Im Kreislauf des Jahres (1898)
[25]
Im Kreislauf des Jahres.
Es schmolz der Schnee in allen Forsten
Vor linder Nächte warmem Hauch;
Der Flüsse Panzer ist geborsten
Und Kätzchen trägt der Weidenstrauch.
Es weicht dem Grün das öde Grau,
Und aus der braunen Ackerfurche
Schwingt eine Lerche sich in’s Blau.
Schon irrt ein Falter auf und nieder,
Nun, armes Herz, nun hoffe wieder,
Denn Lieb‘ und Glück sind mehr als Traum.
Die schweren Wetterwolken drohen
Nach schwüler Zeit mit ihrem Zorn;
Und unter ihnen reift das Korn.
Der Kuckuck ruft, der Pirol flötet,
Es hebt in Wirbeln sich der Staub,
Und munter und verheißend röthet
Es wogt und wallt das Meer der Aehren
Im Radenschmuck bei Wachtelschlag;
Es will mit seinem Segen nähren
Den Mann, der rüstig schaffen mag.
Des Waldes Sänger sind entflohn;
Es stehn die fahlen Herbstzeitlosen
In allen Wiesengründen schon.
Die Traube schwillt, die Früchte reifen,
Des Nordens Wandervögel pfeifen
Hoch über Dir in stiller Nacht.
Die Zeit des Welkens und Verschwebens
Läßt keine Seele ungerührt;
Die volle Ernte, heimgeführt?
Es schneit in dichten, grauen Flocken,
Und in den Lüften heult es bang;
Der Schnee hängt auch in Deinen Locken
Es kracht das Eis, die Tannen ächzen,
Und höher steigt der weiße Wall,
Und wenn die Raben hungrig krächzen —
Wer denkt noch an die Nachtigall?
Der heil’ge Sonnenschein sich bricht,
Denn als ein freier Mensch zu sterben,
Ist Deines Lebens letzte Pflicht.
R. L.