noch immer halb unterdrückte Verwünschungen über die musikalischen Neigungen seiner Frau, drehte rathlos den Schnurrbart und kratzte sich hinter den Ohren.

„Wenn Sie Olga’s Ruf und ihr Gefühl schonen wollen, wird es sicher das Klügste sein, so wenig Aufsehen wie möglich von der Geschichte zu machen,“ fuhr ich fort. „Wenn Sie nachdenken, wird Ihre richtige Einsicht Sie selber belehren, daß gewisse Dinge nicht zart genug zu behandeln sind.“

Der Herr des Hauses, ersichtlich ein wenig ungewiß, wie er meine Worte verstehen und aufnehmen sollte, sah mich von der Seite an, dann begann er seine Wanderung auf’s Neue in etwas gemäßigterem Tempo, und nach einigem weiteren Zureden erreichte ich wirklich, daß er bei dem Entschluß anlangte, den viel beredeten Vorfall Hirschfeldt gegenüber gnädigst zu ignoriren, aber freilich nicht bedingungslos.

„Sie verkehren doch in Sachen der Musik viel mit dem Burschen,“ sagte er mir, „Sie müssen es übernehmen, Fräulein Helene, ihm unter der Hand anzuzeigen, daß, wenn er noch einmal wagt, sich in meinem Hause dergleichen Dinge zu erlauben, es hier mit ihm zu Ende ist.“

Ich gab das gewünschte Versprechen, und als diese heikle Unterredung dann glücklich beendet, dieser neue Sturm besänftigt war, fühlte ich auch, daß ich zu einer ferneren nicht mehr die Kraft besitzen würde.

Ich habe den Tag mühsam hingeschleppt, habe mein Herz durch Aufschreiben des Erlebten erleichtert und hoffe, daß mir in dieser Nacht bessere Ruhe beschieden sein wird, damit ich wieder Kraft gewinne, den kommenden Ereignissen muthig die Stirn zu bieten.


Den 13. December.

In Deutschland brennen heute, während ich hier einsam sitze und schreibe, schon die Weihnachtskerzen. Es zieht wie Heimweh durch meine Seele nach vergangenen, friedlichen Tagen, die dahin sind, auf immer dahin. Könnte ich zu ihnen zurückkehren aus all dieser Aufregung, dieser Unruhe! Doch – wozu die brennende Sehnsucht im Herzen nähren? „Weiter!“ spricht unerbittlich das Schicksal, und ich bedarf eines muthigen Herzens, eines festen Willens, wenn ich nicht erliegen will. Vorwärts gilt es den Blick zu richten und nicht rückwärts.

Zweimal seit jenem verhängnißvollen Kinderball haben wir bereits wieder unseren Musikabend gehabt. Beide Male war er sehr besucht, die Stimmung sehr angeregt, und Hirschfeldt war der Leiter, die Seele des Ganzen, der verhätschelte Liebling der Damen, wenn ihm auch mancher Blick aus den Augen der Männer dafür düster und rachsüchtig folgte; unser Musiker ist ganz geneigt über solche zu lachen, wenn er sie zufällig einmal bemerkt. Neulich erzählte ihm Fräulein Bartholomai, unsere beste Sängerin, Constantin Feodorowitsch habe ihr gesagt, er werde ihm, Hirschfeldt, nächstens eine Kugel vor den Kopf schießen.

Der Capellmeister lachte und antwortete ihr ohne Bedenken: „Grüßen Sie den Rittmeister von mir und sagen Sie ihm, er möge nicht versäumen, sich täglich im Pistolenschießen zu üben.“

Mich schauderte. Er kennt doch seine Landsleute, warum muß er nur so unvorsichtig sein, aber natürlich – Furcht ist ihm ein unbekanntes Gefühl.

Als nach jener vielberedeten Kindergesellschaft drei Tage [684] vergangen waren, ohne daß Hirschfeldt etwas von sich hören ließ, begann Madame wahrscheinlich im Herzen für ihren nächsten musikalischen Abend zu zittern und vielleicht auch für ihren Antheil an dem Wohlthätigkeitsconcert. Zu meiner Ueberraschung und inneren Befriedigung, der äußerlich Ausdruck zu geben ich mich indessen wohl hütete, trug sie mir urplötzlich auf, den Capellmeister durch ein Billet für den nächsten Tag zum Diner einzuladen.

„Er wagt vielleicht nicht, sich hier sehen zu lassen,“ sagte sie mit unnachahmlicher Gravität, und als der Verbrecher dann, ihrer Einladung folgend, am anderen Tage erschien und sie mit einer Sicherheit begrüßte, die an nichts weniger als an Schuldbewußtsein erinnerte, reichte Zenaïde Petrowna, einigermaßen aus der Fassung gebracht, ihm huldvoll die Hand zum Kusse, und der Friede zwischen den Beiden war stillschweigend geschlossen.

Iwan Alexandrowitsch benahm sich gegen den Gast kühl höflich und tactvoller, als ich zu hoffen gewagt hatte. Olga, der es allem Anscheine nach unmöglich ist, sich bescheiden im Hintergrunde zu halten, coquettirte mit unserm Gebieter und einem anwesenden ältern Herrn in widerwärtigster Weise. Vielleicht, da sie von ihrer Unwiderstehlichkeit nun einmal überzeugt ist, hofft sie Hirschfeldt’s Aufmerksamkeit durch Eifersucht zu erzwingen. So oft ihre Blicke den Letzteren streifen – und sie thun es trotz des Vorgefallenen häufig – zuckt, wenn sie sich durchaus nicht von ihm beachtet sieht, ein falscher, rachsüchtiger Ausdruck darin auf, der mir stets unheimliche Gefühle erregt, und ich möchte die Gouvernante fortwünschen bis zu den Antipoden.

Wir übten fleißig an jenem Tage, um das während der letzten Zeit Versäumte nachzuholen, und als wir fertig waren, nahm Hirschfeldt ein Notenheft und blätterte darin. Das ist stets ein Auskunftsmittel, wenn er, unbeachtet von Anderen, einige Worte mit mir wechseln möchte, ohne daß sich eigentlich die Gelegenheit dazu bietet. Wir bedienen uns alsdann immer der deutschen Sprache, und so begann er auch jetzt. „Sagen Sie mir, wie ist Alles abgelaufen neulich?“

„Sie sehen, die Sache ist geordnet. Fragen Sie mich nicht mehr!“ erwiderte ich, da mir durchaus die Luft fehlte, nochmals wieder jene fatalen Dinge aufzurühren. Sogar Herrn Branikow’s Friedensbedingung zu erwähnen hielt ich für überflüssig; hatte der Capellmeister mir doch damals freiwillig sein Wort gegeben, dergleichen Ueberschreitungen, seinerseits wenigstens, nicht wieder veranlassen zu wollen – das mußte jedenfalls genügen. Warum nochmals davon reden?!

Von seinem Notenhefte aufblickend, fixirte er mich einige Augenblicke und sagte dann beinahe ärgerlich:

„Welch ein seltsames, eigenwilliges Wesen Sie doch sind! Da lese ich nun auf Ihrer Stirn, in jeder Linie Ihres Mundes, daß Ihnen in keiner Weise beizukommen ist, daß auch nicht ein Wort aus Ihnen herauszubringen sein würde, selbst wenn Sie mich alle Folterqualen der Neugierde erdulden sähen.“

Ich ließ anstatt jeder Antwort meine Finger in raschem Laufe über die Tasten gleiten und vermied hartnäckig seinen Blick.

„Da Sie heute unerbittlich sind,“ fuhr er nach kurzer Pause fort, „so will ich mich großmüthig zeigen und Ihnen die Neuigkeiten, die ich kürzlich erfahren, nicht vorenthalten. Wissen Sie, was man sich seit gestern in der ganzen Stadt erzählt?“

Bei seinen letzten Worten mußte ich unwillkürlich auf- und den Redenden anschauen, denn sie waren in dem Tone gesprochen, der mir bei ihm nicht mehr fremd ist, der gleichgültig oder scherzend sein soll und in welchem doch eine tiefe Herzenserregung nachzittert.

„Madame Adrianoff ist plötzlich nach Petersburg abgereist. Und Jedermann erzählt,“ fuhr Hirschfeldt, meinen erstaunten und fragenden Blick beantwortend, fort, „daß der Zweck dieser Reise darin besteht, Wéra’s Verheirathung zu betreiben. Ihr sogenannter Bräutigam soll in Petersburg sein. Auch der Gemahl hat schon vor einigen Tagen Woronesch wieder verlassen, wie es heißt, in dienstlichen Angelegenheiten, aber Niemand glaubt recht daran.“

„Arme Wéra!“ sagte ich leise.

„Ach, Sie wissen noch nicht das Schlimmste,“ fuhr mein unglücklicher Freund fort, und es entging mir nicht, wie seine Hand sich ballte. „Madame Adrianoff hat Constantin zurückgelassen, um seine Schwester zu beschützen oder besser – zu hüten, und das wird er selbstverständlich mit der Wachsamkeit eines Kettenhundes thun. Denken Sie an meine Prophezeiung! Wir werden während der nächsten Wochen kaum einen Zipfel von Wéra’s Kleide zu sehen bekommen.“

Ich schrak vor dem Blitze innerlich kochender Erbitterung, der in Hirschfeldt’s Augen aufsprühte, zurück. Ich wundere mich gar nicht über Fräulein Bartholomai’s Bericht von neulich, und mein Herz sendet täglich nur das eine angstvolle Gebet zum Himmel empor, daß sich nicht unerwartet einmal der Weg Hirschfeldt’s mit dem Constantin’s kreuzen möge! Uebrigens hat der Capellmeister bis jetzt in seiner Voraussetzung Recht behalten, denn Fräulein Adrianoff ist zu keiner unserer beiden letzten Abendunterhaltungen gekommen, sei es nun, daß ihr Bruder wirklich die Schuld daran trägt, oder daß sie nach den jüngsten Vorgängen eine Begegnung mit Olga vermeiden will. Zudem ist Zenaïde Petrowna voll Zorn gegen sie, denn sie hat ihr Ersuchen in dem Concerte mitzuwirken brieflich, sehr artig zwar, aber bestimmt abgeschlagen. Diesmal ist unsere Gebieterin zu tief beleidigt; sie wird nicht hinfahren, um den Entschluß des jungen Mädchens zu erschüttern, und so weiß ich allerdings noch nicht, wann ich hoffen darf, meine schöne junge Freundin wiederzusehen.


Den 28. December.

Weihnachten liegt hinter uns, und wir haben die Feiertage still verlebt, denn Madame Branikow litt an einer Erkältung und wollte keinen Besuch bei sich sehen, desto mehr mußte ich ihr vorlesen und vorspielen, aber die Stille dieser Tage that mir wohl, und so waren sie mir angenehm, wenn es auch kein heimisches Weihnachtsfest gab. Madame will von demselben aber doch etwas kennen lernen. Sie hat so viel von dem deutschen Christbaume gehört, daß sie ihn sehen will.

Ich, als die Einzige, welche hier die Sache versteht und kennt, wurde natürlich mit der Ausschmückung eines für den nächsten Thé dansant bestimmten Tannenbaumes beauftragt. Ich bin den ganzen Morgen in der Stadt umhergefahren, um die dazu nöthigen Einkäufe zu machen, und als ich wieder nach Hause kam, fand ich den Capellmeister bei unserer Gebieterin im kleinen Salon. Er hat in Deutschland mehrmals einen Weihnachtsbaum brennen sehen, war sogleich ganz begeistert von der Idee, durch einen solchen den Ball zu verherrlichen und erklärte, er würde mit Bitten nicht nachlassen, bis ich ihm erlaubt, mir bei der Arbeit des Aufputzens zu helfen.

„Fürchten Sie durchaus keinen Widerspruch!“ erwiderte ich ihm lached, „die Arbeit ist keineswegs gering, und da ich schon durch das Zusammenholen der Sachen mich nicht wenig ermüdet habe, so bin ich gern bereit, Ihren Beistand anzunehmen.“

Wir schmückten den Baum Nachmittags im Musiksaale, er und ich allein, und warum sollte ich es nicht aufrichtigen Herzens vor mir selber eingestehen: es waren ein paar glückliche Stunden, so glücklich, wie ich ihrer in diesem wunderlichen Lande noch nicht viele erlebt habe.

Schon der würzig angenehme Harzgeruch der Tannenzweige, der mir so viele anmuthige und liebliche Erinnerungen in’s Herz schmeichelte, untermischt mit demjenigen der Wachskerzen, versetzte mich in eine ungewohnt festliche Stimmung, und ich bemühte mich absichtlich, alle störenden, alle sorgenvoll schweren und ängstlichen Gedanken von mir fernzuhalten. Einmal, für kurze Zeit wenigstens, wollte ich ungetrübt glücklich sein wie in den Tagen der Kindheit, nein – tausendmal glücklicher noch, denn jene wunderbaren dunkeln Augen, in denen der Widerschein der kleinen Kerzen, die wir versuchsweise bald hier bald dort anzündeten, sich strahlend vervielfältigte, sie hatten mich noch nie so glänzend, so heiter angeblickt, wie heute. Es war wie ein schweigendes Uebereinkommen unter uns, keines jener Dinge, die zu anderen Zeiten uns ganz beschäftigen und aufregen, heute zu berühren. Mochte für kurze Zeit Alles in der Seele Tiefen schlafen! Unter den grünen Zweigen der Weihnachtstanne durfte uns wohl erlaubt sein, uns als harmlose Kinder zu fühlen.

Auf einem großen Tische waren alle die unzähligen niedlichen Sächelchen ausgebreitet, die den Baum zieren sollten, und indem wir, einander gegenüber sitzend, rothe Bändchen daran befestigten, drängten sich immerwährend wie von selber Erinnerungen aus der Kinderzeit mir auf die Lippen. Es war mir, als müsse ich nothgedrungen meinem Gefährten und Freunde einen Begriff von der unbeschreiblichen, wonnedurchzitterten [686] Ueberraschung geben, welche das Kinderherz der Weihnachtspracht gegenüber erfaßt, und die so mächtig wirkt, daß das poesiereiche, durch die Liebe geweihte Andenken daran einen unvertilgbaren Schimmer über das ganze Leben wirft, ja, so unvertilgbar, daß selten nach öde oder wild verlebten Jahren eine Seele so verdüstert, ein Herz so verknöchert sein kann, daß die Erinnerung an das schönste, selbsterlebte Zaubermärchen der Kindheit es nicht erquickt, wie ein Tropfen himmlischen Thaues die versengte Flur.

Hirschfeldt’s Blicke richteten sich dabei auf mich weit mehr als auf die Arbeit in seiner Hand. Er sah mich verwundert an, ich glaube meiner ungewohnten Beredsamkeit wegen, und doch dabei theilnahmvoll lächelnd.

Ich stieg auf ein Tabouret, ließ mir von ihm die Sachen reichen und befestigte sie an dem harzig duftenden Geäste. Er gehorchte schweigend jeder Anordnung, und dann, als er eine geraume Weile meinen Bewegungen mit den Blicken gefolgt war, sagte er: „Wissen Sie, wie Sie aussehen, Fräulein Helene, dort inmitten der grünen Zweige, die sich wie Kronen um Ihre Stirn neigen, bestrahlt vom Lichtglanz, mit Ihrem wundervollen blonden Haar und blauen Augen?“

„Grau, mein Freund,“ rief ich lachend, „wenn Sie sie genau betrachten, werden Sie finden, daß meine Augen durchaus grau sind.“

„Grau oder blau, die Farbe ist einerlei,“ antwortete er; „ihr klarer, gütiger Ausdruck macht sie eben schön, und Sie gleichen, so wie Sie dastehen, einer jener hülfreichen Feen, von denen stets Ihre vaterländischen Märchen zu erzählen wissen. Wie lauten doch noch diese sagenhaften Ueberlieferungen? Bringt es nicht Glück, wenn eine derselben sich herabläßt, einem armen Menschenkinde zu erscheinen?“

„Mitunter wohl, mitunter auch Unglück,“ erwiderte ich, einigermaßen in Verwirrung gebracht durch die Wendung des Gespräches und darum bestrebt, einen scherzhaften Ton in die Unterhaltung zu bringen. „Ich fühle mich aber gerade in diesem Augenblick weit mehr als hülfsbedürftige Sterbliche, denn als allmächtige Fee; wäre ich eine solche, so würde ich z. B. auf der Stelle meinen Zauberstab schwingen und dieses Blumenkörbchen an jene Zweigspitze zaubern, so aber muß ich Sie bitten, meine Stelle einzunehmen, da Sie, mit längeren Armen begabt, hoffentlich hinaufreichen können.“

Ich sprang von meinem erhabenen Standpunkte herunter, und mit einer Hand noch bemüht, mich von einem sich an mein Haar anklammernden Zweiglein zu befreien, streckte ich die andere mit dem Korbe Hirschfeldt entgegen. Er nahm ihn mir ab, aber in demselben Augenblicke auch fühlte ich seine warmen Lippen auf meiner Hand. Ich erschrak bis in’s innerste Herz hinein und riß mich los.

Ein Handkuß ist hier eben nichts Seltenes für mich, aber dieser – dieser war entschieden nicht am Platze. Ich vermochte kein Wort zu sagen, sondern suchte mit schlecht motivirter Hast zwischen den Sachen umher, und ziemlich schweigend setzten wir von nun an unsere Arbeit fort bis zu ihrer Vollendung. Nur nicht denken! Es lag wie eine stille Traumseligkeit über mir, die durch den ersten ernsten Gedanken zu verscheuchen ich mich instinktiv hütete. Als mein Gefährte, der so schweigsam war, wie ich ihn noch nie gesehen, mir dann zum Abschied die Hand reichte, traf mich sein Blick mit seltsam bittendem Ausdruck. Vielleicht wollte er dadurch seiner Ueberschreitung wegen um Verzeihung bitten. Ich zürne ihm nicht und werde an diese Stunde wie an einen schönen Traum denken, aber wiederkehren darf sie nicht.

[697]
Den 29. December.

Unser Ball ist brillant ausgefallen, obgleich die Gäste sich erst spät versammelten und zum Theile in etwas erregter Stimmung, denn eine bedeutende Feuersbrunst hatte während des Tages die Stadt in Schrecken gesetzt und die Gemüther in Spannung erhalten. Mehrere der großen, neben den Kasernen befindlichen Magazine sind plötzlich ein Raub der Flammen geworden, ohne daß man bis jetzt auch nur irgend glaubwürdige Vermuthungen über die Entstehung des Feuers hegen konnte, dem die angehäuften Stroh- und Heumassen eine reißend schnelle Verbreitung gaben.

Es war eine wenig angenehme Vorbedeutung für unser Fest, als mit lautem Schellenläuten und Wagengerassel die Feuerwehr durch unsere Straße stürmte, als der frostkalte Himmel in rother Gluth aufleuchtete und von allen Seiten Geschrei und Rennen des Volkes sich hörbar machte. Da indessen später die Kunde sich verbreitete, daß man des Feuers Herr geworden und daß kein Privateigenthum zerstört sei, beruhigte sich Jedermann. Unserer Soirée sollte sogar die erregte Stimmung der Gäste zum Vortheile gereichen, da von vornherein ein Unterhaltungsstoff geboten war, der Alle lebhaft beschäftigte und keine Langeweile aufkommen ließ.

Beim Eintritte in den heute für den Ball gleichsam zu einem grünen Garten umgeschaffenen Musiksaal entlockte der in voller Pracht strahlende Tannenbaum der Gesellschaft ein einstimmiges „Ah!“ der Ueberraschung und des Entzückens. Man fand den Einfall charmant, unsere Gebieterin erntete von allen Seiten Complimente dafür, und ich wurde so viel gefragt, mußte immer wieder von unserer deutschen Weise, Weihnachten zu feiern, erzählen, daß mir am Ende der Kopf brannte und ich mit Vergnügen für eine kurze Zeit mich zurückzog, um unserem Volke von Dienern einige Aufmerksamkeit zu schenken, damit es seine Pflicht thue und es im Saale nicht an Erfrischungen mangeln lasse. Madame ist auch in diesem Punkte das Muster naiver, nie dagewesener Trägheit. Sie hat es allmählich so ganz wie von selbst einzuleiten gewußt, daß die Oberaufsicht des Hauswesens von ihr auf mich übergegangen ist, und wenn ich sie vorher um die Einrichtung zu dieser oder jener Festlichkeit fragen will, so antwortet sie mir in der Regel: „Aber, Mademoiselle Helene, verschonen Sie mich! Sehen Sie denn nicht, daß ich die entsetzlichste Migräne habe? Bestimmen Sie Alles! Dann weiß ich, daß es wunderschön wird. Sagen Sie dem Koch, wenn er mir auch nur ein einziges verdorbenes Gericht auf den Tisch liefert, so wird Iwan Alexandrowitsch mit dem Gouverneur sprechen, damit er in’s Regiment, wohin er eigentlich gehört, zurückgeschickt und nach dem Kaukasus commandirt wird. Und dem Buffetschik drohen Sie, ich werde ihn, wenn er sich noch einmal wieder betrinkt, anstatt auf seinen Dienst zu passen, prügeln und fortjagen lassen.“

Die Warnungen halfen, wie denn überhaupt in der Regel Alles am Schnürchen geht, nur die aufwartenden Diener müssen mitunter die Nähe eines wachsamen Auges empfinden, damit sie nicht unverschämter Weise zu viele der feinsten Delicatessen in ihre Taschen verschwinden lassen.

Als ich nach dieser kleinen Zwischenpause, die mir, wie gesagt, nicht unerwünscht war, in den Saal zurückkehrte, begegnete mir sogleich am Eingange mein alter Gönner und Freund Bessedofski, der sich meiner mit Vergnügen bemächtigte, um mir mitzutheilen, daß die große, längst schmerzlich von ihm erwartete Spielorgel aus Paris angekommen sei. Der alte Herr liebt nämlich, wie sehr viele Russen, die Musik so leidenschaftlich, daß er sie schon Morgens früh, ja zu allen Zeiten des Tages und selbst in der Nacht, wenn er nicht schlafen kann, hören möchte. Da er nun aber nicht reich genug ist, sich auf seinem einige Werst von Woronesch entfernten Landsitze eine Capelle zu halten, hat er sich die Riesenorgel kommen lassen, die ihm ein ganzes Orchester ersetzen soll. Er ist entzückt davon und sagte mir, ich müsse ihn nächstens besuchen, um sie zu hören.

„Aber mein Gott, Fräulein Helene, warum tanzen Sie denn nicht?“ unterbrach er dann plötzlich selbst seinen Redestrom, als er bemerkt hatte, daß ich mehrmals die Aufforderung dazu ablehnte, „ich bin mit meinem Geschwätze doch nicht etwa schuld daran?“

„O nein, Herr Bessedofski, ich tanze nie,“ erwiderte ich ihm lächelnd.

„Nie? Aber warum denn nicht?“

„Weil es mir kein Vergnügen macht.“

„Ei, ei, Fräulein Helene!“ der alte Herr warf mir unter seinen buschigen weißen Brauen hervor einen listig heitern Blick zu, „wissen Sie denn nicht, daß diese Behauptung ein wenig Anmaßung verräth, oder die Vorbedeutung, daß Sie sich im nächsten Jahre verheirathen werden?“

Ich schüttelte den Kopf und sagte kühl ablehnend: „Verheirathen? Es ist noch sehr die Frage, ob ich mich dazu jemals bereitwilliger finden lassen werde, als zum Tanzen.“

[698] „Gemach,“ sagte Herr Bessedofski; „gemach, mein liebes Fräulein! Das findet sich Alles im geeigneten Augenblicke, aber da sehe ich Jemanden herannahen, der Sie vielleicht doch noch wirksamer bereden möchte, Ihrem Vorsatze, wenigstens dem letzteren, ungetreu zu werden, als ich.“

Er richtete meine Aufmerksamkeit auf eine Stelle in dem glänzenden Gewühle, welches eben nach Beendigung einer Française inmitten des Saales durcheinander wogte. Da strebte eine Gestalt in einer mir merkwürdig bekannten, dunkelgrünen Uniform sich in der Richtung des Divans Bahn zu brechen, auf dem ich mit dem Alten soeben Platz genommen hatte.

„Kommen Sie!“ rief der Letztere dem mittlerweile Herantretenden entgegen. „Kommen Sie, Herr Capellmeister, und versuchen Sie, dieses eigensinnige Kind zum Tanze zu überreden!“

„Herr Hirschfeldt wird sich keine Mühe geben,“ sagte ich, „da er weiß, daß er sie nur unnütz verschwenden würde.“

„Auch dann, wenn ich Sie wirklich diesmal sehr ernsthaft um einen Tanz bäte?“ fragte der Genannte, indem er sich verbeugte.

„Auch dann,“ war meine Antwort, welche an Entschiedenheit des Tones nichts zu wünschen übrig ließ.

„Nun, so werden Sie wenigstens gestatten, daß ich mich zu Ihnen setze und an Ihrer Unterhaltung theilnehme,“ erwiderte Hirschfeldt und nahm an meiner Seite Platz. „Das wird mich mehr amüsiren als irgend ein Tanz sonst, denn es ist die einfache Wahrheit, wenn ich behaupte, in der Unterhaltung all dieser jungen Damen hier im Saale zusammen genommen ist nicht so viel Geist zu entdecken, als in einer hingeworfenen Bemerkung von Ihnen, gnädiges Fräulein.“

Einen Augenblick sah ich ihn groß an, als ob ich meinen Ohren mißtraue, dann entgegnete ich kurz: „Bitte, Herr Capellmeister, beginnen Sie nicht mit mir in einer Tonart, von der Sie wissen, daß sie bei mir keinen Anklang findet!“

Er biß sich auf die Lippen, und ich sah, daß er sich ärgerte, aber ich that es ebenfalls. Ich will mir keine vagen Complimete von ihm sagen lassen, und überdies – wäre Fräulein Adrianoff gegenwärtig gewesen, er würde wohl gewußt haben, interessante Unterhaltung ohne mich zu finden.

Herr Bessedofski lachte, sagte mir, ich sei ein kleiner Eisenkopf, und wußte durch seine drolligen und gemüthlichen Einfälle die Unterhaltung alsbald wieder in’s Geleise harmloser Unbefangenheit hinüber zu leiten, so daß wir uns wirklich amüsirten und auch der Capellmeister nicht lange in seinem grollenden Schweigen verharren konnte. Ja, er wurde sogar lebhaft und ausgelassen, als allmählich ein Kreis sich um uns bildete, in welchem es heiter genug zuging. Ich kenne ihn jedoch bereits zu genau, um mich täuschen zu lassen, und es konnte mir daher nicht entgehen, daß Hirschfeldt’s Lebhaftigkeit etwas Forcirtes hatte. Als eine kurze Pause in der Unterhaltung eingetreten war, wendete er sich, wie von einem raschen Einfalle getrieben, plötzlich zu mir, zog seine Brieftasche heraus, entnahm derselben ein Schreiben und sagte, es mir reichend:

„Lesen Sie doch, welche günstige Bedingungen man mir für ein Engagement in Petersburg macht!“

Ich nahm den Brief, warf einen Blick hinein und hatte Mühe, meinen inneren Schreck nicht merken zu lassen. Es war ein Billet von Wéra, in welchem sie ihren glühenden Schmerz schilderte, eines leichten Unwohlseins wegen den Sylvesterball, der in der assemblée des nobles stattfinden wird, nicht besuchen zu können. Sie habe seit langer Zeit gehofft, auf demselben Hirschfeldt zu sehen. Sie bat ihn dringend, irgend einen Ort ausfindig zu machen, an dem sie ihn nach ihrer Wiederherstellung treffen könne, da sie ihn unbedingt sprechen müsse.“

„Was rathen Sie mir?“ fragte der Capellmeister, als ich ihm den Brief zurückgab.

„Ich würde mir die Sache doch erst gründlich überlegen,“ antwortete ich ihm. Constantin Feodorowitsch’s ernstes Antlitz tauchte in demselben Augenblicke vor meinem Geiste auf, und ich werde von nun an mich nicht von der stillen Angst frei machen können, daß der Musiker vielleicht irgend eine Unvorsichtigkeit begehen könnte, die zu Conflicten mit Constantin führen muß.

Dieser kleine Zwischenfall, von dessen Bedeutung keiner der übrigen Anwesenden auch nur eine Ahnung hatte, berührte mein Herz unheimlich wie eine Mahnung. Wie wenig heitere Stunden sind mir doch gegönnt, ohne daß still getragene Angst wie ein Frosthauch erkältend darüber hinfährt!


Den 2. Januar.

Ein neues Jahr hat begonnen. Was wird es mir bringen? Ich falte still meine Hände und denke: Gott im Himmel wird Alles zum Besten lenken, möge er nur das Eine geben, daß ich am Schlusse auf keine Stunde desselben mit Reue zurückzublicken habe!

Die Branikow’s und Olga waren zu dem großen Sylvesterballe gefahren, und Zenaïde Petrowna wollte mir, da ich nicht tanze, ein Billet für die Galerie zum Zusehen gebe, aber ich schlug zu Olga’s maßloser Verwunderung das Anerbieten dankend aus. Es that mir unendlich wohl, den Abend ganz allein zuzubringen, was ihr allerdings wie eine Grille vorkommen mochte.

Die Aufregung in der Stadt nach der Feuersbrunst von neulich hat sich immer noch nicht wieder gelegt, und zwar aus guten Gründe nicht. Verschiedentlich an den letzten Morgen hat man an besonders in die Augen fallenden Stellen, an den öffentlichen Gebäuden und Kirchen, während der Nacht befestigte Placate entdeckt, die nichts mehr und nichts weniger enthalten als die Drohung, daß Woronesch in nächster Zeit ganz durch Feuer vom Erdboden vertilgt werde solle. Einem unheimlichen Schreckgespenste gleich schlich die Furcht vor dem in Verborgenheit und Nacht gehüllten und deshalb, wie Jeder wähnt, um so gefährlicheren Feinde durch unsere Stadt, bis heute das Phantom einigermaßen greifbare Gestalt angenommen hat. Aus verschiedenen Gegenden des russischen Reiches treffen nämlich Berichte von ähnlichen, zum Theil sehr verheerenden Feuersbrünsten ein und zwar stets aus den Städten, in denen die polnischen Gefangenen internirt sind, deren letzten Aufstandsversuch eben General Murawiew mit eiserner Hand in Blut erstickt.

„Es sind die Polen, welche die Feuer anlegen,“ geht es jetzt von Mund zu Mund, und ich muß gestehen, daß ich diese Idee in keiner Weise beruhigend finde. Was ist nicht von diesen wilden Gesellen zu fürchten, die nichts zu verlieren und nichts zu gewinnen haben als die Rache?

Neulich begegneten wir einem Transport derselben, der gerade vom Kriegsschauplatze anlangte, und ich konnte Tage lang den Eindruck nicht überwinden. Immer wieder traten mir die verwilderten, verwahrlosten Gestalten vor Augen, denen man die erduldelen Qualen und die verbissene Wuth so deutlich von den hageren Gesichtern las. Wie schrecklich ist dieser Aufstand, der von vornherein ohne Hoffnung und Möglichkeit des Erfolges begann und jetzt mit drakonischer Strenge und mit Energie niedergetreten wird! Von allen Seiten sagt man mir, es muß sein – aber mich schaudert vor dieser Nothwendigkeit. In Deutschland könnte das nicht vorkommen, und ich sehe mit Verwunderung die vornehme Welt an, die tanzt und glänzende Feste feiert, als herrsche in der ganzen Welt Friede und Fröhlichkeit. Zenaïde Petrowna kennt nur das eine Bestreben, von diesen unangenehmen Dingen so wenig wie möglich zu erfahren, damit ihre Stimmung nicht dadurch alterirt wird. Sie hat strenges Verbot erlassen, in ihrer Gegenwart überhaupt davon zu sprechen.


Den 9. Januar.

Die Vorbereitungen zu dem Wohlthätigkeitsconcerte sind nunmehr definitiv in Angriff genommen. Es soll am Sonntag, den 26. Januar, im großen Saale der Assemblée stattfinden, der fünf- bis sechshundert Personen faßt. Ich denke mit Schrecken daran und weiß nicht, woher ich den Muth nehmen soll, vor so viel Menschen zu spielen. Wären nicht unsere Musikabende vorhergegangen, so würde es mir eine Unmöglichkeit sein. Morgen werden wir die erste Probe haben, und unsere Soiréen sind wegen der Vorbereitungen zu diesem Concerte für den Monat Januar ganz ausgesetzt.

Als ich diesen Nachmittag auf mein Zimmer kam, fand ich daselbst ein kleines Paket, und Masche sagte mir auf mein Befragen, es sei ihr von einer fremden alten Frau für mich übergeben. Als ich es öffnete, fand ich verschiedene Hefte Noten darin, über die ich vor längerer Zeit mit Fräulein Adrianoff gesprochen. Sie hatte es übernommen, mir dieselben zu besorgen, ohne daß ich jetzt noch daran gedacht hätte. Zwischen den Blättern lag ein zartes, duftendes Briefchen folgenden Inhaltes:

[699]                  „Theuerste Helene!

Gott allein weiß, was ich seit der Zeit leide, wo ich Sie nicht mehr sehe. So Vieles, so Schweres beklemmt mein armes Herz. Meine beste Helene, Sie verstehen mich, nicht wahr? Ich weiß nicht, was mit nur ist – ich verstehe nicht, was ich thue – mein Kopf brennt wie Feuer. O – wenn ich ihn nur sehen könnte! Mir würde leichter, wenn ich ihm sagen könnte, wie so sehr, wie so innig ich ihn liebe. Doch – wozu? Er muß es wissen – er weiß es, aber er weiß nicht, welche furchtbare Gefahr mich bedroht. Bitte, sagen Sie ihm das!

Hier sind endlich die Noten, die ich gestern aus Charkoff bekam. Tausend Grüße an Alle und ein freundlicher Händedruck an Sie, meine Vielgeliebte!

                 Ewig und immer Ihre

Wéra Adrianoff.“

Fast erschrocken starrte ich auf das zierliche Blatt in meiner Hand. Welch Unheil kündet es mir wieder dunkel an, und von welcher Gefahr redet Wéra nur? Vielleicht beziehen diese Worte sich auf ihre bevorstehende Verlobung, von welcher in der ganzen Stadt gesprochen wird, ohne daß doch irgend ein Mensch etwas Gewisses darüber sagen könnte. Man muß gestehen, Constantin übt in der That sein Wächteramt erbarmungslos, und doch – hat er vielleicht Recht. Während des ganzen Abends schon bin ich von Zweifeln geplagt, ob ich morgen mit Hirschfeldt über das Billet sprechen, oder es ihm zeigen soll, und kann doch zu keiner Entscheidung kommen. Vielleicht, daß guter Rath über Nacht sich einstellt, und ich will mir jetzt nicht mehr den Kopf darüber zerbrechen, zumal heute Abend wieder ein Ball in der Assemblée stattfindet, wo er und Wéra sich möglicher Weise sehen und Gelegenheit finden könnten, einige Worte mit einander zu wechseln.


Den 11. Januar.

Wir haben gestern in unserer Probe sehr fleißig geübt. Unser Capellmeister kam, weil er dienstlich sehr in Anspruch genommen war, ziemlich spät, und ich fand nur noch zuletzt Gelegenheit, ungestört einen Augenblick mit ihm zu plaudern. Er hat allerdings gestern Fräulein Adrianoff gesehen, aber nur wenige Worte mit ihr wechseln können, da sie fortwährend von ihren Tänzern umringt und in Anspruch genommen war. Die Beiden haben daher verabredet, am nächsten Sonntage sich nach der Kirche an einem ihnen bekannten Platze neben der Kathedrale zu treffen, wie sie sich denn auch am Abende des Concerts zu sehen hoffen.

Hirschfeldt sah bei der Mittheilung sorgenvoll aus. Ich habe bereits seit einiger Zeit die Bemerkung gemacht, daß seine Stimmung ungleich und forcirt ist. Jener unverwüstliche Lebensmuth, jene heitere Elasticität, die ihn früher allen Widerwärtigkeiten und Enttäuschungen gegenüber nur kühner vorwärts trieb, scheint mitunter ganz von ihm gewichen zu sein, und in der dunkeln Tiefe seiner nachdenklich auf mich gerichteten Augen begegnet mir alsdann ein Ausdruck zweifelnder Unsicherheit, der sich nicht mit seinem dereinstigen Wesen vereinbaren läßt. Ich fand ihn auch gestern so, und da ich ihm doch schließlich das am Tage zuvor für mich angelangte Billet von Wéra nicht vorenthalten mochte und es ihm zum Lesen darreichte, hatte er kaum einen Blick darauf geworfen, als er es mir auch schon aus der Hand nahm, es, ohne meine Einwendungen viel zu beobachten, in seine Brieftasche verschwinden ließ und nach kurzem Gruße auf und davon war. Wunderliche Menschen! Von ihm hätte ich am wenigsten dergleichen erwartet. Seine Stimmung macht mich traurig, denn sicher verzweifelt er, aus dem Labyrinth dieser unglücklichen Liebe einen Ausweg zu finden, ist daher unglücklich und grämt sich – aber warum nur vertraut er mir nicht Alles an, wie doch sonst seine Gewohnheit war?


Den 19. Januar.

Ich konnte es in der ganzen verflossenen Woche nicht möglich machen, auch nur einmal zum Schreiben zu kommen. Wir leben nur noch in Repetitionen und Proben, die mich allmählich vollkommen nervös machen, und wenn ich daran denke, daß ich übermorgen öffentlich spielen soll, erfaßt mich eine Art von Schwindel. Ich sagte heute Nachmittag zu Hirschfeldt:

„Wollen Sie glauben, daß ich Furcht habe?“

Er drohte mir mit dem Finger und antwortete: „Unterstehen Sie sich nicht! Sie müssen meine Hauptstütze sein.“

Er hat wohl Recht, Furcht ist ein vollständig lähmendes Gefühl, aber auch dasjenige, über welches man am allerschwersten Herr wird.

Unsere Gebieterin scheint wirklich stolz darauf zu sein, daß sie eine der „Hauptstützen“ in der Person ihrer Gesellschafterin zu dem Concerte liefert. Sie fühlt sich überhaupt unendlich wichtig in ihrer Eigenschaft als Directrice und glaubt, daß sie sich vollständig aufopfert, während ihre Anstrengungen in Wahrheit sehr imaginärer Natur sind und sie im Grunde nur den Namen dazu herleiht.

Also – übermorgen! Möge der Himmel geben, daß nicht ein unvorherzusehender, unberechenbarer Zwischenfall eintritt! Mein Herz fühlt sich, abgesehen von der Furcht, die mir das Concert einflößt, oft von einem dunkeln Gefühle der Ahnung niedergedrückt, von dem ich mich durchaus nicht frei machen kann.


Den 22. Januar.

Ich befinde mich heute in der seltsamsten Stimmung und Lage und bin der Meinung, Zenaïde Petrowna ist das undankbarste Menschenkind, welchem man in dieser wunderlichen Welt begegnen kann. Doch – mögen die Ereignisse für meine Vermuthung sprechen! Während des gestrigen Vormittags überlief es mich immer heiß und kalt, wenn ich an den Abend dachte, und wir hatten noch die Unbequemlichkeit zu überwinden, daß unsere letzte Probe erst am Abende von halb fünf bis sechs Uhr stattfinden konnte, weil man uns den großen Saal nicht früher einräumte. Nach meiner Rückkehr aus der Probe blieb mir gerade soviel Zeit, meine Toilette machen zu können. Als ich in den Concertsaal trat – man hatte bereits angefangen – und mit dem Blicke die sechshundert geputzten Menschen überflog, die ihn bis in den fernsten Winkel füllten, wurde mir recht bange um’s Herz.

Meine Nummer war die dritte des Programms. Fünf Minuten vorher trat Hirschfeldt zu mir, bot mir den Arm und führte mich in ein Nebenzimmer.

„Vier Minuten,“ sagte er, seine Uhr herausziehend, „gebe ich Ihnen jetzt zu den letzten Vorbereitungen.“

„Und die sind?“ fragte ich gespannt.

Er ließ lächelnd den Blick über mich hingleiten, über mein hübsches weißes Musselinkleid, welches, überall mit himmelblauer Seide eingefaßt, reichlich mit Schleifen von demselben Stoffe und einer ebensolchen breiten Schärpe verziert war.

„Diese Vorbereitungen bestehen darin,“ lautete seine Erwiderung, „daß Sie noch einmal jede Schleife zurechtzupfen, daß Sie sich fest vornehmen, nicht ein einziges Mal das Publicum anzusehen, und daß Sie überhaupt sich vollständig sammeln.“

Ich möchte nicht eben behaupten, es sei der mir so nöthigen Sammlung sehr fördernd gewesen, daß ich in diesem Augenblicke gerade das schöne Antlitz mir nahe gegenüber erblickte, aus dem ein ermuthigender, freundlicher Ausdruck mich herzgewinnend anlächelte, aber ich legte mir im Stillen das Gelübde ab, daß ich meinem Lehrmeister keine Schande machen wolle, und wenige Secunden später betrat ich an seiner Hand die Estrade. Wie ich an das Instrument gekommen bin, davon weiß ich Nichts mehr, nur wie ein nebelhaftes Traumbild schwebt mir die unklare Erinnerung vor, daß ich oben war, allen Blicken ausgesetzt, daß eine bunte verworrene Masse vor meinen Augen auftauchte und wieder verschwand, aus der ein Geräusch vieler klatschenden Hände zu mir heraufschallte, und daß ich als Revanche ein Compliment machte. Recht zur Besinnung kam ich erst wieder, als ich, am Flügel sitzend, meine Handschuhe auszog; Hirschfeldt, der an dem andern Instrumente Platz genommen hatte, gab mir mit dem Kopfe ein Signal und – fort ging es. Nun muß ich gestehen, daß etwas Wunderbares sich zutrug; ich hatte nicht die leiseste Anwandlung von Furcht, nicht einmal von Befangenheit, und die glückliche Folge davon war, daß es vortrefflich ging bis an’s Ende, wo ein wahrer sich mehrmals wiederholender Beifallssturm losbrach, unter dessen Nachhall ich an des Capellmeisters Hand die Estrade wieder verließ.

Es war ein unbeschreiblicher Moment, und ich kann wohl behaupten, daß ich mich in demselben vollkommen glücklich fühlte. [700] Auch die übrigen Piecen gelangen nach Wunsch; wir rissen in den Ensemblestücken die Unsicheren mit fort, und unser Erfolg wurde von allen Seiten anerkannt.

Herr Bessedofski schwamm in einem Meere von Entzücken, und legte durchaus Beschlag auf den Platz an meiner Seite und sagte mir so viele närrische Dinge, daß ich mich nicht erinnere, seit langer Zeit so herzlich gelacht zu haben. Zenaïde Petrowna erntete neben der Gouverneurin wohlfeil erlangten Ruhm, und weil sie ihn voller Selbstgefälligkeit und anscheinend in bester Laune hinnahm, achtete ich auch nicht darauf, daß sie sich beim Nachhausefahren sehr einsilbig verhielt. Ich nahm ihr Schweigen für Abspannung, und erst als beim Gutenachtsagen Olga mir mit eigenthümlicher Betonung zurief: „Möge Ihnen der heutige Tag recht wohl bekommen, Fräulein Helene!“ berührten mich diese Worte fatal, wie ein unheilverkündender Eulenruf.

Ich schlief trotzdem in dieser Nacht vortrefflich, da es nach dem glücklich überstandenen Concerte wie eine wohlthuende Ruhe über mich gekommen war. Heute Morgen begab ich mich in heiterster Stimmung zum Frühstück, nichts anderes erwartend, als daß die Erlebnisse des gestrigen Abends in gemüthlicher Weise dabei die Unterhaltung bilden würden. Das war jedoch eine Täuschung. Unsere Gebieterin befand sich in der allerschlechtesten Laune und machte ein Gesicht, als ob sie sich darauf vorbereite, allen Leiden dieses mühevollen Erdendaseins in kürzester Frist zu erliegen. Sie hielt fortwährend ihre Zofe, welche mit geängstigter Miene an der Thür stand, in Bewegung, indem sie sich einmal ihr Taschentuch bringen ließ, dann wieder ihr Flacon oder ein Glas Wasser, an welchem sie in hinsterbender Schwachheit nippte.

Da ihr Zustand – wahr oder erheuchelt – sich durchaus nicht ignoriren ließ, wagte ich endlich die Frage, ob Zenaïde Petrowna leidend sei, und diese unglückliche Frage schien das Tröpfchen zu sein, durch welches das Faß zum Ueberströmen gebracht wurde. Sprechen konnte die Dame noch, obgleich dies eben zweifelhaft genug erschienen war, aber die Worte flossen nicht wie Honigseim von ihren Lippen, sondern wie Galle. Sie erklärte sich für angegriffen bis zum Sterben, aber es ließe sich auch gar nicht anders erwarten, fügte sie hinzu, da die Verderbtheit der menschlichen Natur geradezu entsetzlich sei, man müsse immer wieder einsehen, daß man in unwürdiger Weise hintergangen werde, und das sei vollständig entmuthigend, wenn es von Personen ausgehe, denen man Vertrauen geschenkt habe.

Ich war eben im Begriffe, vollkommen arglos zu fragen, wer denn so unglücklich gewesen sei, sich in solchem Grade gegen unsere Gebieterin zu versündigen, als von ungefähr mein Blick demjenigen Olga Nikolajewna’s begegnete, der mit einer Art triumphirenden Hohnes auf mich gerichtet war. Sie senkte ihn augenblicklich und rührte, während sie in ihrer geräuschlosen, jetzt freilich sehr wenig angebrachten Weise lachte, eifrig ihren Thee um, aber getäuscht hatte ich mich nicht und sofort begriff ich Alles. Zenaïde Petrowna’s Lamentationen waren ebenso viele auf mich gemünzte Anspielungen, und als Iwan Alexandrowitsch, auf den die Launen seiner Gemahlin zwar sonst keinen allzu tiefen Eindruck machen, der sich aber bei der herrschenden Verstimmung langweilte und darum verdrießlich war, sich entfernt hatte, begann sie in wahrhaft ungemessener Weise die Schalen ihres Zornes über Hirschfeldt auszugießen. Sie nannte ihn einen Unsinnigen, der es wage, seine Blicke zu hoch über ihm stehenden Damen zu erheben, der nichts als Unheil anrichte und für seine Unverschämtheiten eine exemplarische Züchtigung verdiene. Sie werde nächstens mit dem Gouverneur oder dem General Adrianoff sprechen, welchen, da Hirschfeldt als Regimentscapellmeister im Staatsdienste stehe, es eine leichte Sache sein würde, ihn nach einem fernen Gouvernement versetzen zu lassen oder ihn gar nach Sibirien zu schicken, wenn er es zu arg treibe.

Ich hätte des Himmels Einsturz eher erwartet, als daß gerade heute, unmittelbar nach dem gestrigen Erfolge, Madame ihren bisherigen Günstling so total fallen lassen würde. Mein Erstaunen war so groß wie mein innerlicher Schreck und meine Entrüstung. Aber da ich nicht zu Hirschfeldt’s Vertheidigerin berufen bin, da die Beschuldigungen sich immer in allgemeinen Anspielungen hielten und ich wußte, Widerspruch würde die Sache nur verschlimmern, schwieg ich beharrlich auch dann, als unsere Gebieterin anfing, anzügliche Bemerkungen über Zwischenträgerinnen einzuflechten. Ich hielt es für das Klügste, hartnäckig nicht zu verstehen, an wen hier gedacht sein könne, und wie an jedem anderen Morgen meine gewohnten Beschäftigungen vorzunehmen.

Der ganze Tag entsprach in seinem Verlaufe leider dem Morgen und war fast unerträglich. Wollte ich vorspielen, so sagte Madame, daß die Migräne, welche sie quäle, sie verhindere, zuzuhören. Nahm ich meine Stickerei, so machte das Aufziehen der Fäden sie nervös, und fragte ich, ob ich ihr vorlesen dürfe, so erklärte sie die Lectüre für zu aufregend. Zwischendurch flocht sie stets wieder ihre malitiösen Bemerkungen ein, aber ich that ihr nicht den Gefallen, auch nur ein Wort darauf zu erwidern, sondern behandelte die Sache hartnäckig, als ob sie mich in keiner Weise berühre. Wohl zu Muthe war mir freilich nicht bei diesem Zustande, denn ich mußte mir am Ende sagen, daß dies mehr bedeute als eine der gewöhnlichen Launen Zenaïde Petrowna’s, und daß ich nicht allzu lange im Stande sein werde, die verborgenen Angriffe zu ertragen und meinen Freund schmähen zu hören. Ich war also von Herzen froh, mich in gewohnter Weise nach dem Diner eine Weile in mein Zimmer zurückziehen zu können. Ich wanderte ruhelos darin auf und ab, indem ich mir ohne Aufhören den Kopf zermarterte, um den Grund dieser plötzlichen Ungnade unserer Herrin zu entdecken, da ich mir doch einbildete, wir, Hirschfeldt und ich, hätten gestern ein wenig ihren Dank verdient. Aus den fruchtlosen Grübeleien wurde ich durch das Erscheinen meines Mädchens aufgestört, welches plötzlich eintrat und sich in einer Weise mit meiner Garderobe zu schaffen machte, in der ich alsbald einen Vorwand erkannte für ihr mir in der That jetzt lästiges Erscheinen.

Masche mochte bemerken, daß ich ihr Thun mit ungeduldigen Blicken verfolgte – „Fräulein Helene –“, begann sie zu mir hintretend und zupfte verlegen an ihrer kleinen weißen Schürze.

„Was giebt’s, Masche?“ fragte ich ungeduldig. „Doch ich erinnere mich, es ist heute der Tag des heiligen Timofei – möchtest Du vielleicht den Namenstag Deines Vaters mitfeiern und die Piroge zu Hause essen, dann theile mir nur möglichst rasch Dein Begehren mit!“

Die Gefragte schüttelte den Kopf, sah mich aus ihren schräg geschnittenen Augen offenbar ängstlich an und erwiderte stockend: „O nein, Fräulein Helene, es handelt sich um etwas ganz Anderes.“

Ich hatte also recht gerathen – es handelte sich wirklich um Etwas. „Masche,“ nahm ich wieder das Wort, „hast Du mir eine Bitte vorzutragen, in welcher Art es auch sei, oder hast Du irgend eins meiner Sachen verdorben, so sage es offen heraus, nur quäle mich nicht lange mit unnützen Vorreden! Ich habe keine Zeit, sie anzuhören.“

Wer beschreibt jedoch mein Erstaunen, als nach diesen wohlgemeinten Worten das Mädchen plötzlich in Thränen ausbrach, sich vor mir niederwarf und begann mein Kleid zu küssen. „Fräulein Helene,“ schluchzte sie dabei, „versprechen Sie mir fest, daß Sie mich nicht verrathen wollen, so –“

Hier unterbrach sie sich wieder, um mein Kleid zu küssen, weinte und erging sich in Bitten und Betheuerungen. Ich hatte Mühe, sie so viel zu beruhigen, daß sie mich vernünftig anhörte, und mir wurde bei ihrem Benehmen ganz wunderlich zu Muthe. Masche ist eine kleine gute Person, die mir stets treu gedient und mir nicht die mindeste Ursache gegeben hat, ihr zu mißtrauen. Daß jetzt etwas ganz Ungewöhnliches sie in solche Aufregung versetzte, war unverkennbar, und ich gab ihr nach einigem Ueberlegen mein Wort, von Allem, was sie mir anvertrauen würde, nichts zu verrathen. Das wirkte endlich so viel, daß ich sie dazu brachte, wieder im Zusammenhange zu reden, und nicht ohne Mühe gelang es mir, sie zur Erzählung folgender Thatsachen zu veranlassen.

[713] Als ich am Sonntag Nachmittag zu der Probe gefahren, so lautete der Bericht Masche’s, habe sich die alte Frau wieder eingestellt, die schon einmal ein Paket für mich überbracht.

Sie habe diesmal einen Brief abzugeben gehabt, den Masche in Empfang genommen, um ihn auf mein Zimmer zu tragen. Als sie indessen, ihn noch in der Hand haltend, über den Corridor gegangen, wäre Olga Nikolajewna ihr begegnet und habe sie gefragt, für wen der Brief bestimmt sei; als Masche meinen Namen genannt, habe sie ihr denselben ohne Weiteres mit dem Bemerken aus der Hand genommen, alle im Hause einlaufenden Briefe müßten zuerst an Zenaïde Petrowna abgeliefert werden. Das arme Mädchen war durch diesen Gewaltact mehr empört gewesen als erschrocken. „Denn,“ fuhr es in seinem Berichte fort, „wir Alle wissen zwar, daß die Gouvernante eine böse Hexe ist, aber ich dachte mir, den Brief müßte sie doch wieder herausgeben und an Fräulein Helene abliefern.“

Es sollte aber anders kommen, als Masche geglaubt hatte. Nach einer halben Stunde etwa war sie in den Salon gerufen worden, und die Herrin des Hauses, neben der nur Olga gegenwärtig gewesen, hatte ihr unter den heftigsten Drohungen verboten, mir irgend etwas von dem angekommenen Billete zu sagen. Dabei war es ihren scharfen Blicken keineswegs entgangen, daß letzteres, geöffnet und unter ihrem Taschentuche nachlässig verborgen, auf Olga’s Schooße lag.

Seitdem nun hatten in meiner kleinen Zofe die Anhänglichkeit an mich und die Angst, das Gebot unserer Gebieterin zu übertreten, mächtige Kämpfe hervorgerufen, bis endlich die erstere den Sieg davon trug und sie sich entschloß, mir zu beichten; mochte doch ein richtiger Instinct sie das Unterschlagen des Briefes mit der heutigen auch ihr nicht verborgen gebliebenen allgemeinen Verstimmung in Verbindung bringen lassen. Nachdem ich die Kleine über Alles ausgeforscht, beruhigte ich sie durch ein erneutes Versprechen strengster Verschwiegenheit und schob sie alsdann zur Thür hinaus, denn jetzt bedurfte ich erst recht der Einsamkeit.

Ich zweifelte keinen Augenblick, daß Wéra eines ihrer exaltirten Billete, die sie unversiegelt in einen künstlichen Knoten zusammenzulegen pflegte, unvorsichtig genug sogar in meiner Abwesenheit in’s Haus geschickt hatte. Da sie immer zu ihrer Correspondenz mit mir sich der deutschen Sprache bediente, konnte allerdings Niemand unter unseren Hausgenossen das Billet entziffern außer – Olga. Diese, wie sich leicht errathen ließ, war schlau genug gewesen, unserer Gebieterin den unglücklichen Brief unter die Augen zu bringen und deren seit der Kindergesellschaft lebhaft erregte Neugierde zu neuem Unheile auszubeuten, während sie selbst durch die Mitwissenschaft der Madame Branikow vollkommen gedeckt war. Was mochte in dem Billete stehen, und was sollte ich beginnen!? Ich fühlte mich der Verwickelung gegenüber vollkommen ohnmächtig, so lange Zenaïde Petrowna nicht geradezu aussprach, um was es sich handelte, denn Masche’s wegen durfte ich nicht einmal eine Anspielung wagen, daß ich von der Wahrheit eine Ahnung habe. Ohnehin konnte mir nicht einfallen, mein dem Mädchen gegebenes Wort zu brechen, aber ein anderer Gedanke kam mir plötzlich wie ein Lichtstrahl und zeigte mir noch einen rettenden Ausweg, den einzigen, der mir blieb; denn da in dieser Zeit der Wahlen Hirschfeldt durch Dienstpflichten sehr gebunden ist, darf ich nicht einmal hoffen, ihn hier zu sehen, um mir bei ihm Rath zu holen, ja, kann bei der Stimmung im Hause sein Erscheinen auch gar nicht wünschen. Morgen aber findet in der Assemblée wieder ein Ball statt, den die Branikow’s mit Olga besuchen werden, und sicher wird auch Fräulein Adrianoff dort sein. Ich brauche mithin nur als Zuschauerin auf die Galerie zu gehen, um Wéra zu sehen, sie nach dem Briefe zu fragen und sie zu warnen.

Nachdem ich mir noch einmal Alles überlegt und meinen Entschluß gefaßt hatte, begab ich mich wieder in den Salon, und folgte meiner alten Taktik, die herrschende unangenehme Stimmung nicht zu bemerken. Ich suchte mich möglichst unbefangen zu unterhalten, und sobald sich eine nur irgend günstige Gelegenheit darbot, erklärte ich mit größter Ruhe, daß ich das oft gemachte Anerbieten unserer Gebieterin, bei einem Balle in der Assemblée auf die Galerie zu gehen, morgen mit Vergnügen annehmen würde. Es konnte mir nicht entgehen, daß meine Erklärung sie äußerst zu frappiren schien, aber ich hütete mich wohl, es zu beachten, sondern beschäftigte mich emsig mit meiner Stickerei, und da Zenaïde Petrowna, welche wahrscheinlich eine passende Entgegnung nicht finden konnte, beharrlich schwieg, so betrachtete ich die Sache als abgemacht und erwähnte ihrer noch mehrmals im Verlaufe des Abends, um jedes Mißverständniß unmöglich zu machen. Sehen wir denn, was der morgende Tag bringen wird!


Den 24. Januar.

Lange ertrage ich diesen Zustand nicht mehr; eine geheime Angst schnürt mir das Herz zusammen, und ich weiß nicht, wie ich mir rathen und helfen soll. Selbst zum Schreiben fehlt mir eigentlich der Muth, und ich zwinge mich nur dazu, um womöglich [714] vor dem Schlafengehen meine Nerven noch ein wenig zu beruhigen.

Ich war gestern in der Assemblée, doch muß ich gleich anfangs bemerken, daß der ganze Tag vorher nicht angenehmer war als der Montag, und ohne ein wirklich zwingendes Motiv hätte mich wohl nicht leicht etwas zum Mitfahren zum Ball bewegen können. Je trüber ich jedoch in meinem Herzen mich gestimmt fühlte, desto ausgelassener schien Olga zu sein; sie gab hundert Drolligkeiten an, über welche Zenaïde Petrowna herablassend lächelte und unser Gebieter sich vor Heiterkeit ausschütten wollte, während sie auf mich den allerunangenehmsten Eindruck machten.

Der gestrige Ball, als derjenige, welcher in die Zeit der Wahlen fällt, war der vielen Fremden wegen einer von den glänzendsten und besuchtesten in der Saison. Hätte ich freien Gemüthes auf das bunte Gewühl hinabblicken können, es würde mir Vergnügen gemacht haben, diese schimmernde Menge geputzter, durcheinander wogender Menschen zu beobachten, deren Gesichter in anscheinend ungetrübter Heiterkeit strahlten. Um ihrer Aller Lippen schwebte ein Lächeln, als gäbe es in der weiten geschmückten Halle nur Menschen, die glückselig am Freudenkelche nippen, die nichts wissen von verborgenem Weh, von stiller, das Herz zusammenpressender Angst, als trieben nicht unsichtbar unter der glänzenden Außenseite Neid und Bosheit ihr ränkevolles Spiel, den kleinen schwarzen Schlangen gleich, die sich geräuschlos und ungesehen am liebsten unter einer Oberfläche von Blumen fortringeln.

So aber hatte ich weder Sinn noch Zeit, an etwas Anderes zu denken, als an den Zweck meines Kommens und war sehr befriedigt, als ich in der That bald genug Fräulein Adrianoff unter den Tanzenden entdeckte. Es gelang mir im Laufe des Abends, ihr einen Wink zu geben, den sie auch verstand. Sie eilte zu mir herauf. Erhitzt vom Tanze und vor Glück strahlend – sie hatte, wie ich später erfuhr, soeben im Vorübergehen Hirschfeldt gesprochen – stand sie vor mir, eine entzückende Erscheinung. Ein Kleid von klarer, feingewebter Gaze, überall mit Büscheln goldener Aehren reich verziert, umhüllte ihre prächtige Gestalt gleich einer duftigen weißen Wolke, und ein Kranz von blauen Cyanen, durch ihr wundervolles blondes Haar geschlungen, fiel, mit dem gleichen kostbaren Aehrenschmucke durchflochten, auf ihre perlmutterweißen Schultern herab.

„Endlich, meine theure Helene, endlich sehe ich Sie wieder,“ sagte sie und streckte mir ihre beiden Hände entgegen.

Es ging mir wie ein Stich durch’s Herz: ich sollte das liebliche Wesen, in dieser Minute noch strahlend in Jugendmuth und Festlust, vielleicht in der nächsten schon durch meine Worte grausam verwunden, und doch durfte ich nicht säumen, denn die Augenblicke konnten gezählt sein, in denen ich mit ihr reden durfte.

„Fräulein Wéra,“ begann ich in deutscher Sprache, nachdem ich mich möglichst mit ihr zurückgezogen und mich überzeugt hatte, daß Niemand in der Nähe uns verstand, „haben Sie in diesen Tagen, haben Sie Sonntag einen Brief an mich abgeschickt?“

Sie sah mich mit ihren großen Augen in starrer Verwunderung an, und dann, als ob sie meine Gedanken in meinen Mienen läse, zuckte es wie Schreck über ihr Antlitz. „Warum fragen Sie mich?“ stammelte sie.

„Weil ich Grund habe, zu vermuthen, daß ein Brief für mich in unserem Hause verloren gegangen ist, und weil ich wissen möchte, ob er von Ihnen war.“

„Sie haben ihn nicht bekommen?!“ rief sie, meinen Arm krampfhaft umklammernd, mit solcher Heftigkeit, daß ich mich erschrocken umsah und warnend den Finger auf die Lippen drückte.

„Ich habe ihn nicht bekommen,“ erwiderte ich, „bitte, sagen Sie mir, was er enthielt!“

Sie sah mich einige Secunden lang verwirrt an. „Ich schrieb Ihnen,“ begann sie alsdann und machte eine verzweifelte Anstrengung, sich zu fassen, „daß es mir am Sonntag unmöglich sein würde, in’s Concert zu kommen; ich bat Sie, dies Alexis mitzutheilen und ihm zu versichern, daß meine grenzenlose Liebe zu ihm immer dieselbe sei und daß ich um Aufklärung bäte, warum ich ihn bei dem bewußten Rendezvous neben der Kathedrale nicht getroffen habe. Und nun sagen Sie mir, Helene,“ fügte sie hinzu, „wie wissen Sie etwas von der Existenz des Briefes, da Sie ihn doch, wie Sie sagen, nicht empfangen haben?“

Was hätte ich nicht erdulden mögen, um die Aermste zu schonen! Aber ich durfte ihr unmöglich die Wahrheit verschweigen. Zudem hätte sie jeden Tag eine ähnliche Unvorsichtigkeit begehen können – sie mußte gewarnt werden. Ich bat sie, sich zusammen zu nehmen, damit nicht ihre Verstörung Aufsehen errege, und sagte ihr, das Billet sei Zenaïde Petrowna in die Hände gefallen und diese kenne den Inhalt desselben.

Kaum hatte ich das Wort gesprochen, als Wéra erbleichte. Sie schwankte. Ich suchte sie zu stützen und redete ihr leise zu, aber sie hörte nicht einmal darauf. Die schönen Augen matt und doch voll Angst zu mir aufschlagend, fragte sie nur mit bebender Stimme: „Wird Madame Branikow es Constantin, wird sie es meiner Mutter sagen?“

„Dann müßte sie die Unterschlagung des Briefes einräumen,“ erwiderte ich, „und dadurch wird sie sich nicht compromittiren wollen.“

„Schaffen Sie mir den Brief wieder!“ bat Wéra in flehendem Tone. „Ich bin verloren, wenn sie ihn meiner Mutter in die Hände spielt.“

Jedes weitere Zureden, ich mochte es versuchen wie ich wollte, war durchaus vergeblich. Plötzlich richtete sie sich empor, und es flog wie ein wilder Entschluß über das liebliche, erblaßte Antlitz. Sie ergriff meine Hand und drückte sie mit leidenschaftlicher Hast; bevor ich noch recht zur Besinnung gekommen, war sie fortgeeilt. Kurze Zeit darauf sah ich sie wieder unten im Saale, sah, wie sie tanzte, und wie sich in jeder ihrer Bewegungen die leidenschaftliche Aufregung widerspiegelte, von der sie ergriffen war.

Was sollte daraus werden? Lange hierüber meinen Betrachtungen nachzuhängen, sollte mir nicht vergönnt sein; denn neben mir ertönte plötzlich Hirschfeldt’s unruhig bewegte Stimme: „Was ist nur geschehen, Fräulein Helene? Wéra, die ich auf dem Corridore erwartete, um endlich einmal genaue Auskunft über den Zustand in ihrem Hause und über die Wahrheit aller umlaufenden Gerüchte zu erhalten, war wie außer sich. Sie stand mir nicht Rede, verwies mich nur an Sie und schien kaum zu wissen, was sie sagte.“

„Nehmen Sie einen Augenblick Platz!“ antwortete ich ihm. „Sie sollen Alles erfahren, aber vor allen Dingen machen Sie nicht ein so erschrockenes Gesicht, wie kein Mensch es an Ihnen gewohnt ist, wenn Sie nicht wollen, daß alle geschäftigen Zungen von Woronesch morgen die Ursachen Ihrer Bestürzung erörtern!“

Er setzte sich. Es wurde ihm ersichtlich schwer, seine sonstige Sicherheit auch nur oberflächlich wieder zu gewinnen. Ich theilte ihm mit, was sich zugetragen hatte.

„Wie oft habe ich Wéra gebeten, mit diesen unglücklichen Briefen vorsichtig zu sein!“ sagte er nachdenklich. „Im Grunde aber ist alles einerlei, denn zur Katastrophe mußte es früher oder später doch kommen, und dieser Zustand der Ungewißheit beginnt allgemach unerträglich zu werden.“

„Ich werde keinenfalls länger Madame Branikow’s versteckte Anspielungen dulden,“ nahm ich das Wort, „sondern, wenn sie in denselben beharrt, eine offene Erklärung herbeiführen.“

Und das war auch heute während des ganzen Tages meine Absicht, aber die Gebieterin des Hauses hat mir hartnäckig das Glück ihrer Gegenwart entzogen. Es heißt, sie leidet an ihrer Migräne und will deshalb Niemanden sehen, und doch weiß ich durch Masche, daß Olga bei ihr gewesen ist.

Wie schon so oft in meinem Leben, will ich mich bemühen, auch diesmal den Ereignissen kaltblütig die Stirn zu bieten. Was meine Thatkraft zu lähmen droht, das ist nicht mein eigenes Ergehen; es ist die tödtliche, still nagende Angst um – ihn, dessen Schicksal in der Hand eines so unvorsichtigen Mädchens ruht, wie Wéra ist.


Den 25. Januar.

Die schwarze Wolke, lange gefürchtet, wenn sie heraufzieht, birgt in ihrem Schooße oft ein ganz anderes Unheil, als wir bisher in dem fern grollenden Ungewitter fürchteten – das ist der Gedanke, der sich immer wieder in mir regt, während ich mich anschicke, mit bebender Hand die Erlebnisse des heutigen Tages niederzuschreiben, und während ich voll Schrecken die langen Stunden der Nacht vor mir sehe, in der mich vermuthlich die Unruhe meiner Seele nicht wird schlafen lassen.

[715] Heute Morgen hatte unsere Gebieterin, die noch in ihrer üblen Laune beharrt, in Toilettenangelegenheiten eine lange Berathung mit ihrer Zofe und Näherin; später war Besuch da, ich fand also den geeigneten Augenblick zu der beabsichtigten Unterredung nicht. Der Nachmittag kam. Iwan Alexandrowitsch fuhr aus, Olga gab ihre Stunden, und ich konnte daher auf ein ungestörtes Beisammensein mit Zenaïde Petrowna rechnen, welches jedenfalls nicht unbenutzt vorübergehen durfte. Ich unterdrückte mit aller Festigkeit des Willens, die mir nur irgend zu Gebote steht, das gewaltsame Klopfen meines Herzens, als ich bei ihr eintrat und sie in möglichst freiem Tone bat, mich einen Augenblick in einer Angelegenheit zu hören, die mich in den beiden letzten Tagen sehr beschäftigt habe.

Sie sah mich befremdet und nichts weniger als ermuthigend an, aber ich war fest genug, um mich nicht einschüchtern zu lassen. Ich sagte ihr, daß ich an dem Ballabende Fräulein Adrianoff gesehen, die mir mitgetheilt, sie habe am Sonntage ein Billet an mich gesendet. „Dieses Billet nun,“ fügte ich hinzu, „ist sonderbarer Weise nicht in meine Hände gelangt.“

Madame Branikow zuckte leicht die Achseln und warf mir einen Blick zu, der, in Worte übersetzt, ungefähr lauten mußte: „Was geht das mich an?“

„Fräulein Adrianoff,“ fuhr ich unbeirrt fort, „schien sehr bestürzt, Madame, als sie das Nichtankommen des erwähnten Briefes erfuhr, sie bat mich, Nachforschungen anzustellen. Sie weiß bestimmt, daß eine alte Dienerin ihrer Familie den Brief hier im Hause abgegeben.“

Zenaïde Petrowna erwiderte mit schlecht verhehlter Ungeduld: „Aber was kümmert Ihre Correspondenz mich?“

Ich fühlte, wie eine leichte Röthe mir in die Wangen stieg, aber ich zwang mich zu der vollkommen ruhigen Antwort: „Madame, es liegt mir viel an dem Briefe, und da er vielleicht in meiner Abwesenheit angekommen ist, könnte er möglicher Weise an Sie oder Iwan Alexandrowitsch abgegeben und, wie sehr leicht erklärlich, vergessen worden sein. Sie sehen in dieser Vermuthung die Ursache meiner bescheidenen Anfrage.“

Zuerst überflog bei meinen Worten ein spöttisches Lächeln die Züge der Hausherrin, dann jedoch preßten sich ihre Lippen fest zusammen. „Ich weiß von keinem Briefe,“ erwiderte sie, mußte aber doch, als sie die Lüge aussprach, unwillkürlich ihre Blicke vor den meinigen senken. Meine innere Empörung war grenzenlos, aber ich wußte nur zu gut, daß ein Kundgeben derselben die letzte Hoffnung, jemals das unglückliche Papier in meine Hände zu bekommen, vernichten würde.

„Wenn der Brief nicht abgegeben ist,“ begann ich wieder, „so muß Jemand von den Leuten ihn nachlässiger Weise bei Seite gebracht haben, und da die vorläufige Nachfrage meinerseits kein Resultat ergeben hat, so möchte ich freundlich die Bitte an Sie richten, Madame, den Haushofmeister kommen zu lassen und ihm zu befehlen, daß er das verlorene Billet wieder zur Stelle schafft. Wenn Sie ihm Ihren Willen kund thun, so wissen Sie, Madame, daß er das Verlorene an’s Tageslicht bringen wird, wenn es noch irgendwo existirt.“

Zenaïde Petrowna hatte sich schon, während ich sprach, müde zurückgelehnt, schloß langsam die Augen und sagte gähnend: „Es kann Ihnen doch nicht im Ernste einfallen, Mademoiselle, daß ich um die genannte Bagatelle einen solchen Aufruhr anrichten soll. Fräulein Adrianoff mag in Zukunft mein Haus, welches sie nicht mehr der Ehre ihres Besuches würdigt, auch mit ihren Briefen verschonen. Das ist es, was ich von dieser Angelegenheit denke. Ah, wie erschöpft ich mich fühle!“

Nach dieser für sie unverhältnißmäßig langen Rede machte sie ein Gesicht, das allerdings den Entschluß, jetzt kein Wort mehr zu hören oder zu sagen, deutlich genug verrieth.

Ich bebte vor Aerger. Ich hatte gehofft, sie würde das Papier, da es unversiegelt gewesen und also unverletzt wieder herzustellen war, nachdem sie ihre Neugier befriedigt hatte, mir in die Hände spielen oder wenigstens es zu einer offenen Erklärung darüber kommen lassen. Beide Hoffnungen schienen durch ihr Leugnen gänzlich vereitelt, ich war jedoch nicht gesonnen, mich in solcher bisher niemals gegen mich in Anwendung gebrachten Weise abfertigen zu lassen, und erneute meine Bitte noch entschiedeneren Tones als zuvor.

Madame richtete sich empor und kniff den Mund unheilverkündend zusammen, während es an ihren Schläfen seltsam zuckte. Dann öffneten sich bereits ihre Lippen, wahrscheinlich um mir eine Beleidigung mehr zuzuschleudern, vielleicht aber auch, um mir den Inhalt von Wéra’s Billet brutal vorzuwerfen, als plötzlich einer von den Dienern erschien und hastigen Tones eine Meldung begann. Er wurde indessen, noch bevor er sie zur Hälfte beendet hatte, von dem anzukündigenden Besuche in Person unterbrochen und bei Seite geschoben. Es war Kleopatra Feodorowna Ostrowski, die sich, ohne eine Aufforderung zu erwarten, in den nächsten Sessel warf, völlig außer Athem und so echauffirt, als hätten wir anstatt strenger Januarkälte die Hitze des Hochsommers zu ertragen.

Ich konnte einen Seufzer nicht unterdrücken, als ich die alte Neuigkeitskrämerin erkannte, von der ich wußte, daß sie keinen anderen Lebensberuf hat, als alle möglichen und unmöglichen Klatschgeschichten aus einem Hause in das andere zu tragen, und daß wir sie in mindestens einer oder gar zwei Stunden nicht wieder würden los werden.

„Ah, Duschinka, wie geht’s?“ richtete sie, noch immer zwischendurch nach Luft schnappend, das Wort an unsere Gebieterin. „Sie glauben nicht, welchen Schreck ich gehabt habe! Denke ich doch, mich soll auf der Stelle der Schlag rühren! Sie müssen wissen,“ fuhr sie dann, nochmals tief Athem schöpfend und nachdem sie sich in dem Sessel behaglich zurecht gesetzt, fort, „ich komme geraden Weges von den Adrianoffs.“

Mich durchfuhr bei ihren Worten ein Schreck, daß mir die Kniee bebten, und auch Madame richtete ungewöhnlich rasch die Frage an ihren Gast:

„Von den Adrianoffs?“

„Ja doch, Zenaïde Petrowna, eben daher. Aber Gott segne meine Seele, Kind – ich glaube, Sie wissen noch gar nicht, was geschehen ist.“

„Nun, was denn? Was ist geschehen? Sie wollen es uns ja eben mittheilen,“ rief die Herrin des Hauses ungeduldig, während ich unwillkürlich, stumm vor Angst, der Alten einen Schritt näher trat.

Glücklich über unsere Unwissenheit, fühlte sich Kleopatra in ihrem Elemente. Sie schüttelte den Kopf, faltete die Hände und fragte dann langsam. „Sie waren doch Dienstag in der Assemblée?“

„Gewiß waren wir da, und was weiter?“

„Und Sie haben Wéra gesehen?“ fuhr sie fort. „Das arme Seelchen! Sie soll so schön gewesen sein, wie fast noch nie, aber die Heiligen mögen wissen, was ihr widerfahren ist. Einige behaupten, der Capellmeister habe sich mit dürren Worten von ihr losgesagt, und Andere wieder, Constantin Feodorowitsch habe diesen bis auf den Tod beleidigt und beschimpft. Eins aber ist sicher, daß Wéra, nachdem sie wie eine Rasende getanzt, ohne Wissen ihres Bruders hinaus geeilt und sich glühend, wie sie war, mit den leichten Ballschuhen und unbedecktem Kopfe in einen offenen Schlitten gesetzt hat – wir hatten in der Nacht zwanzig Grad Kälte, wie Sie wissen, meine Liebe – und nicht genug damit: als das Unglückskind nach Hause kommt, reißt es die Fortischka auf, stellt sich im Ballcostüm davor und sagt den erschrockenen Dienern nur immer das eine Wort. ‚Laßt mich! Ich will sterben.‘ Mit Gewalt mußte man die Arme endlich fort und in’s Bett bringen. Sie können denken, daß die Folgen nicht auf sich warten ließen. Gestern schon hat die arme Seele den ganzen Tag im heftigsten Fieber zugebracht, und als ich heute arglos komme, sie zu besuchen, war eben das Delirium ausgebrochen. Ihr Kopf brannte wie Feuer, und sie schwatzte die tollsten Dinge. Nun stellen Sie sich vor, daß die Eltern noch Beide abwesend sind, wenn auch Madame Adrianoff täglich erwartet wird. Der Zustand im Hause ist ein entsetzlicher, und Constantin Feodorowitsch benimmt sich vollständig wie ein Unsinniger. Glauben Sie wohl, daß er mich, als ich ihm ein theilnehmendes Wort des Bedauerns sagen wollte, beinahe vor die Thür gesetzt hat?“

Sie gerieth bei Erwähnung der ihr von Wéra’s Bruder ihrer Meinung nach widerfahrenen Rücksichtslosigkeit fast in die nämliche Aufregung wie bei ihrer Ankunft. Bei der Berührung von Wéra’s unbegreiflicher Erregung auf dem Balle traf mich ein angstvoller Blick Zenaïde Petrowna’s, den ich in gleicher Angst erwiderte, und diese stumme Sprache verrieth Alles, was unsere Lippen nicht wagten auszusprechen – tödtlichen [716] Schreck und volles Verständniß. Die plötzliche Ueberraschung hatte mir für einen Augenblick gänzlich meine gewohnte Selbstbeherrschung geraubt, Zenaïde mußte in meinen Augen so gut die entsetzte Anklage, wie ich in den ihrigen die ängstliche Frage gelesen haben. Es gab hier weiter keine Täuschung: sie konnte keinen Zweifel mehr hegen, daß ich wußte oder doch errieth, wo mein Brief geblieben war, und daß ich Wéra davon gesagt hatte, ebenso sicher aber verstand ich, daß sie darin den Grund zu Wéra’s Verzweiflung sah.

Ich raffte meinen Muth zusammen und bat die Bringerin der Hiobspost flehentlich um die Erklärung, daß sie wirklich nichts übertrieben habe, sie betheuerte hoch und heilig die Wahrheit ihrer Worte. Die innere Unruhe trieb mich aus dem Salon, den ich wankenden Schrittes verließ, um mich in der Einsamkeit des Musiksaales zu sammeln. Meine Gedanken wirbelten wüst durcheinander. Was kann die Unglückliche in ihren Fieberphantasien nicht Alles verrathen! – und dann wieder: Was wird das Ende dieser Wirrnisse sein? Und wenn die Krankheit eine gefährliche Wendung nähme – ich kann und mag den Gedanken nicht verfolgen. Armer Alexis, die Nacht wird noch quälender für Dich sein als für mich.


Den 26. Januar.

Zenaïde Petrowna ist sich wenigstens bewußt, daß sie es ist, die durch Unterschlagung des Briefes zunächst das Unheil angerichtet hat. Gewissensbisse und Angst lassen ihr keine Ruhe. Sie ist heute viel früher aufgestanden, als sonst ihre Gewohnheit ist, und hat Morgens gegen zehn Uhr schon selbst einen Diener zu den Adrianoff’s geschickt, um sich nach Wéra’s Zustand erkundigen zu lassen. Der Diener brachte die Antwort, das Fräulein sei so schwer krank, daß man eben den Priester hole, um ihr das Abendmahl reichen zu lassen. Madame wurde bei der Nachricht leichenblaß, und fast den ganzen Tag liegt sie vor dem Heiligenbilde in der Ecke ihres Zimmers auf den Knieen. Sie hat so sehr die Fassung verloren, daß sie sich nicht einmal mehr die Mühe giebt, ihre Gedanken, ihre Angst zu verbergen. Olga schleicht umher mit falschem Blicke, wie das böse Gewissen; sie vermeidet mich, wo sie kann. Ich selbst befinde mich wie in einem fortwährenden Schwindel und wandere umher, ohne meine Gedanken von diesem unglücklichen Ereignisse auch nur während der Dauer einer Secunde losreißen zu können. Fast bin ich in Versuchung, das Schicksal anzuklagen, daß eben ich es sein mußte, die Wéra durch den Bericht zum Aeußersten brachte. Und wenn sie sterben müßte, was sollte aus Hirschfeldt werden?!

Nein – ich kann nicht mehr schreiben; die Angst erstickt mich und treibt mich wieder empor. Da die Kälte etwas nachgelassen hat, werde ich versuchen in der Galerie frische Luft zu schöpfen.


Den 27. Januar.

Heute Morgen schickte unsere Gebieterin um dieselbe Zeit wie gestern zu Adrianoff’s, und diesmal brachte der Diener die Nachricht, es sei ein wenig, aber auch nur ein ganz klein wenig besser mit Wéra. Das war doch ein Hoffnungsstrahl, wenn auch nur ein schwacher, ein Aufathmen der müden Seele, die so gern hofft, wo sie mit allen Kräften wünscht, wo der Wunsch wie ein Gebet sich zum Himmel emporringt.

Die Herrin des Hauses trägt von diesem Augenblick an ihren Kopf wieder etwas höher und gönnt ihren Gliedern schon während einer geraumen Weile die Wohlthat, sich auf dem Divan unter den Palmenkronen auszustrecken, doch verlangt sie glücklicher Weise nicht, daß ich vorlesen oder spielen soll.

Der größte Theil des Tages schleppte sich so in Hoffen und Fürchten hin. Ich begab mich nach dem Diner in unsern jetzt verödeten Musiksaal, um darin eine Promenade zu machen, da mir mein Stübchen für die mich innerlich quälende Unruhe wirklich zu eng erschien.

Langsam schlenderte ich in diesem Raume auf und ab, in dem ich so manche bitter schmerzliche und auch wiederum manche Stunde des Glücks verlebt. Wenn ich den vereinsamten Flügel ansah, war es mir, als müsse Wéra’s liebliche Gestalt sich daran lehnen und auf die zerstreuten Notenhefte niederblicken. Wenn ich meine Augen schloß, glaubte ich im Geiste den sanften Ton ihrer Stimme zu vernehmen und zwischendurch wiederum den kräftigen, sonoren Klang jener anderen, nach welcher mein Herz sich all diese traurigen Tage hindurch schmerzlich gesehnt hatte. Sah ich nicht das rasche Aufleuchten jener wunderbaren Augen vor mir, wie sie verständnißinnig, vielsagend den Blick zu mir herübersendeten? Konnte ich mir eine Zeit denken, wo ich diese Augen nie mehr sehen sollte, wenn ihr Besitzer seinen oft geäußerten Plan zur Wahrheit machen und nach Moskau, nach Petersburg oder gar nach Paris gehen würde? Stand ich höchst wahrscheinlich nicht eben jetzt an der Schwelle der Entscheidung? Und dieses Leben ohne ihn – der Gedanke war wie der Blick auf eine öde, graue Steppe. Warum sollte ich mich selber täuschen? Wem verdankte ich die glücklichen Stunden künstlerischer Anregung, den Genuß, welchen eine geistvolle Unterhaltung gewährt, sei es über Musik oder ein anderes Thema? Nur ihm, der meinem Dasein hier einen geistigen Inhalt verliehen, der es mit Rosen geschmückt hat, wenn auch ihre Dornen mich blutig ritzen. Und jetzt wendet er sich vielleicht nach rechts und ich nach links, denn hier bleiben – so, wie so –

Plötzlich fuhr ich zusammen, als ich hart neben mir ein Geräusch hörte. Ich wendete mich rasch um – da stand er vor mir, der eben noch alle meine Gedanken beschäftigt – Hirschfeldt. Er war so bleich, wie ich ihn noch nie gesehen hatte, und in seinen Augen glühte es wie Fieber.

„Hirschfeldt! Mein Gott, was ist Ihnen?“ rief ich, ihm die Hand entgegenstreckend, und dann, noch bevor er im Stande war zu antworten, überlief es mich wie Eis. „Wéra!“ fügte ich mit Hast hinzu. „Was wissen Sie von ihr? Ist die Krisis nahe?“

Er schüttelte den Kopf. „Seit diesem Morgen hat ihre Krankheit eine Wendung zum Bessern genommen. Wir dürfen hoffen, daß Wéra, wenn keine besonderen Zwischenfälle eintreten, gerettet ist.“ Er sagte das wunderbar ruhig, und doch sah ich, daß ein unausgesprochenes Etwas noch wie Bergeslast ihm auf der Seele lag und alle seine Gefühle in Aufruhr erhielt.

Ich drückte ihm meine Freude aus, daß der Zustand seiner Geliebten Hoffnung zu Genesung gäbe. „Aber Sie,“ mußte ich doch sogleich wieder hinzufügen, „was ist Ihnen nur, mein Freund? Haben Sie sich Wéra’s wegen so sehr geängstigt?“ Und dann wiederum erschrak ich, denn wie in fiebernder Hast ergriff er plötzlich meine beiden Hände und preßte sie krampfhaft zusammen, über sein Antlitz fuhr es wie Gewittersturm; aus seinen dunkeln Augen flammte leidenschaftliche Gluth empor und wiederum ein wilder Schmerz.

„Ich habe Unbeschreibliches erlebt,“ rief er aus, „etwas, das ich nie, niemals für möglich gehalten hätte. Helene, Sie müssen mich anhören; ich muß Ihnen Alles mittheilen, wenn dieses Chaos in meiner Seele nicht zum Wahnsinn werden soll. Sind Sie allein?“ setzte er, verstört um sich schauend, hinzu. „Allein! Das ist mehr Glück, als ich zu hoffen wagte.“

[729] Der Schreck raubte mir nahezu die Kraft, ihm auch nur ein Wort zu erwidern, und doch begriff ich, daß ich meine Besonnenheit nicht verlieren durfte.

„Wir sind hier ganz ungestört,“ sagte ich mit einer Stimme, deren Beben zu unterdrücken mir unmöglich war. „Kommen Sie in jene Fensternische! Es wird uns Niemand stören.“

Ich hatte, während ich sprach, meine Hände leise aus den seinigen gezogen; ich ging ihm voran, setzte mich auf einen kleinen Sessel in der erwähnten Nische und winkte meinem Begleiter, mir gegenüber Platz zu nehmen, aber er schien viel zu erregt dazu. Er wanderte ruhelos vor mir auf und ab und konnte sichtlich das befreiende Wort nicht finden. Was mochte nur vorgefallen sein, um ihn seiner gewohnten Selbstbeherrschung zu berauben?

„Was ist geschehen?“ begann ich nochmals. „Beruhigen Sie sich, mein Freund, und sagen Sie mir Alles!“

Er trat plötzlich zu mir, und über seine zuckenden Mienen glitt es wie ein flüchtiger Sonnenblick.

„Ihre Stimme schon,“ sprach er, „Ihre milde, ruhige Stimme ist wie das leise, besänftigende Wehen des Windes gegenüber dem tobenden Sturme, der alle Tiefen meiner Seele aufwühlt. Ja, Helene, ich will fügsam und geduldig sein wie ein Kind und Ihnen Alles berichten. Haben Sie nur ein wenig Nachsicht mit mir, denn wenn auch Sie – doch hören Sie! Kein unnützes Wort mehr!“

Er stand gegen das Fenster gelehnt. Sein Blick schweifte secundenlang über die melancholische Schneelandschaft hinaus, die sich jenseits der krystallklaren Scheiben kalt und todt ausbreitete. Er schien nach Fassung zu ringen.

„Sie können sich denken,“ fuhr er fort, die Augen langsam mir wieder zuwendend, „in welcher peinlichen Unruhe die letzten Tage mir hingegangen sind. Auch diesen Morgen durchschritt ich nach einer schlaflosen Nacht, müde im Herzen, mein Zimmer, als plötzlich die Thür hastig geöffnet wurde. Ich glaubte, der Hereintretende sei mein Diener, und hielt es kaum der Mühe werth, mich nach ihm umzusehen. Als ich es dennoch that – wie könnte ich Ihnen schildern, wie es mich durchfuhr! – stand mir gegenüber auf der Schwelle – Constantin Feodorowitsch.“

Noch jetzt, indem er den Namen aussprach, erblaßte Hirschfeldt. Ich preßte athemlos die Hand auf mein heftig klopfendes Herz und las ihm buchstäblich die Worte von den Lippen.

„Aber nicht der Constantin, den Sie kennen,“ setzte er seinen Bericht fort, „dessen schlanke Gestalt Sie stets nur in der gewähltesten Toilette gesehen haben, dessen schönes, kaltes Gesicht, wenn Sie es erblicken, nie die Maske gesellschaftlicher Convenienz fallen läßt. So wie er vor mir stand, zeigte sein Anzug alle Spuren der Unordnung und Vernachlässigung: das Halstuch fehlte trotz der Kälte ganz; sein Haar hing unfrisirt über die finster gefaltete Stirn herab; sein Antlitz legte Zeugniß ab von heftigen, kaum überstandenen Seelenkämpfen.

‚Mein Herr,‘ stieß er in eisigem Tone hervor, ‚ich habe nothwendig mit Ihnen zu reden.‘

‚Erklären Sie sich!‘ antwortete ich, gegen den mich innerlich lähmenden Schreck mühsam kämpfend.

‚,Nicht hier – ich muß vor jeder Störung sicher sein.‘“

„Ich öffnete,“ fuhr Hirschfeldt, in dessen Zügen sich alle Eindrücke der aufregenden Scene lebhaft widerspiegelten, fort, „ohne ein Wort der Erwiderung die Thür zu meinem Schlafzimmer, und als auf meine stumme Einladung Constantin es ablehnte, voranzuschreiten, that ich es. Mein unheimlicher Gast folgte mir und schloß hinter uns die Thür zu, schweigend ging er dann an den Tisch, zog aus seiner Tasche einen Revolver und legte ihn vor sich nieder.

‚Sehen Sie diese Waffe?‘ sagte er immer noch mit seiner entsetzlichen Ruhe. ‚Jeder Lauf derselben ist mit zwei Kugeln geladen, und ich gebe Ihnen mein Wort: Einer von uns Beiden wird nicht lebend das Zimmer verlassen, wenn Sie sich weigern, das zu thun, was ich von Ihnen verlange. Aber seien Sie ruhig!‘ fügte er mit einem seltsamen Heben der Lippen hinzu, ‚ich werde nicht Sie erschießen, sondern mich, und man wird meinen Leichnam hier, in ihrer Wohnung finden.‘“

Der Erzählende hielt einen Augenblick, wie um Luft zu schöpfen, inne. Jeder Blutstropfen hatte, indem Hirschfeldt das Geschehene gleichsam noch einmal durchlebte, sein Antlitz verlassen; seine Hände ballten sich zuckend. „Sie müssen zugeben, daß der Plan mit teuflischer Berechnung ersonnen war,“ begann er seinen Bericht auf’s Neue, „und ich las in den Zügen des bleichen Mannes vor mir, der seine schlanke, weiße Hand keinen Augenblick von der Mordwaffe entfernte, daß er ihn buchstäblich zur Wahrheit machen würde.

‚Was wollen Sie von mir?‘ fragte ich entsetzt.

‚Ich weiß jetzt Alles,‘ sagte Constantin. ,Wéra hat mir Alles bekannt. Lesen Sie!‘

[730] Er reichte mir einen Papierstreifen, auf dem mit halbverwischten Buchstaben geschrieben stand: ‚Ich habe mich meinem Bruder anvertraut; thue, was er von Dir verlangt! Wéra.‘

Obgleich die Schriftzüge, mit zitternder Hand hingeworfen, kaum lesbar waren, erkannte ich sie nur zu gut. Fragend richtete ich den Blick auf das stolze, unbewegliche Gesicht mir gegenüber, während eine plötzlich auftauchende Ahnung mich innerlich empörte. O, warum, warum hatte nicht ich eine gleich tödtliche Waffe in der Hand, wie er!

,Meine Schwester hat die Unbesonnenheit gehabt,‘ erwiderte mein Gegner auf die stumme Frage, immer mit der gleichen eisigen Entschlossenheit, ,Ihnen eine Menge Briefe zu schreiben. Diese befinden sich noch in Ihren Händen und damit die Ehre, die ganze Zukunft Wéra’s. Ich verlange, daß Sie mir dieselben ausliefern.‘

Unsere Blicke trafen einander in diesem Augenblicke sprühend, kalt und hart wie Stahl. Und, Helene“ – Hirschfeldt ergriff meine Hand in krampfhafter Erregung – „auf die Gefahr hin, daß Sie mich mit Ihrer Verachtung strafen, Sie sollen ein volles, rückhaltloses Bekenntniß von mir empfangen; der Dämon in mir erwachte. Man sollte mit Gewalt und List nicht einen Sieg über mich gewinnen; ich sprach, ohne mit der Wimper zu zucken, eine Lüge aus. Ich sagte: ,Die Briefe, Wéra’s Briefe sind längst sämmtlich vernichtet.‘ Aber – die Wirkung meiner Worte war eine andere, als ich erwartet hatte. Die gleichsam in Constantin’s Zügen versteinerte Ruhe löste sich; es zuckte darüber hin wie ein Strahl warmen Lebens, während seine Blicke noch immer mit Adlerschärfe, aber nicht mehr mit dem gleichen Hasse, an den meinigen hafteten.

,Alle vernichtet?‘ wiederholte er halb erstaunt, halb fragend, ‚Alle?‘

Wéra’s Bruder stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, der, aus tiefster Seele kommend, fast einem Schrei glich, und plötzlich stürzte er auf mich zu, fiel mir um den Hals und rief in leidenschaftlicher Erregung: ,Sie haben diese Briefe zerstört; Sie wollten also keinen unwürdigen Gebrauch davon machen, wie ich fürchtete; Sie sind nicht der Elende, für den ich Sie hielt – o, verzeihen Sie, daß ich Sie verkannt habe!‘ Was ich in diesem Augenblicke empfand, wie erbärmlich ich mir selber erschien dem Vertrauen dieses stolzen Herzens gegenüber, in welchem die Idee an eine Täuschung meinerseits nicht einmal auftauchte – wie könnte ich es in Worten ausdrücken!

‚Constantin Feodorowitsch,‘ sagte ich, schob ihn leise zurück und sah ihm fest in die Augen, ,die Briefe sind nicht zerstört.‘ Mit weit geöffneten Augen, aus denen der Schrecken leuchtete, starrte er mich an.

,Gedulden Sie sich einen Augenblick!‘ fügte ich hinzu. ,Von der Minute an, da Sie mir nicht mehr drohend gegenüber stehen, habe ich Ihnen auch nichts mehr vorzuenthalten oder zu verheimlichen.‘

Ich ging an meinen Schreibtisch, nahm aus dem verborgensten Fache desselben ein Packet, zündete eine Kerze an und kehrte zu meinem Gaste zurück.

,Hier, lesen Sie!‘ Ich hatte das erste der zierlichen Billete, die das Packet enthielt, mit den Augen überflogen und reichte es dann Constantin. Als auch er gelesen, hielt ich es an die Flamme der Kerze, die es bis auf ein winziges Atom schwarzer Asche verzehrte, und so weiter – weiter, bis das letzte der feinen Blättchen ein Raub des gierigen Elementes geworden war, welches in dem kurzen Zeitraume einer Viertelstunde so viele Versicherungen ewiger Liebe und Treue vernichtete.“

Ein Ton unendlicher Bitterkeit durchbebte die Stimme des Erzählenden bei diesen letzten Worten, und die Augen mit der Hand beschattend, verharrte er in düsterem Schweigen, während unsägliche Spannung fast meinen Pulsschlag stocken machte. Ich hätte ihm gern ein Wort der Theilnahme gesagt, aber ich brachte es nicht über die Lippen. Nach wenigen Augenblicken schon hatte Hirschfeldt die momentane Schwäche überwunden. Er strich das Haar von der Stirn, athmete tief auf und fuhr rasch fort, als dränge es ihn, in seinem Berichte vorwärts zu kommen:

„Ich stand ihm gegenüber; meine Arme hatten sich unwillkürlich ineinander verschränkt, und ich will es glauben, daß einiges von der Bitterkeit, die mir das Herz zusammenpreßte, finster auf meiner Stirn lag, als ich ihm sagte: ,Das war der letzte Brief, Constantin Feodorowitsch. Ihre Schwester kann ruhig schlafen und Sie auch – zu fürchten haben Sie mich nicht mehr.‘

Er sah mich an, lange, unaussprechlich traurig – ich hatte seine sonst so kalt blickenden Augen dieses Ausdruckes niemals für fähig gehalten. Endlich reichte er mir die Hand.

‚Sie sind doch ein edles Herz,‘ sprach er, ‚hören Sie mich an! Wenn vorhin mein Mißtrauen Sie beleidigt hat, so will ich Ihnen jetzt einen Beweis meines Vertrauens geben. Ich werde nichts mehr von Ihnen verlangen, ohne daß Sie alle Gründe dafür kennen. Kommen Sie und setzen wir uns! Ich will einmal denken, Sie seien mein Bruder, denn zum ersten Male in meinem Leben verlangt meine Seele nach einem solchen.‘ Ich that, wie er wollte, beinahe betäubt von seinen Worten, denn ihre ungewohnte Weiche, fast möchte ich sagen: Demuth weckte in mir die Ahnung von etwas Furchtbarem. Und ich sollte mich nicht täuschen.“

Hirschfeldt blickte um sich, wie um noch einmal die feste Ueberzeugung zu gewinnen, daß kein sterbliches Ohr uns belauschen konnte. Er war während seiner Erzählung in nervöser Unruhe mehrmals in meinem Zimmer hin und her geschritten, hatte sich gesetzt und war wieder aufgesprungen. Jetzt schob er einen Sessel neben den meinigen und begann, indem er sich darauf niederließ und sein Haupt dicht zu mir neigte: „Sie, Helene, müssen im Stande sein, mein Thun klar zu beurtheilen, und darum giebt es keine Gewalt im Himmel und auf Erden, die mich hindern könnte, Ihnen, Ihnen allein auf der Welt mitzutheilen, was ich erfahren habe. Indem ich es thue, lege ich meine Ehre in Ihre Hand, aber ich weiß, daß ich sie keiner sicherern Obhut anvertrauen kann.“

Vielleicht hätte ich seine Mittheilung, bei der es sich augenscheinlich um das Geheimniß eines Dritten handelte, zurückweisen sollen, aber meine Seele rang in dieser Stunde in zitternder Aufregung, als gälte es hier ein Urtheil über Leben und Tod zu vernehmen. Ueberdies: wußte ich nicht, daß keine Macht der Welt mir, was ich erfahren sollte, wieder über die Lippen bringen würde? Als Erwiderung auf die unausgesprochene Frage in meines Freundes Auge nickte ich leicht und legte meine Hand ruhig lächelnd in die seine, die er mir dargereicht hatte.

„Hören Sie, was ich durch Constantin erfahren!“ begann er wiederum. „Ich weiß nicht, ob Sie jemals davon gehört haben, daß seine Familie aus Polen stammt. Nun wohl, in dem Generale Adrianoff, seinem und Wéra’s Vater, hat das polnische Blut sich nicht verleugnen können. Trotz großer Auszeichnungen, mit denen der Kaiser ihn überhäuft, hat er sich in geheime Verbindungen eingelassen, von denen man sich in die Ohren flüstert, daß sie durch das ganze Reich verzweigt sind; er soll sich bei dem letzten Aufstande stark compromittirt haben. Seine und seiner Gemahlin lange, etwas räthselhafte Abwesenheit während dieses Winters erklärt sich dadurch. Es scheint mir sogar, als wäre er in seiner persönlichen Freiheit eingeschränkt worden, bis die vorläufig angestellte Untersuchung ein Resultat für oder gegen ihn ergeben hat. Mit dieser Untersuchung aber – und da liegt eben der Knotenpunkt der Verwickelung – ist von oben her Niemand anders betraut als Oberst Luschinoff, der für Wéra seit längerer Zeit schon bestimmte Verlobte. Constantin argwöhnt sogar, daß er sich eigens zu dem Amte gedrängt hat, um der Herrschaft über die Familie sicher zu sein, um den Widerstand zu brechen, den Wéra seinen glühenden Bewerbungen bisher entgegen gesetzt, und seine Absicht ist ihm nur zu gut gelungen.

Constantin wurde durch seine Mutter unterrichtet, daß die Beweise von seines Vaters Schuld in Luschinoff’s Händen sind. Ein Federstrich dieses Menschen wird genügen, die Familie zu vernichten und dem Elende preiszugeben. Für den General steht Freiheit, ja, vielleicht sein Leben, sein Vermögen, die Existenz seiner Familie, Alles auf dem Spiele, und Alles – kann seine Tochter retten, da Luschinoff sich bereit erklärt, in dem Augenblicke, in dem sie ihm ihre Hand bewilligt, die Beweise von ihres Vaters Schuld zu vernichten.“

Hirschfeldt hielt einen Augenblick inne und fuhr dann fort: [731] „Bis hierher war Constantin in seinem Berichte gekommen, als es mir unmöglich wurde, ihn nicht zu unterbrechen. ‚Wie?‘ rief ich aus, meiner innersten Empörung Worte leihend, ‚man wird die Hand Ihrer Schwester dem Elenden geben, der sie durch eine ehrlose Pflichtverletzung erkaufen will?‘

Der Rittmeister trocknete die feuchten Perlen von der Stirn und: ‚Es muß sein,‘ erwiderte er. ‚Es giebt keine andere Rettung. Der Abgrund gähnt zu unseren Füßen, und die Heirath ist vollkommen passend. Luschinoff steht Wéra an Rang und Vermögen gleich; er liebt sie leidenschaftlich – warum sollte sie nicht glücklich werden neben ihm?‘

‚Und Ihre Schwester?‘ rief ich fast außer mir; ‚weiß sie um den schmählichen Handel?‘

Es entging mir nicht, wie meine Worte Constantin verletzten, aber ihm das zu ersparen, war mir unmöglich; er hatte durch die Logik seiner Auseinandersetzungen über das Glück Wéra's zu sehr mein Gefühl empört. Aber leidenschaftslos theilte er mir mit, wie er seit langer Zeit seine Schwester insoweit zur Mitwisserin des Geheimnisses gemacht, als er sie eine die ganze Familie bedrohende Gefahr ahnen ließ, die sie durch ihre Heirath abwenden solle und müsse. Sie hatte sich in Verzweiflung gegen die Zumuthung gewehrt, aber seit gestern war das anders geworden. Ihre Krankheit, die Nähe des Todes, der Zuspruch des Priesters hatten sie weich und schwach gemacht oder, wie Constantin sich ausdrückte, ihr die Besinnung zurückgegeben. Zudem mochte dessen Sorge und Angst um sie das müde gequälte Herz gerührt haben – genug, die Geschwister hatten sich unter einander verständigt.

Wéra, fast noch vom Fieber geschüttelt, zum Tode matt, versprach ihrem Bruder Alles, nur schwebte immerwährend wieder mein Name auf ihren Lippen. Das Wort, das sie mir gegeben, ängstigte sie; ihre Briefe befanden sich in meinen Händen, – da war Constantin fortgestürzt, um ihr Beides und damit den Frieden und die Beruhigung, ohne welche sie nicht genesen könne, wieder zu verschaffen – um jeden Preis.

Die Briefe hat das Feuer vor seinen Augen verzehrt, und jetzt beschwor er mich, auch Wéra’s Seele zu befreien, indem ich selbst jedes bindende Versprechen ihr zurückgebe. Es überlief mich bald heiß, bald kalt, und mein Kopf brannte fieberhaft.

‚Constantin Feodorowisch,‘ sagte ich ihm, und ich hätte es um die Welt nicht hindern können, daß meine Stimme einen gebieterischen, vielleicht sogar drohenden Ton annahm. ‚Prüfen Sie wohl Ihr Herz, und gestehen Sie sich selber ein, wie viel von Ihrer Schwester Entschluß Sie der Ueberredung und Drohung verdanken! Sind Sie sicher, daß dieselbe Ihnen nicht eines Tages fluchen wird für die That dieses Morgens?‘

Wéra’s Bruder schüttelte den Kopf. ‚Als Mann von Ehre wenigstens haben Sie mich kennen gelernt, und als solcher will ich Ihnen antworten,‘ erwiderte er. ‚Ich habe meiner Schwester ein Bild vor Augen geführt von der Zukunft, die ihr bevorsteht, wenn sie bei ihrem früheren Widerstande gegen die Verbindung mit Luschinoff beharren sollte, von der Zukunft ohne die Stellung in der Gesellschaft, die sie einzunehmen gewohnt ist, ohne Rang, Reichthum und Ehre, und sie hat schaudernd den Blick davon abgewendet. Begreifen Sie denn nicht, daß Wéra in ihrer Schönheit und Lieblichkeit nur gedeihen kann im Sonnenschein des Ueberflusses? Den rauhen Stürmen des Lebens preisgegeben, würde sie bald entblättert und verwelkt dahinsterben.‘

So sprach Constantin. Mechanisch griff ich nach einem Blatte Papier, welches neben mir lag, und ebenso mechanisch fast schrieb ich einige Worte des Abschiedes an Wéra darauf. Ich gab es ihrem Bruder und sagte ihm. ‚Ihre Schwester ist vollkommen frei. Sollte ich im Leben ihr wieder begegnen – kein Wort oder Blick wird sie an die Vergangenheit mahnen.‘

Mein seltsamer Gast nahm hastig das Blatt und athmete auf, wie von Bergeslast befreit, dann hielt er mir seine Hand entgegen. ‚Mit Haß im Herzen bin ich zu Ihnen gekommen, und nun ich gehe, besitzen Sie meine Achtung – wenn Sie wollen, meine Freundschaft,‘ sagte er.

Ich nahm schweigend die dargebotene Hand, aber erwidern konnte ich ihren Druck nicht. Nie im Leben hatte ich so deutlich gefühlt wie in jenem Augenblicke, welch eine tiefe, tiefe Kluft mich von ihm trennt für immer und ewig, und als die Thür sich hinter seiner hohen Gestalt wieder geschlossen hatte, als ich allein stand inmitten des Zimmers, da mußte ich mich selber fragen, ob das Erlebte Traum oder Wahrheit sei. Ich griff mit der Hand an die Stirn, bemüht, den verwirrten Gedanken da drinnen wieder eine bestimmte Richtung zu geben, aber sie wollten mir nicht gehorchen. Ich prüfte auf- und abwandernd meinen Schritt, ich sah auf jeden bekannten Gegenstand rings um mich her – Alles war dasselbe geblieben und nur ich ein Anderer geworden. War ich nicht ein Feigling, der sich gewaltsam hatte entreißen lassen, was er noch vor nicht gar langer Zeit sich vermaß, der ganzen Welt abzutrotzen? Warum nur mußte auch Constantin ein so feiner Kenner des menschlichen Herzens sein, daß er die tödtliche Waffe nicht gegen meine, sondern gegen die eigene Brust zu richten drohete? Ich würde seiner Kugeln gespottet und lachend Leben gegen Leben gesetzt haben. Ja, lachend – der Tod würde mir in diesem Augenblicke nur ein erlösender Freund gewesen sein, der aller Qual ein willkommenes Ende gemacht hätte.“

Hirschfeldt schwieg. Er ging auf und ab und fuhr hin und wieder mit der Hand durch die langen verwirrten Haare. Seine letzten Worte erschienen mir wie nur unwillkürlich laut ausgesprochene Gedanken; ja, ich begann zu glauben, daß er meine Gegenwart gänzlich vergessen habe, als er plötzlich wieder vor mir stehen blieb und seine Augen auf mich richtete. Ich fuhr zusammen vor dem Ausdrucke qualvoller Unruhe, der mich aus ihrer dunkeln Tiefe fast hülfesuchend anschaute.

„Helene,“ sagte er, und seine Stimme klang so weich, fast gebrochen, daß sie wie ein fremder Ton mein Ohr berührte, „ein verschmähter, abgesetzter Liebhaber bin ich heute vor Ihnen erschienen. Ein Gegenstand, den man als abgenutzt bei Seite geworfen hat. Und wissen Sie, was dabei das Schlimmste ist, was meine Seele gänzlich ihres Gleichgewichts beraubt hat?“ Er neigte, da er meine bestürzte Miene sah, das Haupt näher zu mir und fügte leiser, kaum verständlich, hinzu: „Es ist das niederschmetternde Bewußtsein, mein Schicksal verdient zu haben. Hätte Constantin mir auf Ehre und Gewissen die Frage vorgelegt, ob ich die feste Ueberzeugung noch in mir trage, daß ich seine Schwester glücklich machen könne, ich hätte sie mit – ‚Nein!‘ beantworten müssen. Da ist’s heraus, und nun schauen Sie mich nicht mit so erschrockenen Blicken an! Ich rede nicht irre. Ich bin vollkommen gesund, körperlich wenigstens, und weiß, was ich sage. Der Sturm, der in den letzten Stunden die Tiefen meiner Seele aufgewühlt hat – er reinigte wenigstens die Luft nach all’ der schwülen Gewitterstille der letzten[WS 1] Wochen und gab mir Klarheit, vollkommene Klarheit zurück.“

Ich wollte ihm beruhigend zureden, ihn bitten, zu versuchen, dieser Aufregung, die ihn verzehrte, Herr zu werden, aber seine Worte hatten auch in mir einen solchen Sturm erweckt, daß ich den rechten Ausdruck nicht finden konnte, und immer wieder mochte er in meinen Blicken die unausgesprochene Frage lesen, die, mir das Herz bedrückend, doch nicht den Weg über meine Lippen fand.

„Verlangen Sie jetzt keine Auseinandersetzungen mehr von mir!“ sagte er düster und hielt mir seine Hand hin. „Lassen Sie mir die beglückende Hoffnung, Helene, daß wenigstens Ihre Achtung mir noch geblieben ist, daß ich den Glauben daran mit mir fortnehmen kann!“

„Fort?“ wiederholte ich entsetzt. „Sie wollen fort von hier, von Woronesch?“

„Ja, je eher, desto lieber!“ antwortete Hirschfeldt. „Ich habe soeben schon mein Urlaubsgesuch eingereicht. Die Mauern dieser Stadt erdrücken mich. Hinaus muß ich, andere Luft athmen, andere Menschen sehen, wenn ich nicht an mir selbst verzagen soll.“

„Aber wohin werden Sie gehen?“

„Ich weiß es nicht und habe noch kaum ernstlich darüber nachgedacht,“ lautete seine Antwort. „Vielleicht wende ich mich zuerst nach Petersburg. Bestimmt kann ich es nicht sagen; Sie wissen, ich habe oft Aufforderungen gehabt, dahin zu kommen. Aber, nicht wahr, Helene, die Hoffnung bleibt mir doch, daß, wenn ich eines Tages als ein anderer Mensch zurückkehre, ich Sie hier wiederfinde?“

Groß, ängstlich und fragend blickte er mich an, und ich fühlte, wie sich mir jeder Blutstropfen zum Herzen drängte, als [732] müsse ich daran ersticken. Ich versuchte zu lächeln, um meinen tödtlichen Schmerz darunter zu verbergen, und hatte doch kaum Kraft zu der langsamen, matt klingenden Erwiderung: „Das glaube ich kaum. Ich fürchte, die Verhältnisse hier werden sich auch für mich unerträglich gestalten.“

„Aber, mein Gott,“ rief Hirschfeldt erschrocken, „wenn Sie Woronesch verlassen, wo soll ich Ihre Spur wiederfinden? Wohin – Sie werden mir doch gestatten, daß ich Ihnen schreiben darf, nicht wahr? – wohin soll ich meine Briefe richten?“

„Bei den Herren Otto Bamberger und Comp. in Moskau werden Sie immer meine Adresse erfahren können, oder die Herren werden Briefe für mich in Empfang nehmen. Sie erinnern sich doch, daß ich Ihnen einmal mittheilte, bei meiner Übersiedelung nach Rußland sei ich an diese Geschäftsfreunde meines Bruders empfohlen worden und habe auch einige angenehme Tage in der Familie des älteren Bruders verlebt, bevor ich meine Reise nach Selo-Lazowoskaja antrat?“

Hirschfeldt nahm eilend seine Brieftasche heraus, notirte sich hastig die Adresse und dann – er sah mich so seltsam wie noch nie an. Ich glaubte, er wollte mir etwas sagen, plötzlich aber ergriff er meine beiden Hände, bedeckte sie mit Küssen und in der nächsten Minute schon war er fort, hinausgestürmt. Ich fühlte mich einer Ohnmacht nahe, sank auf den nächsten Sessel und verharrte in einem Zustande dumpfer Betäubung.

Wie lange ich so zugebracht, ohne zu denken, ohne zu hoffen oder zu fürchten, immer im Geiste nur das eine Wort mir mechanisch wiederholend: „Er ist fort“ – ich weiß es nicht, aber als ich wieder zu mir kam, waren die Kerzen, die den Saal erleuchteten, tief herabgebrannt.

Es herrschte beinahe Finsterniß um mich und empfindliche Kälte. Ein Frösteln überlief mich; ich zog den großen Shawl, in den ich vorhin eingehüllt gewesen, dicht um meine Schultern und kehrte in die bewohnten Räume des Hauses zurück. Auf dem Corridore begegnete mir Olga Nikolajewna, und ihre glänzend blauen Augen richteten sich im Halbdunkel des Ganges so funkelnd und lauernd auf mich, daß ihre geschmeidige, leicht und geräuschlos an mir vorüber huschende Gestalt mich unwiderstehlich an ein gewisses sammetfüßiges, im Rufe der Falschheit stehendes Hausthier erinnerte. Ich nahm gar keine Notiz von ihr und hatte das deutliche Bewußtsein, daß all ihr Thun und Treiben mir unsäglich gleichgültig sei, seit die beiden Menschen, deretwegen ich ihre Intriguen gefürchtet, dem Bereiche derselben entrückt waren.

Als ich, den Salon betretend, Zenaïde Petrowna’s gelangweiltes und übellauniges Gesicht vor mir sah, mußte ich mit Verwunderung mir die Zeit in’s Gedächtniß zurückrufen, in welcher dieses Stirnrunzeln mich erschreckt hatte. Nach Allem, was ich heute erlebt und erfahren, schien jene Zeit in nebelgrauer Ferne hinter mir zu liegen. Die verächtliche Weise, in welcher die Dame geruhte mich zu behandeln, machte nicht den geringsten Eindruck auf mich. Aber es war mir doch eine Erleichterung, endlich, wenn auch erst spät am Abende, mein Zimmer betreten und durch das Aufschreiben des Erlebten meine Seele einigermaßen von ihrer Unruhe befreien zu können.


Den 9. Februar.

Vierzehn Tage sind nahezu vergangen, seit ich diesen Aufzeichnungen das letzte Wort hinzufügte. Warum hätte ich schreiben sollen? Nichts irgend Erwähnenswerthes hat sich seitdem zugetragen; ein Tag schlich langsam nach dem anderen dahin. Der heutige war insofern für mich wichtig, als er über mein Schicksal hier entschieden hat. Ein Entschluß, den ich schon längere Zeit mit mir herumgetragen, ist endlich heute zur Ausführung gekommen: ich sagte Madame Branikow, daß ich ihr Haus zu verlassen wünsche, sobald ich eine passende Reisebegleitung nach Moskau gefunden habe. Man löst hier in Rußland dergleichen Verhältnisse sehr schnell, ohne viele Umstände und ohne sich an gewisse Zeit zu binden.

Erstaunt sah die Dame mich an. Sie muß also doch nicht geglaubt haben, daß ich das erste Wort in dieser Sache sprechen würde, um einem Verhältniß ein Ende zu machen, welches mehr und mehr unhaltbar wurde. Da ich nach wie vor mich bemüht, meine Pflicht zu thun, mag sie geglaubt haben, ich wolle bleiben, aber das war eine Täuschung.

Seit Zenaïde Petrowna in Gemeinschaft mit Olga sich einer unehrenhaften Handlung schuldig gemacht, seit sie meinen Brief unterschlagen hat, beherrscht die Letztere sie, besitzt vollständig ihr Ohr und träufelt demselben einen Tropfen Gift nach dem andern ein. Dabei habe ich längst die zweifellose Gewißheit, daß sie hinter dem Rücken seiner Gemahlin ein Verhältniß mit Iwan Alexandrowitsch unterhält, welches zu verbergen sie sich übrigens sehr wenig Mühe giebt. Daß die häuslichen Verhältnisse mir unter solchen Umständen täglich unerträglicher werden, bedarf wohl kaum der Erwähnung. Ich räume Olga das Feld; mag sie den Triumph genießen, der mir den ganzen Abend heute aus ihren Augen entgegenfunkelte. Ich habe dem älteren Herrn Bamberger geschrieben, und nachdem er mir geantwortet, daß er und seine Frau mich erwarten, daß sie mich bäten, bis anderweitig ein passendes Engagement für mich gefunden sei, ihr Haus als das meinige zu betrachten, habe ich diesen Morgen mit kühler Ruhe Madame meinen Entschluß mitgetheilt. Anfangs, wie gesagt, verrieth ihre Miene Erstaunen, und dann, als ich sie wiedersah, suchte sie auf alle Weise eine gewisse Befriedigung zur Schau zu tragen und überhäufte Olga mit Liebenswürdigkeiten.

Ich kann nicht beschreiben, wie gleichgültig mich das Alles läßt. Nichts in meiner Umgebung erregt mir ein Gefühl des Bedauerns, wenn ich bedenke, daß ich davon scheiden muß; einzig der Abschied von Masche wird mir nicht leicht werden.

Und Wéra? – Arme Wéra! – Sie ist in ihrer Genesung so weit vorgeschritten, daß in einigen Tagen ihre Verlobung gefeiert werden soll. Madame Adrianoff ist etwa vor einer Woche zurückgekehrt und hat sogleich die Verbindung ihrer Tochter mit Herrn Luschinoff bekannt gemacht. Kein Mensch hat eine Ahnung, welch’ eine Tragödie bei dieser Verlobung hinter den Coulissen spielt, und weil Niemand die Wahrheit kennt, sind die unsinnigsten Gerüchte über Wéra’s Krankheit und Verlobung in Umlauf. Eine Tochter ihres Landes und Standes, deren Vorurtheile doch schließlich auch die ihrigen sind, wird sie die goldene Kette tragen müssen bis an’s Ende; möge ihr dieselbe den Nacken nicht zu wund drücken! Das ist das Einzige, was ich für sie wünschen und hoffen kann.

[762]
Moskau, den 17. April.

Frühlingswehen! Wie wohlthuend, wie erfrischend es heute mein Haupt berührt hat! Alle Kräfte in diesem Lande wirken so gewaltsam, die Contraste sind immer wieder da und oft überwältigend. Als ich am 26. Februar zum zweiten Male in die alte Zaarenstadt einzog, bescheiden genug in dem riesigen, von vier neben einander gespannten Pferden gezogenen Postwagen, hielt der Winter noch unerbittlich mit eisernen, eisigen Banden das Land gefesselt. Es war inmitten der Butterwoche, die den Fasten vorangeht und allen wunderlichen, geräuschvollen Volksbelustigungen gewidmet ist. Diese Volksmenge, die, in ihre Schafpelze eingehüllt, die Bärte von Eiszapfen starrend, sich zu den Belustigungen des Festes drängt und sich an Rutschpartie, Schlittenfahrten oder in der sich in schwindelnder Höhe drehenden Schaukel ergötzt, Branntwein trinkt und Blinnis (Pfannkuchen) ißt, bietet einen grotesken Anblick dar, der sich mir unvergeßlich eingeprägt hat.

In solchem Geräusche, in so buntem Getümmel auf der eisigen Hülle des Winters fand ich bei meiner Ankunft die alte „heilige“ Stadt, und heute – wie anders stellt sich Alles dar! Ich habe soeben eine wundervolle Spazierfahrt mit Frau Bamberger gemacht und muß sagen: es ist schön, dieses Moskau im goldenen Glanze der Frühlingssonne, die in Blitzfunken sich auf den seltsam, einer Zwiebel ähnlich geformten und vergoldeten Kuppeln des altehrwürdigen Kreml spiegelt. Ueber Moskau liegt heute eine feierliche, nicht einmal von einem Glockentone unterbrochene, ahnungsvolle Sabbathstille, denn es ist Ostersonnabend. Mit dem Schlage Mitternacht wird die große Glocke des Kreml im Thurme Iwan’s Weliki, die nur dieses eine Mal im Jahre ihre eherne Stimme mächtig erhebt, das Osterfest ankündigen.

Donnerstag Morgen haben wir in der Erlöserkirche der großen Ceremonie der Fußwaschung beigewohnt. Nachmittags sind in allen Kirche die zwölf Evangelien gelesen, und nach Beendigung dieser Feier strömten aus allen Gotteshäusern die Andächtigen hervor, deren Jeder noch die brennende Kerze trug, welche die Zuhörer bei der Vorlesung flehend in der Hand gehalten.

Gestern, als am Charfreitage, hat man feierlich die Grablegung in den Kirchen begangen, und heute ist gleichsam die Ruhe des Todes an die Stelle alles Festgepränges getreten, um bis Mitternacht zu währen, wo die Auferstehungsglocken rufen werden.

Bamberger’s, die vom ersten Tage meines Hierseins an sich in Freundlichkeiten gegen mich erschöpfen, haben die Einladung einer russischen Familie, in der Osternacht mit ihnen der Kirchenfeier beizuwohnen, einzig und allein meinetwegen angenommen, weil sie mir die Gelegenheit verschaffen wollten, das Fest kennen zu lernen.

Wie gut sind sie gegen mich! Wie wohl fühle ich mich in diesem Hause, wo man mich wie eine liebe Verwandte und nicht wie eine Fremde angenommen hat, zwischen Deutschen, wo ich fast nur die Sprache der Heimath höre, wo deutsches Familienleben herrscht und man von den Gebräuchen des Landes nur gerade diejenigen angenommen hat, welche dazu dienen, das Leben hier behaglich zu machen! Immer, wenn ich die Rede auf meine Abreise lenke, dringt Frau Bamberger in mich, an dieselbe vor der Hand nicht zu denken.

Trotz alledem, trotz aller freundlichen Eindrücke, welche mich die letzten unangenehmen Erlebnisse in Woronesch vergessen machen sollen, liegt es auf meinem Herzen wie ein schwerer Alpdruck. Die erquickende, milde Frühlingsluft heute hat mir wohlgethan, wie noch nichts vorher, das Fest mit seinen fremdartigen Kirchengebräuchen regt mich an und beschäftigt meine Geist, aber mit vollem Herzen bin ich doch nicht dabei, und nur um meine liebenswürdigen Wirthe nicht zu verletzen, gebe ich mir alle Mühe, meinen wirklichen Seelenzustand zu verbergen. Seit an jenem verhängnißvollen siebenundzwanzigsten Januar Hirschfeldt in solcher besorgnißerregenden Aufregung Abschied von mir nahm, habe ich nichts wieder von ihm gesehen noch gehört. Keine Zeile, obgleich er sich die Erlaubniß dazu erbat, hat er mir geschrieben. Wo mag er leben? Was mag aus ihm geworden sein? Diese Frage verfolgen mich im Wachen wie im Träumen mit quälender Angst. Soll ich niemals wieder etwas von ihm erfahren? Hat er mich ganz vergessen oder ist ihm ein Unglück zugestoßen –?

Ich mußte vorhin innehalten mit dem Schreiben; auf- und abwandernd in meinem reizenden Zimmer, dessen Fenster die prachtvollste Aussicht gerade auf den Kreml gewähren, habe ich versucht, Ruhe und Selbstbeherrschung wieder zu gewinnen. Was soll ich thun!? Vor mir liegt ein Brief meines jüngeren Bruders, der in Köln ein Handelsgeschäft begründet hat und mich mit Bitten bestürmt, dieses Land zu verlassen und zu ihm zu kommen an den heimathlichen Rhein. Unter anderen Verhältnissen, so sehr ich meine Selbstständigkeit liebe, würde ich wohl kaum die Kraft haben, ein so verlockendes Anerbieten auszuschlagen und doch – jetzt –?

Warum nur habt ihr es mir angethan und meine Seele in Fesseln geschlagen, ihr dunkeln, wunderbar blickenden Augen! Mein ganzes Sein sträubt und empört sich gegen die fremde Gewalt, die meinen Willen unterjochen, meine Thatkraft lähmen möchte. Vielleicht ist der Brief meines Bruders ein Fingerzeig von oben, mit dessen Hülfe es mir gelingt, die verlorene Energie wiederzugewinnen, und er soll nicht lange mehr unbeantwortet bleiben. Einen Entschluß muß ich fassen, denn so gütig Bamberger’s mir begegnen, es würde meiner Natur widerstreben, ihre Gastfreundschaft durch unbegrenztes Ausdehnen meines Besuches zu mißbrauchen.


Den 18. April.

„Christ ist erstanden.“ Im ganzen russische Reiche, von Nord bis Süd, ruft heute Jeder diesen Festgruß freudig dem Andern zu, der ihm den Bruderkuß darauf nicht schuldig bleibt. „Er ist wirklich erstanden“, tönt es Antwort von allen Seiten.

Alles beglückwünscht sich; überall sieht man frohe Gesichter; überall herrscht Feststimmung. Ich habe meine Hausgenossen, welche ausgefahren sind, um sich des schönen Wetters zu erfreuen und das muntere Treiben in den Straßen anzusehen, gebeten, [763] mich allein zurückzulassen. Sie sind in dem Wahne gegangen, daß die ungewöhnliche Anstrengung der Nacht mich zu sehr ermüdet habe, und jetzt bin ich allein mit meinem ungestüm pochenden Herzen und suche es, wie so oft schon, durch Niederschreiben des Erlebten zu beruhigen.

Wir fuhren in die Erlöserkirche, bekanntlich eine der prachtvollsten und größten der ganzen Stadt. Das Innere des mächtigen Gebäudes strahlte in feenhafter Beleuchtung. Der Glanz Tausender und aber Tausender von Lichtflammen warf seine funkelnden Reflexe auf die Ornamente, Säulen und Mosaiks, die man nirgends so prachtvoll sieht, wie in Rußland. Der Kaukasus und Ural liefern zu diesem Schmucke der Kirchen ihre mannigfach gefärbten Steinarten, vom glänzend tiefblauen Lapis-Lazuli bis hinab zum sanft grünen Malachit und schneeweißen oder in den verschiedensten Nüancen geäderten Marmor. Wie strahlten im Glanze der Lichter die von Gold, Edelsteinen und Perlen starrenden Heiligenbilder, die man an solch einem hohen Festtage möglichst überdeckt mit all’ den Schätzen an edeln Metallen und Steinen, die in den russischen Kirchen aufgehäuft sind, wie fast an keinem Orte der Welt!

Der Priester tritt in reich geschmückten, glänzenden Festgewändern mit seinen Gehülfen hinter dem Vorhange, der das Allerheiligste verdeckt, hervor und zwischen die hohen, zu beiden Seiten aufgestellten Leuchter mit den riesigen Wachskerzen, er erhebt die Hand zum Segen über die nach Tausenden zählende Versammlung. Feierliche, erwartungsvolle Stille! Fast der Hauch des Athems ist hörbar, bis langsam um Mitternacht die Uhr ihre zwölf Schläge hören läßt. Augenblicklich fällt das Geläute sämmtlicher Glocken ein, wozu die Riesenglocke des Kreml das Signal giebt, und im vollen, vielstimmigen Chore braust der Oster-Hymnus durch das Gotteshaus. Bei dem orthodox-griechischen Cultus fehlt alle Musik, selbst die Orgel, und es ist daher der Kirchengesang zu einer so wunderbaren Vollkommenheit ausgebildet worden, daß Alle, die ihn nicht gehört haben, sich schwerlich einen Begriff davon machen können. Mich riß er vollständig hin. Ich vergaß, wo ich war, vergaß, daß ich, die Tochter eines fernen Landes, einer anderen Religion, hier unter Fremden stand. Mit den Uebrigen niederknieend, das Haupt geneigt, glaubte ich den Chor der lobpreisenden Engel zu vernehmen, den jubelnden Lobgesang, der über die Welt dahinrauscht, allen Seelen das hohe Wunder zu verkündigen, welches zu ihrem Heile geschehen ist.

Bis zwei Uhr dauerte der wunderbare nächtliche Gottesdienst. Unmittelbar nachdem der Geistliche den letzten Segen gesprochen, wandte er sich glückwünschend zu dem nächsten seiner andächtigen Zuhörer, dem er das Osterei reichte, und seinem Beispiele folgten in der kommenden Minute sämmtliche Anwesende.

„Christ ist erstanden,“ tönt es von Mund zu Mund, und Niemand, die Damen nicht ausgenommen, darf auf das Erschallen dieses Festgrußes die Wange zum Kusse weigern. Von Hand zu Hand gehen die vielfach verzierten, bunt bemalten Ostereier. Die Zeit der Todesruhe, der Enthaltsamkeit, der andächtigen Beschaulichkeit ist wie mit einem Schlage vorüber. Der Festmorgen ist angebrochen, und jetzt gilt es, für die lange streng beobachteten Fasten sich in jeder Weise schadlos zu halten. Man muß an diese grellen Contraste gewöhnt sein, um sich hineinzufinden. In meiner Seele zitterten noch die Weiheklänge der Osterbotschaft zu lebhaft nach, als daß ich von dem plötzlich mich umgebenden Festtrubel nicht hätte verletzend berührt werden sollen. Ich sehnte mich fort, doch ein prüfender Blick auf das endlose Gedränge belehrte mich, daß an Erfüllung meines Wunsches noch nicht zu denken sei.

Mit einem Gefühle ängstlicher Beklommenheit sah ich mich gezwungen, von Minute zu Minute in landesüblicher Weise Glückwünsche zu empfangen und zu erwidern. Um mich dieser mir peinlichen Sitte möglichst zu entziehen, ließ ich wie verloren meinen Blick über das Gewühl hingleiten, als plötzlich – unwillkürlich umklammerte ich mit der Hand Frau Bamberger’s Arm, die sich erschrocken zu mir hinwendete.

„Was ist Ihnen nur, meine Liebe?“ fragte sie ängstlich. „Sie sehen zum Erschrecken blaß aus. Die schwüle Luft betäubt Sie.“

Ich neigte zustimmend den Kopf. Um nichts in der Welt hätte ich sie den wahren Grund meiner augenblicklichen Fassungslosigkeit ahnen, hätte ich sie entdecken lassen mögen, was mich innerlich bewegte.

Ich hatte ihn gesehen – Hirschfeldt. Schön und lebensfrisch, wie in seinen besten Tagen, stand er in einer Gruppe von Damen und Herren, mit denen er sich lebhaft unterhielt, als unsere Blicke sich plötzlich begegneten und er wie verwirrt das Gespräch abbrach. Das war nur eine Secunde – dann war vor meinen Augen Alles wie ein Traumbild verschwunden.

Willenlos ließ ich mich von Frau Bamberger weiterführen, indem ich nur versuchte, sie mit leisen Worten zu beruhigen, ihr zu sagen, daß mir bereits wieder wohl sei. Um keinen Preis durften wir Aufsehen erregen. Sie war übrigens durchaus nicht verwundert; ohnmächtige Damen sind bei der Osterfeier, in der von Weihrauch schweren Luft, keine ungewöhnliche Erscheinung. So weit ich im Grunde von einer solchen Schwachnervigkeit entfernt bin, ließ ich diesmal den Verdacht ruhig über mich ergehen, und es bewirkte wenigstens das Gute, daß meine freundliche Beschützerin energisch strebte, mit mir aus dem Gewühl in’s Freie und nach Hause zu gelangen.

Ich fühlte mich unendlich erleichtert, als wir, wieder daheim gekommen, noch einige Stunden der Ruhe vor uns hatten. Wenn auch keinen Schlaf, so fand ich doch jetzt, von allem Zwang befreit, hinreichend Zeit, ohne Störung über das Erlebte nachzudenken.

„Er ist hier; er ist vollkommen wohlauf, aber er hat keinen Augenblick gefunden, um sich nach mir zu erkundigen“ – das ist der Grundgedanke, der sich mir aus allen anderen mit beißender Schärfe immer wieder herausschält, und er hat mich während der bitteren Stunden dieses Morgens von allen Zweifeln, von ich weiß nicht welchen widersinnigen Hoffnungen, die ich halb unbewußt vielleicht doch noch in einem Winkel meines Herzens nährte, geheilt. Der Brief an meinen Bruder liegt vollendet vor mir; in einigen Wochen werde ich bei ihm sein und in der deutschen Heimath hoffentlich den verlorenen Seelenfrieden wiederfinden. Ich will – –

Spät Abends.

Ja, was wollte ich doch? Ich weiß es nicht mehr. Ich weiß nur, daß, als meine Feder das Wort niedergeschrieben hatte, ich durch einen anmeldenden Diener unterbrochen wurde, der, bei mir eintretend, einen Namen aussprach, welcher in dem Augenblick, da ich ihn vernahm, so lähmend auf mich wirkte, daß ich nicht die Kraft zu irgend welcher Erwiderung fand. Ich winkte nur zustimmend mit der Hand, und zwei Minuten darauf stand der Träger jenes Namens auf der Schwelle des Empfangzimmers mir gegenüber.

Blühend, frisch, mit einem strahlenden Lächeln und doch ein wenig unsicher näherte er sich und streckte mir die Hand entgegen. Ich drückte die meinige fest an mich, denn die zwei Minuten hatten genügt, mir meine Besinnung zurück zu geben und meinen Stolz zu wecken. „Es freut mich, Herr Hirschfeldt,“ sagte ich in dem Tone, mit dem man wohl einen guten Bekannten empfangt, „hier in Moskau wieder mit Ihnen zusammen zu treffen.“

Er wich zurück, in seinen Augen eine erschrockene Frage.

„Ich glaubte,“ fuhr ich unverändert fort, „Sie mit meinen Gedanken weit eher in Petersburg suchen zu müssen.“

„Ich bin auch dort gewesen,“ erwiderte er langsam und halb zerstreut, wie ein Mensch, der, wesentlich von anderen Gedanken in Anspruch genommen, sich erst auf das besinnen muß, was er sagen will.

„Und jetzt? Aber bitte, möchten Sie nicht zuvor Platz nehmen? Werden Sie jetzt längere Zeit hier in Moskau bleiben?“

Er schob den Sessel, auf den ich hingedeutet hatte, mit hastigem Rucke bei Seite und stand im nächsten Augenblick nahe vor mir, bleich, rasch athmend. „Helene,“ fragte er und sah mich unbeschreiblich traurig an, „Fräulein Helene, warum sprechen Sie zu mir wie zu einem alltäglichen Bekannten, der einmal so ganz zufällig Ihren Weg gekreuzt hat? Blieb mir denn nicht das Versprechen Ihrer Freundschaft wenigstens?“

Ich gab mir alle erdenkliche Mühe, ihm mit äußerlich bewahrter Ruhe und durchaus in dem vorhin angeschlagenen Tone zu erwidern. „Es kann wohl nicht Ihr Ernst sein, sich auf eine Freundschaft zu berufen, die während der verflossenen [764] Wochen, ja Monate Sie nicht einmal bewegen konnte, mich durch eine Zeile von Ihrem Ergehen zu benachrichtigen, und doch,“ fügte ich, jedes Wort langsam betonend, hinzu, „doch wäre das nach unserer letzten Trennung vielleicht nicht zu viel Rücksicht gewesen. Das Vergnügen Ihres heutigen Besuches verdanke ich doch wohl nur der zufälligen Begegnung dieser Nacht.“

Hirschfeldt wurde womöglich noch um einen Schatten bleicher. Ich sah, wie er die Hände zusammenpreßte. In seinen Augen verrieth sich, plötzlich aufflammend, eine heftige Bewegung. „Wollen Sie mir gestatten, Helene,“ sagte er und bemühte sich vergebens, seiner Stimme Festigkeit zu geben, „Ihnen zu erklären, warum ich nicht geschrieben habe, warum ich Ihnen nicht schreiben konnte?“

Ich erwiderte keine Silbe, vermochte mich aber nicht von jenen wie mit magnetischer Gewalt auf mich gerichteten Blicken loszureißen.

„Es war mir unmöglich,“ nahm der junge Mann tief aufathmend wieder das Wort, „Ihnen im sorgfältig berechneten Tone kühler Freundschaft zu schreiben, Helene, weil – – ich Sie liebe.“

Ein Schauer überlief mich, mein Athem stockte, und willenlos preßte ich die Hand auf’s Herz. Hatten denn wirklich meine Ohren mich nicht getäuscht!? Einen Moment, nur ein paar Secunden schloß ich die Augen, dann siegte die Kraft meines Willens auch über diesen Anfall von Schwäche.

„Spielen wir keine Komödie miteinander!“ stieß ich mit fast übermenschlicher Anstrengung heraus. „Unter uns wäre das wohl am wenigsten angebracht.“ [779] Ein Ausruf, halb Schreck, halb Schmerz verrathend, entfuhr den Lippen meines Gastes; mehr einem Marmorbilde ähnlich als einem lebenden Menschen, stand er vor mir, einem Marmorbilde, aus dem nur die Augen sprühend, anklagend, finster zu mir herüberblickten.

„Hören Sie mich an!“ sprach er gepreßt in einem Tone unterdrückter Heftigkeit, der ihm, wie ich wußte, so gar nicht eigenthümlich war. „Sie müssen mich anhören, Helene. Und erst nachdem Sie Alles wissen, fahren Sie fort in diesem Tone vernichtenden Spottes – wenn Sie dazu im Stande sind!“

Hätte er mich nur nicht so gar anklagend und traurig angesehen jetzt! Ich fühlte, daß meine Kraft mich zu verlassen drohte. Setzen wir uns vor allen Dingen!“ sagte ich und ließ mich in den nächsten Sessel gleiten, da meine zitternden Füße mir entschieden den Dienst versagten.

Hirschfeldt hatte sich abgewendet. Aber schon nach wenigen Augenblicken senkte sein Blick sich warm und leuchtend auf mich nieder. „Verzeihen Sie mir!“ nahm er auf’s Neue das Wort, und mein Herz erbebte unter dem milden Zauber seiner Stimme. „Verzeihen Sie meine ungeduldige Hast! Ich weiß ja, daß Sie mich nicht lieben, nicht lieben können, aber lassen Sie mir nur ein Fünkchen Hoffnung, daß Sie es vielleicht eines Tages noch lernen werden, und vor allen Dingen, glauben Sie an mich! Strafen Sie mich nicht dadurch, daß Sie meine früheren leichtsinnigen Worte heute gegen mich in’s Gericht rufen! Blicken Sie nicht mit unerbittlicher Gedächtnißschärfe zurück auf die Irrthümer meiner Vergangenheit! Ich kenne sie; ich beschönige keinen derselben; ich sage einfach: verzeihen Sie und haben Sie die Geduld, meine Beichte anzuhören!“

Fragend und bittend zugleich ruhte sein Blick auf mir, und langsam erhob ich die Hand, die ich diesmal ohne weiteres Zögern in die seinige legte. Er beugte sich nieder auf meine Hand und streifte sie leicht mit den Lippen.

Ich zuckte unter dieser Berührung zusammen, aber ich machte einen schwachen Versuch zu lächeln und deutete nochmals auf den Sessel an meiner Seite. Hirschfeldt beachtete den Wink ebenso wenig wie vorhin. Immer die Augen fest auf mich gerichtet, begann er wieder:

„Sie wissen, daß ich Wéra liebte, bevor mich das Schicksal mit Ihnen zusammen führte. Ich glaubte sie mindestens mit allen Kräften meiner Seele zu lieben, und urtheilen Sie selber, Helene, ob es möglich ist, einem so lieblichen, hingebenden Geschöpfe, wie es Wéra Adrianoff ist, freien Herzens gegenüber zu stehen, ohne den Zauber ihrer Persönlichkeit auf sich wirken zu lassen! Bei Gott, es ist nie etwas aufrichtiger meines Herzens Meinung und mein Wille gewesen, als jeden Tag bereitwillig Kraft und Leben daran zu setzen, um mir Wéra’s Besitz zu erringen.

Da kamen Sie, Helene, eine ganz Andere, als alle jungen Mädchen, die ich bisher gekannt. Die Anmuth Ihres Wesens, Ihr Geist – o, bitte: unterbrechen Sie mich nicht! Gewähren Sie mir nur diesmal im Leben die Wohlthat, mich bis an’s Ende ruhig anzuhören! Ihr Geist, die ruhige Würde Ihres Benehmens fesselten mich täglich mehr, ohne daß ich mir dessen bewußt war. Sie erschlossen mir einen neuen Ideenkreis. Sie führten höhere Ziele vor mein Auge; ja, Helene, es ist die reine Wahrheit: Sie wandelten mich um zu einem anderen Menschen, der allmählich anfing, ziemlich gering über den Hirschfeldt früherer Tage zu denken. Ich glaubte mit Ihnen allein durch Achtung, Vertrauen und Freundschaft verbunden zu sein und begriff nicht, weshalb ich mitunter damals neben Wéra, die nur im Stande war, sich mit ihrer Liebe zu beschäftigen, Langeweile empfand. Ich gerieth in eine unglückliche, zerfahrene Stimmung, in der ich mich selber nicht mehr verstand. Was ich früher ersehnt und erstrebt, verblaßte zu meinem Schrecken von Tage zu Tage mehr in meiner Phantasie. Meine Gedanken schweiften in andere Bahnen; da kam die letzte, entsetzliche Katastrophe, Wéra’s Krankheit. Mein Interesse für sie erstarkte wieder an der Angst für ihr Leben. Ich nannte mich bereits in Verzweiflung ihren Mörder; ich glaubte für meine Liebe zu zittern und that es im Grunde doch nur für das Leben der Unglücklichen. Erst Constantin war es, der mich an jenem verhängnißvollen Morgen aus allen Zweifeln riß, aber auch in meiner Seele einen Sturm anfachte, an den ich noch heute mit Schaudern zurückdenke. Empört und erbittert, daß Wéra mich aufgeben konnte, fühlte ich dennoch klar und deutlich, daß sie noch ferner an mich zu fesseln, auch wenn ich die Macht dazu besessen, ein Verbrechen sein würde, denn, jetzt wußte ich es, ich liebte sie nicht mehr. Ich hatte unter tausend Qualen den großen Irrthum meines Lebens erkannt und konnte nur noch den einen Wunsch hegen, daß sie Glück und Vergessen finden möge, denn ich war nicht mehr im Stande, ihr Alles für Alles zu bieten: für das Opfer ihrer Existenz ein ungetheiltes Herz. Sie begreifen, daß ich trotzdem meinerseits Wéra niemals aufgegeben hätte, aber sie selber ersparte mir den schweren Kampf zwischen Herz und Ehre, indem sie mich ihren Standesinteressen opferte.“

„Wie ungerecht Sie sind!“ fiel ich ihm hier rasch in’s Wort. „Fräulein Adrianoff opferte nicht Sie ihren Standesinteressen, sondern sich selber ihrer Familie. Es war gekränkte Eigenliebe – es war der unverbesserliche Egoist, der soeben wieder aus Ihnen redete.“

Eine dunkelrothe Blutwelle flog hastig über das sonst so bleiche Antlitz meines Freundes, und doch blitzte es dabei wie ein Freudenstrahl in seinen Augen auf. „Gut!“ sagte er, „schelten Sie mich! Halten Sie mir unerbittlich meine Sünden vor! Darin erkenne ich einen Ton Ihres früheren Wesens wieder, anstatt der abscheulichen, höflichen Kälte, mit der Sie mich vorhin behandelten. Ich danke Ihnen dafür, und wie immer, ist das Recht auch diesmal auf Ihrer Seite. Ich lasse den Beweggründen, welche Fräulein Adrianoff leiteten, in meinem Herzen volle Gerechtigkeit widerfahren, aber verlangen Sie nicht, daß ich gerade heute noch darüber reden soll! Die Minuten sind zu kostbar für mich. Erst als ich damals Woronesch verlassen hatte, als ich das Geschehene aus der Ferne mit ruhigem Blute zu überdenken vermochte, wurde es in mir wieder still. Meine Seele fühlte sich urplötzlich wie von einem Bann erlöst. Es kam wie eine Befreiung, wie eine unendliche Erleichterung über mich, und ich wußte wieder, was ich wollte, was ich erstrebte – ganz klar wußte ich es; Muth, Zuversicht und am Ende die Hoffnung erwachten wieder in mir, aber Ihnen das Alles zu schreiben, Helene, wäre mir unmöglich gewesen. Auge in Auge mußte ich Ihnen eines Tages sagen, was in mir vorging, wenn ich auf Verständniß Ihrerseits hoffen wollte. Erst meinen Lebensplan feststellen, und dann mit Ihnen reden, das war meine Absicht und jetzt, da ich, kaum nach Moskau zurückgekehrt, Sie schon hier finde, segne ich diesen Zufall. Helene, da sehen Sie mich nun vor sich ganz, wie ich bin. Ihnen gegenüber wenigstens blieb keine Falte meines Innern verborgen. Ist es denn nicht möglich, daß Sie ein wenig Theilnahme für mich hegen? Sie haben mir einst gesagt, von dem Manne, dem Sie Ihre Liebe zuwenden könnten, verlangen Sie ein ganzes ungetheiltes Herz. Nun wohl, jeder Schlag des meinigen gehört Ihnen ganz, unwiderruflich und für immer. Was aus mir werden soll, wenn Sie es mit all seiner warmen Liebe von sich stoßen, das weiß ich nicht und schaudere, es zu denken.“

Ich hatte meinen Kopf in die Hand gestützt, ohne Hirschfeldt anzublicken, aber ich hörte auf seine Worte, wie auf die Töne einer fernen, lieblichen Musik, denen zu lauschen ich niemals ermüdet wäre. War denn nicht dies Alles ein himmlisch schöner Traum, der nach wenigen Minuten schon wieder in Nichts zerrinnen mußte?

Mein ungestümer Bewerber sorgte freilich dafür, daß ich an der Wirklichkeit dessen, was ich erlebte, nicht zweifeln konnte. „Ein Wort nur der Ermuthigung verlange ich heute von Ihnen,“ fuhr er fort, „das Versprechen, daß Sie mich nicht ganz von sich weisen, daß Sie es wenigstens versuchen wollen, mich kennen zu lernen, wie ich jetzt, wie ich durch Sie geworden bin.“

[780] „Ich verlasse dieses Land sehr bald,“ sagte ich leise. „Der Brief hier nimmt die Nachricht mit nach Köln, daß ich in wenigen Wochen dort bei meinem Bruder sein werde.“

Hirschfeldt stieß als Erwiderung einen Ausruf nicht etwa der Enttäuschung, sondern fast freudiger Ueberraschung aus. „Jetzt verzweifle ich noch nicht an des Himmels Gunst gegen mich,“ rief er blitzenden Auges. „Sie wissen doch, daß es stets mein Wunsch war, zur vollständigen Beendigung meiner Studien ein oder zwei Jahre nach Paris zu gehen. Heute gerade wollte ich Ihnen mittheilen, daß ich definitiv diesen Entschluß gefaßt habe, und –“ einigermaßen zögernd fügte er hinzu: „und nun, indem ich ihn ausführe, kann ich Sie in Köln wiedersehen.“

Ich weiß nicht – sprach mein beredtes Schweigen? verriethen sich meine Blicke – – –?

„Helene!!“ So weich, so zitternd ausgesprochen hatte ich noch nie meinen Namen gehört, und plötzlich, mit der Schnelle des Gedankens, lag er zu meinen Füßen. „Nur um ein gutes, ein ermuthigendes Wort flehe ich Sie an,“ bat er.

„Stehen Sie auf!“ sagte ich zum Tode erschrocken, denn mit entsetzlicher Deutlichkeit hatte ich trotz aller Aufregung gehört, wie draußen an der Rampe ein Wagen vorfuhr, und ein flüchtiger Blick auf die Uhr belehrte mich, daß Bambergers in jeder Minute heimkehren mußten. „Stehen Sie auf! Ich will es durchaus.“

„Ist das Ihre Antwort auf all mein Flehen? Ihre letzte, Ihre einzige Antwort?“

„Holen – ja, holen Sie sich eine Andere in Köln!“ stieß ich rasch hervor. Mit einem hellen Jubelrufe sprang Hirschfeldt empor, und es war die höchste Zeit, denn unmittelbar darauf öffnete sich die Flügelthür, und Frau Bamberger trat freundlich grüßend herein.

Sie blickte auf mich, die ich trotz der verzweifeltsten Anstrengungen mich von meiner Verwirrung noch nicht wieder erholen konnte, und dann auf den unerwarteten Gast ihres Hauses, der ihr mit einem so glückstrahlenden Gesichte entgegentrat, daß sie über diese auffallende Weise, sich bei ihr einzuführen, vielleicht noch erstaunter war, auch ließ sie ihre Blicke mit einem ganz seltsamen Ausdrucke von ihm wieder zu mir herübergleiten, bis ich mich endlich insoweit von dem gehabten Schreck erholt hatte, daß ich ihr ‚meinen Freund, den Capellmeister Hirschfeldt‘ vorstellen konnte, ‚den ich früher in Berlin und später in Woronesch gekannt, und mit dem ich häufig musicirt habe.‘

Hirschfeldt’s Sicherheit im geselligen Verkehr kam ihm in der augenblicklich etwas zweifelhaften Situation wieder so gut zu statten, daß er Frau Bamberger in kürzester Frist ersichtlich dadurch gewann. Aus der anfangs nicht wenig peinlichen Scene entwickelte sich allmählich eine angenehm belebte Unterhaltung, die schließlich damit endete, daß die Dame des Hauses unseren Gast zum Diner einlud, welche Einladung er mit fast kindlicher Freudigkeit annahm.

Welch ein Tag war dies! Ein Festtag in jeder Beziehung. Hätte ich mir wohl jemals träumen lassen, daß meinem Leben ein solcher beschieden sei, der, wirklich ein Ostertag, in meinem noch jüngst so resignirten Herzen die neuen, frischen Blüthen der Hoffnung, der Liebe und des Glückes wieder erstehen ließ?

Alexis war so hinreißend liebenswürdig diesen ganzen, glücklichen Tag hindurch, beinahe ausgelassen; er spielte so entzückend, daß er die ganze Familie Bamberger förmlich bezauberte.

Wie werde ich kämpfen, wie mich zusammennehmen müssen, wenn es ihm nicht doch noch gelingen soll, in der nächsten Zeit, während ich noch hier bin und während welcher er uns oft besuchen wird, einen gründlichen Blick in mein Herz zu thun! Das soll er entschieden nicht. Ich will ihm nun einmal den Sieg so leicht nicht machen.

„Bilden Sie sich nicht ein,“ sagte ich ihm gestern, „daß mich jemals etwas bewegen wird, in dieses barbarische Land zurückzukehren, wenn ich erst deutsche Luft wieder athme!“

Er schaute mich mit einem ganz zuversichtlichen, glücklich lachenden Ausdruck in seinen schwarzen Augen an und erwiderte einfach: „Wo Sie sind, Helene, wo der Himmel blau ist und wo Musik gemacht wird, da ist mein Vaterland.“




Das Tagebuch Helenen’s bricht hier plötzlich ab, doch läßt sich vielleicht Beziehung zu demselben in einer gegen das Ende der sechsziger Jahre in einer vielgelesenen deutschen Zeitschrift veröffentlichten Feuilleton-Correspondenz finden, deren Passus über Musik folgendermaßen lautet:

„Was die Pflege der schönen Künste bei uns (es ist von einer bedeutenderen mittelrheinischen Stadt die Rede) betrifft, so hat wenigstens die Musik einen glänzenden Aufschwung genommen, seit vor einigen Jahren der Concertmeister H. für die Leitung der philharmonischen Concerte und des Theater-Orchesters gewonnen wurde. H. ist ein noch junger Mann, wie man sagt ein Russe, welcher Behauptung sein etwas fremdländisches Aeußere keineswegs widerspricht. Wie dem aber auch sei, alle wahren Musikfreunde werden nur mit Befriedigung auf seine Berufung hierher zurückblicken, da die gründlichen Studien und die geniale Auffassung, verbunden mit dem regsten Eifer des jungen Meisters, seinen Einfluß nach jeder Seite hin, eben sowohl was die Auswahl der aufzuführenden Musikstücke, wie deren Ausführung anbetrifft, bisher zu einem segenbringenden und die Kunst fördernden gemacht haben. Ohne Zweifel wird die Zukunft des begabten und liebenswürdigen Künstlers, der selbst bereits die musikalische Welt mit mehreren höchst ansprechenden, ungewöhnliches Talent verrathenden Compositionen beschenkt hat, noch eine bedeutende sein. Wir mögen uns freuen, ihn jetzt noch den Unseren zu nennen, zumal die Anwesenheit des Concertmeisters H. in unserer Stadt, auch was die geselligen Beziehungen derselben anbetrifft, keineswegs bedeutungslos ist, da seine Gattin, selbst eine begabte Pianistin und zugleich eine feingebildete deutsche Dame, es versteht, mit Anmuth und Tact in seinem Hause die Honneurs zu machen und alle Diejenigen in ihrer glücklichen Häuslichkeit um sich zu versammeln, denen höhere Bildung und geistige Interessen Lebensbedürfniß sind.“

Um dieselbe Zeit etwa, in der wir Gelegenheit hatten, diese Notiz zu lesen, durchlief alle europäischen Zeitungen die erschütternde Nachricht, daß in Nizza ein junger Dalmatier, der hoffnungsvolle Sohn einer vornehmen Familie, von einem Russen im Duell erschossen worden sei. Ursache des unglücklichen Zweikampfes sollte eine bildschöne russische Dame gewesen sein, eine junge Madame L., die, wie unschwer zwischen den Zeilen zu lesen war, durch Liebesintriguen mancherlei Art ihren Kummer über eine unbefriedigende Ehe zu betäuben suchte. Arme Wéra!

E. Tegtmeyer.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: letzen