Im Wandel der Zeiten

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Autor: Friedrich Gustav Adolf Weiß
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Titel: Im Wandel der Zeiten
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aus: Die Gartenlaube, Heft 20, S. 330–332
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Im Wandel der Zeiten.

Von F. G. Ad. Weiß.

Es ist eine stimmungsvolle Wildnis. Entlang dem vielzerrissenen Ufer eines träge dahinfließenden breiten Gewässers, an dessen Saume hohes Schilf seine grünen Fähnchen im Lufthauche beben läßt, zieht sich im majestätischen Gründüster ein Urwald. Nur spärlich rinnen gleich Goldtropfen einzelne Sonnenstrahlen durch die ein einziges riesiges Gewölbe bildenden Wipfel in das Gewirr der Farrenwedel und saftigen Staudengewächse. Um tote Baumriesen, die der Sturm niedergebrochen hat und über die das Moos seine verfilzte Decke zieht, prangen blaue Glockenblumen auf schwanken Stengeln und duften die weißen Blütensterne der Erdbeere. Die Hochfluten haben tiefe Schluchten weit hinein in den Wald gerissen. Schwarze Wassertümpel, an deren Ufer es in allen Farben blüht, erfüllen die tiefsten Stellen. Auf dem Rande dieser Schluchten im feuchten, geheimnisvollen Dunkel breiten sich seltsam gestaltete Eibenbüsche, welche schwarzgrün schimmernde Aeste gleich Armen nach allen Seiten hin strecken. Allerlei Vogellaute erfüllen die Waldeinsamkeit mit Leben. Zuweilen knistert’s im Unterholz. Ein Reh äugt durch das Gesträuch, ein Hirsch zeigt sein stolzes Geweih, ein Eber wühlt grunzend im Moose nach Eicheln.

Auch drüben über dem Gewässer tritt Laubwald hart ans Ufer, so daß der Fluß, wenn ihn nicht die rotgoldnen Lichter der Morgensonne und die Purpurgluten der Abendsonne küssen, in tiefgrünem Dämmerlicht hinfließt, aus dem die mitten im Wasser auf breiten Blättern schaukelnden gelben Nixblumen träumerisch emporblicken.

Wir verfolgen das einsame Gewässer aufwärts. Da zeigt es sich, daß der Wald des anderen Ufers nur einen schmalen Werder bedeckt, der von den Nebenarmen eines großen Stromes umspült wird. Bei einer Windung des Ufers taucht er auf in seiner ganzen, im Sonnenschein glitzernden und funkelnden majestätischen Breite, der waldgesäumte Oderstrom.

Gleichzeitig grüßt von einer zweiten ihm vorliegenden Insel endlich eine menschliche Ansiedelung. Dicht am Ufer im Schatten von Holzapfelbäumen steht eine Reihe armseliger mit Schilfrohr gedeckter Lehmhütten. Nur flache, spärliche Furchen zeigen Spuren einer kümmerlichen Bebauung des Bodens. Aber aufgespannte Netze und aufgehängte Angelschnüre und im Uferschilf schaukelnde Einbäume verraten den eigentlichen Beruf dieser Anwohner. Es sind schwarzäugige, dunkelhaarige, sehnige Gestalten von slavischem Stamm. Kunstlos ist ihre aus Fellen hergestellte Bekleidung, scheu ihr Wesen. Sie kennen noch keine Oberherren. Auf geweihten Waldwiesen opfern sie dem lichten Belibog und dem bösen Cernibog. Sie wissen nicht mehr, wann ihre Vorväter in diese Einöde kamen, und noch namenlos ist ihre Heimstätte.




Es sind Jahrhunderte dahingegangen. Anno 1100. Das Uferwaldbild hat sich verändert. Zwar wiegen sich die Goldkelche der Nixblumen noch immer im kosenden Hauche und fröhliches Vogelgezwitscher schallt aus dem Walde des Werders. Aber diesseits am rechten Ufer des Stromgebietes haben Ansiedler den Urwald ausgerodet und einen Damm gegen die Hochfluten aufgeworfen. Wo ehemals stille Lagunen tief in den Wald reichten und moosbärtige Baumgreise ihre Wurzelstöcke ausspreiteten, zeigt sich eine Reihe rohrgedeckter Lehm- und Holzhütten im Schatten dunkelbelaubter Apfelbäume. Auf den Feldern dahinter gedeiht goldne Gerste, grauer Roggen und blaßrötliches Heidekorn. Wo einst das Geheimnis des Urwaldes herrschte, regt sich und bewegt sich, schafft und klopft, plaudert und lacht warmblütiges Menschenleben. Freilich macht sich im grellen Sonnenschein der ganze ungewaschene und ungekämmte Naturalismus des altslavischen Dorfes breit, in dessen Staube nackte Kinder jauchzend im Spiele sich mit den Ferkeln wälzen. Aber ein Hauch von Kultur ist doch schon über das Völkchen hingegangen.

Am obern Ende des Dorfes leuchtet inmitten eines von Weißdorn umhegten Friedhofes, vor welchem ein kunstloses Cruzifix steht, eine weißgetünchte Kapelle mit spitzem roten Dache … Aber bei alt und jung steht es doch fest, daß der böse Cernibog zuweilen nachts auf pechschwarzem Rosse durch die Fluren jagt, besonders im Winter, wo man die Hütten verrammeln muß, weil die Wölfe in ganzen Rudeln heulend das Dorf belagern, so daß vor Angst die Kinder weinen und das Rindvieh brüllt.

[331] Am untern Ende des Dorfes, wo man die Stromarme überblickt, liegt eine Schenke. Schon längst nimmt ein lebhafter Handelsverkehr von Süden nach Norden gerade hier seinen Weg über den Strom, wo die Inseln sein Ueberschreiten erleichtern. Seit einiger Zeit ist vom linken bis zum rechten Ufer eben mit Benutzung der Strominseln ein langer Brückenzug aus mächtigen Balken gefügt worden. Es ist nun gar nichts Seltenes, daß eine Tafelrunde von hochgewachsenen, kühnblickenden Blondbärten aus Deutschland am rohgezimmerten Tische unter der alten, noch vom Urwalde übrig gebliebenen Eibe um den Metkrug sitzt, während die entbürdeten Rosse auf dem Anger grasen oder mit den Troßknechten vor der Dorfschmiede halten. Dieser grauhaarige Schmied mit dem rotblond schimmernden Barte war der erste Deutsche, der sich hier bei den dunkelhaarigen Slaven ansiedelte. Er ist der einzige freie Mann des Dorfes. Alle andern sind Hörige, seit sich das große Polenreich über das Land erstreckt.

Volles Glockengeläute klingt über den Werder. Eine Prozession von Kähnen, besetzt mit den zur Kirchfahrt buntgeschmückten Bewohnern des Uferdorfes, bewegt sich den Flußarm aufwärts nach der jenseits gelegenen Insel … Welch anderes Bild gegen einst! Auf einer Landzunge ragt eine gemauerte Feste, flankiert von vierschrötigen Türmen und umgeben von einer roh geschichteten Mauer. Hier residiert mit seinem Burggesinde und seinem reisigen Gefolge ein Statthalter des Herrschers. Einen Bogenschuß entfernt, am anderen Ende des ansehnlichen Inselfleckens erhebt sich eine langgestreckte Basilika auf gemauertem Unterbau mit einem schlanken Glockenturme. Gegenüber wohnt im stattlichen, weitläufigen Gehöft der Bischof. Es herrscht ein buntes Leben auf der Insel, und der Burgflecken, der einen slavischen Namen trägt, aus dem später „Breslau“ wurde, gilt bereits als einer der wichtigsten Plätze des weiten polnischen Reiches.




Ein Vierteljahrtausend später … Die polnischen Herrscher gebieten schon längst nicht mehr über das Land, welches nun einen Teil des Hausstaates der Luxemburger bildet. Es ist in der letzten Zeit des klugen Kaisers Karl IV. Man nennt sie in seinen Landen die „goldne“. Von den früheren Hütten unseres Uferdorfes ist keine Spur mehr vorhanden, und das slavische Völkchen, das in ihnen leichtherzig in den Tag lebte, ist wie vom Winde verweht … Längs des erhöhten Dammes sieht man in dichterer Reihe als einst stattliche, mit Schindeln gedeckte Fachwerkgehöfte von deutscher Bauart. Nirgends fehlt das Wurz- und Kräutergärtlein, und hinter den Hofraiten gedeiht edles Obst.

Weithin ins Land dehnt sich die Flur. Da leuchten die saftig grünen Krautäcker, da wallt silbern das Korn, da glänzt der goldne Weizen, da duftet der Hanf und auf den Rainen weidet breitstirniges Rindvieh. Der tief in die Scholle greifende deutsche Eisenpflug entlockt dem Boden strotzende Fülle. Der in weite Ferne zurückgedrängte Wald hat nur einzelne Büsche an sickernden Gräben im Felde zurückgelassen. Schon seit einigen Menschenaltern sind hier die Deutschen seßhaft. Sie eroberten das ganze Land – aber nicht mit dem Schwerte – sondern mit Beil und Pflug, Hammer und Kelle. Es ist ein Volk von freien Männern. Die hier im Uferdorfe zinsen dem Kloster, welches die Rechts- und Territorialhoheit ausübt, aber freigewählte Schöffen „sitzen das Gericht und finden das Recht“.

Oberhalb des Dorfes steht inmitten des uralten Friedhofes an Stelle der vergessenen Kapelle eine auch schon altersgraue Dorfkirche. Dicht daneben aber breiten sich gleich einer besonderen Ortschaft mit behaglicher Geräumigkeit und in würdevoller Ruhe die zahlreichen und äußerst mannigfaltigen Baulichkeiten eines Prämonstratenserstifts aus. Da ist das Konventhaus mit seinem beschaulich gemütlichen Refektorium. Da ragen die romanischen Rundbogen der alten Klosterkirche mit seltsamem Schnitzwerk an Fenstern und Thüren. Um die Höfe gruppieren sich zwanglos die Wirtschaftsgebäude, das Brauhaus, die Scheuern und Ställe. Das Ganze umgiebt eine hohe Mauer mit Türmen. Wo sie am steilen Rande eines großen Teiches hinstreicht, umwuchert Gesträuch die steinernen Mauerrippen … Das Dorf steht im regsten Verkehr mit den frommen Brüdern und dem zahlreichen Klostergesinde. Man weiß draußen alles, was man drinnen sich lächelnd zuraunt von lebefrohen Mönchen … Aber auf das Kloster läßt man doch nichts kommen. Denn alle Jahre um Johanni giebt’s eine „Heiligtumsfahrt“. Da werden in der Klosterkirche die vielen, vielen wunderkräftigen Reliquien des Stiftes ausgestellt; und es strömen von nah’ und fern Tausende von Gläubigen zu Fuß, zu Wagen und zu Rosse herbei, um Heilung von mancherlei Gebresten, Gewährung von allerlei Gnaden und Sündenvergebung zu erlangen. Die Prozessionen und das Glockengeläute und die Messen nehmen gar kein Ende, und das giebt einen gewaltigen Strom von Gold und allerlei Gaben und Geschenken in die Truhen des Klosters, und im Dorf blüht das Geschäft und die Bewohner des Uferdorfes heimsen eine erste goldne Ernte ein … Am derben Eichentisch unter der uralten Eibe im Garten des stattlichen Kretschams, der auf der Stelle der verschollenen polnischen Schenke steht, wird manch ein Krug weißflockigen Braunbiers geleert bis in die sinkende Nacht hinein, und aus der uralten braven Schmiede schallt der Schlag der Hämmer und stieben lustig die Funken in den Abend heraus.

Der Wald des Werders ist verschwunden und frei schweift der Blick darüber nach der altbesiedelten Dominsel. Auch dort ist das Bild verändert. Von der alten polnischen Burg ist nur ein einsamer unförmlicher Turm geblieben; und wo der Burghof von lautem Treiben wiederhallte, schaut hinter Wildrosenhecken ein braunes gotisches Kirchlein hervor. Dicht daneben ragt eine eben vollendete schön gegliederte Kirche mit kühnen Strebepfeilern und Spitzenbogenfenstern in die Lüfte. … Auf dem Platze der früheren bescheidenen Dombasilika fesselt eine große gotische Kathedrale mit stolzem Portal die Blicke …

Auch flußabwärts welch eine neue Welt! Das jenseitige Ende des alten Brückenzuges verschwindet im Gewirr hochgegiebelter Häuser, das die kleine dem linken Stromufer vorliegende einst öde Sandinsel bedeckt. Auf den Uferrand des Eilands hat sich ein massiges Klosterstift mit seinen Gehöften hingelagert, und daneben ragt, die steinernen Fundamente fast in die rauschenden Wellen des Stromes tauchend, majestätisch in blinkender Neuheit, noch von Gerüsten umsponnen, die stolze Stiftskirche.

Am linken Stromufer, aber weit landeinwärts, erstreckt sich ein mächtiges Handelsemporium. Da, wo vor kaum 200 Jahren nur finstrer Wald, einsames Sumpf- und Moorland den wandernden Kaufmann begleiteten, braust und brandet, hämmert und hastet heute das kraftstrotzende, schaffensfrohe Leben einer deutschen Handelsstadt. Frei wie nur irgend eine der freien Städte „draußen“ im Reiche, blühen unter der Herrschaft staatskluger Konsuln aus reichen Patriziersippen Handel und Gewerbe in nie geträumter Fülle. Noch kürzlich hat Kaiser Karl innerhalb ihrer Mauern glänzend Hof gehalten und Fürsten und Abgesandte aus dem Osten und Westen um sich versammelt …




Abermals ist ein Vierteljahrtausend über das Dorf dahingegangen. Wir schreiben 1620. Nun liegt es schon nicht mehr einsam draußen im Freien. Von Westen her ist längs des rechten Stromufers allmählich – man merkte es kaum, wie in langen Zeiträumen ein Gehöft ans andere sich fügte – eine dorfartige Vorstadt herangekrochen, immer näher, bis sie ans äußerste Gehöft des Uferdorfes stieß.

Auch an seinem östlichen Ende hat es eine gewaltige Umwälzung gegeben. Vergeblich sucht der Blick das mächtige getürmte Mauergeviert des stolzen Prämonstratenserstifts. Die Stätte ist öde und leer, von Gestrüpp und Gras und bunten Wiesenblumen überwuchert. Nur am steilen Ufer des schimmernden Teiches erinnern noch einige geborstene Mauerreste, über welche die Hagebuttensträucher kletteru, an die geschwundene Stiftsherrlichkeit. Es sind bald an die hundert Jahre her, daß die Städter auf Befehl des mächtigen Rates der Stadt drüben mit Aexten und Schaufeln, Hebeln und Hämmern in hellen Haufen heranrückten, um Hals über Kopf das altehrwürdige Stift niederzureißen. Es drohte nämlich damals der Großtürke ins Land zu fallen, und man fürchtete, seine Kriegsvölker möchten sich in dem festen Kloster einnisten.

Mit dem Flußarm geht es zur Neige. Schilf und Meerlinsen dämpfen das Wasser, und die Sonne schlürft es aus, so daß es den gelben Nixblumen nicht mehr behagen will.

Drüben auf der Dominsel ist es recht still geworden. Rührten sich nicht täglich mehrere Male die Glocken, man könnte glauben, alle Leute dort wären eingeschlafen. Der Bischof kommt nur selten her. Die allzunahe ketzerisch gewordne Stadt verleidet’s ihm.

Im Uferdorfe selbst zeigen die Gehöfte noch die alten derb ländlichen Gesichter. Die Bewohner halten, trotzdem sie beinahe Vorstädter sind, zäh an der Väter Weise in Haus, Hof und Feld [332] und machen Mienen, als könnten sie bis ans Ende aller Dinge dieselben bleiben. Wohlhabend sind sie geworden! An Sonn- und Feiertagen treiben sie es arg mit teurem Gewand, schneeigem Linnen, silbernen Knöpfen und Senkeln und Goldhauben. Längst haben sie vergessen, daß ihre Urväter auch einmal als Fremde ins Land gekommen sind. Die uralte Eibe im Garten des Kretschams soll ja gar aus der Heidenzeit stammen. Kann schon sein. Die Bauern trinken und spielen heidenmäßig darunter, daß es ein Graus ist …

Heute aber – es ist ein kalter, windiger Februartag – geht es hoch her drüben in der Stadt. Und sie sind alle, Männer und Jungvolk und vor allem „das Frauenzimmer“, über die Brücken hinübergewandert. Nun summen in der Stadt die Glocken feierlich von allen Türmen. Von den Wällen und Bastionen krachen die Kartaunen und Feldschlangen. Die Wintersonne strahlt. Der von den aufständischen protestantischen Böhmen gekürte König Friedrich von der Pfalz hat unter Jubel seinen Einzug gehalten. Zum erstenmal ist ein neuer Herrscher nicht zum Dome hinüber, sondern zur evangelischen Kirche des Rates gezogen. Der neue König wird in zierlichen lateinischen Versen als „Bringer des Friedens“ begrüßt.

Der Winterabend bricht herein. Ueber der Stadt erscheinen bunte Raketengarben. Aber vom Walde her über den eisfunkelnden Teich und die wüste Klosterstätte rast der Sturm und tutet es unheimlich. „Das ist der wilde Jäger!“ meinen die Alten. „Der Herr behüt’ uns vor einem langen, grausamen Kriege!“




Hundertundsechzig Jahre später. Es herrscht nun wirklich ein Friedrich im Lande, ein Ur-Urenkel jenes unglücklichen „Winterkönigs“. Aber der Zoller ist aus härterem Holze. Sie nennen ihn den „großen König“ und wissen viel von seinen klugen, blauen Stahlaugen zu erzählen … Die Zeiten freilich sind streng und knauserig. Silberne Knöpfe und Goldhauben kennt man bloß noch vom Hörensagen; und man fängt eben erst an, ein wenig aufzuatmen …

Es ist auch gar nicht mehr das richtige Dorf. Viele alte Kräuterfamilien sind fortgezogen; und dafür haben sich allerlei städtische Gewerbetreibende ansässig gemacht. Die Schmiede steht noch auf dem alten Flecke. Die Gassenfront zeigt ein seltsames Gemisch von Dorf- und Vorstadtcharakter. Zwischen Schindel- und Strohdächern heben sich solide rote Ziegeldächer ab. Hier und da lugt sogar im Schatten eines parkartigen Gartens aus blitzblanken Fensteraugen das schlichtnette „Monbijou“ eines reichen Stadtherrn hervor. Zur Linken aber tönt der Viertakt der Dreschflegel, zur Rechten kreischt die Säge und zischt der Hobel. Hier riecht’s nach Zwiebeln und Gurken, dort nach Träbern, und weiterhin streiten Rosen-, Jasmin- und Kaffeeduft miteinander. Während die Gänse auf der ungepflasterten Gasse herumschnattern, klingen aus dem Kaffeegarten die süßen Weisen eines Streichkonzerts, denen ein gewähltes Publikum lauscht: hochfrisierte Bürgerfrauen im Reifrock, würdig steife Herren im blauen Frack und bauschigen Jabot, den Dreispitz über dem wohlgepuderten Zöpfchen … Vom Tanzboden her im alten Kretscham brummt der Baß und quiekt die Klarinette, es geht da sehr hemdsärmelig her, und der alte Dorfschulze jammert über das liederliche Volk.

Auch die Festung ist dem Dorfe hart auf den Leib gerückt. Man sieht von drüben kaum noch Turmspitzen. Auf dem Werder hat man eine gewaltige Bastei mit Wällen und einem steinernen Festungsthor errichtet. Das läßt alles so nüchtern und beklemmend erscheinen. Der alte Flußarm hat sich in seinen hohen Jahren zum langweilig stagnierenden Wallgraben müssen einzirkeln lassen. Den langen lieben Tag hört man Trommeln und Hornsignale, manchmal auch das Geheul der Spießrutenläufer. Da ist es noch gut, daß man diesseits weiße Blütenpracht oder sattes Sommergrün der Wipfel in den großen Gärten genießen und im weltentlegenen häuserlosen Gäßchen hinterm Kretscham zwischen Weißdornhecken dem Flöten der Amseln lauschen kann … Am Ende des Dorfes träumt noch wie sonst der Wasserspiegel des Teiches. In dem angeblich grundlosen Gewässer ist ja – so sagen die Leute – einmal ein Kloster versunken, weil die Mönche gar so sündhaft waren. Um Mitternacht kann man zuweilen den gespenstischen Abt mit seinem Jagdwagen rund um den Teich herum rasseln hören …




Die Zeit schlägt ein rascheres Tempo ein. Kaum sechzig Jahre sind verflossen – wir schreiben 1840 und wieder hat sich das Bild gänzlich verändert. Schon längst ist die drohende Bastei samt den nüchternen Wällen verschwunden. Die Jugend hat nichts mehr davon gesehen. An Stelle der Festungswerke breiten sich behaglich schattige Gartengründe aus, durchschnitten von stillen Zaungäßchen. … Im Sonnenlicht schwimmen die altersbraunen Kirchen und Prälatenhäuser des Domviertels. Anmutig heben sich die Silhouetten der Türme und Hochbauten der Stadt vom Horizont ab.

Der Wallgraben ist mit den Schutt- und Erdmassen der gesunkenen Werke ausgefüllt. Die Thalmulde überkleidet ein Wiesenteppich und nur in der tiefsten Rinne sickert es im Dunkel überhängender Gesträuche – der Rest des Flußarmes, der einst gelbflockige Fluten wälzte. Gleichem Geschick sind die Flußarme jenseit des ehemaligen Werders und am Dome verfallen. Aus beiden Inseln ward „Festland“. Auch das Schicksal des Dorfes am Damme ist längst besiegelt. Eines Tages hat der letzte Dorfschulze die Schöffenbücher auf dem Rathaus abgeliefert. … Auf dem zu einer Promenade umgewandelten ehemaligen Damme wandelt man im Schatten einer Doppelreihe von Platanen, Kastanien und Ulmen und genießt einen köstlichen Ausblick auf Stadt und Flur. Ein Hauch frischen Werdens webt über dem Ganzen.

Noch herrscht hier abseits vom Lärm der Stadt der Frieden der Gartenidylle. Die Bewohner bilden auch jetzt noch eine Welt für sich und haben Berührungspunkte mit der alten Zeit. Da steht noch die alte Schmiede, dort der Kretscham mit seinem Tanzboden. Noch immer grünt die tausendjährige Eibe. Im häuserlosen Gäßchen wandelt man wie einst zwischen Weißdornhecken. Hinterm Friedhof mit dem bemoosten Kirchlein blinkt golden ein Weizenfeld. Am Ende des Dammes schimmert unverändert der Spiegel des großen Teiches geheimnisvoll empor … und auch der gespenstige Abt treibt noch sein Wesen. …




Gegenwart! Lange hat sich die freundliche Gartenidylle gegen die Umstrickung durch das Großstadtungeheuer gewehrt. Da brach das Baubedürfnis der Zeit auch in diese Oase ein … und in Schutt sanken die stillen freundlichen Häuschen, zerstört oder zerstückt wurden die großen lauschigen Gärten. Auf dem Grabe dieses Vorstadtfriedens prunkt protzig eine ununterbrochene Front vierstöckiger Mietskasernen mit angegipstem Renaissancefirlefanz, einander gleichend wie Erzeugnisse einer fabrikmäßigen Architektonik. Da blinken keine freundlichen Fensteraugen mehr aus charakteristischen Häuserphysiognomien, da glotzen sie fünfzigfach gedankenlos aus Dutzendgesichtern. Nur hier und da hat sich ein Rest des alten Gartenzaubers, doch versteckt hinter den Häuserfronten, erhalten.

Verschwunden ist die Schmiede. Im alten Kretscham ist vorläufig, nachdem dort die Fiedeln verstummt sind, eine Volksküche untergebracht. Die uralte Eibe erlag der Axt. Aus dem traulichen Weißdornheckengäßchen machten sie eine Straße, die ein Hospitalbau in zierlicher Gotik eröffnet. Sonst aber stellten sie eine langweilig moderne Zinskaserne an die andere hin mit muffigen Kellerwohnungen unten, Schankstätten und allerlei Läden, den stereotypen ungemütlich nobeln Wohnungen für die „bessern Klassen“ darüber und mit den ungesund engen Mietskäfigen des Proletariats im Hinterhause.

Auch auf dem grünenden Wiesengrabe des alten Flusses reihte sich, als der Monumentalbau einer höheren Schule den Anfang gemacht, ein Hauskoloß an den anderen. Nur ein knappes Restchen ist für gärtnerische Anlagen gerettet worden. Auch die Aussicht nach der Dominsel, nach der Stadt – verbaut, verbaut! Den Bäumen der schattigen Allee ist es nicht mehr geheuer zwischen der Häuserschlucht, durch die unaufhörlich die Wagen der Pferdebahn klingeln und allerlei andere Fuhrwerke rasseln. Vorbei ist’s mit dem alten Frieden. Ausgestorben ist die seßhafte Generation. Man zieht ein, man zieht aus wie anderswo.

Auch das alte bemooste Kirchlein ist verschwunden und der Blick nach dem Friedhof verbaut. Und haben sie nicht auch die öde Stätte des verschollenen Klosters mit Häuserblocks besetzt? Hier hat die Gegenwart sich zu einer poetisch architektonischen That aufgeschwungen, indem sie auf den alten Stiftsfundamenten eine schön und kräftig gegliederte gotische Kirche baute, deren schlanke Türme sich zauberhaft im großen Teiche spiegeln, den noch die Wiese umgrünt. … Doch schon ist seine Zuschüttung im Gange. Und dann? Wird die immer weiter wachsende Großstadt auch den Rest der grünen Flur mit ihren Mietskasernenstraßen überdecken, oder wird man dem neuerwachten Verlangen nach behaglichem Wohnen und der Poesie des Eigenheims mit freundlicheren Schöpfungen der Baukunst entgegen kommen? Hoffen dürfen wir’s, denn gerade in dieser Richtung bewegt sich jetzt – der Wandel der Zeiten.