Hinter der Düne
Hinter der Düne.
„Weihnachtszeit, heil’ge Zeit,
Der Englein und der Kinder Freud’ –“
Kathi ten Eißen sang mit schriller, halblauter Stimme das alte Norderneyer Weihnachtslied und rührte dabei mit entblößtem muskulösen Arme den zähen Teig zu den Rosinenbrötchen.
„Der Englein und der Kinder Freud’“ – weiter kam sie nicht; es wiederholte sich dann immer ein kurzes abgebrochenes, heiseres Lachen, das Henri ten Eißen, ihrem Eheherrn, durch Mark und Bein ging.
Der kräftige, in blaues grobes Tuch gekleidete Fischer saß mit weit vorgestreckten Füßen auf dem dreibeinigen hölzernen Schemel, stützte den Ellbogen auf den rothgestrichenen Tisch und ließ den blonden Krauskopf schwer in der arbeitsschwieligen Rechten ruhen, während er mit der Linken den röthlichen, zweitheiligen Kinnbart strich.
Sein wettergebräuntes hübsches Gesicht belebten zwei große hellblaue Augen, welche einst sonnenhell ins Leben geblickt hatten. Aber das war nun vorbei, längst vorbei, jetzt folgten sie trübe den Hantierungen seines Weibes, deren Gesang er nicht länger mit anzuhören vermochte.
„Ach Du grundgütiger Gott! Und daran bin nur ich schuld!“ Damit erhob er sich, reckte seine sehnigen Glieder, stülpte den schwarzen, abgetragenen Filzhut auf und schritt zur Thür.
Draußen pfiff vom Meere her der heulende Nordost scharf über die baumlosen Dünen, wühlte die Wasser bis zum Grund auf, so daß sie sich zu Wellengebirgen thürmten, und fegte den feinen Sand über das Dach von Henri ten Eißens Hütte.
„Wenn er sie doch ganz verwehte!“ stöhnte der Fischer und gab seine breite Brust den rasenden Winden preis. Die schwarze schaumgekrönte Nordsee tobte wie ein wüthendes Raubthier, aber in ten Eißens Busen tobte der Sturm noch mehr. Es war ja schon lange her, seit es da drinnen zum letzten Male freudig geklopft hatte; aber heute, gerade heute am Weihnachtstage, da fiel ihm sein Kummer mit aller Schwere aufs Herz, daß er glaubte, ersticken zu müssen.
„Weihnachtszeit, heil’ge Zeit,
Der Englein und – – –“
brummte Henri jetzt mit seiner tiefen Baßstimme, aber das „der Kinder Freud’“ wollte ihm nicht über die Lippen. Da lag er im Sande, unter Strandhafer und Dünengras fast versteckt, der Sturmwind heulte über ihn hinweg und der eisenfeste Mann schluchzte laut in beide Hände.
„Herr Gott, vergieb mir! Ich wollte es ja gut machen – er sollte ein braver Mensch werden – da braucht’s Strenge – und nun kam es so – o mein Gott!“
[845] Und vor Henris Seele stieg jener furchtbare Tag auf, als Jann, sein einziger, bereits zum kräftigen Jungen herangewachsener Sohn, auf und davon ging. Er war ein wilder, unbändiger Bursche gewesen und der Vater hatte Mühe genug gehabt, ihn in Zucht zu halten; oft hatte das Tauende seine schmerzhafte Sprache zu dem kleinen Thunichtgut geredet. Je strenger indessen Henri gegen den Knaben gewesen war, desto mehr hatte ihn die Mutter verwöhnt.
Aber einmal war’s doch auch ihr zu toll gewesen, und sie sah wohl ein, daß er Strafe haben mußte, brachte es aber nichts fertig, ihn selbst zu züchtigen. So hatte sie ihm gedroht: „Warte nur, ich sag’s dem Vater!“
Das mochte auf Jann einen gewaltigen Eindruck gemacht haben, denn wenn sich die allzeit nachsichtige und gütige Mutter sogar bewogen fühlte, ihn bei dem Vater, dessen Strenge sie für ihn fürchtete, zu verklagen, so konnte er sich auf gehörige Strafe gefaßt machen. Die Furcht davor trieb ihn in die weite Welt, und die Eltern blieben mit ihrem Kummer allein zurück.
Doch ten Eißen unterbrach die trüben Erinnerungen, die an seinem inneren Auge vorüberzogen; er durfte Kathi, heute gerade nicht allein lassen, und so schritt er denn schwerfällig zu der rothen Ziegelhütte zurück, welche sich, von einem kleinen Gärtchen umgeben, dicht hinter den Dünen erhob. – Einst hatten in diesem Gärtchen während des Sommers rothe Nelken, duftende Rosen und schwarzgetüpfelte Feuerlilien geblüht. Die Fremden waren stehen geblieben und hatten sich der Blumenpracht gefreut. Aber nicht dieser allein galt ihr Verweilen, es galt noch mehr dem blondlockigen Knaben, der zwischen den Beeten spielte.
„Wie heißt Du, mein Söhnchen?“
„Ei, so sag’s doch! Wer wird so blöde sein!“ hatte Kathi dem Kleinen zugeraunt.
„Jann ten Eißen.“
„So ist’s recht! Nun gieb ein schön’ Patschchen,“ ermuthigte die muntere Fischersfrau ihren Liebling weiter, der sich endlich auch bewegen ließ, sein sandfeuchtes Händchen den Gästen entgegenzustrecken; selten zog er es ohne eine kleine Gabe zurück.
Und auch später hatte sich jeder über den strammen heranwachsenden Jungen gefreut, der da schon so flott seine Netze strickte oder das kleine Gärtchen in Ordnung hielt. – –
Das war nun vorbei: die Nelken verdorrt, die Rosen verwildert, die feurigen Lilien vom Strandhafer überwuchert – – und der blondlockige Jann ten Eißen spurlos verschwunden!
Henri öfnete mit Mühe die Thür, die der Sturm mit Gewalt in die Fugen drückte. Kathi kauerte mehr, als daß sie saß, in der Nähe des Ofens und sah geistesabwesend in die züngelnden Flammen. Das that sie oft; der hastigen, aufgeregten Arbeit folgte eine Abgespanntheit, welche ihren Mann noch besorgter machte. Dann hörte und sah sie nichts, mochte Henri sie ansprechen oder durch freundliche Liebkosungen zu ermuntern suchen.
Auch jetzt streichelte er ihr Haar und Wangen. Wunderbar, wie seine riesigen, groben Hände zart mit der Aermsten umzugehen wußten. Grenzenlose Liebe, Mitleid und tiefer Seelenschmerz lagen in jeder seiner Bewegungen.
Plötzlich fuhr die Frau empor, als wenn sie aus langem Schlummer jäh erwacht wäre, stürzte an den Tisch und formte aus dem Teige die Weihnachtsbrötchen.
„Für Dich – für mich – und die beiden für unsern Jann,“ sagte sie mit einem zärtlichen Lächeln, welches so schlecht zu dem starren Ausdruck ihrer Augen paßte. – Was lag nur darin? Wie ein Schleier breitete es sich über die dunklen Pupillen, die stets so furchtbar ernst in das Leere schauten.
„Bist Du mir böse, Henri? Unser Jann kommt heute! Schlage ihn nicht mehr! – Nicht wahr? – der böse, liebe Junge – so lange auszubleiben! – Ach du lieber Gott!“
Kathi nahm noch eine Hand voll Rosinen, wusch sie vorsorglich im frischen Wasser, drückte sie still lächelnd in die Wecken und legte auf die für Jann bestimmtenen zierlich die Buchstaben „J. t. E.“
Ten Eißen brach fast das Herz bei dem halb irrsinnigen Treiben seines Weibes. Er hoffte nicht mehr auf des Sohnes Wiederkehr. Jann war umgekommen, gestorben und verdorben, sonst hätte er in der langen Zeit doch irgend ein Lebenszeichen von sich gegeben!
Kathi griff nun zu ihrem schwarzen, wollenen Mantel, hüllte sich fest darin ein, schlang ein Tuch um den Kopf, nahm einen starken Tragkorb auf den Rücken und bald darauf watete sie, der Unbilden des Wetters nicht achtend, durch den tiefen Sand dem belebteren Theile des Dorfes zu.
Hier waren die Straßen mit rothen Ziegelsteinen gepflastert, und nun schritt sie tapfer aus, so daß sie bald den Marktplatz erreichte.
Ein grüner Wald war hier auf der sandigen, baumlosen Insel über Nacht erstanden. Die Finkenwerder Schiffe und der Dampfer, welcher von Norden kommt, hatten Tannenbäume in Hülle und Fülle herübergebracht.
„Ach wie schön! Wie schön!“ rief Kathi ten Eißen. „He, Tschade Severins, gieb mir einen recht, recht schönen – mein Jann muß den größten haben, den allergrößten! Du weißt doch, daß er heute kommt?“
Der alte Fischer sah das junge Weib schmerzlich an und gab ihr eine prächtige, schlankgewachsene Tanne.
„Danke, danke – wird der sich freuen!“ Damit ging sie weiter, kaufte hier blaues Zeug zu einem Anzuge, dort Aepfel, Nüsse, Lichter und echten friesischen Knüppelkuchen.
„Nun ist’s genug,“ sagte sie, packte alles in ihren Tragkorb, nahm ihn auf den Rücken, umfaßte den Christbaum mit ihren beiden kräftigen Händen und kämpfte sich wieder durch Sand, Nordost und Schneehuschen zu der Hütte hinter der Düne zurück.
„Die arme Kathi! Die hat’s zu sehr gepackt. Was war das für ein schmuckes Weibchen! Und eine tüchtige Hausfrau!“
„Gerade daß sie dem Jungen mit dem Alten gedroht hat, ist ihr ins Gehirn gefahren.“
„Und ten Eißen ist der Alte auch nicht mehr, an dem nagt der Wurm, daß er so streng mit ihm war.“
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„Gott mag einen in Gnaden vor so etwas bewahren!“
Das waren so die Reden, welche die biederen Insulaner hinter der armen Kathi hersandten; und mehr als eine Mutter wischte sich die Thränen aus den Augen, um dann desto freudiger für ihre blonde Kinderschar den Weihnachttisch zu bereiten. – –
Die Sonne war bereits blutroth ins Meer getaucht, ihr goldig purpurner Nachglanz flammte am wolkigen Himmel, schwamm auf den wogenden Fluthen und blitzte in den blanken Fensterscheiben von ten Eißens Hütte.
Kathi schürte das Feuer auf dem offenen Herde, setzte Fische an, breitete über den Tisch ein schneeweißes Linnen, ordnete die Gaben, bog die Wachslichtchen um die Zweige des Weihnachtsbaumes und betrachtete wohlgefällig ihr Werk. – Da klopfte es.
„Komm herein!“
Der Bäckerlehrling trat ein, brachte in einem Schließkorbe die gebackenen Rosinenbrötchen und legte sie neben die Christgeschenke.
„Da, nimm, Weihnachtszeit – heil’ge Zeit –“ sagte Kathi und reichte ihm von den Aepfeln und Nüssen.
„Danke! Fröhliche Weihnachten!“ entgegnete der Knabe gewohnheitsmäßig und eilte wieder dem Dorfe zu.
„Fröhliche Weihnachten!“ stöhnte Henri, seinen Schmerz kaum noch beherrschend.
Es dunkelte ein wenig.
„Wo er nur bleibt?“ flüsterte Kathi.
Henri wandte das Gesicht ab und schwieg. Er wußte, daß reden hier umsonst sei.
„Er wird schon kommen!“ meinte die Frau und nahm wieder den Mantel von dem Nagel.
„So bleibe doch!“ bat ten Eißen.
„Bleiben? Bleiben?“ Kathi sah ihn so erstaunt an, als habe sie diese Worte nicht recht verstanden. Dabei legte sie den Mantel um, wickelte das Tuch wieder um den Kopf und winkte ihrem Manne geheimnißvoll mit dem Finger.
Der Fischer schüttelte verzweifelt mit dem Kopfe, entschloß sich aber doch, seinem Weibe zu folgen, welches hastigen Schrittes in dem tiefen weichen Sand zur Düne ging und deren Kamm erklomm.
Da stand die Frau wieder, wie schon so manches Mal, und schaute hinaus in das weite, brausende Meer, um ihren geliebten Jann zu erwarten. Und Henri harrte auch dieses Mal geduldig neben ihr aus.
Schäumend zischten die Wellen gegen die Dünen und leckten hinauf fast bis zu den Füßen der beiden, tosend brachen sich die Wasser und die Brandung heulte mit dem Sturme um die Wette.
Kathi hielt stand; in gespenstisch flatterndem Gewande, vom blassen Mondschein umflossen, so stand sie da und suchte mit ihrem Auge jede Wellentiefe zu ergründen, ob da nicht vielleicht ein Boot emporsteige, welches ihr Alles bringe.
„Horch – – Henri!“ rief sie plötzlich.
„Was willst Du, Kathi? Das ist der Sturm!“
[847] „Nein, nein – – ‚Mutter – Mutter!‘ ruft da jemand – ich höre es deutlich!“
„Kathi, die Möven! Komm, Frau!“
„Ach! Die Möven! – – Nun kommt er noch nicht, der böse, der liebe Junge!“
Ten Eißen umfaßte seine Frau fest, aber liebevoll und wollte sie zur Hütte zurückführen, denn sie war schwach geworden wie ein Kind und vermochte sich jetzt kaum noch auf den Füßen zu halten. – Er kannte das schon. – Da blieb sie wieder stehen. Wilde Verzweiflung kam über sie. Sie breitete die Arme aus: „Jann! Jann!“ klang es schaurig in die stürmische Nacht hinaus. „Dort! – Dort! – Mann! – – Mann! – – Er ist da! Er ist da!“
„Kathi –!“
„Sieh das Boot! Dort – es taucht auf – Jann! Jann! – – Jetzt ist’s verschwunden – – nein – nein – Mensch – Mann – Henri – siehst Du nicht? – Da kommt mein Kind – – mein Kind!“
Dem Fischer grauste, ihm war’s, als sträubten sich ihm die Haare, aber er folgte unwillkürlich mit den Augen der Handbewegung seines Weibes.
„Bei Gott dem Allmächtigen, wirklich ein Boot! – Ohne Mast – ein Mann steht aufrecht darin – es treibt umher! – Bleibe, Kathi, – bleibe! – Ich werde Hilfe herbeischaffen! Gieb ihm ein Zeichen! Winke mit dem Tuche! Hole die Laterne!“
Dahin stürzte Henri, um eiligst sein Boot klar zu machen, dorthin Kathi, damit sie die Laterne hole.
Henri ten Eißen, Emken Klüin und zwei andere Fischer stießen schon vom Lande, und Kathi schwenkte das Feuerzeichen, als gälte es, dadurch die Welt vor dem Untergange zu retten.
„Jann! Jann! – – Weihnachtszeit, heil’ge Zeit – – Jann! Jann! – Ich bin da – – der Engel und der Kinder Freud’ – ich bin da! – Komm ! – Komm! –“
Und vom schwankenden Nachen her erfolgte Antwort. Der Fetzen eines Segels wurde geschwenkt und Kathi glaubte die Stimme ihres Knaben zu hören, die sich für sie mit dem wüthenden Nordost zu einer jubelnden Weihnachtshymne vereinte.
Von der Hafenseite her kämpfte sich Henris Boot zu dem anderen heran. Jetzt tanzte es hoch auf den Wellen – nun verschwand es, jetzt faßten es die Wasser, daß das Steuer fast seine Kraft verlor. –
Kathi sah es, sie begriff die Gefahr und faltete die Hände zum brünstigen Gebet. Nun flog ein Tau hinüber zu dem entmasteten Fahrzeug, jetzt ein zweites – jetzt wandte ten Eißen sein Boot und schleppte das gerettete glücklich in den sicheren Hafen.
Da stand schon Kathi.
„Jann, Jann!“
Ein fast zum Mann gereifter Jüngling sprang ans Land, lag zu den Füßen des Weibes und umfaßte schluchzend ihre Kniee.
„Ich bin’s, Mutter – ich bin’s – – Vater, Mutter, vergebt mir!“
Henri ten Eißen stand sprachlos. Das Mutterherz hatte sich also doch nicht betrogen! – –
Es dauerte eine geraume Weile, bis der Ueberschwang der Gefühle ein richtiges Fragen und Antworten gestattete. Vom Arme der Mutter umschlungen, erzählte Jann, wie ihn das Heimweh unüberwindlich ergriffen habe, als er mit seinem englischen Schiffe so nahe gewesen. Da sei er entflohen mit Gefahr seines Lebens und seit drei langen, langen Tagen treibe er nun schon auf der See.
Aber es war, als ob Kathi das alles nicht hörte.
„Ich wußte es, daß Du heute noch kommst, ich wußte es ganz gewiß!“ wiederholte sie nur immerfort.
Sie schritten zur Hütte. Jann hätte den Sand seiner Heimath küssen mögen! – Da schaute das Dach schon hinter der Düne hervor und Kathi flog mehr, als daß sie ging, dem bescheidenen Heime zu.
„Wartet – wartet noch ein wenig! Erst –!“
Sie war schon hinter der Thür verschwunden, der bereitstehende Christbaum flammte auf im Lichterschein und erleuchtete den niederen Raum wie mit einem überirdischen Glanze.
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Im nächsten Jahre blühten wieder die Nelken, die Rosen und die Feuerlilien in dem kleinen Gärtchen vor Henri ten Eißens Hütte. Heller Sonnenschein lag darüber und fand seinen Abglanz in Kathis und Henris fröhlichen, zufriedenen Gesichtern.
Alle Dunkelheit war ihnen von Geist und Gemüth genommen, denn Jann war ja da, er war ein guter, rechtschaffener Sohn und tüchtiger Seemann geworden, welcher seinen Eltern in Liebe, Gehorsam und Arbeit getreulich zur Seite stand.