Ich rufe vor eins nochmal an –!
In Wilhelm Speyers „Charlott etwas verrückt“ findet sich ein Satz, der mir immer tiefen Eindruck gemacht hat. Die Stelle im Dialog heißt etwa so: „Hallo! Also treffen wir uns heute um eins?“ – Der andre: „Ja. Das heißt … ich rufe vor eins nochmal an –!“ Alle Berliner rufen vor eins nochmal an.
Es gibt nämlich eine Geschäftigkeit, die aus der Reizbarkeit kommt, aus dem Unvermögen der unausgeruhten Nerven, nicht zu reagieren; sie müssen reagieren, darin besteht eben ihre Müdigkeit, nicht ruhen zu können. Es muß etwas geschehn. Und da greift dann die Hand zum Telefon.
Kleinen Kindern bringt man bei, vor einem Besuch bei der fremden Tante alles „vorher zu erledigen“. Erwachsene betreten die Wohnung des Bekannten mit dem Feldgeschrei: „Darf ich bei Ihnen mal telefonieren?“ – „Bitte sehr“, sagt der freundliche Gastgeber. Und hört dann dies:
„Lützow zweiundsiebzig null fünnef … Ich muß nämlich mal rasch dem Oskar Bescheid sagen, daß er … Hallo? Nein! Null fünnef! … Vielleicht ist er gar nicht zu Hause, da will ich mal … Ja? Oskar? Bist du das? Rufen Sie mal bitte Herrn Pischanowski ans Telefon! Oskar! Hier ist Grete. Also paß mal auf! Ich rufe hier von Wandervogels an, also … du kommst doch heute abend ins Theater? Wir treffen uns doch vor dem Eingang? Fünf Minuten vor acht – [286] das heißt, es fängt, glaub ich, um halb acht an – sieh doch mal nachher in der Zeitung nach! (Haben Sie ’ne Zeitung? Na, danke …) Ja, wie wir verabredet haben. Aber komm pünktlich! Wie gehts Mama? Gut? Danke, ja. Ich geh nachher noch in die Stadt! Na gut – Na, also denn … Na, schön. Na, gut. Na, schön. Hatchö, Oskar! Komm pünktlich! Na, gut. Hatschö, Oskar! Oskar! … ! Weg. Wir gehn nämlich heute abends ins Theater. Zu Wegener. Ja. Na, und wie gehts Ihnen …?“
Dieses Telefongespräch war gar kein Telefongespräch. Es war eine Reflexbewegung.
Wäre es nicht geführt worden, so wäre Oskar wie statuiert auch ins Theater gekommen. („Na, ich muß ihn doch nochmal erinnern! Vielleicht hätte ers sonst vergessen! Sie kennen Oskar nicht!“) Doch, ich kenne Oskarn. Aber ich kenne auch Greten – und da meine ich:
Von dem, was in einer großen Stadt zusammentelefoniert wird, ist gut und gern die Hälfte überflüssig. Und die Herren Geschäftsleute sollen sich ja nicht vor ihren Frauen dicke tun und lächelnd anmerken: „Kind, was du heute wieder alles telefonierst …!“ Sie machen es genau so.
In den Büros ist der Anlaß des Telefongespräches fast immer vernünftig, seine Länge unentschuldbar. Anfrage; Auskunft; Rückfrage; Rückauskunft … Und dann gehts erst los. Dann kakeln sie hin und her, sie drehen das schon einmal Gesagte nochmals in der Telefonmuschel herum, daß es einem graust, halten die Nummern, die andre Leute verlangen, besetzt … Es ist wunderschön. Alles, weil sie die Sprache nicht halten können, sie entzünden sich am Vorhandensein des andern, es muß was geschehn, es muß was geschehn. Schade, daß niemand aufschreibt, was zum Beispiel die ernsten Generaldirektoren und ihre Unteroberdirektoren [287] so ins Telefon sagen – man bekäme einen heiteren Begriff von ihrer würdigen Tätigkeit.
Es scheint mir gradezu eine Krankheit zu sein, daß sich die Telefonanten zum Beispiel nie in einem einzigen Telefongespräch endgültig einigen können. Sie haben eine fast pathologische Scheu vor Entschlüssen, die sie daher niemals gleich fassen. Und das nicht etwa bei ernsthaften Anlässen, wie bei dem Abschluß einer Lebensversicherung, bei einer Verlobung … Sie überlegen. Sie überlegen nämlich, wann sie nochmal anrufen können, immer in der Angst, es könnte sich zwischen zehn und ein Uhr noch ein Erdbeben ereignen. „Das … das kann ich Ihnen jetzt noch nicht sagen. Warten Sie mal … Also … Passen Sie mal auf, wir wollen so verbleiben: Wenn ich bis morgen um halb elf nicht mehr anrufe, dann kommen Sie mit Ihrer Frau nach Hoppegarten. Nein, lieber so: Wenn wir nicht anrufen, kommen Sie nicht. Nein, doch so … Also ich rufe morgen nochmal an.“ Und morgen geht das ganze Theater wieder von vorn los.
Lasset uns gerecht sein. Was die Schweden sind, so kommen die gleich mit einem Telefon zur Welt, und das erste „Bää!“ des kleinen Gunnar klingt in ein schwedisches Telefon. Und wenn die Schweden erst einmal angefangen haben zu telefonieren, dann hören sie nie wieder auf. Dafür funktioniert ihr Telefon aber herrlich, und man findet es bei ihnen überall. Die Franzosen haben es wieder besser; wenn man da von der Rue Lafontaine nach der Place Denfert-Rochereau telefonieren will, dann gibt es zwei Mittel: Man kann sich ein Taxi nehmen und zu dem andern hinfahren. Das geht am schnellsten. Man kann aber auch von Paris nach Berlin reisen und von dort nach Paris telefonieren: dann ist wieder die Verständigung besser als in Paris, wo durch das Telefon kleine Bäche gluckern, halblaute Gespenster wispern und [288] überhaupt ein Höllentanz am Werk ist, die Franzosen vor dem Mißbrauch ihres Telefons zu bewahren. Dies alles nur, soweit es sich nicht um automatische Verbindungen handelt – da gehts besser. So hat jedes Volk seines.
Wir hingegen haben zu tun, wenn es aber hochkommt, dann sind es Telefongespräche gewesen. („Wissen Sie, ehe ich einen kurzen Brief schreibe, führe ich lieber vier lange Telefongespräche!“), und was wäre der Mensch ohne Telefon! Ein armes Luder. Was aber ist er mit dem Telefon? Ein armes Luder.
Denn es gibt ja vielleicht Leute, die ihre Geliebte, die auf den Knien vor ihnen winselt – bitte, das habe ich selbst im Kino gesehn! – kalt liegen lassen, und wenn sie aufschreit: „Ich schieße mich tot!“ begütigend sprechen: „Mein Revolver liegt hinten in der Nachttischschublade!“ – so kalte und herzlose Menschen gibt es. Aber einen Menschen, der ein Telefon klingeln läßt und nicht an den Apparat geht –: den gibt es nicht.
Magisch zieht sie es an das schwarze Ding, wenn die Glocke schreit; sie müssen, es ist stärker als sie. Die Pflicht ruft, und sie laufen, laufen durch die ganze Wohnung, durch die Korridore, durch die Zimmer, das Telefon! das Telefon! „Was war?“ – „Ach nichts. Pimpernoll hat angefragt, wann er die Decken schicken soll. Er ruft nachher noch mal an.“ Immer erwarten sie die Sensation, und immer ist es Pimpernoll.
Nur eine Sorte Telefongespräche gibt es, die habe ich querverbunden stets mit innigstem Behagen geschlürft, es sind akustische Austern. Das sind die Gespräche, die Liebespaare führen, und zwar Leute, die aus irgendeinem Grunde „am Telefon nicht so sprechen können“ – weil sie vom Geschäft [289] aus sprechen, oder von zu Hause, wo Mama jeden Augenblick hereinkommen kann. Das ist ganz herrlich.
Man riecht es am Ton, was da los ist. Der Ton ist butterweich, hellgelb, milde wie Mathilde und leicht verklemmt.
Guten Tag! (Ohne Anrede.) – Guten Tag, wie gehts denn? (Ohne Sie und ohne Du.) Na, gut nach Hause gekommen …? Ja …? Gut geschlafen? Ja, danke ich auch. (Große lyrische Pause.) Müde? So? Wieso denn? Versteh ich gar nicht … Man ist ja manchmal müde – So? Ja. Ja, heute ist schönes Wetter. Heute abend bleib ich zu Hause – ich hab noch was zu schreiben. Wiedersehn? Ist Wiedersehen denn so schön? Ja, immer? Ich glaube, ich muß aufhören, hier wird der Apparat gebraucht. Ja, also dann wie sonst – auf Wiedersehen! Ich rufe morgen noch mal an …“ Solche Gespräche sollten mit behördlicher Harfenbegleitung geführt werden. Wenn du Glück hast, kannst du sie hören, und es schmilzt dein Herz.
Dann aber braust wieder die Arbeit der Großstadt durch die Drähte: die Glocken schrillen, die Hörer wackeln in der Luft, der schwarze Gummi wird weich, Lippen bewegen sich, mit der freibleibenden Hand werden Papiere durcheinander geworfen, einer stampft mit dem Fuß auf, obgleich das gar nicht mittelefoniert wird … Und vor eins rufen sie alle, alle noch einmal an.