Irrlicht
[688] Irrlicht. (Zu unserer Kunstbeilage.) Wie die gespenstische Erscheinung des Irrlichts bald unruhig hin und her über dem moorigen Boden seines Ursprungs hüpft, bald wie festgewurzelt an eine Stelle gebannt oder langsam in bestimmter Richtung über das grüne Sumpfwasser hinschwebend angetroffen wird, so hat auch die Sage seiner menschlichen Verkörperung sehr verschiedenartige Gestalt gegeben. Von dem Aberglauben, daß die Irrlichter böse Geister seien, welche verführerische Gestalt annehmen, um den Wanderer von der Straße ab in den Sumpf zu locken, wo er ihnen nachstrebend elend untergeht und ihrer Macht verfällt, ist grundverschieden der andere, welcher in den Irrlichtern die Seelen ungetaufter Kinder erblickt. Wieder eine andere Auffassung sieht in den rätselhaften Lichterscheinungen, deren mutmaßliche Erklärung darin besteht, daß sich die den Fäulnisstoffen der Moräste entströmenden Gase an der Luft selbst entzünden, die abgeschiedenen Seelen solcher, die keines natürlichen Todes starben. Eine solche arme Seele ist auch der Gegenstand der poetischen Vision, welche unsere diesmalige Kunstbeilage darstellt. Ein tiefer Gram lastet auf den Zügen des schönen bleichen Mädchens, das, die Hände reuevoll über der Brust gekreuzt, die Augen starr ins Weite gerichtet, über den dunklen Weiher stumm und langsam dahinschwebt. Ein ähnliches Bild hat Goethe gezeichnet, als er im „Faust“ in der Walpurgisnacht auf dem Blocksberg den Geist Gretchens vor das Auge des mit den Hexen tanzenden Faust heraufbeschwor: „Sie schiebt sich langsam nur vom Ort, sie scheint mit geschlossenen Füßen zu gehen.“ Ein Zauberbild, von dem Mephistopheles sagt: „Ihm zu begegnen ist nicht gut; vom starren Blick erstarrt des Menschen Blut.“