Jagdleben im Herbste

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Autor: Ludwig Ganghofer
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Titel: Jagdleben im Herbste
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aus: Die Gartenlaube, Heft 43, S. 714–716
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1897
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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[714]
Jagdleben im Herbste.[1]
Von Ludwig Ganghofer.

Ein Herbsttag im sterbenden Wald! Da liegt es wie zitternder Feuerschein über allen Wipfeln in der Luft, über das falbe Grün des moosigen Grundes webt die Sonne eine wundersame Mosaik von goldigen Lichtern und zuckenden Schatten; wo sie ihren Weg durch das gelbe und rote Laub der welkenden Buchen und Ahornbäume nimmt, scheinen alle Zweige in hellem Brand zu stehen, und wenn von den Bäumen, durch die ein seufzendes Rauschen gleich dem schweren Atmen eines Sterbenden geht, zuweilen ein welkes Blatt gemächlich zur Erde niederflattert, so ist das anzusehen, als hätte sich von den brennenden Zweigen ein Flämmlein losgelöst, um auf den seidendünnen Fäden zu tanzen, welche blitzend und gleißend durch den ganzen Wald gesponnen sind. Die kleinen Vögel huschen mit erregtem Gezwitscher durch die Wipfel, als galt’ es ein hastiges Abschiednehmen oder ein Sammeln für die kommende Zeit der Not, Käfer schwirren auf und surren wieder hinab in das Versteck der gefallenen Blätter, und zahllose Ameisen, krabbeln in emsiger Eile über alle Stöcke und Steine, als wüßten sie, daß sie den schönen Tag mit doppeltem Fleiß zu nützen haben, da schon der nächste Morgen den Winter bringen kann.

Und sinkt nach solchem Tag die Sonne – welch’ wundersamen Zauber bringt dann der Abend mit der bunten Dämmerung, mit der sanft verschwimmenden Glut all dieser Farben, mit der lautlosen Schlummerstille des todmüden Waldes! Und steht der neue Tag wieder auf, so sind alle Farben noch mehr gebrochen, noch milder getönt, und über allen Zweigen und Gräsern schimmert mit Perlenglanz der weiße Reif, der in der kalten Nacht gefallen.

Der Wald kann nie schöner sein als in solcher Zeit! Oder urteilt nur so der Jäger in mir – weil der sterbende Wald auch dem Weidmann gesteigerte Freuden bietet, weil die Zeit des Herbstes die lärmende, lustige Hochsaison des Weidwerks ist?

Wie im Frühlinge das Jägerjahr eröffnet wird durch die von jedem Weidmann heiß ersehnte Heimkehr der Schnepfe, so eröffnet die Südlandsreise des Langschnabels und seiner jungen Brut das fröhliche Jagdgetriebe des Herbstes. Die Freude, die ein Jäger an der Buschierjagd auf Schnepfen findet, ist eine Probe für seine weidmännische Tüchtigkeit und Ausdauer. Vom Morgen bis zum Abend durch wirr verwachsene Gräben auf und nieder zu klettern, sich unermüdlich durch Dorngestrüpp und stachliche Brombeerstauden zu winden, den gutgeschulten Hund mit erfahrenem Geschick zu führen und bei all dieser Mühe immer bereit sein für den schwierigen Schuß – das ist nicht die Sache des Sonntagsjägers, der von der Buschierjagd auf Schnepfen zu reden pflegt wie das Füchslein von den sauren Trauben. Schon auf dem Abendanstand verlangt der Schuß auf die hastig und lautlos ziehende Herbstschnepfe einen geübten Schützen. Aber ein firmer Meister in der Handhabung seiner Waffe muß der Jäger sein, der gute Schußerfolge beim Buschieren erzielen will, mitten in zäher Dickung, deren Gezweig den Ausblick verschleiert und jede Bewegung stört. Wohl kündet die von der feinen Nase des Hundes aufgestöberte Schnepfe ihre Flucht durch lautes „Wuchteln“ an, aber klug jede Deckung benutzend, huscht sie mit flinkem Zickzack und niedrigen Fluges davon. Da gilt es, schnell wie der Blitz das Feuer zu werfen. Ein Augenblick in ratlosem Zögern – und wo ist die Schnepfe? Verschwunden auf Nimmerwiedersehen!

Die Schwierigkeit solch eines Schusses macht auch das Erlegen einer Schnepfe zu einer Pikanterie der herbstlichen Treibjagden. Wenn da im Bogen das „Tiro, tiro!“ der Treiber erschallt, zuckt auf den Ständen heiße Erregung durch alle Jägerherzen, jede Hand schließt sich energisch und die Flinte, und aller Augen suchen in den Lüften. Holt einer den Langschnabel glücklich herunter, so fühlt er sich den ganzen Tag als Heros der gesamten Jagdgesellschaft – fehlt er aber die Schnepfe, so möchte er vor all den schadenfrohen Blicken, die ihn von der Seite messen, in seines Nichts durchbohrendem Gefühl am liebsten in den Waldboden versinken.

Eine ähnliche Rolle – himmelhoch jauchzend oder zum Tode betrübt – spielt der Jäger, der auf der Treibjagd einen Fuchs zur Strecke brachte oder den roten Schleicher „ungekränkt“ passieren ließ. Das letztere ist nun allerdings ein weidmännisches Kapitalverbrechen, das die Verachtung, mit der es bestraft wird, vollauf verdient. Deshalb wird der Verbrecher auch immer zum verstockten Leugner. Ein Fuchs wird im Treiben nie gefehlt – er ist immer „angeschossen“, und darauf schwört der verdächtige Schütze die heiligsten Eide. „Ganz unbegreiflich, daß er nicht liegen blieb! Er roulierte im Feuer wie ein Hase! Aber na, seinen Treff hat er, die Bestie muß eingehen!“ Das ist so das Schema für die übliche Ausrede. Und es ist wie ein Schicksal, der Fuchs, der schon beim ersten Laut der Treiber rege wird und pfeilschnell das Weite sucht oder sich vorsichtig drückt bis zum letzten Augenblick vor dem Schluß des Treibens, weiß im Bogen mit Sicherheit immer jenen Stand zu finden, auf dem ein grüner Neuling im Weidwerk just mit der Cognakflasche oder mit seinem knurrenden Hund beschäftigt ist.

Um bei den herbstlichen Treibjagden das pikante Kleeblatt voll zu machen, gesellt sich zu Fuchs und Schnepfe noch der Rehbock, der sein Gehörn schon abgeworfen hat. An seiner Stelle muß gar häufig eine arme, brave „Mutter“ ihr Leben lassen, die nach „Sprung und Gestalt“ von einem unglückseligen Schützen als Bock „angesprochen“ wurde. Gegen solche „Versehen“ hilft leider kein Jagdgesetz und kein Pönale – dagegen hilft einzig und allein nur die echt weidmännische Bestimmung, daß beim Treiben auf den Rehbock, der sein Gehörn schon abgeworfen hat, nicht mehr geschossen wird.

Ein Treiben in gut besetztem Revier bietet ja, auch wenn der Rehbock geschont wird, noch jagdliche Freuden in Hülle und Fülle. Ein Häslein um das andere huscht mit flinkem Lauf über die Schneuse – hole die Ausreißer ein mit noch flinkerem Feuer! Ein Kaninchen saust vorüber wie eine graue Pelzkugel, die ins Fliegen kam – und da gilt's einen blitzschnellen Schuß oder die Schrote kommen zu kurz. Ein „Bouquet“ Fasanen rauscht aus dem Dickicht auf und flattert nach allen Seiten auseinander – doch bevor sie sich noch aufgeschwungen haben über die Wipfel, stürzen im Feuer zwei prächtige Hähne, umwirbelt von stäubenden Federn. Und ist dir die grüne Göttin besonders günstig, so führt sie einen schleichenden Marder zu deinem Stand, einen wackelnden Dachs oder einen verstrichenen Birkhahn. Stehst du aber gerade in Ungnade bei Hubertus, dann kannst du freilich auch im besten Revier vom Morgen bis zum Abend ein Treiben um das andere mit ablaufen, ohne eine einzige Patrone los zu werden. Aber laß dir durch solches „Pech“ das frohe Jägerherz nicht betrüben!

Der Stolz, eine stattliche Strecke erzielt zu haben, ist ja nicht die einzige Freude, die das fröhliche Leben einer Treibjagd bietet. Welche Erquickung ist nach den dumpfen Stubentagen der Stadt dieses Wandern im herbstlich schönen Wald, das Atmen in seiner frischen, gesunden, alle Glieder stählenden Luft! Dazu noch all der reiche Humor des ganzen Tages, vom ersten, lachenden Weidmannsgruß beim Stelldichein bis zum lustigen, mit fliegenden Scherzen gewürzten Jägermahl, das mitten im Walde gehalten wird, zwischen den letzten Blättern des Herbstes und dem ersten Schnee des Winters! Und welche Summe von Genuß bietet dem rechten Jäger für sich allein schon die Teilnahme an einer Waldjagd, die mit tüchtigem Personal und gut geschulten Treibern in streng weidmännischer Weise geführt wird und in musterhafter Ordnung wie am Schnürchen verläuft! Kehrst du heim von solcher Jagd, dann drücke zum Abschied dem Jagdherrn, der dich als einen der Auserlesenen gerufen, mit festem Jägerdanke die Hand! „Auf Wiedersehen im nächsten Jahr!“ Wirst du aber in ein Revier geladen, aus dem du von der letzten Treibjagd nach Hause kamst, beinahe taub vom Mark und Bein durchdringenden Geschrei der Treiber, mit einem halb Dutzend Schroten in den Ledergamaschen, die dein Nachbarschütze für [715] einen „Fuchs oder Fasan“ angesprochen – dann setze dich flink zum Schreibtisch und erwidere die Einladung mit den höflichen Worten: „Sehr geehrter Herr! Ich danke Ihnen herzlich, daß Sie wieder an mich gedacht haben! Die Aussicht, in Ihrem schönen Revier die mannigfachen Freuden einer Treibjagd mit genießen zu können, hat unendlich viel Verlockendes für mich! Doch leider, leider verhindern mich ernste Berufsgeschäfte, Ihrer liebenswürdigen Einladung Folge zu leisten. Mit Weidmanns heil, Ihr ergebenster N. N. – P. S. In der letzten Nummer der Jagdzeitung fand ich neu erfundene, völlig schrotdichte Gamaschen annonciert. Ich möchte Ihnen raten, mit dieser herrlichen Erfindung einen Versuch zu machen. –“

Während im Wald der Ebene die roten Blätter fallen und bei fröhlichem Jagdgetriebe Schuß um Schuß durch seine bunten Hallen kracht, wird hoch in den Bergen, über deren Gipfel und Almgehänge ein früher Winter schon das weiße Schimmerkleid geworfen, stille und mühsame Jagd gehalten. Wenn zu Ende des Novembers die Flocken in dichter Menge um die Latschenfelder wirbeln, wenn die grimmig kalten Nächte schon alle Bäche zu Eis gerinnen machen und ein schneidender Wind mit Pfeifen um alle Grate und Schroten saust – diese harte Zeit ist im verschobenen Liebeskalender der Natur der „wunderschöne Monat Mai“ des scheuen Krickelwildes. Je kälter da der Bergwind durch die Latschen fährt, um so heißere Gefühle erwachen in dem braven Gemsbock, der die schöne Zeit des Sommers in einsiedlerischem Behagen verbrachte und bei fleißigem Aesen nur der einen Aufgabe lebte, tüchtig Feist unter seine Decke zu bringen. Sein fahles Sommerkleid hat sich in glänzendes Schwarz verwandelt, drall und stattlich ist er anzusehen in der zottigen Fülle seines Winterpelzes, und schon beginnt sich der „Bart“ zum „Wachler“ [2] auszuwachsen und weiß zu bereisen. Da hebt er nun ein ruheloses „Suchen und Wandern“ an, und aus den Latschenfeldern der Klüfte, in deren kühlem und dichtem Versteck er seinen Sommerstand gehalten, steigt er zu den sonnseitigen Almgehängen empor, auf denen die Rudel sich zu sammeln beginnen.

Treibt es der frühe Bergwinter gar zu schlimm, wirft er Schnee über Schnee, und hüllt er durch lange Wochen alle Gipfel in Gewirbel und Nebel, dann freilich wird dem Hochlandsjäger die schöne Zeit der Gemsbrunft, die er das ganze Jahr hindurch mit Sehnsucht erwartet, gründlich verstöbert und verdorben. Wohl scheut er keine Unbill der Witterung, um für seinen Hut den stolzen Schmuck eines „wachsenden Gemsbartes“ zu gewinnen aber bei „grobem Wetter, bei dem der Wind in jeder Minute aus einem anderen Winkel bläst, ist die Jagd auf das scharf „windende Krickelwild“ eine nutzlose Mühe. Gemspirsche, welche Aussicht auf Erfolg verspricht, verlangt blauen Himmel und gleichmäßig ziehenden Wind.

In solch trüber Novemberzeit trat der Hochlandsjäger wohl ein Dutzend Mal des Tages mit heißer Ungeduld vor den Barometer und klopft an die Röhre, ob denn das Quecksilber noch immer nicht steigen will? Endlich eines Morgens atmet er hoffnungsfreudig auf: “Gott sei Lob und Dank, jetzt hat’s a Ruckerl g’macht!“ Gegen Mittag fällt ruhiger Nordostwind ein, Sonnenglanz durchbricht die ziehenden Nebel, und noch ehe der Abend kommt, tauchen die zuckerweißen Berge aus dem steigenden Gewölk hervor. Eine kalte Nacht sinkt über die Thäler, und einzelne Sterne blitzen aus dem dunklen Schleier des Himmels.

Und nun rüste dich, freundlicher Leser, wir wollen aufsteigen zu einer Gamspirsch in den verschneiten Bergen!

Ein paar Stunden, ehe der Morgen graut, sind wir parat zum Abmarsch, nicht allzu warm gekleidet denn das Stapfen und Steigen im frischen Schnee wird uns heißer machen, als uns lieb ist. Einen bescheidenen Imbiß und einen guten Tropfen im Rucksack, den Stutzen und die Patronen, Fernrohr, Wettermantel und Bergstock – mehr brauchen wir nicht. Und jetzt hinaus in die Nacht! Der Himmel ist völlig klar geworden, und mit zitterndem Gefunkel leuchten die tausend Sterne. In schweren Klumpen fällt der Schnee von den Bäumen, deren Wipfel in leichtem Winde sich bewegen.

„Dös Winderl waar net ohne,“ meint der Jäger, der uns begleitet, „fein ziagts abi übern Berg! Heut kunnt's krachen! Und an’ Tag kriag’n m’r … grad’ nobel.“

Schon der halbstündige Weg durch das langsam steigende Waldthal macht die Stirnen gehörig warm. Dann erst das Aufwärtsstapfen über den hochverschneiten Jägersteig! Das geht für ein Dampfbad – und alle paar hundert Schritte verhält man sich eine Minute, um den verlorenen „Schnaufer“ wieder zu finden. Der Wald geht zu Ende und die seilen Latschenfelder beginnen. Allmählich hat sich der Schein der Sterne gedämpft, farbiges Zwielicht gleitet über den Himmel hin, alle Konturen der weißen Berge werden klar und rein, und ein letztes verirrtes Wäldlein löst sich auf in blauem Dunst. Langsam und vorsichtig steigen wir höher jede Blöße zwischen den Felsen und Latschen mit spähenden Blicken musternd … „denn in der Brunft, da fahrt d’r oft a Gamsbock her über’n Weg, du woast net wie!“

Fast haben wir schon den Saum des Almfeldes erreicht, das sich zwischen zerklüfteten Felswänden breit bergan dehnt, schimmernd wie graue Seide. Da brennt es auf dem höchsten der weißen Gipfel auf, gleich einer roten Flamme.

„Sakra! Jetzt dürfen m’r uns aber tummeln … d’ Sunn’ fliegt an!

Sich „tummeln“? Nein! Da heißt es stehen und schauen und staunen! Von einem Gipfel zum anderen fliegt die rote Morgenflamme, tiefer und tiefer brennt sie herunter über Gewänd und Schnee, das ganze Almfeld überhaucht sich mit ros’gem Glanz, sogar die Schatten tauchen sich in zartem Purpur – und über allem der reine Himmel, tief und blau wie ein südliches Meer, und zwischen seinem Plan und dem rosigen Schneeglanz blitzt im Kontrast der Farben die silberweiße Linie des Grates.

„Herrgott! Wie schön ist das!“

Da pfeift es in den Latschen die Büsche rauschen und Schnee stäubt auf.

„Mar’ und Josef!“ zischelt der Jäger. „Richten’ S’ Eahna! A Gamsbock! Und was für Aner!“

Doch ehe die Büchse noch an der Wange ist, fährt der schwarze Gesell, der uns auf lautloser Suche in den Weg geraten, mit sausender Flucht schon durch die Latschen hinunter in den Wald!

„Natürli! D’ Natur antratschen! Dös is ’s Richtige auf der Gamsbrunft! brummt der Jäger. „D’ Sonn’ können S’ alle Tag’ sehn, aber so an Gamsbock net!“ No also, machen wir halt weiter … der is jetzt schon beim Teufel!“

Ein Viertelstündlein steilen Marsches, und ein Hügel des Almfeldes ist erreicht. Gedeckt von einer Latschenstaude, lassen wir uns nieder, obwohl wir bis an die Hüften im Schnee hocken, haben wir doch ein ganz behagliches Weilen, denn kaum merklich zieht der Wind, und die steigende Sonne beginnt sich lind zu fühlen. Während eine gute Cigarre den Aerger des Jägers besänftigt, halten wir mit dem Fernrohr Ausschau nach allen Seiten. Manch ein schwarzes Pünktlein auf dem sonnigen Schnee, das wir mit freiem Auge für eine Gemse halten, entpuppt sich durch das Glas als ein schattiger Felsbrocken oder als ein Latschenstäudlein, das sich aus der Schneedecke hervor drängt. Aber dort oben, wo die beschneiten Schuttfelder steil aufsteigen zu den kahlen Wänden, dort oben bewegen sich ein paar schwarze Punkte. Das Fernrohr wird gerichtet. Ein Rudel – und wir zählen gegen dreißig Stück; brave Mütter mit ihren Kitzen und einige Geltgeißen. Bei genauer Beobachtung zeigt es sich, daß beim Rudel ein dreijähriger Bock steht, der nicht als schießbar anzusprechen ist. Es ist um die Zeit der Sommerhirsche, so würden wir ruhig weiter ziehen und anderswo unser Heil versuchen. Aber jetzt, in der Brunft, da heißt es geduldig ausharren, denn wo ein Rudel steht, wird ein guter Bock nicht lange auf sich warten lassen.

Ruhig sitzen wir im Schnee, der uns nun doch seine Kälte langsam in alle Knochen bohrt. Dazu beginnt der Wind, immer schärfer zu ziehen – die Ohren beginnen zu brennen und die Finger werden steif. Aber die Beobachtung des Rudels kürzt uns die bittere Zeit. Einige der Gemsen ruhen im sonnigen Lager, andere ziehen langsam über den Hang und schlagen mit den Läufen den Schnee von der Erde, um Aesung zu finden. [716] Zwischen den ruhig ziehenden Müttern tummeln sich die Kitzlein umher und treiben ihre munteren Spiele wie ausgelassene Schulkinder, sie jagen sich, versuchen harmlose Kämpfe und machen kleine Schlittenpartien über den steilen Schnee. In dem Dreijährigen erwachen sehnsüchtige Gefühle, und er beginnt bei den Schönen ein nicht gerade schüchternes Werben. Da verhofft er plötzlich, äugt gegen die höheren Wände hinauf und stampft mit den Läufen.

„Passen S’ auf jetzt,“ flüstert der Jäger, „da is der Alte nimmer weit!“

Wir suchen die Wand mit dem Fernrohr ab – und richtig, dort oben steigt er über den Grat herauf, „aber scho’ a höllischer Deufi, stolz und kraftvoll, scharf abgehoben vom blauen Himmel, so daß sich mit dem Glas die hohen Krickeln und die wehenden Zotten des Bartes deutlich erkennen lassen.

„Sakra, sakra,“ meint der Jäger, „den wann S’ kriegen, da können S’ Eahna gratulieren!“

Alle Kälte in Blut und Gliedern ist jäh verflogen und mit heiß erregten Schlägen hämmert das Herz.

Ein paar Minuten äugt der Alte regungslos auf das Rudel nieder, dann plötzlich kommt er über die Wand herabgefahren daß die Steine prasseln. Inzwischen hält sich der Dreijährige eine Weile in scheuer Ferne, dann beginnt er das Rudel in Unruh’ zu umkreisen und schlängelt sich immer näher an dasselbe heran. Aber ein paar zornige Sprünge des Alten jagen ihn wieder in die Flucht. Einsam steht nun der Verscheuchte auf einem Schneegrat. Die Sache scheint ihm nicht zu gefallen Er stampft mit den Läufen, schüttelt die Lauscher, und dann entscheidet er sich für das bessere Teil der Tapferkeit, fährt über den Schneegrat nieder und verschwindet in einem Graben des Almfeldes.

Wir kümmern uns nicht weiter um die Richtung seiner Flucht und lassen den Alten und sein Rudel nicht aus den Augen. Doch jählings pfeift es ein paar Dutzend Schritte neben uns, und als wir aufblicken, steht der Dreijährige zwischen den niederen Latschen. Er scheint von unsrem Anblick ebenso betroffen wie wir von seinem unerwarteten Auftauchen. Einige Minuten währt diese gegenseitige regungslose Musterung, bis ihm der Jäger mit einer scheuchenden Handbewegung zumurmelt: „Geh, du Springerl, fahr’ ab!“ Das läßt sich der Bock nicht zweimal sagen; erschrocken schlägt er um, saust durch die Latschen thalwärts und pfeift noch ein paarmal, da er schon verschwunden ist.

Obwohl die Entfernung zwischen uns und dem Rudel weit über tausend Schritte beträgt, sind doch die Pfiffe des Flüchtlings bis zu ihm hinaufgedrungen. Ein paar Geißen, die sich schon zur Ruhe niedergethan, springen wieder auf, der Alte klettert auf einen Felsblock, und so äugt das ganze Rudel zu uns nieder. Ein Glück, daß uns die Sonne im Rücken steht – ihr blendender Glanz macht den Gemsen ein deutliches Gewahren unmöglich. Dennoch scheinen sie Gefahr zu wittern, denn eine Kitzgeiß beginnt über das Schneefeld empor zu ziehen, als wollte sie in die Felswand einsteigen.

„Auweh zwick! Jetzt is gefeit!“ brummt der Jäger und schließt die Vermutung, daß wir für heute leer nach Hause gehen würden, mit einem derben Fluch.

Seine böse Ahnung scheint sich zu bestätigen, denn langsam zieht das ganze Rudel der führenden Kitzgeiß nach. Gemächlichen Schrittes und zuweilen den schwarzen Pelz schüttelnd, steigt der Alte hinter dem Rudel her, und wir folgen ihm seufzend mit den Blicken. Da jagt er plötzlich über den steilen Schnee hinauf und sprengt die Geißen von der Wand zurück auf den Lahner. Das ganze Rudel steht dicht gedrängt und äugt über das Almfeld hinaus.

„Himmel Saxen!“ zischelt der Jäger in heißem Eifer. „Da schang’S’ ’nüber! Da steigt oaner her über d’ Schneid … und gar koa schlechter net! Sakra, sakra, jetzt geht a G’schäft!“

Richtig, ein guter Bock, schwarz wie Kohle, ist am Saum des Almfeldes erschienen. Er hat das Rudel gewahrt und wollte über den Schnee einher, seinen Weg durch spielende Sprünge kürzend. Dann wieder steht er, wirft auf und schlägt mit den Läufen. Der Alte zieht ihm entgegen, zögernd, als wollte er vorerst mit Bedacht die Kraft des nahenden Gegners prüfen.

„Geben S’ acht, dö packen anander!“ flüstert der Jäger. „Von dene zwoa, da woaß i net, was für oaner der besser’ is … von dene zwoa giebt koaner so leicht net nach!“

In wachsender Erregung sehen wir durch das Fernrohr dem Drama der Eifersucht zu, das sich dort oben auf dem steilen Schneefeld abspielen will. Deutlich gewahren wir durch das Glas, wie der Alte zornig die Oberlippe aufzieht, und trotz der Entfernung glauben wir, seinen blökenden Kampfruf zu vernehmen. Schon sind sich die beiden Gegner bis auf wenige Schritte nahe gekommen. Sie stehen regungslos voreinander, mit gesenkten Krickeln – es scheint, als hätte jeder Respekt vor der Kraft des andern und keiner so recht den Mut, um den unsicheren Kampf zu beginnen. Langsam und neugierig zieht das Rudel näher, und als hätte die Gegenwart seiner Huldinnen die Kampflust des Platzbockes befeuert und seine Eifersucht gesteigert, so rennt er mit kraftvollem Sprung auf seinen Gegner los. Wir hören, wie die Krickeln aneinander schlagen. Aber schon ist der Angreifer mit blitzschnellem Sprung wieder zurückgefahren und steht erwartend. Da holt der Gegner zum Angriff aus, beim Stoß verfangen sich die beiden Kämpen mit den Krickeln, und so zerren sie sich hin und her, daß es sich aussieht wie ein drolliges Spiel, nicht wie ein ernster Kampf. Endlich kommen sie los voneinander, und der Alte retiriert, als wäre ihm schon halb der Mut gesunken. Das befeuert den Rivalen, und mit derben, immer hitziger werdenden Stößen bedrängt er den Platzbock, der sich aufs Parieren verlegt, und dessen Kräfte immer mehr zu erlahmen scheinen. Aber diese scheinbare Schwäche ist nur schlaue Taktik des alten geriebenen Burschen. Als sich der Gegner, der in heißem Ungestüm den Kampf mit einem Gewaltstreich beenden will, auf die Hinterläufe hebt, um mit gesenkten Krickeln den Rivalen am Nacken oder auf dem Rücken zu fassen, fährt ihm der Alte mit wuchtigem Stoß in die Weichen. Der Getroffene überschlägt sich und kugelt über den steilen Hang hinunter, umwirbelt von stäubendem Schnee. Mühsam erhebt er sich, aber da rennt der Alte schon wieder mit wütendem Sprung auf ihn los, und in wilder Jagd sprengt er den Besiegten gegen die Tiefe des Almfeldes.

„Teuifi no’ amal! Jetzt aber g’schwind! Jetzt gilt’s!“

Wir gleiten durch die Latschen hinunter in eine Mulde, und drüben geht’s mit Keuchen wieder hinauf über Schnee und Geröll. Kaum haben wir, noch atemlos, die Höhe des Almgrates erklommen, da saust auch schon mit hängendem Lecker und stöhnend der gesagte Bock an uns vorüber. Einen tiefen Atemzug, den Hahn gespannt und die Büchse an die Wange – jetzt taucht mit rasenden Sprüngen der Sieger vor uns auf, doch bei dem Pfiff des Jägers verhofft der Bock, halb verschleiert vom aufwirbelnden Schnee. Dröhnend hallt der Schuß über das Almfeld hin – im Feuer schlägt der Gemsbock um und verschwindet in einer Mulde. Auf dem jenseitigen Hang erscheint er wieder und flüchtet gegen das Rudel hin – eine zweite Kugel soll ihn einholen, aber da bricht er zusammen und rollt verendet über den Schnee. Ein heller Jauchzer schwingt sich auf in das sonnige Blau, während von den steilen Wänden die Steine niederprasseln, die das flüchtende Rudel löste.

Ein Stündlein später treten wir, der Jäger mit dem geschränkten Bock über den Schultern und der glückliche Schütze mit dem frischen Latschenbruch auf dem Hut, in die einsame und halb verschneite Sennhütte, deren Stube einen öden und unwirtlichen Anblick bietet. Alle Glieder zittern uns vor Kälte und Erschöpfung, die Augen sind rotgerändert und brennen vom blendenden Schneeglanz, den wir durch lange Stunden ausgehalten – aber wir lachen, als kämen wir von lustiger Maifahrt, und mit sprudelndem Eifer wird die ganze Jagd noch einmal durchgeplaudert. An dem Maßstab, der in den Bergstock eingeschnitten ist, wird die Höhe des überaus starken Krickels und die Länge des sorgsam ausgerupften Gemsbartes gemessen – wobei der Jäger mit heiligen Eiden schwört, daß „a sölchener Bock in hundert Jahr’ nimmer g'schossen woard!“

In der Aschengrube wird ein flackerndes Feuer angeschürt, dessen Schein die verwahrlose Almstube freundlich überglänzt. Von der aufsteigenden Hitze des Feuers beginnt auf dem Hüttendach der Schnee zu schmelzen, und die Tropfen fallen und plätschern, als möcht’ es draußen schon Frühling werden. Während wir plaudernd rings um das Feuer sitzen, die starren Glieder wärmen und uns so recht von Herzen wohlig fühlen, meint der Jäger: „Gelten S', so a gut's Fuierl geht für a halbe Mahlzeit?“ Er schmunzelt. „Und wär’ a lieb's Madl dabei, so ging's für a ganze!“

  1. Wir entnehmen den stimmungsvollen Artikel dem neuesten Werke unseres hochgeschätzten Mitarbeiters, das unter dem Titel „Das deutsche Jägerbuch" demnächst im Verlage der „Union Deutsche Verlagsgesellschaft" in Stuttgart erscheinen wird. Geschmückt mit 158 Illustrationen nach Originalzeichnungen von C. W. Allers und 12 Monatsbildern in farbigem Kunstdruck nach Originalen von H. Engl, wird dieses Prachtwerk bei allen Freunden der Jagd und des deutschen Waldes mit seinem reichen Tierleben sicher die freudigste Aufnahme finden.
    D. Red.
  2. Der von Hochlandsjägern als Hutschmuck getragene „Gamsbart“ besteht aus den langen Haaren, welche der Gemsbock im Winterkleid an dem Rücken trügt, sie sind glänzend schwarz und zeigen eine weiße Spitze, den „Reis“, bei alten Böcken und im strengen Winter ragen diese Barthaare so hoch über den Pelz hinaus, daß ihre Büschel im Winde hin und her wehen – sie „wacheln“, wie es im Dialekte heißt. Unter einem „Wachler“ versteht man also einen Gemsbart, der zu Ende der Brunft und bei Erlegung eines besonders starken Bockes gewonnen wurde.