Karl Thiessens Brautfahrt

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Hans Arnold
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Karl Thiessens Brautfahrt
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 50–52, S. 852–855, 868–872, 886–890
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[852]

Karl Thiessens Brautfahrt.

Eine Heiratsgeschichte von Hans Arnold.

Die Herbstsonne schien warm und vergnügt in den kleinen, bunten Garten der Frau Verwalterin hinein uud schien auch warm und vergnügt auf die alte Frau selber herunter, wie sie in ihrem großen Sonnenhut mit der Rosenschere vorsichtig und behaglich zwischen den letzten blassen Monatsrosen hantierte.

Die Frau Verwalterin hatte zwei Passionen: die eine war ihr Garten – und die andere das Ehestiften! Mit der einen hatte sie viel Erfolg und Glück, denn so früh wie bei ihr und so spät wie bei ihr blühte und gedieh es nirgends in der ganzen kleinen Stadt. Sie hatte allemal die ersten jungen Schoten und die letzten Rosen aufzuweisen, ihr gefüllter Gartenmohn prangte in allen Farben des Regenbogens, und ihre rankenden Wicken waren ihr gerechter Stolz.

Mit der zweiten Passion hingegen wollte es nicht so besonders glücken! Die Menschen und namentlich die Männer zeigten sich bei weitem nicht so dankbar und gefügig wie die Pflanzen und Blumen, sie wollten sich manchmal durchans nicht anbinden lassen, auch wenn die Frau Verwalterin noch so fest davon überzeugt war, daß sie ohne Halt und Stütze nicht recht gedeihen würden. – Sie machten es lieber wie die ärgerlichen Kohlweißlinge, die in dem farbenreichen Gärtchen von einer bunten Blüte zur andern flogen, und wenn man ihnen mit dem Schmetterlingsnetze eben so recht hübsch vorsichtig nahe gekommen war – burrr – flogen sie über den Zaun, und weg waren sie. So was ist ja immer eine verdrießliche Geschichte, und die Frau Verwalterin schüttelte den Kopf bedeutend hinter den Flüchtlingen her.

Heute, an diesem sonnigen Septembertage, betrieb sie das Kopfschütteln während ihres friedlichen Gartenhandwerkes ganz besonders häufig und nachdrücklich. Sie hatte in der letzten Zeit eine bedenkliche Niederlage bei ihrer Ehestifterei erlitten, und sie fühlte das unbestimmte, aber mächtige Verlangen, diese Scharte auszuwetzen. Denn sie ahnte – freilich ahnte sie’s zum Glück nur! – daß man augenblicklich in mehr denn einer Bierstube des Städtchens kräftig über sie lachte. Und das war so gekommen.

Vor kurzem hatte sich ein junger Arzt – ein zweiter – in der Vaterstadt unserer Frau Verwalterin niedergelassen. Niemand wußte viel von ihm, er kam an, erwies sich als ein ansehnlicher Mann in den besten Heiratsjahren – so in denen, wo man anfängt, das Wirtshausessen und Wirtshaussitzen nicht mehr plaisierlich zu finden. Er nahm eine nette, geräumige Wohnung, schien also auch nicht unbemittelt zu sein und machte, wie es dem Neuling geziemt, seine Aufwartung bei allen Honoratioren des Städtchens – natürlich auch bei der Frau Verwalterin, die sich stark zu den ersten Persönlichkeiten ihres Wohnortes rechnete und allgemein dazu gerechnet und demgemäß „estimiert“ wurde. Die brave alte Dame konnte es angesichts dieses so entschiedenen Heiratskandidaten denn auch nicht lassen, ihm gleich bei der ersten Antrittsvisite einen lebhaften Vortrag darüber zu halten, wie gut und notwendig, ja, wie fast unumgänglich es sei, daß ein Arzt sich eine Frau nehme, und was für liebe, hübsche, wirtschaftlich erzogene Mädchen es in ihrem Kreise gäbe – kurz, sie winkte ihm so recht deutlich und recht anmutig mit dem Zaunspfahl.

Der Doktor hatte dazu sehr verständig und mit freundlich zustimmendem Lächeln von Zeit zu Zeit mit dem Kopfe genickt und beifällig gebrummt – kurz, sich äußerst vielversprechend gezeigt.

Da war die brave Frau Verwalterin denn die nächste Zeit hindurch vollauf beschäftigt gewesen, ihm Gelegenheit zu geben, mit ihren verschiedenen Lieblingen unter den jungen Mädchen bekannt zu werden. Sie hatte kleine Kaffeegesellschaften in ihrem behaglichen Gartenhäuschen gegeben und eigenhändig dazu die schönsten Plätzchen gebacken – die mürben, in denen ihr, wie sie wohl sagen durfte, niemand gleich kam. Sie hatte den Doktor immer wieder eingeladen und bald mit dieser, bald mit jener ihrer Auserwählten zusammengebracht. Er war auch jedesmal sehr vergnügt mit den jungen Fräulein gewesen, hatte Pfänderspiele gespielt und sich die Plätzchen und Theeschnittchen mit großem Verständnis wohlschmecken lassen, so daß die Frau Verwalterin hoffte, hier mal einen glänzenden Sieg zu feiern.

Da, am Ende der ersten vierzehn Tage, als sie die Hauptschlacht schlagen wollte, zu diesem besonderen Zwecke sogar eine kleine Tanzgesellschaft zu geben beschlossen hatte, da teilte ihr der Doktor mit, er könne leider nicht an dem beabsichtigten Feste teilnehmen, da er Besuch erwarte.

„Meine Frau und meine beiden kleinen Jungen kommen [854] übermorgen!“ hatte er mit einem so ruchlos unschuldigen Gesicht gesagt und dabei doch verstohlen und pfiffig nach seiner alten Gönnerin hinüber geschielt.

Die Frau Verwalterin – was jeder begreifen wird, der sich in ihre Seele denken kann – hatte einen Augenblick starr dagesessen.

„Ja, warum haben Sie mir denn das nicht gesagt?“ brachte sie endlich mühsam hervor.

„Sie haben mich ja gar nicht gefragt!“ erwiderte der Schändliche und lachte nun so herzhaft los über den gelungenen. Spaß, an dem – zur Schande der männlichen Jugend sei es gesagt – die halbe Stadt beteiligt war, daß die Frau Verwalterin nicht anders konnte, als zunächst mitlachen – das that sie überhaupt, ihren siebenundsechzig Jahren zum Trotz, noch gar zu gern.

Als aber der Doktor dann weg war und sie in ihrem Gärtchen stand, wo wir sie vorhin beobachtet haben, da schüttelte sie doch, wie schon berichtet, mehrfach den Kopf, daß ihr so etwas hatte passieren können.

War es aber die Absicht des heimtückischen Doktors gewesen, die gute alte Frau durch seine Schlechtigkeit von ihrer Leidenschaft fürs Ehestiften zu heilen, so war die Rechnung ohne den Wirt gemacht.

Der Frau Verwalterin war ungefähr so zu Sinn wie einem Feldherrn nach einer verlorenen Schlacht – sie spähte blutdürstig nach einer neuen Gelegenheit umher, wo sie’s besser machen und den Leuten beweisen würde, daß sie es denn doch verstehe, jemand unter die Haube – oder unter den Pantoffel zu bringen.

Und der Zufall schien es wirklich diesmal für seine ernsteste Pflicht zu halten, das Talent der guten alten Dame nicht einrosten zu lassen! Er hatte, wie das so seine Art ist, in zwei ganz verschiedenen Orten der Welt sachte an den Fädchen gezupft, an denen er die Menschen tanzen läßt, und, seine Marionetten bewegten sich eben ganz vergnüglich auf den Ort zu, wo sie ihre Rolle weiter spielen sollten.


Wir wollen die Frau Verwalterin aber nun einmal für eine kurze Zeit in ihrem hübschen Garten allein lassen, was sie uns um so weniger übelnehmen kann, als sie sich da immer sehr gut mit ihren Blumen unterhält, und wollen einen kleinen Sprung rückwärts thun – nur um ein paar Tage zurück und um ein paar Meilen weiter, in den Wartesaal einer kleinen Bahnstation hinein, auf dem sich ein paar Hauptlinien der Eisenbahn kreuzen und treffen.

In diesem Wartesaal saß bei einem Glase Bier ein junger Mann, der vor wenig Minuten mit dem Zuge von Hamburg her angekommen war. Auf den ersten Blick hätte man ihn, trotzdem er einfache, aber feine bürgerliche Kleidung trug, für einen Seemann halten können. Das tief gebräunte offene Gesicht mit der weißen Stirn und den weißen Zähnen, die stramme Haltung und ein gewisser, sorglos lustiger Ausdruck stimmten ganz gut zu dem Bilde eines Steuermanns, wie es sich die Einbildungskraft auszumalen pflegt.

Er saß im den Stuhl zurückgelehnt und pfiff leise vor sich hin – ein altes deutsches Lied, das sich ihm, er wußte selbst nicht wie, angesichts der lange entbehrten deutschen Heimat auf die Lippen gedrängt hatte.

Dabei sah er mit dem gleichgültig achtlosen Blick des Fremden, der kein bekanntes Gesicht hier erwarten oder vermuten kann, über die Reisenden hin, die mit den ankommenden Zügen ab und zu strömten – eben war der große Berliner Kurierzug angelangt, und eine Anzahl Leute aus aller Herren Ländern schien hier ihr Mittagsmahl einnehmen zu wollen.

Unter diesen schob sich – oder besser wurde geschoben – eine schlanke Mädchengestalt ins Zimmer, deren stilles Gesicht mit den klar blickenden grauen Augen man sich gut unter einer Diakonissenhaube hätte denken können.

Als sie jetzt den Strohhut abnahm, sah man, daß dem Gesichtchen ohne jede Frage ein großer Liebreiz zu eigen war – weniger in den Zügen als in Schnitt und Glanz der Augen, in der zart gefärbten Haut und dem kleinen ernsthaften Munde; man hatte ihr gegenüber nur zunächst die Empfindung, als wenn sie immer im Schatten gestanden hätte, und als wenn ein paar Sonnentage genügen würden, um ihr Leben und Farbe und damit große Anziehungskraft zu geben.

Sie selbst schien sich dessen in keiner Weise bewußt; es lag etwas Abgeschlossenes in der ganzen Erscheinung, das ihrer Jugend – sie mochte die Mitte der Zwanzig noch nicht überschritten haben – seltsam zu Gesicht stand. Sie war einfach, sehr einfach gekleidet und trug ein schmales Lederkofferchen in der Hand, das auch nicht zu viel Schätze zu bergen schien.

Mit einem leisen Seufzer der Ermüdung stellte sie ihre Last zu Boden und nahm an einem Tischchen Platz, gerade dem sonnenverbrannten Fremden gegenüber, bei dessen Anblick erst ein nachsinnend überraschter Ausdruck – dann ein plötzliches Erschrecken und lebhaft tiefes Erröten über das sanfte Gesicht flog. Der, welcher diese Empfindungen hervorzurufen schien, ahnte augenscheinlich gar nichts davon, er schenkte der bescheidenen Mädchengestalt nach einem flüchtig streifenden Blick keine Gedanken weiter, sondern vertiefte sich in seine Zeitung.

Das kleine Fräulein kämpfte ersichtlich mit einer großen Schüchternheit und einem noch größeren Entschlusse. Sie stand auf, setzte sich zaghaft wieder hin, errötete ein übers andere Mal vor unentschlossener Befangenheit, dann plötzlich faßte sie sich ein Herz, trat an den Tisch, wo der Fremde saß, und sagte mit etwas zitternder, leiser Stimme: „Karl Thiessen – kennen Sie mich denn wirklich gar nicht mehr?“

Der so Angerufene fuhr in die Höhe; er legte das Zeitungsblatt zusammen und stand artig auf.

„Liebes Fräulein,“ sagte er dann mit einiger Verlegenheit, „es thut mir schrecklich leid – aber wenn Sie mich fragen, ob ich Sie kenne, bleibt mir nichts anderes übrig, als ehrlich und offen zu erwidern: ,nein!‘ Ich schäme mich sehr, denn Sie haben mich bei meinem richtigen Namen angeredet, aber – ich kann mir beim besten Willen nicht helfen! Seien Sie mir nicht böse!“

Und er sah ihr mit einer unwiderstehlich schelmischen Offenheit ins Gesicht.

Sie blickte betrübt vor sich nieder.

„Also wirklich nicht!“ sagte sie dann leise und tief beschämt, „also wirklich gar nicht mehr! Und wir sind doch Nachbarskinder gewesen! … Anna Braun,“ fügte sie mit sinkender Stimme hinzu, als er sie noch immer wie ratlos anstarrte.

Er schlug sich mit der Hand vor die Stirn.

„Anna Braun!“ rief er so lebhaft, daß sich mehrere Köpfe im Saal überrascht nach ihnen hinwandten, „wie konnte ich denn daran nicht denken! Anna Braun!“ wiederholte er noch einmal in herzlichem Ton, als dämmerte ihm eine freundliche Erinnerung klar und klarer herauf, „nein, das ist eine schöne Geschichte, daß ich Sie nicht gleich erkannte – natürlich – Anna Braun!“ und er schüttelte ihr mit derber Freundschaftlichkeit die Hand.

„Und nun setzen Sie sich mal zu mir her,“ fuhr er gemütlich fort, „und erzählen Sie mir von alten Zeiten, Fräulein Anna! Ja, nun merke ich freilich, daß ich zehn Jahre lang nicht zu Hause war,“ setzte er lächelnd hinzu, „nun ich sehe, daß aus dem kleinen Schulmädchen, das ich damals an den langen Zöpfen zog, ein junges Fräulein geworden ist!“

„Sagen Sie ruhig: ,ein altes Fräulein!‘“ meinte sie einfach, „oder doch auf dem besten Wege dazu – damals war ich sechzehn Jahre, Herr Thiessen – das Exempel ist leicht ausgerechnet!“

Er wurde der Verlegenheit einer Erwiderung überhoben, denn der Ruf „Einsteigen!“ schreckte alle Insassen des Wartesaals aus ihrer Beschaulichkeit empor. Ein Gepäckträger, mit einem stattlichen Handkoffer beladen, erschien in der Thür und winkte dem Eigentümer des fraglichen Gepäckstückes – unserem Karl Thiessen.

„Hier nehmen Sie das auch mal!“ sagte dieser Herr und wies auf Annas Lederkofferchen, „wir fahren doch zusammen, Fräulein Anna? Ich denke, Sie sind auch auf dem Heimwege?“

„Das bin ich!“ sagte sie zögernd, „und ich führe herzlich gern mit Ihnen – aber –“ hier kämpfte sie tapfer eine aufsteigende Verlegenheit nieder, „ich fahre dritter Klasse, Herr Thiessen – und das ist nichts für Sie!“

Er stutzte einen Augenblick.

„Nun, freilich ist das ,was für mich!‘“ sagte er dann lustig. „Ich bin hier zu Lande noch nie – oder kaum anders gefahren als dritter Klasse. Natürlich fahren wir zusammen!“

Und nach wenig Minuten saßen die Jugendbekannten einander gegenüber im Coupé und fingen, in Rücksicht auf die Mitreisenden, mit halblauter Stimme die alten, für lange in der Fremde Gewesene immer so lieben Gespräche an über das, was aus dem geworden – und was jener angefangen habe – ob das alte Schulhaus noch steht, und wer jetzt den großen Garten vor dem Thore hat.

[855] Nach einer Weile wurde der junge Mann schweigsamer – seine Gefährtin war auch nicht zu unterhaltend gewesen, sondern hatte, wie unter dem Druck einer unsicheren Befangenheit, meist nur einfach auf seine Fragen geantwortet. Nachdem er ihr seinerseits erzählt, wie er draußen in China sein Glück gemacht und vom Lehrling des großen Handelshauses in Peking sich zum ersten Beamten desselben aufgeschwungen habe, begann er plötzlich mit dem ihm eignen Freimut: „Fräulein Anna, nun seien Sie mir nicht böse, wenn ich zehn Minuten lang ein bißchen schlafe! Ich bin die ganze Nacht hindurch gereist und möchte nicht gar zu verschlafen in meiner Vaterstadt ankommen, sondern die Augen weit offen haben fürs Wiedersehen!“

Und er nickte ihr freundlich zu, zog sich dann den Hut tief in die Stirn und schlief ohne weitere Komplimente ein, während das Mädchen ihm gegenüber saß und ihn still betrachtete.

Ihre Gedanken flogen dabei weit in die Vergangenheit zurück – in die Kindheit und erste Jugend – die weit – sie glaubte erst seit den letzten Stunden zu fühlen, wie weit! – hinter ihr lag.

Dieser Karl Thiessen, der jetzt so unbefangen während ihrer Unterhaltung nach dem ersten Wiedersehen einschlief – er war ja das Ideal ihrer Mädchenjahre gewesen, schon, da er noch als Schüler mit der bunten Mütze umherlief! Und sie allein wußte, was für bittere Thränen sie ihm nachgeweint hatte, als das Schiff in der Ferne verschwand, das ihn einer neuen – ach so fernen Heimat entgegcnführte!

Sie allein wußte, mit was für goldenen Träumen sie die grauen Jahre inzwischen ausgeschmückt hatte! Aus kleinen, unbefangenen Huldigungen, wie ein achtzehnjähriger Junge sie einem sechzehnjährigen Nachbarskind wohl darbringt, hatte sie sich ein herrliches Luftschloß erbaut. Und heut’ und diesen Tag, jetzt im Augenblick sogar, trug sie das kleine blaue Notizbuch mit der sinnigen Aufschrift Notes und einem Goldschnörkcl noch bei sich, das er ihr einmal auf einem Jahrmarkt gekauft hatte.

Uud als sie dann – die arme, kleine Waise, von der geschlossenen Thür des Elternhauses fort in die Fremde ging, um ein schweres Brot bei anderen Leuten zu verdienen – als Lehrerin – da hatte sie unentwegt, wie ein reines Mädchenherz das thun kann, an ihrem Luftschloß weiter gebaut und den lieben Gott alle Abende gebeten, er möge diesem Luftschloß Wirklichkeit und Boden verleihen. Und durch alle diese Jahre, durch das langsame, langsame Hinschwinden der ersten Jugend und der ersten Hoffnungen, ohne ein Zeichen von außen her, ohne Grund und Ursache, wenn man es so will, hatte ihr einfacher, frommer Sinn an dem Wort festgehalten: „Wenn es der liebe Gott will, kriegst du ihn doch noch!“

Und nun hatte sie ihn wieder gesehen! Das Herz schlug ihr bis in den Hals hinauf, als sie in den Wartesaal kam. Wie hübsch, wie stattlich, wie freundlich war er geworden! Und er hatte sie nicht wieder erkannt und schlief in der ersten halben Stunde ein, nachdem er mit ihr zusammen gewesen war!

Die Fahrt nach der Heimat, die Karl Thiessen so tief, so traumlos und unbefangen verschlief, war für das arme Mädchen ein rechtes Grabgeleit für alle Jugendträume, für alle thörichten Hoffnungen; aber sie blieb tapfer und getrost, und eine fast erstickte, aber immer wieder hörbare Stimme in ihrem Herzen sagte trotz alledem und alledem: „Wenn es der liebe Gott will, kriegst du ihn doch noch!“

Der Zug fuhr in die Bahnhofshalle des Städtchens ein, wo die beiden Jugendgespielen zu Hause waren.

Karl Thiessen wachte auf, streckte sich und nickte seinem Gegenüber gemütlich zu. „Da wären wir! Und Eisenbahn ist ja jetzt auch hier!“

Sie standen sich nun gegenüber auf dem Perron, und Anna Braun streckte ihm die Hand hin.

„Adieu auch, Herr Thiessen – bleiben Sie lange hier?“

„Ein halbes Jahr gilt mein Retourbillet und mein Urlaub,“ sagte er, „und Sie, Fräulein Anna?“

„Ich weiß es noch nicht gewiß!“ antwortete sie stockend, „ich will mich nach einer Stelle als Erzieherin umsehen – das kann rasch und kann auch langsam gehen!“

„O, aber wir sehen uns noch,“ sagte er gemütlich und nahm den Hut ab, „gehen Sie nicht auch noch oft zur alten Tante Verwalterin? Das wird mein erster Besuch sein! Wie hübsch, daß die alte, gute Seele noch lebt!“

Damit nickte er ihr nochmals freundlich zu und ging nach der Stadt, ohne den Kopf zu wenden, während sie stand und ihm nachsah. „Also so ist das Wiedersehen geworden!“ sagte sie leise vor sich hin – und dann trat auch sie den Heimweg an.


Wenige Tage nach diesem Reiseerlebnis war es, da wir die alte Frau Verwalterin in ihrem Gärtchen belauscht haben, und dort wollen wir sie jetzt wieder aufsuchen, um zu erleben, wie ihr Neffe und Liebling Karl Thiessen nach alter Jungensmanier mit einem großen Satz über den niedrigen Zaun springt, die alte Tante herzhaft umarmt und dreimal mit sich im Kreise herumdreht, ehe er sie zu Worte kommen läßt.

„Du alte Gute – Du gute Alte – siehst Du, da bin ich! Ein schlechter Schilling kommt immer wieder nach Hause!“

„Aber Du bist kein schlechter Schilling und warst auch nie einer!“ sagte die Tante Verwalterin mit nicht allzu verhohlenem Stolz auf den stattlichen Neffen, „wenn Du auch noch gerade so ein Wildfang bist wie vor zehn Jahren, wie es scheint. Aber nun komm mal gleich hinein und iß und trink etwas bei der alten Tante,“ setzte sie eifrig hinzu und zog ihn mit sich nach dem kleinen Gartenpavillon, wo in dem ihm noch wohl erinnerlichen Eckschränkchen mit den Glasscheiben und den grünen Vorhängen immer, wie seit alter Zeit, für eine Flasche Malaga und ein paar erlesene Kuchenstückchen auf schönen geschliffenen Glastellerchen für unvorhergesehene Fälle gesorgt war.

„Und nun,“ sagte der junge Mann, nachdem er sein Glas geleert hatte, in dessen Inhalt er mit dem herb feurigen Weingeschmack sich ein ganzes Stück Vergangenheit in die Erinnerung trank – „nun, Tante, will ich auch Dir noch etwas sagen! Ich komme mit einer ganz besonderen Angelegenheit zu Dir und will, wie das immer meine Mode war, gleich mit der Thür ins Haus fallen! Also Tante – ich will etwas von Dir!“

Die Verwalterin rückte sich behaglich zum Zuhören zurecht und zog ihre Filetarbeit aus dem seidenen Ridicule.

„Und das wäre?“ frug sie.

„Siehst Du,“ fuhr Karl Thiessen fort, nahm sein Billet aus der Tasche und hielt es ihr vor die Augen, „dies hier ist mein Retourbillet nach China! Es gilt gerade sechs Monate – und dann kaufe ich mir noch ein einfaches Billet dazu!“

Die Tante sah ihn verständnislos an.

„Noch eins!“ wiederholte er, „denn ich will auf keinen Fall wieder allein nach China zurückgehen.“

Die Frau Verwalterin spitzte die Ohren wie ein altes Schlachtroß beim Klange der Drommeten.

„Ich will heiraten!“ schloß Karl Thiessen mit großer Energie, während die Tante wie ein in Schwung gebrachter Pagode zu seinen Worten nickte, „ich will mir eine deutsche Hausfrau mit in die Fremde nehmen! Und alles, was um eine solche Sache drum und dran hängt – Freierei, Verlobung, Aussteuer, Hochzeit – alles das muß in der Zeit besorgt werden, ehe mein Retourbillet abläuft. Und Du, Tante, Du sollst mir helfen, die Richtige zu suchen und zu finden! Du kennst alle jungen Mädchen hier in der Stadt von der Wiege an –“

„Das thue ich!“ sagte die alte Dame mit vor Unternehmungslust zitternder Stimme – sie sattelte und zäumte ihr Steckenpferdchen schon in Gedanken frisch auf.

„Und Du sollst wissen, was für eine Sorte Frau ich haben will,“ schloß Karl Thiessen seinen Vortrag. „Sie muß jung sein, sie muß hübsch sein – sie muß gut und freundlich und lustig sein – reich braucht sie nicht zu sein, aber ein Hinderungsgrund wäre es auch nicht – und sie muß sehr gut kochen können. – Und jetzt, Tante – jetzt zeig’ mal, was Du kannst!“

Und als die Frau Verwalterin an diesem Abend ihre Nachtmütze mit dem breiten getollten Strich vor dem Spiegel aufsetzte, um sich in ihrem großen geblümten Gardinenbett zur Ruhe zu legen, da sagte sie vor sich hin: „Sechs Monate! Nun, in der halben Zeit könnte ich ihm drei Frauen verschaffen – geschweige denn eine!“ Und sie schlief ein, während ein ganzer Kranz von hübschen, lustigen, reichen jungen Fräulein vor ihren Augen herumtanzte und sich drehte.

Aber daß ganz in der Ferne ein blasses, stilles, kleines Mädchen stand und leise sagte: „Wenn es der liebe Gott will, kriege ich ihn doch noch!“ – das hörte die Frau Verwalterin nicht mehr, denn da schlief sie schon ganz fest.

[868] Wie es zngegangen war, daß das Gerücht von Karl Thiessens Heiratsabsichten und seinem Retourbillet in der ganzen Stadt herum kam, das weiß heute noch niemand zu sagen. Sicher ist aber, daß nie so viel Kaffeegesellschaften gegeben wurden wie in den nächsten Wochen, und daß auf jeder dieser Kaffeegesellschaften der Reichtum des wiedergekehrten Stadtkindes, die glänzende Aussteuer, die er, wie man wissen wollte, zum großen Teil schon beschafft hatte, noch um ein Beträchtliches wuchs, so daß Karl Thiessen auf die bequemste Art von der Welt zum Millionär gemacht wurde.

Die Beliebtheit und Bedeutung der Tante Verwalterin stieg damals zu schwindelnder Höhe. Sie wußte sich gar keinen Rat mehr vor den Einladungen und Liebenswürdigkeiten ihrer Mitbürger; täglich mehrmals guckte irgend ein niedliches Mädchengesicht bei ihr ein, brachte ein paar Blumen oder einen seltenen Pflanzenableger für den Garten oder bat um ein Rezept zu dem und jenem Gebäck, zu dieser und jener Pastete. Letzteres war ein besonders sicheres Mittel, bei der alten Dame in Gunst zu kommen.

Diese zeigte sich aber sehr reserviert und verschlossen; sie gab weder über ihre noch über ihres Neffen Absichten und Aussichten irgend welchen Aufschluß und spann nur, wie eine brave gutmütige alte Spinne, ihre Fäden nach allen Seiten, so daß Karl Thiessen sich bald mitten in diesem Netze fand und nur noch die Qual der Wahl zu haben brauchte, die bekanntlich nicht immer die leichteste ist, und nun gar in solcher Kardinal- und Lebensfrage.

Unter den Häusern welche die Frau Verwalterin für ihrem Heiratskandidaten im Auge hatte, war in erster Linie das des Steuerrats Dierks. Der brave Mann erfreute sich einer angesehenen Stellung unter seinen Mitbürgern und eines ganz netten Vermögens – allerdings hatte bei ihm, wie er zu sagen pflegte, der Thaler nur zehn Groschen, da er sich des Besitzes dreier Töchter zu rühmen wußte.

Bei diesem Herrn Steuerrat hieß es nun mit vollem Recht wie in dem schönen alten Märchen: „Er hatte drei Töchter, und die jüngste war die schönste von allen!“

Diese jüngste war, ihres bildhübschen Gesichtchens wegen, das Wunder der ganzen Stadt; sie hatte krause, aschblonde Haare, die fast wie leicht gepudert aussahen, und in reizvollem Gegensatz dazu zwei große schwarze Augen, denen ein mehr begeisterter als poetischer Verehrer den kühnen Vergleich gewidmet hatte: „Steuerrats Sabinchen hat ein Paar Augen wie zwei Tassen schwarzer Kaffee!“

Wenn nun im Märchen aber die Schönste und Jüngste auch immer die Beste, Klügste uud Fleißigste ist, so pflegt das in der Wirklichkeit nicht allemal zu stimmen.

Das hübsche Sabinchen – oder Binchen, wie sie allgemein genannt wurde – war gerade ihrer Schönheit wegen von Kindheit an etwas sehr verzogen, für jede Arbeit zu gut und zu fein und zu zierlich angesehen und vom ganzen Hause als Prinzeßchen behandelt worden, das sich von seinen braven gutmütigen und auch gar nicht häßlichen Schwedtern, mit Selbstverständlichkeit bedienen ließ, und für das Mama und Papa Steuerrat einmal auch so was Aehnliches wie einen Prinzen als Eidam erwarteten und erträumten.

Eine von Binchens Schwestern, Klara mit Namen, erfreute sich der besonderen Protektion der Frau Verwalterin. Sie hatte bei ihr einen kleinen Kursus in der feineren und feinsten Kochkunst durchgemacht und sich dabei in hohem Grade anstellig gezeigt: sie kochte Aepfelgelee von Fallobst fast so klar und goldhell wie ihre alte Meisterin selber – und sie war das, was man so im guten Sinne ein resolutes Frauenzimmer nennt, dem man auch zutraut, daß es wohl im fremden Lande deutscher Küche, deutscher Tüchtigkeit und – deutscher Zunge Respekt zu verschaffen wissen werde.

Diese Perle des weiblichen Geschlechts ihrem Neffen zuzuwenden, hatte die Frau Verwalterin in ihrem Sinn beschlossen. Heute, an einem warmen schönen Septemberabend, wollte sie, ganz eigens zu diesem Zwecke, eine kleine Fete geben, zu welcher sie eben nach ihrer appetitlichsten Art, die schneeweiße Latzschürze vorgesteckt, einen rosig glänzenden Krabbensalat zurechtmachte und sonstige verlockende Vorbereitungen traf. –

[870] Sie hatte dieses kleine Fest mit besonderer Verschmitztheit ausgedacht und angeordnet. Nur Klara dazu einzuladen, wäre doch in diesem zarten Fall nicht angegangen – man durfte es auch nicht zu durchsichtig machen! Also war Klara mitsamt der Mama Steuerrätin – oder um den schuldigen Respekt nicht zu verletzen, die Mama Steuerrätin mitsamt Klara befohlen worden, und damit doch noch ein junges Mädchen dabei wäre, hatte die Frau Verwaltern Anna Braun dazu gebeten. Die störte nie, sondern erschien und verschwand wie ein kleiner stiller Hausgeist, wenn man sie haben wollte und nicht haben wollte!

Ach, die gute Verwalterin, sonst so bewandert und scharfsinnig in Herzenssachen, ahnte nicht, was sie mit dieser Einladung anrichtete. Sie sah nicht, wie Annchen Braun, die sonst nie Eitle, wohl eine Stunde lang vor dem Spiegel stand und ihre dicken braunen Zöpfe – ihre einzige, wirkliche Schönheit – flocht umd hochsteckte uud wieder tief steckte und mit zitternden Händen in ihrem schmalen Kofferchen suchte nach irgend etwas, was sie putzen und schmücken könnte. Schließlich hatte sie mit einem kleinen Seufzer vor sich hin gesagt: „Es ist ja doch alles einerlei!“ und sich damit begnügt, ihr sorgfältig gehütetes Einsegnungskleid anzuziehen und sich ein paar blasse Astern vorzustecken – auch das kam ihr schon beinahe gewagt vor. –

Der Abend verlief bisher ganz programmmäßig – für den eingeweihten Beobachter sehr belustigend und komisch.

Die Frau Steuerrätin, sich der Wichagkeit der ganzen Sache wohl bewußt, trat in malvenfarbiger Seide an, mit einer Brosche von der Größe einer mäßigen Bratenschüssel und einer Miene, als wenn sie soeben von Reichs- und Staatswegen schon zur Schwiegermutter ernannt worden wäre.

Klara, in rosa Barege, die Haare nach damaliger Mode in ein rosa Netz mit rosa Seidenrüsche gefangen, marschierte in zitternder Erwartung hinter ihr her, und beide machten, als Karl Thiessen eintrat – auch sehr fein, in dunkelblauem Leibrock und weißer Kravatte – die verlegen unbefangensten Gesichter, die man sich nur denken kann.

Karl Thiessen war wirklich unbefangen. Ihm waren in den letzten vierzehn Tagen so viel junge Mädchen von der Tante Verwalterin vorgestellt worden, unter allerlei wahrscheinlichen und unwahrscheinlichen Vorwänden, daß es ihm auf eine mehr oder weniger nicht weiter ankommen konnte, und da er der ganzen Sache naturgemäß nicht als poetischer Liebhaber, sondern als Mann, der eine Frau sucht, gegenüber stand, so verbeugte er sich denn mit dem harmlosesten und vergnügtesten Gesicht von der Welt vor der netten Klara, ja, er dachte sogar flüchtig bei sich: „Das wäre am Ende etwas!“ – eine Seelenregung, die der Tante Verwalterin nicht entging, da sie es sich zur Aufgabe gestellt hatte, sein Mienenspiel bei dergleichen Anlässen scharf zu beobachten und ihre Schlüsse zu ziehen. Daß im Hintergrunde des Zimmers noch Anna Braun stand, die sich die erdenklichste Mühe gab, nicht rot und nicht weiß zu werden, das merkte Karl erst etwas später und schüttelte ihr kräftig die Hand mit einem „Guten Abend, Annchen!“ wie es sich so für Jugendbekannte uud Gespielen aus alter Zeit gehörte. Dann setzte er sich zu Klara und fing an, allerlei lustige Geschichten und Schnurren von seiner chinesischen Heimat und deren Bewohnern zu erzählen, so daß die Zuhörer gar nicht aus dem Lachen kamen.

Die Sache ließ sich gut an!

Die Frau Verwalterin fühlte einen dumpfen Schmerz bei dem Gedanken, daß sie jetzt durch den Ruf: „Nun bitte, zu Tisch!“ das erblühende Glück stören mußte. Sie kämpfte ordentlich mit sich. – Aber noch fünf Minuten, dann mußte die Kalbskeule aller menschlichen Berechnung nach zu sehr „durch“ sein – und das konnte die gute Frau unter keinen, auch den dringlichsten Verhältnissen nicht auf sich sitzen lassen.

Ehe noch dieser innerliche Kampf zwischen Liebe und Pflicht seine Entscheidung gefunden hatte, ging draußen die Hausklingel ganz zierlich und schnell – man hörte ein silberhelles Kichern und Lachen – und mit den Worten: „Liebe Frau Verwalterin, wollen Sie einen ungebetenen Gast noch aufnehmen?“ öffnete sich die Zimmerthür, und im weißen Mullkleidchen einen Strauß brennend roter Kresse vorgesteckt, flog Steuerrats Bincheu herein in die Gesellschaft – und nun war die Bescherung fertig!

Auf die Gefahr hin, meine Frau Verwalterin in den Ruf einer ungastlichen Person zu bringen, den sie wahrhaftig nicht verdient – von der Größe der vorerwähnten Kalbskeule ganz abgesehen, die noch zehn ungebetene Gäste hätte satt machen können – auf diese Gefahr hin also muß ich sagen, daß sie kein sehr freundliches Gesicht machte, als das reizende Mädchen so hereingeschneit kam.

Die hatte sie ihrem Karl eigentlich gar nicht zeigen wollen; denn daß sie ihm gefallen würde, wie die Männer nun einmal sind, denen das bißche Rot und Weiß, ein zierliches Stumpfnäschen und ein Paar großer Augen den Kopf verdrehen – das konnte man sich ja an den zehn Fingern abklavieren!

Und sie sollte ihm nicht gefallen!

Steuerrats Binchen, die nichts weniger war als ein Bienchen an Fleiß, die nur surren und von einer Blume zur andern fliegen und je nachdem auch ein bißchen stechen konnte – die wollte sie nicht für ihren Karl! Und nun mußte sie es erleben, daß dieser selbe Karl, sobald es sich mit irgend welchem Anstand thun ließ, seinen Platz verließ und sich neben die kleine Schönheit setzte – daß er ihr alle die komischen Geschichten von China weiter erzählte, daß er nach den ersten zwanzig Minuten kaum mißzuverstehende Anspielungen darauf machte, wie gut es eine deutsche Frau – und ganz besonders seine Frau dort haben würde – kurz, daß er sich sterblich in das Binchen verliebte, und daß dieses that, als merkte es seine Eroberung und seinen Triumph gar nicht, aber dabei ganz im stillen ein paarmal einen Blick nach Mutter und Schwester warf, der ziemlich deutlich sagte und sagen sollte: „Seht Ihr wohl?“

Die gutmütige Klara, schon daran gewöhnt, daß ihr das schöne Nesthäkchen die besten Bissen vor dem Munde wegschnappte, sah still uud ein bißchen säuerlich auf ihren Teller nieder. Die Frau Steuerrätin, mit dem nicht unberechtigten Gefühl: „Na, es bleibt ja in der Familie!“ ließ der Sache ihren Lauf, und die Verwalterin nötigte mit rotem Kopf zum Essen und zum Trinken. – Und Annchen Braun? Ach, das arme Kind leerte an diesem heutigen Abend den Kelch der Bitterkeit bis zum letzten, bittersten Tropfen, wenn sie Karls strahlendes Gesicht sah uud seine lustige Stimme hörte – und noch mehr, wenn sie Steuerrats Binchen in ihrer ganzen morgenfrischen Lieblichkeit durch die gesenkten Wimpern hindurch beobachtete und dann immer leise zu sich selbst sagte: „Ja – die freilich!“

Der Abend wollte gar kein Ende nehmen! Als man vom Tisch aufgestanden war, lustwandelte die Jugend noch in dem Garten, und die beiden alten Damen saßen bis in die tiefe Nacht hinein als Opfer der Verhältnisse nebeneinander auf dem Sofa, gähnten erst verstohlen und nach und nach sehr offenherzig und strickten wie ums liebe Brot. Die Frau Verwalterin, die beim Anfang des Festes erst „beim Abnehmen“ gewesen war, konstatierte dann später bei sich – als einziges befriedigendes Resultat der Festlichkeit: „Wenigstens habe ich dreiviertel von meinem Strumpf fertig gestrickt.“

Draußen im Garten promenierten inzwischen die beiden Paare, nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit gruppiert. Anna und Klara in anfallsweisen Gesprächen matten Inhalts voran – beide immer die Ohren gespitzt nach den zwei andern hin.

Karl und Binchen schritten zwischen den Rabatten des kleinen Gärtchens – immer um das Rasenrondell herum – „zum Schwindligwerden!“ bemerkte Klara ein bißchen giftig, was ihr, angesichts der Sachlage und ihres Standpunkts dazu, kein billig Denkender verargen wird.

Endlich hielt die Mama Steuerrätin die schweren Augen nicht mehr auf, sie holte sich ihre Lämmer von der Weide und ging, sehr befriedigten Mutterherzens, mit ihnen davon. Eine von ihnen würde es nun also doch sein, die den ausländischen Goldfisch davontrüge! Karl Thiessen begleitete die Damen natürlich ritterlich heim und pfiff auf dem Rückweg ganz sentimental vor sich hin: „Ach, wie ist’s möglich dann, daß ich dich lassen kann!“ daher der scharfsinnige Leser sich schon einen Rückschluß auf den inneren Zustand unseres Helden gestatten kann.

Anna Braun huschte ungeleitet und unbehelligt nach Hause und schrieb noch bis in die tiefe Nacht hinein, mit fliegender Feder und fliegendem Herzschlag, Annoncen für die verschiedensten Tagesblätter, in denen ein junges Mädchen Stellung zur Erziehung jüngerer Kinder suchte – aber sofort – dies dreimal unterstrichen.

„Denn hier bleibe kann ich nicht – ich kann nicht!“ sagte sie vor sich hin, als sie die Lampe auslöschte.

Nun, die Sache kam, wie sie kommen mußte! Wir wissen ja, daß Karl Thiessen, in Rücksicht auf sein Retourbillet, nicht viel Zeit hatte, sich seine Freierei zu überlegen – und so gingen denn nicht [871] mehr als vierzehn Tage ins Land, bis die freudige Angelegenheit in schönste Ordnung kam und goldgeränderte Verlobungskarten in jedem Hause zu finden waren, auf denen sich Karl Thiessen und Steuerrats Binchen als Verlobte dem allgemeinen Wohlwollen und dem allgemeinen Klatsch bestens empfahlen.

Steuerrats hatten zunächst, trotz aller Einverstandenheit mit der Geschichte, etwas gejammert, daß sie ihr Binchen, den Schmuck und das Krönchen ihres Hauses, überhaupt weg– und nun gar bis nach China geben sollten. Aber mitziehen konnten sie nun mal nicht, da der Papa Steuerrat sich auf seine alten Tage nicht mehr entschlossen haben würde, einen Zopf zu tragen, und so fanden sie sich in die an sich ja sehr erfreuliche Thatsache, und Binchen wurde, um der baldigen Trennung und der glänzenden Heirat willen, noch ein bißchen mehr verzogen als bisher, insofern das überhaupt möglich war.

Daß es das schöne Binchen verstehen würde, eine reiche Frau zu sein, das konnte bald ein Blinder mit dem Stocke fühlen, wie man so zu sagen pflegt.

Sie nahm alle die schönen fremdländischen und inländischen Geschenke, mit denen der Bräutigam sie überschüttete, so selbstverständlich hin, als wenn sie eigentlich noch viel anderes erwartet hätte. Sie bestand schon gleich zu Anfang darauf, daß man den ersten Lohnwagen der Stadt nahm und die Brautvisiten im Fahren zurücklegte, statt, wie es Karl gern gethan hätte, nachbarlich und freundschaftlich von Haus zu Haus zu gehen, so daß er sein schönes Bräutchen in den Strahlen der Herbstsonne und des Glückes hätte bewundern lassen können.

Auch bei Annchen Braun hatte das junge, fröhliche Paar seinen Besuch abgestattet. Sabine rümpfte zwar erst das Näschen bei dem Gedanken, in die bescheidene Dachkammer hinaufsteigen zu sollen, die die kleine Lehrerin innehatte – aber Karl, mit nicht ganz richtiger Beurteilung der Sachlage, bemerkte: „Wir wollen das gute Mädchen doch nicht auslassen – sie freut sich mit an unserm Glück und ist meine alte Jugendbekannte.“

Da hatte denn Binchen nachgegeben – im ganzen ein äußerst seltener Fall, der ihr denn auch von Karl mit doppelter Anbetung gelohnt wurde.

So stiegen die beiden hübschen glücklichen Menschen die enge Treppe hinauf und betraten das Stübchen, das Anna Braun bewohnte und in dem sie, als einzigen Schmuck, einen schönen Rosenstock pflegte, der eben in Blüte stand.

„Nun, Annchen, hier bringe ich Ihnen meine kleine Braut!“ hatte Karl in seiner herzlichen Weise gesagt, und Anna hatte ihm tapfer die Hand gedrückt und sie auch Binchen gegeben. „Gott segne Sie alle beide!“ sagte sie, und dann wandte sie sich rasch zum Fenster und pflückte die beiden schönsten Rosen von ihrem Rosenstocke ab. „Wollen Sie dies von mir annehmen?“

Binchen steckte mit einem leichten Nicken die Rose in den Gürtel ihres weißen Kleides und lächelte ein wenig dazu.

„Ein bißchen sehr gefühlvoll!“ sagte sie dann noch auf der Treppe zu ihrem Bräutigam, „hat sie Dich etwa selber gern gewollt?“

Karl Thiessen öffnete die Augen sehr weit. „Anna Braun? – mich? – ach, warum nicht gar!“ sagte er und erwies sich damit als vorzüglichen Beobachter und Menschenkenner. Dann lachte er laut und harmlos auf über den sonderbaren Gedanken – so gingen sie davon. – Und Anna Braun stand am Fenster und sah dem schönen Paar nach. „Der liebe Gott hat es also doch nicht gewollt!“ sagte sie einfach vor sich hin – dann ging sie zu ihrem Rosenstock und rückte ihn in die Sonne.


Karl Thiessens Brautzeit stand im ganzen und großen auch in der Sonne. Er war begeistert von Binchens Schönheit, Heiterkeit und Anmut. Er freute sich, sie mit Geschenken, mit golddurchwirkten Shawls und Seidenstoffen aus dem fernen China zu überschütten und zu schmücken, die ihr kindisches Entzücken erregten – und er freute sich darauf, „drüben“ mit ihr Staat zu machen, wie man zu sagen pflegt.

Aber manches kam doch auch so nach und nach zu Tage, was ihn, den Mann der gesunden Vernunft, veranlaßte und aufforderte, sich ganz bedeutend hinter den Ohren zu kratzen. Er wollte sich, wie er sattsam ausgesprochen und betont hatte, eine deutsche Hausfrau mitnehmen, und das zu sein oder zu werden, dazu hatte Binchen vorläufig verzweifelt wenig Lust oder Anlage.

Niemals sah man sie mit einem Strickzeug oder einer Näherei beschäftigt, sie stickte höchstens, nach damaliger schrecklicher Mode, Rosenbouquets auf Pantoffeln für ihren Zukünftigen oder nähte Perlen auf einen Ofenschirm – die Arbeiten ließ sie dann auch noch meist unvollendet liegen, bis die gutmütige Klara sie ihr heimlich fertig machte. Sie lag des Vormittags im Lehnstuhl und las Romane und ging des Nachmittags mit ihrem Bräutigam spazieren, worauf sie natürlich am Abend zu müde war, um die Hände noch besonders zu rühren.

Lobte Karl Thiessen einmal ein besonders gelungenes Gericht der schwiegerelterlichen Tafel – und wir wissen ja, daß Klara bei der Frau Verwalterin kochen gelernt hatte, können uns also denken, daß alles, was der Bräutigam zu kosten bekam, von erster Trefflichkeit war – lobte er also, wie gesagt, einmal die oder jene Speise und fragte dabei: „Hat Binchen das gekocht?“ dann begegnete er allenthalben lächelnder Verwunderung und mußte hören: „Binchen? Die braucht doch nicht zu kochen – sie wird ja eine reiche Frau!“

Als diese Bemerkung wieder einmal gefallen war – man saß noch am abendlichen Theetisch im Wohnzimmer beisammen – da faßte sich Karl Thiessen ein Herz und sagte mit einiger Bestimmtheit: „Liebe Schwiegermutter, mir scheint es besser, wenn ich einen kleinen Irrtum aufkläre!“

Die Frau Steuerrätin setzte sich in Positur – den Ton kannte sie ja noch gar nicht an ihrem zukünftigen Eidam.

„Sie sagen immer,“ fuhr Karl, zuerst etwas langsam, dann aber um so energischer fort, „Binchen braucht dies nicht im Hause zu thun und jenes nicht im Hause zu lernen – sie wird eine reiche Frau. Erstens muß eine reiche Frau sich auch um ihr Haus kümmern und die Küche verstehen, wenn sie nicht nur eine reiche, sondern auch eine rechte Frau sein will. Meine Frau soll es wenigstens ganz gewiß thun! Und dann – was man reich nennt, das bin ich doch gar nicht. Das möchte ich Ihnen ausdrücklich sagen! Ich habe ein sehr glänzendes Auskommen und kann es, mit Gottes Segen und gutem Glück, noch ’mal zu was bringen – aber doch immer erst mit der Zeit. – Ich habe von Hause aus gar kein Vermögen in meine Stellung mitgebracht, und daß man in sechs bis acht Jahren nicht vom armen Schlucker zum reichen Mann wird, wenn man es redlich anfängt, das wissen Sie wohl selber!“

Er hielt nach dieser kleinen Predigt inne und schöpfte tief Atem; es hatte auch niemand Miene gemacht, ihn zu unterbrechen.

Das schwiegermütterliche Antlitz war bei seinen Worten so lang geworden, als besähe sich die Eigentümerin in einem blanken Eßlöffel. Sie erwiderte kein Wort, sondern sah nur mit bedeutungsvoller Miene nach ihrem Mann hin, wobei sich ihre Nase spitzte wie der beste Faberbleistift.

Der Herr Steuerrat, seiner Pflicht als Hausherr und Vater eingedenk, sagte kein Wort, sondern hustete nur. Binchen schwieg auch und sah vor sich nieder; ein kleiner verdrießlicher Schatten auf ihrer weißen Stirn war Karl nicht entgangen.

Als man die unter solchen Umständen nicht allzu muntere Abendmahlzeit aufgehoben hatte und vom Tisch aufgestanden war, zog Karl seine kleine Braut mit sich ans Fenster.

„Binchen, kann Dich denn das traurig machen, daß ich nicht nur ein Spielzeug an Dir haben will?“ frug er herzlich und eindringlich und hob ihr reizendes Gesichtchen am Kinn in die Höhe, „willst Du nicht mir zuliebe Dich von morgen an ein bißchen um Haus und Küche kümmern? Deine Schwestern thun das ja doch auch, und wie freut sich Klara, wenn es uns allen schmeckt und sie kann sagen: ,Die Mehlspeise habe ich angerührt!‘ Nicht wahr?“

Binchen machte sich unwillig los.

„Nun, dann hättest Du Dir ja eine von den Schwestern aussuchen können, wenn sie Dir besser gefallen,“ sagte sie im Ton eines unartigen Kindes. „Um mich zu plagen und zu quälen, brauche ich nicht nach China zu gehen. Das kann ich hier auch thun, wenn ich Lust habe. Und ich habe keine Lust! Du hast doch immer gesagt, Du wolltest mich auf Händen tragen!“ fügte sie weinerlich hinzu.

„Und das will ich auch,“ sagte Karl fest, „das will ich ganz gewiß! Aber Du mußt Dich doch auch darauf vorbereiten, daß Du gehen kannst, wenn ich ’mal nicht da bin, um Dich zu tragen. Gerade dort in der Fremde muß eine Hausfrau doppelt am Platz und früh und spät auf den Füßen sein – siehst Du denn das nicht ein?“

Sie schüttelte stumm den Kopf und sah vor sich nieder, während sie mit dem zierlichen Füßchen das Muster des Teppichs nachzuzeichnen versuchte.

[872] „Nun, dann will ich heut’ abend nur gehen!“ sagte Karl mit etwas gepreßter Stimme und griff nach seinem Hut. „Du wirst, ja wohl bis morgen wieder zur Vernunft kommen. Grüße die Eltern!“

Damit ging er seiner Wege, ohne sich noch viel umzuschauen – es rief ihn auch niemand zurück.

Es war ein wundervoller Herbstabend, dunkel und warm, wie sie der Oktober manchmal bringt, und Karl fühlte, sich unvermögend jetzt, wo es doch gewaltig in ihm stürmte, allein zu Hause zu sitzen! Ebensowenig aber verlockte ihn der Gedanke, in eine dumpfige Bierstube einzukehren und über Stadtgeklatsch und Politik zu sprechen – Nebenbei auch wohl neugierig gefragt zu werden: „Nun, warum denn heut’ abend nicht bei der Braut?“

Halb unbewußt lenkte er seine Schritte nach dem Hause der Tante Verwalterin, die er naturgemäß seit seiner Verlobung viel seltner besucht hatte. Näher kommend, glaubte er leise Musik zu hören.

Er klinkte die Thür sachte auf – als Hausneffe und besonderer Liebling durfte er sich das schon erlauben – und trat in den Gartensaal zu ebener Erde, in dem ein kleines uraltes Spinett stand.

Es war dunkel in dem Zimmer, bis auf den Vollmondschein, der eben hereinfiel und den Schatten des Fensterkreuzes scharf und schwarz auf den weißen Fußboden zeichnete.

Die Frau Verwalterin saß, wie gewöhnlich um diese Zeit, im Sofa und strickte – er machte ihr mit der Hand ein Zeichen, sich nicht zu rühren. An dem kleinen Instrument saß Anna Braun und sang ein einfaches Volkslied. Karl Thiessen gehörte zu den Menschen, denen, ohne selbst ausübend musikalisch zu sein, Musik Lebensluft ist – er hatte es schon oft wahrhaft schmerzlich empfunden, daß seine Braut nicht spielte und nicht sang, und er versenkte sich mit doppeltem Vergnügen in den lang entbehrten Genuß.

Ohne daß Anna sein Eintreten bemerkt hätte, ließ er sich hinter ihr am offenen Fenster nieder, stützte den Kopf in die Hand und hörte zu, wie sie sang – ein deutsches Lied nach dem andern – die alten Worte und Melodien, die er in seinen schmerzlichsten Heimwehstunden in der Fremde vor sich hin gesummt und nach denen er sich gesehnt hatte. In seine heutige erregte, halb traurige, halb zornige Stimmung fielen die schlichten Töne wie kühlender Tau hinein. Der Mondstrahl, der immer weiter rückte, jetzt den dunkeln Kopf des Mädchens hell beleuchtete und auf ihren schmalen Händen schimmerte, schien wie mit einem Finger auf sie zu weisen und an ihn die Frage zu richten: „Hast du dir die denn noch nie recht angesehen?“

„Ja, wer so was alle Tage hören könnte,“ sprach er plötzlich, Zeit und Ort vergessend laut vor sich hin und Anna sprang, aufs tiefste erschrocken, vom Klavier auf und stand in mädchenhafter Verlegenheit im Mondschein vor ihm.

„Ich’ habe Sie gar nicht kommen hören!“ Mehr brachte sie nicht heraus, während die alte Frau Verwalterin schon mit dem Streichhölzchen kratzte, um die Lampe anzuzünden.

Aber Karl legte. hastig seine Hand auf die ihre.

„Ach bitte, Tante – noch kein Licht!“ sagte er eindringlich, „singen Sie uns noch ein paar von Ihren Liedern, Fräulein Anna! – so ein recht bewegliches, weichherziges – können Sie denn nicht mein Lieblingslied singen: ‚Ach, wie ist’s möglich dann, daß ich dich lassen kann!‘?“

Nein!“ sagte Anna, so rasch und hart, daß er erstaunt aufblickte, „nein, das kann ich nicht singen – wahrhaftig nicht, Herr Thiessen!“

„Nun dann ein anderes,“ meinte die Verwalterin unbefangen, „sing’ uns das vom ,kühlen Grunde‘, Annchen – das ist ja auch hübsch.“

Und als Anna noch eine Weile gesungen hatte und leise den Deckel des Spinetts schloß, da stand Karl auch auf. „Ich darf Sie wohl nach Hause bringen, Fräulein Anna,“ sagte er „wir haben ja einen Weg.“

Während Anna, ohne viele Worte zu machen, nach ihrem Hut und Tuch ging, trat die Verwalterin zu ihrem Neffen und legte ihm die Hand auf die Schulter.

„Nun, Karl, was hat’s denn gegeben?“

„Ach, nichts!“ sagte er halb verlegen und halb verdrießlich, „ich habe mich ein bißchen geärgert – das ist alles – nicht der Rede wert, Tante – wirklich nicht der Rede wert.“

Die alte gute Frau sah aufmerksam in sein blasses Gesicht.

„Mein lieber Junge!“ sagte sie zärtlich und schaute ein wenig sorgenvoll hinter ihm her.

[886] Als Karl und Anna das Haus verlassen hatten, blieb er noch einen Augenblick stehen. „Fräulein Anna – es ist so herrlicher Mondschein heute abend – wollen wir nicht noch einmal miteinander um den Marktplatz gehen? Ich bringe Sie dann auf dem kleinen Umweg ebenso sicher nach Hause. In drei Wochen bin ich ja wieder fort von Deutschland – ich möchte meine alte Heimatstadt noch einmal im Vollmondschein sehen – und nicht ganz allein.“

Anna nickte nur.

Sie fühlte wohl, daß es thöricht von ihr war, sich diesem Zusammensein mit dem heimlich geliebten Jugendfreunde noch einmal auszusetzen – aber sie dachte im stillen: „Das Andenken an diese Stunde kannst du dir dann in dein ganzes, freudeloses Leben mit hinüber nehmen – das kann kein Unrecht sein!“

So gingen sie denn durch die stillen mondhellen Straßen. – Wie flüssiges Silber lag es auf den spitzigen Giebeldächern der alten Häuser – und wie flüssiges Silber schimmerte es auf dem dunkeln Wasser des Stadtgrabens. Hier und da – hoch auf dem Boden oder tief im Erdgeschoß – glimmte noch ein Licht wie ein Glühwürmchen, aus der Ferne hörte man durch die lautlose Nacht nur die abgebrochenen Töne einer Ziehharmonika, die vor irgend einer Hausthür gespielt wurde.

Die Beiden sprachen lange kein Wort – endlich sagte Karl: „Fräulein Anna – wenn Sie später einmal an mich denken – und man denkt ja an einen Jugendfreund, auch wenn er weit weg ist – dann denken Sie, daß Sie mir heut’ abend sehr wohl gethan haben. Es war alles so deutsch – das Mondlicht – und die alten Lieder – nach der Stunde werde ich oft Heimweh haben!“

Seine Stimme klang ganz unsicher, als wenn er mit Thränen zu kämpfen hätte. Anna erwiderte kein Wort; sie dachte nur immer vor sich hin: „Lieber Gott – lieber Gott – er wird nicht glücklich!“ – weiter nichts.

So gingen sie weiter, bis endlich Anna, die genau merkte, daß ihr schweigsamer Begleiter gar nicht wußte, welchen Weg er einschlug, in ihre Straße bog und vor ihrer Wohnung still stand.

„Hier bin ich zu Hause, Herr Thiessen,“ sagte sie schüchtern.

Er sah sie an wie aus dem Schlaf erwacht.

„Schon!?“ sagte er dann, „schade – schade! Nun gute Nacht, Fräulein Anna, und schönen Dank für den hübschen Spaziergang!“

Anna lächelte mühsam.

„Ich habe Sie gar nicht unterhalten,“ brachte sie endlich hervor.

„Nein – aber Sie können nicht bloß so schön singen – Sie können auch so schön schweigen – und Sie glauben nicht, wie gut das manchmal thut.“

Er preßte ihre Hand verwirrt in der seinen, daß sie fast aufgeschrieen hätte – dann blieb er stehen, bis sie im Hause verschwunden war, und trat, in mancherlei Gedanken, seinen eigenen Heimweg an.


Diesem hochgestimmten Abend folgten nüchterne Tage. Je näher die Hochzeit kam – sie sollte vierzehn Tage vor Karls Abreise gefeiert werden, damit er seiner schönen kleinen Frau noch ein wenig die großen europäischen Städte zeigen konnte – um so unruhiger wurde es im steuerrätlichen Hause – nach außen und nach innen. Karl hatte sich von Binchens Eltern ausbedungen, die Aussteuer ganz allein zu beschaffen, und das Mobiliar wurde nun schon verpackt und verladen. Karl wollte durchaus deutsche Möbel und Geräte drüben in seinem Hause haben.

Auch bei der Anschaffung und Auswahl aller dieser Dinge zeigte es sich wieder häufig, wie verschieden die Anschauung und der Geschmack des Paares war, welches so bald miteinander in die weite Welt hinausziehen und sich gegenseitig Heimat und Freunde, Verwandte und Muttersprache zu ersetzen haben sollte.

Karl wollte alles einfach, gemütlich und solid – Binchen alles zierlich, elegant und hochmodern haben. In manchen Stücken gab Karl nach – in den meisten setzte er seinen Willen durch, und so kam es, daß das verzogene Kind jetzt oft und öfter mit rotgeweinten Augen zu sehen war.

Karl befand sich in einem Taumel von Unruhe. Die Hochzeit, die Reise, der Abschied von der deutschen Heimat und den alten Beziehungen – und daneben, bei aller Glückseligkeit, der nicht ganz totzuschweigende Zweifel, wie das kleine eigensinnige, verwöhnte Mädchen sich und ihm dort drüben das Leben gestalten werde, dies alles zusammen sang und summte ihm in den Ohren und ließ ihn nicht zu Behagen kommen.

Ein paar Tage vor der Hochzeit – derenthalben die ganze Stadt mit Polterabendvorbereitungen und Kleider- und Putzangelegenheiten in mehr oder minder großer Aufregung sich befand, begegnete der glückliche Bräutigam Annchen Braun, die er seit jenem Musik- und Mondscheinabend nicht wieder gesehen hatte. Ihr eine Einladung zu seiner Hochzeit zu verschaffen, das hatte der gutmütige Karl vergeblich versucht. Steuerrats setzten sich gegen ein solches Ansinnen entschieden zur Wehr; die einfache kleine Lehrerin paßte ihnen nicht in den erlesenen Kreis, der ihres schönsten Töchterchens Ehrentag verherrlichen helfen sollte. Ja, Binchen erklärte, Anna Braun würde sich bei einer solchen Festlichkeit nur unbehaglich fühlen, da sie kein Kleid hätte, das für eine solche Gelegenheit geeignet und schicklich wäre. „Um so mehr, da Du ihre alte Liebe bist,“ setzte sie übermütig lachend hinzu; aber Karl Thiessen lachte dies Mal nicht mit, sondern sah Binchen groß an und ging davon.

Unter dem Eindruck dieser nun schon zweimal von seiner Braut gemachten Bemerkung traf er, wie gesagt, Anna Braun und trat ihr natürlich nicht ohne eine leichte Befangenheit gegenüber.

Er wollte erst mit stummem Gruß an ihr vorbei – besann sich aber dann eines Bessern und blieb stehen, indem er den Hut zog.

„Nun, Fräulein Annchen,“ begann er, „so sehe ich Sie doch noch einmal vor meiner Hochzeit und kann mir Ihren Glückwunsch ausbittcn. Werden Sie nicht“ – er stotterte verlegen und setzte dann ungeschickt hinzu: „Werden Sie nicht in die Kirche kommen und die Trauung ansehen?“

Sie schüttelte ruhig den Kopf.

„Nein, Herr Thiessen, das kann ich leider nicht,“ sagte sie dann scheinbar ganz unbefangen, „ich habe eine Stellung in Berlin angenommen und reise am Donnerstag früh – also an Ihrem Polterabendmorgen dahin ab. Es freut mich aber, Sie vorher noch zu treffen, und ich wünsche Ihnen alles – alles Gute, was man einem Menschen nur wünschen kann,“ setzte sie mit sinkender Stimme hinzu – es war doch furchtbar schwer!

Er sah an ihr vorbei in die Luft. „Ich danke – – ich danke sehr!“ erwiderte er in tiefster Verwirrung – „und wenn Sie – ich meine, Fräulein Annchen, wenn Sie auch einmal heiraten –“

Sie lächelte ihn durch aufsteigende Thränen an.

„Das wird nie geschehen,“ sagte sie dann ganz fest.

„Nun – wenn es aber doch geschieht,“ fuhr er fort, „dann wünsche ich Ihnen – nein, ich meine Ihrem Zukünftigen, daß Sie ihm jeden Abend so schöne Lieder vorsingen möchten wie damals mir – wissen Sie noch? – an dem Abend, wo der Mond so hell schien?“

„Adieu!“ sagte sie plötzlich, drehte sich auf dem Absatz um und war fort, als wenn die Erde sie eingeschluckt hätte, so daß er verblüfft dastand und um sich her sah.

Das sah er aber nicht, daß sie dicht neben ihm ins Haus gerannt war, daß sie dort hinter der Treppe stand und schluchzte, als sollte ihr das Herz in Stücken gehen – was mußte er auch vom Mondschein sprechen!


Zwei Tage vor dem Polterabend fügte es sich so, daß Karl Thiessen noch eine kleine Reise in geschäftlichen Angelegenheiten nach der Kreisstadt unternehmen mußte. Er benutzte diese kurze Abwesenheit zu den letzten Vorbereitungen – kaufte die Trauringe, nahm mit heimlichem vergnügten Lächeln das für Frau Karl Thiessen bestellte Schiffsbillet in Empfang und kehrte am Mittwoch abend zu spätester Stunde nach seiner Vaterstadt zurück, mit dem Gefühle eines Menschen, der nun auch alles besorgt hat, was sich besorgen läßt, und sich vergnügt die Hände reibt – „Nun kann es losgehen!“

Er hatte der guten Tante Verwalterin das Versprechen ablegen müssen, die letzten acht Tage vor seiner Hochzeit ihr Gast zu sein, und war infolgedessen mit Anfang der Woche zu ihr gezogen.

So ging er denn jetzt auch vom Bahnhof geradeswegs nach dem kleinen Gartenhause. Die alte Dame schlief natürlich schon [887] lange. Auch heute schien der Mond, wenn auch nicht so schön wie an jenem Liederabend – und in dem blassen ungewissen Lichte sah er auf seinem Tische einen weißen Brief schimmern.

Er zündete Licht an und nahm das Couvert mit einem eigenen, unbehaglichen Gefühl in die Hand, über dessen Berechtigung und Ursprung er sich selbst im Augenblicke keine Rechenschaft zu geben vermochte. Die Schrift war ihm unbekannt – er riß das Couvert, seiner sonstigen ordnungsliebenden Gewohnheit entgegen, ungeduldig auf – ein langer Brief steckte darin. Doch ehe er ihn gelesen hatte oder sich dazu anschickte, rollte ihm, als deutliche, greifbare Inhaltsangabe, ein goldblitzender Gegenstand auf dem Tische entgegen, fiel mit einem kurzen harten Klang zu Boden rollte ein Stückchen hin und blieb dann liegen.

Er hob ihn auf – es war der Verlobungsring, den er selbst vor wenig Wochen so glücklich und hoffnungsfroh an Binchens Goldfinger gesteckt hatte.

Er stand eine lange Zeit, ohne ein Glied zu rühren, und hielt den kleinen Ring in der Hand, indem er nur ein paarmal ganz mechanisch und gedankenlos vor sich hin sagte: „Was? – was?“ ein Mal immer lauter als das andere, bis der zornige Klang seiner eigenen Stimme ihn gewissermaßen aufweckte und ihm zum Bewußtsein brachte, daß er auch noch andere Leute aus ihrer Ruhe stören könnte – seine gute, alte Tante!

Mit dieser kleinen innerlichen Mahnung war er gewissermaßen zu sich selbst gekommen – zu seinem ruhigen, rücksichtsvollen Selbst; und das unklare, beschämende, widerwärtige Gefühl, daß man ihn – Kar! Thiessen – beiseite geworfen habe wie einen alten Handschuh, der zu nichts mehr zu gebrauchen ist – dies Gefühl wich einer dumpfen, ungemütlichen Verwunderung, wie denn so etwas gerade jetzt und gerade heute und gerade zwei Tage vor seiner Hochzeit möglich sei.

Er stand auf und ging hastigen Schrittes in der Stube hin und wieder. „Aber was habe ich denn gethan?“ frug er wieder laut vor sich hin, gleichsam, um wenigstens seine eigene Stimme zu hören – um sich nicht so grenzenlos verlassen und allein zu empfinden.

Da fiel ihm der Brief, der den Ring begleitet hatte, ein. Er setzte sich an den Tisch, um ihn zu lesen und sich Aufklärung zu schaffen. Nun erst bemerkte er, daß die Dämmerung schon hereinbrach, daß also der halb betäubte Zustand, in dem er sich befunden, nicht Minuten, wie er gewähnt, sondern Stunden gedauert haben mußte. Er las den Brief – er war von der Steuerrätin – einmal, zweimal,. und immer wieder durch, ohne eigentlich so recht zu begreifen, was er enthielt, und mit jedem Mal, da er ihn las, wurde er ihm unverständlicher.

Er hatte plötzlich die Empfindung: „Aber das geht mich ja im Grunde gar nichts an! – Das bin ich ja gar nicht, von dem hier die Rede ist!“

Und schwer war es für ihn, sich mit dem abgedankten Bewerber eins zu glauben, sich, der seine kleine Braut wie ein Meißner Porzellanfigürchen behandelt hatte, so zart und vorsichtig, und dem die Frau Steuerrätin jetzt Schwarz auf Weiß zu wissen that, daß durch sein rauhes, herrschsüchtiges Wesen und durch die namenlosen Ansprüche, die er schon während des Brautstandes an die Leistungen Sabinchens gestellt hätte, das arme Kind sich bis zur Verzweiflung verschüchtert fühlte. Bei dem Gedanken, ihm von den sie so zärtlich liebenden Eltern und Geschwistern fort in ein ganz fremdes Land zu folgen und dort nicht einmal, wie sie geglaubt, in glänzende Verhältnisse zu kommen, sondern wie eine Hausmagd arbeiten zu müssen – bei dieser Vorstellung habe Binchen den Mut verloren, ihm ihr Wort zu halten. Sie gebe ihm hiermit seinen Ring zurück und hoffe – sie beide wären ja noch so jung – daß das Leben ihm noch ein anderes Glück bescheren werde – und so weiter, und so weiter.

Als Karl Thiessen diesen sehr inhaltsreichen Brief endlich wirklich gelesen, nicht bloß mechanisch angestarrt, und als er den Inhalt wirklich begriffen hatte, als ihm klar und deutlich vor Augen gebracht wurde, daß er aufgehört hatte, ein begehrenswerter Bräutigam zu sein, seit sein angeblicher Reichtum sich als einfacher, behaglicher Wohlstand erwiesen hatte – da gewann plötzlich der ruhige, gesunde Menschenverstand, der eigentlich in seinem ganzen Leben noch stets die erste Stimme gehabt, sein Recht wieder und er sprach zum letztenmal in dieser denkwürdigen Nacht laut mit sich und sagte: „Aber da kann ich ja eigentlich recht froh sein!“

Es war ihm klar geworden, daß er an dem Mädchen nichts verloren habe als ihr niedliches Gesicht, und das wäre, wenn es fürs ganze Lebensglück ausreichen sollte, auch nicht viel gewesen.

Aber anders sah es freilich in ihm und um ihn aus, wenn er in die aufsteigende Sonne starrte und sich fragte, was er nun mit dem beginnenden Tage und jedem, der ihm folgen würde, anfangen sollte.

Keine Braut – kein Haus – keine Zukunft – wieder allein im fremden Land! Doch was half es, sich das alles immerfort her zu sagen!

Das Nächste, was sich ihm mit größter Entschiedenheit aufdrängte und vor Augen stellte, war, daß er hier nicht bleiben konnte. Sollte morgen die halbe und übermorgen die ganze Stadt mit Fingern auf ihn zeigen als auf den Bräutigam, den die Braut zwei Tage vor der Hochzeit seiner Wege gehen hieß? Sollte er sich von der guten alten Tante Verwalterin nach guter alter Damenart trösten, bemitleiden, sich gute Bissen vorsetzen lassen und nebenbei hören, fühlen und merken, wie sie urteilte: „Ja, siehst du, das habe ich mir immer gedacht – hättest du mich gefragt“ – und was der billigen Hinterher-Weisheit mehr ist?

Ihn überlief es siedendheiß bei dem Gedanken an das helle Tageslicht, das jetzt so siegreich, so unbarmherzig und unumgänglich dort im Osten heraufkam, um ihn und seine Demütigung in greller Beleuchtung den Blicken der Menschen preiszugeben.

Nein – das Leben hat ohne jede Frage Augenblicke, wo Flucht keine Feigheit, sondern eine moralische Notwendigkeit ist – und ein solcher Augenblick war gekommen. Er riß ein Blatt aus seiner Schreibmappe, teilte der Tante Verwalterin in kurzen fliegenden Worten, denen mehr nach der Schrift als nach dem Jnhalt die Erregung des Schreibenden anzumerken war, das Geschehene mit und that ihr zugleich kund und zu wissen, daß er mit dem ersten Frühzuge nach Berlin reisen wolle. Dort würde er vorläufig bleiben und ihr, ehe er Europa verließ, in jedem Fall noch ein Stelldichein geben, um ihr persönlich Lebewohl zu sagen. Sein Gepäck solle sie ihm nach dem von ihm bezeichneten Hotel schicken.

Dann zog er auch seinerseits den Verlobungsring vom Finger, siegelte ihn ein und adressierte ihn an Binchcn und – ja, nun war er ja wohl fertig!

Als er im Tagesgrauen, seine Handtasche mit den unentbehrlichsten Gegenständen bei sich, auf der Straße stand und die schlafende regungslose Stadt betrachtete, über der die eigentümliche kühle Farblosigkeit der ersten Morgenstunden lag, als er sich sagte, daß er in dieser Stadt sein Glück gesucht, scheinbar gefunden und es nun darin zurücklassen müsse, da bäumte sich etwas in ihm auf – ein wenig schmerzliche Wehmut und ein gut Teil mannhafter Trotz.

„Sein Glück hat der Mensch in sich,“ dachte er und richtete sich zu seiner ganzen stattlichen Größe auf, „wollen doch einmal sehen, ob ich nicht noch etwas aus meinem Leben zurechtschnitze – und nun vor allen Dingen nicht weich werden!“

Unter solchen Gedanken, solchem sich selbst Zureden hatte er den Bahnhof erreicht und saß nun im Wartesaal, der wie alle Wartesäle nicht sehr reizvoll und in dieser frühen Frühstunde doppelt öde aussah.

Zum Glück brauchte er nicht mehr lange zu warten. Draußen dampfte und keuchte schon der Kurierzug, wie erschöpft von seiner atemlosen Fahrt durch das deutsche Land, und eben wollte Karl das erste beste Coupé besteigen, als er eine wohlbekannte Gestalt mit derselben Absicht den Bahnsteig entlang gehen sah, ganz allein und mit müden, kleinen Schritten, die etwas Hilfloses, fast Rührendes an sich hatten – Anna Braun!

Karls erste und begreiflichste Empfindung war, der Begegnung schleunigst aus dem Wege zu gehen. Schon hatte er den Fuß auf dem Wagentritt – da kam eine zweite Empfindung, stärker als die erste. Es mußte doch in gewisser Weise wohlthuend sein, diesem guten kleinen Mädchen zu erzählen, wie man mit ihm umgegangen sei, und in ihren teilnehmenden Augen zu lesen, wie warm sie für ihn Partei nahm – er vertrat ihr den Weg.

„Fräulein Anna!“ sagte er mit einem gewissen Ernst, „wir sind zusammen hier angekommen und nun wollen wir auch zusammen abreisen – ich fahre auch nach Berlin.“

Die paar Worte, kurz wie sie waren, hatten doch lange genug gewährt, um Anna ihre volle Fassung wieder zu geben. Zuerst hatte sie ein bitteres, fast grollendes Gefühl empfunden, als sie den Jugendfreund vor sich sah und von der kühlen, stillen Insel des Verzichtens und der Ergebung, auf die sie sich mit so viel Mühe und so viel Thränen gerettet hatte, sich wieder in das brandende Meer der innerlichen Kämpfe zurückgeschleudert fand. [888] Aber hatte sie sich so lange beherrscht, so wollte sie es auch noch bis zum Schluß thun. „Sie fahren auch nach Berlin?“ fragte sie, seine letzten Worte wiederholend „und heut’?“

„Ja, gerade heut’!“ sagte er und wies nach der offenstehenden Coupéthür, „aber wollen Sie nicht einsteigen? Wir haben ja viele Stunden Zeit, uns unsere Pläne für die Zukunft zu erzählen.“

Meine Pläne sind rasch erzählt,“ sagte sie mit etwas erkünstelter Unbefangenheit, als sie einander gegenüber im Wagen saßen und der Zug sich langsam in Bewegung setzte, „ich gehe als Erzieherin zu fünf kleinen Mädchen nach Berlin – und alles andere wird sich dann später finden.“

„Und ich,“ sagte er und zog langsam den Handschuh von der linken Hand, „ich sage auch: ,alles andere wird sich finden‘ – ich bin so ein bißchen was man herrenloses Gut nennt – da – sehen Sie einmal her!“

Und er hielt ihr seine braune Hand hin, an der statt des Verlobungsringes ein weißeres Streifchen Haut zu sehen war, welches in letzter Zeit der Ring vor dem Braunwerden geschützt hatte.

Anna wirbelte der Kopf. Sie konnte zunächst nur eins denken – nur eins, so wenig egoistisch sie sonst war: es war jetzt kein Unrecht mehr, daß sie Karl Thiessen lieb hatte; er war wieder frei – und am Ende – man konnte ja nicht wissen – Sie wagte es nicht, den Gedanken weiter auszudeuten; sie saß ganz regungslos, ganz still mit zusammengepreßten Händen da, deren Zittern sie nicht ganz zu beherrschen vermochte. So hörte sie der Geschichte zu, die Karl Thiessen ihr erzählte, und nur ab und zu entrang sich ihrer Brust ein tiefer Seufzer des Mitgefühls, der vielleicht beredter war, als Worte es hätten sein können.

Und als Karl nun seine Erzählung schloß „Na ja!“ und auch tief seufzte, da blieben die Beiden eine ganze Weile still und Anna sah unentwegt vor sich nieder, als wenn sie die größte Angst hätte, ihre Augen könnten mehr sagen, als sie ihnen erlauben wollte.

„Und nun sehen Sie einmal, Fräulein Anna,“ fuhr Karl Thiessen fort, in dem der praktische Mensch in jeder Lebenslage immer wieder zum Durchbruch kam, „nun sehen Sie ’mal, nun schwimmt die ganze schöne Aussteuer nach China. Die hübschen, gemütlichen Möbel – das Nähtischchen, die große Wanduhr – all’ die netten Sachen – und dann werde ich dazwischen sitzen und mir ausdenken, wie hübsch es hätte sein können – wenn es eben hätte sein sollen! Schade – nicht wahr?“

Sehr!“ erwiderte Anna fast unhörbar.

„Na, sprechen wir nicht mehr davon,“ meinte Karl und fuhr sich mit der Hand durch die krausen Haare, „was hin ist, ist hin. Sprechen wir lieber von Ihnen, Fräulein Anna – erzählen Sie mir einmal, wie Sie sich Ihr späteres Leben denken!“

Anna zuckte die Achseln. „Nun – am liebsten denke ich es mir gar nicht,“ sagte sie dann mit einem Versuch zur Heiterkeit, „ich werde eben die fünf kleinen Mädchen unterrichten, bis es fünf große Mädchen geworden sind – und dann – nun, dann wird es ja wohl anderwärts irgendwo wieder fünf kleine Mädchen geben, mit denen werde ich das Unterrichten wieder von vorn anfangen. Und so wird es dann weiter gehen.“

Karl sah sie nachdenklich an. „Und immer unter fremden Leuten?“ sagte er dann vor sich hin.

„Ja – aber das thut ja nichts,“ meinte Anna, tapferer als ihr zu Mut war; sie wollte um keinen Preis sein Mitleid rege machen – jetzt weniger als je! „Ich bin ja gesund und jung!“

„Das sind Sie!“ meinte Karl und sah freundlich in das liebe Gesicht seines Gegenübers, „aber Sie bleiben doch nicht immer jung, Fräulein Anna! Wenn Sie einmal alt werden – was wird denn dann?“

Sie holte tief, tief Atem.

„Daran habe ich freilich noch nicht gedacht,“ sagte sie dann, „und es ist wohl auch besser, man denkt nicht daran – und,“ setzte sie stockend hinzu, „es werden ja auch nicht alle Leute alt.“

Karl sah sie erschrocken an.

Also so ein Leben lag vor dem armen Mädchen – vor dem netten, lieben Mädchen – daß sie darauf hoffte, nicht alt zu werden!

„Aber Fräulein Anna,“ sagt er mit unsicherer Stimme, „wer wird denn so etwas sagen?! Sie haben doch so viel – ich meine, es giebt doch so viel – Sie können ja doch so hübsch singen. Herrgott, daran habe ich ja nie mehr gedacht, wie hübsch Sie singen können!“ setzte er hinzu und verfiel in ein langes, nachdenkliches Schweigen, das sie auch nicht unterbrach.

Nach einer ganzen Weile hob er den Kopf. „Ein Klavier habe ich nicht gekauft bei der Aussteuer,“ sagte er dann.

„Nein?“ erwiderte Anna fragend.

„Nein!“ antwortete er, „sie – Binchen – konnte ja gar nicht spielen und singen – das hat mir schon immer sehr leid gethan. Ich höre es so sehr gerne.“

Keine Antwort.

„Sehen Sie mal, Fräulein Anna,“ begann Karl nach kurzem Schweigen von neuem, „Sie können sich das Altwerden nicht hübsch denken – na – ich eigentlich auch nicht. Dort unten in der Fremde – unter lauter Leuten, die knapp Deutsch verstehen, und mit einem chinesischen Koch – und wenn man dann des Abends müde nach Hause kommt, dann ist niemand da. Und es wäre doch sehr hübsch, wenn man dann jemand fände, der ein deutsches Volkslied singt!“

Anna wendete in tiefster Beklommenheit den Kopf hin und her.

„Sie haben ja kein Klavier,“ warf sie fast unhörbar ein.

„Nun, das ließe sich am Ende – das läßt sich ja beschaffen – das kriegt man auch drüben,“ meinte Karl, seltsam erheitert durch diesen Einwurf. „Fräulein Anna – darf ich Ihnen einmal etwas sagen?“

„Das kann ich Ihnen ja wohl nicht verbieten,“ meinte sie halb lachend.

In diesem kritischen Momente öffnete der Schaffner die Thür, um sich von dem Paar, das jetzt ohne Mitreisende war, die Billets zu erbitten.

Karl öffnete seine Brieftasche und fand neben seiner Fahrkarte die zwei Schiffsbillets – er warf einen raschen Blick auf dieselben und wurde ganz blaß.

„Ach so!“ sagte er verstört vor sich hin.

Der Schaffner sah ihn verwundert an, knipste an den Kärtchen herum und verließ das Coupé.

„Sehen Sie ’mal, Fräulein Anna,“ begann Karl nun wieder, fast ebenso verlegen wie sein Gegenüber, „hier habe ich mein Retourbillet nach China – und hier habe ich einen zweiten Schein, worauf ich mir meine Frau mitnehmen wollte – bitte, Fräulein Anna wollen Sie ihn sich nicht einmal ansehen?“

Anna schüttelte heftig den Kopf.

„Fräulein Anna – wenn Sie nun das zweite – wenn ich Ihnen das geben könnte – und Sie dann als meine Frau – Sie sind ja doch ein verständiges Mädchen, welches das Leben mit Ruhe ansieht –“

Aber das war zu viel! Anna, die beherrschte, sanfte, ruhige Anna, sprang von ihrem Sitz auf und trat mit blitzenden Augen vor Karl hin.

„Nein!“ rief sie überlaut, „nein, ich bin kein ruhiges, verständiges Mädchen – gar nicht die Spur! Und Sie mögen es denn einmal hören – einmal – und dann nie – nie wieder! – Ich habe Sie lieb gehabt mein ganzes Leben lang – schon wie ich mit der Schulmappe herumlief. Und ich habe an Sie gedacht und auf Sie gewartet und auf Sie gehofft – die ganzen langen Jahre hindurch – und ich habe es mit angesehen, daß Sie an mir vorbeigingen zu einer andern, die jünger und hübscher war, und ich habe mich nicht verraten. Aber wenn Sie nun kommen und mir sagen, Sie hätten keine Frau für Ihre Schiffskarte, und da sollte ich sie benutzen – da will ich es Ihnen doch sagen – als Retourbillet lasse ich mich nicht heiraten – und nun will ich aussteigen, und ich fahre nicht mehr mit Ihnen!“

Und ohne jede Rücksicht auf den erschwerenden Umstand, daß der Zug im vollsten Jagen war, rüttelte Anna mit beiden Händen an der fest verschlossenen Coupéthür, um, als diese – in diesem Augenblick entschieden die Verständigere von beiden – nicht nachgab und sie die Fruchtlosigkeit ihrer Bemühungen einsehen mußte, in ihren Sitz zurückzufallen und in leidenschaftliches Weinen auszubrechcn.

Karl war durch die Ereignisse der letzten zwölf Stunden bis zur äußersten Leistungsfähigkeit seiner Nerven gebracht – es fehlte nicht viel, so hätte er ihr Gesellschaft geleistet. Zunächst that er es nicht – dafür aber das klügste, was er thun konnte – er ließ sie ruhig ausweinen, und als sie endlich – wie ihm schien, ungefähr nach einem halben Jahr – ihre Thränen zu trocknen begann und den Kopf erhob, da nahm er denn seine Verteidigungsrede auf.

Er setzte ihr mit großer, ehrlicher Wärme auseinander, daß er sie ja immer sehr gern gehabt hätte und daß er gar nicht der Mann dazu sei, jemand aus purer Gutmütigkeit zu seiner Frau [890] haben zu wollen – „aus lauter schnödem, unverfälschtem Egoismus vielmehr, Anna – denn daß ich ’mal einen ganzen Abend auf dem schnurgeradesten Wege dazu war, mich in Sie zu verlieben, das wissen Sie doch ganz genau! Nein, schütteln Sie nur nicht den Kopf! Denken Sie ’mal an den Abend, wo der Mond schien und Sie die deutschen Lieder sangen. Damals habe ich schon gedacht: ,wie schön wäre es, wenn sie mir in China so, Abend für Abenh ein Paar Lieder vorsänge‘ – aber da habe ich den Gedanken weit fortgeworfen, denn da ging es ja doch gar nicht, daß ich ihn ausspinnen durfte. Und wenn wir nun wieder hier zusammen kommen – wie zusammen geführt, Anna, am Anfang und am Ende meiner Heiratsfahrt – und mir alles so klar wird – und wenn Sie mich wirklich eher lieb gehabt haben als ich Sie – so wahr mir Gott helfe! – jetzt habe ich Sie auch lieb – und warum soll es denn nicht auch einmal anders in der Welt hergehen beim Verloben als alle Tage?“

Sie schwieg, aber schüttelte noch immer den Kopf.

„Nun, Anna?“ drängte er.

„Und wenn ich es thäte,“ sagte sie leise – „ich sage nicht, daß ich, es thun will – aber wenn: da würden alle Leute sagen, Sie hätten mich nur aus Aerger genommen, weil Binchen Sie nicht gemocht hat!“

Er sah ihr lachend ins Gesicht.

„Nun, Anna – und wenn wirklich hier in Deutschland ein Paar alte Klatschbasen so etwas sagen – meinen Sie, daß Sie das in China sehr anfechten wird? Schreiben wird’s uns wohl keine dahin! – Nein, mit solchen Gründen wollen wir uns das Leben, nicht schwer machen – die lasse ich gar nicht gelten.“

Er hielt ihr die Hand hin und sah sie mit seinem gutmütigsten Schelmenblick an. „Nun, Annchen? Darf ich das Klavier kaufen?“

Und sie schlug unter Thränen lachend ein und sagte dann ganz leise: „Siehst Du, ich habe es mir immer vorgesagt in der ganzen langen schweren Zeit, wo Du Dich gar nicht um mich kümmertest – ‚wenn der liebe Gott es will, kriegst Du ihn doch noch‘ – und nun hat er es gewollt!“

„Du gutes Mädchen!“ sagte er ernst und gerührt.


Meine Geschichte wäre nun wohl mit der Verlobung zu Ende, wie es einer richtigen Geschichte zukommt.

Aber ich muß doch noch erzählen, daß Karl Thiessen es unter Aufbietung aller Möglichkeiten und Unmöglichkeiten fertig bekam, einen Ersatz für Annchen in ihrer nun doch einmal angenommenen Stellung zu gewinnen; daß die Frau Verwalterin die Freuds erlebte, Brautmutter spielen und die glänzende Hochzeit des jungen Paares in Berlin anordnen zu dürfen und als Hauptperson schon an der Hochzeitstafel probierte, sich einzureden, sie habe die beiden eigentlich zusammengebracht. Und jetzt glaubt sie’s schon so fest, daß es ihr niemand mehr abstreiten kann!

Kürz darauf dampften Karl und Anna zusammen nach China ab und sind dort ein sehr glückliches Paar geworden.

Wer noch etwas von Steuerrats Binchen wissen will, dem sei mitgeteilt, daß sie einen recht vermögenden Kaufmann geheiratet hat, der aber verlangt, daß seine hübsche Frau an besonders beschäftigten Tagen selber hinter den Ladentisch tritt und Zucker und Kaffee für die Kunden abwägt. Ob sie da manchmal mit einem Seufzer an Karl Thiessen und an China denkt, das weiß ich nicht – bin auch viel zu diskret, um danach zu fragen.

Karl Thiessen und seine Frau sind übrigens vor kurzem mit einer Schar prächtiger Jungen wieder in Deutschland gewesen.

Das ehemalige Annchen Braun scheint jetzt ganz beruhigt darüber zu sein, daß sie einst „als Retourbillet“ geheiratet worden ist, und sieht hübscher und jünger aus als in ihrer Mädchenzeit.

Ich kann es mit gutem Gewissen versichern, denn ich habe sie selbst gesehen.