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Kierkegaard (Benjamin)

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Textdaten
Autor: Walter Benjamin
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Titel: Kierkegaard
Untertitel: Das Ende des philosophischen Idealismus
aus: Vossische Zeitung. 1933; Beilage: Literarische Umschau, Nr. 14, S. 1
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Erscheinungsdatum: 2. April 1933
Verlag: Ullstein
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Erscheinungsort: Berlin
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Quelle: Scan auf Commons
Kurzbeschreibung:
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Kierkegaard
Das Ende des philosophischen Idealismus

Der letzte Versuch, Kierkegaards Gedankenwelt ungebrochen zu übernehmen oder weiterzuführen, ging von der „Dialektischen Theologie“ Karl Barths aus. Die Wellen dieser theologischen Bewegung berühren sich in ihren Ausläufern mit den von Heideggers existenziellem Denken hervorgerufenen Kreisen. Der vorliegende Versuch – Theodor Wiesengrund-Adorno: Kierkegaard (G. C. B. Mohr, Tübingen) – geht an den Gegenstand von einer ganz anderen Seite heran. Kierkegaard wird hier nicht fortgeführt, sondern zurück: Zurück ins Innere des philosophischen Idealismus, in dessen Bannkreis die eigentlich theologische Intention des Denkers zur Ohnmacht verurteilt blieb.

Wiesengrunds Fragestellung ist somit, wenn man will, eine historische. In ihrer Bearbeitung aber erweist er, aus welch höchst aktuellen Interessen heraus seine methodisch so vorsichtige Untersuchung entsprungen ist. Sie führt zu einer Kritik des deutschen Idealismus, dessen Enträtselung von seiner Spätzeit ausgeht. Denn Kierkegaard ist ein Spätling. Die von Wiesengrund sehr glücklich charakterisierte Zwitternatur seiner schriftstellerischen Erscheinung, die seine Produkte so oft zu Bastarden von Dichtung und Erkenntnis zu machen scheint, gibt Aufschluß über die verborgensten Elemente des Idealismus, die in ihm wirken. Im ästhetischen Idealismus der Romantik nämlich kommen die mythischen Elemente des absoluten Idealismus überhaupt zum Vorschein. Und deren logische und historische Darstellung bildet in Wiesengrunds Untersuchung den Mittelpunkt.

Der Verfasser zeigt das Mythische nicht nur in der Existenzialphilosophie von Kierkegaard, sondern in „jeglichem Idealismus des absoluten Geistes“ auf. Nirgends jedoch – selbst nicht beim späten Schelling und bei Baader – hat es in derart originalen, zeitgeprägten, aufschlußreichen Formationen seinen Niederschlag gefunden wie bei Kierkegaard. Die sehr präzise und erschöpfende Aufdeckung und Beschreibung dieser Formationen gibt manchen Seiten der Untersuchung etwas von einer Phantasmagorie. Nie aber geht die Einsicht oder Schlagkraft – wie das in der „Kulturgeschichte“ oft der Fall ist – auf Kosten kritischer Genauigkeit. Und doch wird keine Kulturgeschichte dieses 19. Jahrhunderts es an Bildkraft mit den Konstellationen aufnehmen können, in die hier, aus dem Zentrum seines Denkens, Kierkegaard bald mit Hegel, bald mit Wagner, bald mit Poe, bald mit Baudelaire tritt. Dem Aufriß in der Breite des Jahrhunderts entspricht der in die Tiefe der Vergangenheit. Pascal und die Allegorienhölle des Barock sind hier der Vorhof jener Zelle, in der Kierkegaard der Trauer sich anheimgibt, und die er mit seiner falschen Freundin Ironie teilt.

Diese Bilderwelt, in deren Labyrinthen und Spiegelungen Kierkegaards wesenhafteste Erfahrungen liegen, hat er selber aber als etwas Geringes, Willkürliches, Idiosynkratisches empfunden; und der ganze hochmütige Anspruch seiner Existenzialphilosophie beruht auf der Ueberzeugung, in ihr, als dem Bezirk des „Innerlichen“, der „reinen Geistigkeit“, den Schein durch die „Entscheidung“, die existenzielle, kurz die religiöse Haltung überwunden zu haben. Hier wird nun Wiesengrund in einer eindringlichen Analyse des Existenzialbegriffs zum unbestechlichen Kritiker Kierkegaards. Der „trügerischen Theologie der paradoxon Existenz“ schaut er bis auf den Grund. Und so erkennt er „die ‚Tiefe‘ Kierkegaards, will man an dem vielmißbrauchten Begriff festhalten, keinesfalls darin, unter der Hülle idealistischer Denkformen einen absoluten religiösen Ursinn wieder hergestellt zu haben“. Vielmehr hat Kierkegaard als Ursinn des Idealismus selber „in dessen historischem Untergang mythischen Gehalt aufgehen lassen als einen zugleich historischen“.

So bekommt die Kierkegaardsche Innerlichkeit ihren bestimmten Ort in der Geschichte und Gesellschaft. Ihr Modell ist das bürgerliche Interieur, in welchem historische und mythische Züge ineinandertreten. Mit gutem Griff hat Wiesengrund eine Anzahl von faszinierenden Beschreibungen derartiger Innenräume dem Werke Kierkegaards entnommen. In ihnen erweist sich die Innerlichkeit „als das Gefängnis des urgeschichtlichen Menschenwesens“. Es ist aber nicht, wie Kierkegaard meinte, der „Sprung“, der, mit der Zauberkraft des „Paradoxen“ den Menschen aus dieser Gefangenschaft befreit. Nirgends greift Wiesengrund vielmehr tiefer, als wo er, die Schablonen der Kierkegaardschen Philosophie mißachtend, in deren unauffälligsten Relikten, den Bildern, Gleichnissen, Allegorien den Schlüssel sucht.

In diesem Buch liegt viel auf engem Raum. Leicht möglich, daß die späteren des Verfassers einmal aus diesem hier entspringen werden. In jedem Fall gehört es zu der Klasse jener seltenen Erstlingswerke, in denen ein beflügelter Gedanke in der Verpuppung der Kritik erscheint.
W. B.