Kaltern
[708] Kaltern. (Zu dem Bilde S. 693.) Wenn man in dem von Gebirgen rings umgebenen Bozen den Blick nach der blauen Mendel richtet und ermißt, wie diese luftige Höhe zu erreichen wäre, so fällt eine langgestreckte Bergmasse in die Augen, die wie ein Fußschemel zur Erleichterung des Aufstiegs davor hingelagert scheint. Das ist der „Mittelberg“, das „Ueberetsch“, ein altberühmter Strich Landes, reben- und burgenreich wie nur eines der gepriesenen Schaustücke an den Ufern des Rheins. Nach der Etsch schroff, zum Teil in senkrechten Felsen abfallend, mit Wald bekrönt, läßt der gewaltige Block vom Thal aus nicht ahnen, daß sich in seinem Sattel ein üppiges Gefilde ausbreitet, eine uralte Stätte der Weinkultur, mit stadtähnlichen Flecken, zahllosen Schlössern, Burgen, Kirchen und Kapellen, ja sogar mit fischreichen Seen.
Der Tourist, der heute über den Brenner fährt und im wunderschönen Bozen Halt macht, läßt sich die jetzt so bequeme Mendelfahrt nicht entgehen. Diese führt ihn aufs Ueberetsch und dann hoch über dasselbe, so daß er zuletzt den niedrigen Bergrücken vom Thalgrund der Etsch nicht mehr unterscheidet. Die stolze Feste Sigmundskron und das prächtige Eppan, ein Dorf, dem kein zweites gleicht, wo wie in Venedig jedes Haus ein Palazzo und jeder Bauernhof ein alter Edelsitz ist – sind die weithin sichtbaren Wahrzeichen des Landstrichs. Der Hauptort des Mittelbergs aber, das weinberühmte Kaltern, liegt jetzt abseits vom allgemeinen Heerweg des Touristenvolks; denn von Eppan steigt der moderne Kunstbau, der in großartigen Serpentinen zur Mendel führt, am Gondberg hinan und läßt die alte Straße links liegen, die nach Kaltern und an den Kalterer See und weiter über das nicht minder weinberühmte Tramin ins Etschthal hinunterführt. Und doch ist Kaltern des Besuches wert; ein blühender Marktflecken mit etwa 4000 Einwohnern, besitzt es eine schöne Pfarrkirche mit Fresken, ein Franziskanerkloster und als Mittelpunkt des tiroler Weinhandels großartige Kellereien. Der ziemlich tiefer gelegene Kalterer See ist etwa 1 km breit und 2 km lang und ausgezeichnet durch seinen Fischreichtum.
Wir denken, unser Künstler hat den reizenden Fleck Erde, auf welchem Kaltern liegt, verlockend genug geschildert, so daß wir uns begnügen können, zu bezeugen, daß er nicht geschmeichelt hat. Und über diesem herrlichen Lande ruht noch der Zauber der Sage und Geschichte. Es ist kaum eine Frage, daß hier Drusus 14 Jahre vor Christus gekämpft hat und daß die das Gefilde beherrschende Burg Hoheneppan, das Appianum des langobardischen Geschichtschreibers Paulus Diaconus, schon in altersgrauen Zeiten, in welche nördlich der Alpen keine greifbare Erinnerung zurückreicht, ein mächtiger Fürstensitz gewesen ist. Ludwig Steub, der anmutige und begeisterte Schilderer alträtischer Herrlichkeit, den die deutsche Leserwelt leider viel zu wenig kennt, hat mit nie versiegender ernster und scherzhafter Beredsamkeit darauf aufmerksam gemacht, welch uralter Kultur das deutsche Etschland sich rühmen darf. Auch der archäologisch gebildete Wanderer steht da vor so manchem grauen Turme, bei welchem er nicht um das Jahrhundert, sondern um das Jahrtausend verlegen ist, in welches er ihn verlegen soll. Elegisch und komisch zugleich klingt die Klage Steubs, in die er vor solch einem ehrwürdigen, in der Prosa unserer Tage in einen Stall verwandelten Bauwerk ausbricht: „Wo einst rätische Königstöchter sangen, da brüllen jetzt die Vintschger Kühe.“ –
Auf einen Umstand muß man freilich den Vergnügungsreisenden,
welchen Lust nach Kaltern und dem Ueberetsch anwandelt, aufmerksam
machen: eine Sommerfrische ist es nicht. Kaltern liegt nur etwa
250 m über dem Meere und seine Südseite, die sich zum Kalterer See
in die Etschebene hinuntersenkt, ist wahrscheinlich der heißeste Fleck
Erde auf deutschem Sprachgebiet. Darum muß man es in den späteren
Herbsttagen besuchen, wenn die Sonne nicht mehr so viel Stunden
zum Hineinscheinen hat und der Winzer sich anschickt, die edelreif
gewordene Frucht der Rebe einzuheimsen. Der „Kalterer Seewein“ ist
fast in der ganzen Welt berühmt und er teilt mit dem „Rauenthaler“,
dem „Rüdesheimer“ und ähnlichen Namen das Schicksal, daß seine
Begegnung auf der Weinkarte dem richtigen Weinkenner noch viel
erfreulicher wäre, wenn er nicht wüßte, daß nur ein bescheidener Bruchteil
von dem, was unter dieser Bezeichnung verzapft wird, an Ort und Stelle
gewachsen sein kann. Alfred Freihofer.