Im Palais des Kaisers
Unsere Leser haben in mancherlei Bildern des letzten Krieges den deutschen Kaiser kennen lernen, Befehle gebend und Siegesbotschaften empfangend. Da nur Wenige derselben in das Hofleben und seine Gewohnheiten eingeweiht sein dürften, so wird es sie sicher interessiren, ihn auch im Familienkreise zu sehen, sich von den Regierungssorgen erholend und umgeben von den Segnungen des Friedens und der Künste.
Am besten dürfte sich zu diesem Zwecke die Darstellung einer jener musikalisch-dramatischen Soiréen eignen, wie sie am Berliner Hofe üblich sind, und unser heutiges Tableau giebt uns die ziemlich klare Anschauung einer solchen. Man geht da aber nicht ganz ohne Ansehen der Person hinein, wie etwa in das Concerthaus der Gebrüder Medding zu den berühmten Musikaufführungen des Herrn Bilse. Hier sagt der Oberst und Hofmarschall des Königs, Graf v. Perponcher-Sedlnitzki erst: „Viele sind berufen, aber Wenige auserwählet.“ Dieser wichtige Kronbeamte hat zunächst Sorge zu tragen, daß bei derartigen Festlichkeiten an der auf’s Minutiöseste vorgeschriebenen Hofetiquette keines Sonnenstäubchens Gewicht verloren gehe. Zunächst erhält der Herr Marschall die Liste der zur „Cour“ Geladenen und Befohlenen aus des Königs eigenen Händen. Mit dieser Liste macht sich einer der Hoffouriere auf die Reise, und jedem Auserwählten mündlich mitzutheilen, daß er für den und den Abend bei Hofe erwartet werde. Geladen werden zunächst die Mitglieder der Königsfamilie und die gerade anwesenden Fürstlichkeiten, befohlen sodann die Botschafter verschiedener Großmächte, die Minister, Staatssecretäre, Baron v. Rhaden, Hofrath Borck, Herr v. Hülsen und was sich sonst noch „courfähig“ zu nennen berechtigt ist.
Die Leitung des musikalischen Theiles der Soirée liegt in den Händen des königlichen Obercapellmeisters und Hofpianisten Herrn W. Taubert, und das streng kritische Auge des General-Intendanten der königlichen Schauspiele schwebt beobachtend und ordnend über dem Ganzen. Zur Ausführung des gesanglichen Theils werden natürlich die ersten Opernkräfte, soweit sie disponibel und disponirt sind, von Seiner Majestät befohlen. Es entfalten bei Hofe ihre Talente am häufigsten: Frau Harriers-Wippern, Frau Mallinger, Frau von Voggenhuber und Frau Lucca. Von den Herren der Kunst gehen durch das goldene Palastthor: Albert Niemann, Womorsky, Betz und Tenorist Krüger, auch genannt „Heinrich der Dicke“. Das recitirende und declamirende Element ist ebenfalls bestens vertreten; nur Hermann Hendrich’s markiger und edler Vortrag wird dabei von Vielen schmerzlich vermißt. Zur Belebung des Programms werden dann und wann auch fremde Virtuosen zugelassen. Selbst mittelmäßige Talente haben bei solchen Soiréen nichts zu fürchten, denn Zeichen des Mißfallens dürfen nicht laut werden, und Gustav Engel, zur Zeit der gefürchtetste Musikkritiker der Kaiserstadt, wird zu Hoffesten als Recensent nicht „befohlen“. Das Concert beginnt präcis zehn Uhr. Erst kommen einige introducirende Tonstücke zum Vortrag, dann lassen sich die übrigen Künstler in programmatisch vorgeschriebener Reihenfolge hören. Den Glanzpunkt bei solchen Soiréen bildete zur Zeit, als dieser Artikel entstand, gewöhnlich Frau Lucca. Mit der mußte man aber, und muß man auch heute noch subtil umgehen, denn ihr Kehlkopf war und ist, außer der Gastspielzeit, äußerst empfindlich, und den „Mandelschneider von Tübingen“ möchte sie doch wohl nur im äußersten Falle zum zweiten Male consultiren. Unser heutiges Bild ist nach einer zu diesem Zweck aufgenommenen Photographie hergestellt, also – wie wir zur Beruhigung unserer Leserinnen hervorheben wollen – bis in das kleinste Detail wahrheitsgetreu.
Frau Lucca bewahrt übrigens auch in der schwächlichen Naturen sonst bekanntlich sehr gefährlichen Hofluft ihr originelles Wesen und hat dies wiederholt bewiesen. So nahte ihr einmal der Hofmarschall mit der Mittheilung, daß der König ihr Erscheinen bei Allerhöchstihm befohlen habe. Seiner Majestät Kammersängerin erwiderte mit schalkhaftem Lächeln: „Herren kommen eigentlich zu mir.“ Der König, der in der Nähe stand und diese Worte hörte, lachte herzlich, ging zur Lucca und machte ihr ein recht artiges Compliment.
Frau Lucca singt verschiedene ihr vorgeschriebene Lieblingsnummern des Königs und der Königin, nur nichts von Richard Wagner. Ein Paragraph in ihrem Contract entbindet die Sängerin ausdrücklich von jeder Mitwirkung in Opern von Wagner, und wie tief bei ihr die Abneigung gegen die „Zukunftsmusik“ gewurzelt ist, hat sie bei gegebener Gelegenheit schon auf das Nachdrücklichste gezeigt.
Der äußere Verlauf der Soiréen ist immer der gleiche. Punkt
[81][82] elf Uhr ist das Concert zu Ende. Wir haben schon bemerkt, daß bei solchen Hofconcerten keine Zeichen des Mißfallens laut werden dürfen, ebenso muß aber auch der Beifall sich stumm verhalten, nur die Königin läßt mitunter ein halblautes „Charmant!“ oder „Magnifique!“ ertönen. Nach dem Concertschluß werden die Sängerinnen durch den Hofmarschall einzeln vor die fürstlichen Damen geführt, wo sie den vorschriftsmäßigen Soiréeknix zu machen und für ihren Gesang die von der Hofetiquette vorgeschriebenen Lobsprüche einzuheimsen haben.
Nach dem Schlusse des musikalischen Programms öffnet sich eine Gardine im Hintergrunde des Saales, eine kleine Bühne wird sichtbar und die französische Komödie nimmt ihren Anfang, Punkt zwölf Uhr meldet der Hofmarschall, daß das Souper im Speisesaal angerichtet sei. Der König bezeichnet nunmehr dem Hofmarschall um zwölf Uhr erst jeden Einzelnen, der zur Tafel „befohlen“ werden soll. Diejenigen, an denen Graf Perponcher, ohne sie einzuladen, vorüber geht, schleichen sich, wie Petrus, nachdem der Hahn zum dritten Mal gekrähet hatte, hinaus, nicht aber, um bitterlich zu weinen, sondern gewöhnlich, um bei Carl Heller, Restaurant erster Classe, à Couvert einen Friedrichsdor, ziemlich mittelmäßig zu soupiren. Die Hofetiquette wirft übrigens wunderbare Blasen. So wird z. B. zum Singen „Frau Lucca“, nach Beendigung des Concerts und der Theatervorstellung jedoch „Frau Baronin von Rhaden“ zur Tafel „befohlen“. Gegen ein Uhr entfernen sich die Majestäten. Bald darauf deckt tiefes Dunkel die goldenen Räume und die „weiße Frau“, das bekannte Schloßgespenst, kann ungestört und unbelauscht ihren Umgang durch die Gemächer halten.