Kinderkrämpfe

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Autor: Carl Ernst Bock
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Titel: Kinderkrämpfe
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aus: Die Gartenlaube, Heft 45, S. 711–712
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[711]
Zur Beruhigung der Mütter am Krankenbette.
Kinderkrämpfe.

Herzzerreißend ist sicherlich für eine Mutter der Anblick ihren ächzenden und wimmernden oder laut aufschreienden, bewußtlos und in Krämpfen daliegenden Kindes. Und doch entspricht sehr oft die Ursache dieses Krampfzustandes, – bei dem das Kind mit starren oder schielenden Augen, verstörter Miene, rückwärts gezogenem Kopfe und bei Verzerrung der Glieder ganz ungewöhnliche Bewegungen oder Zuckungen macht, – diesen schrecklichen Krankheitserscheinungen durchaus nicht. Ja es liegt diesen Krämpfen gar nicht selten eine sehr geringfügige Störung in diesem oder jenem Organe des Kindeskörpers zu Grunde. Deshalb brauchen auch die Mütter, wenn ihre kleinen Kinder von Krämpfen heimgesucht werden, durchaus nicht gleich die Hoffnung auf Wiederherstellung derselben zu verlieren. Sie können sich ferner noch zu ihrem Troste und zur Beruhigung dem Gedanken hingeben, daß ein Kind in den ersten Lebensjahren, wegen des unentwickelten Zustandes seines Gehirns, noch kein Selbstbewußtsein besitzt und deshalb Schmerzen, die bei ähnlichen Krämpfen von Erwachsenen empfunden werden, gar nicht hat und nicht fühlen kann; sowie daß, wenn doch Schmerzempfindung wirklich schon vorhanden sein könnte, die Ursache des Krampfzustandes in der Regel eine solche ist, welche auch das Empfindungsorgan betäubt und darum ein Schmerzgefühl nicht aufkommen läßt. Wenn die Mütter meinen, daß bei einem kranken kleinen Kinde das Schreien und Strampeln mit Armen und Beinen durch Schmerz veranlaßt würde, so irren sie; das geschieht ganz automatisch und ohne Zuthun des Gefühls und Willens des Kindes, ebenso wie ein Chloroformirter, ein durch Fall oder Schlag Betäubter oder ein Schlafender nicht selten die zweckmäßigsten Bewegungen, ohne nur das Geringste davon zu wissen, ausführt (z. B. eine Fliege von seinem Gesichte jagt, sich an einer kranken Hautstelle kratzt). Man nennt, wie wir später sehen werden, solche unwillkürliche Bewegungen „Reflexbewegungen“.

Um einzusehen, wie leicht kranke und krampfhafte Bewegungen bei kleinen Kindern zu Stande kommen können, muß der Leser zuvörderst einige Einsicht in die elektrische Nervenmaschinerie des menschlichen Körpers bekommen. Er denke sich die Sache etwa so: von allen Punkten unseres Körpers gehen feine elektrische Drähte (Fäden, Nerven) zu einem Apparate, den man den Mittelpunkt des Nervensystems nennt, der aus dem Gehirne (in der Schädelhöhle) und Rückenmarke (im Wirbelsäulencanale) besteht und den Ausladeplatz für elektrische Fünkchen bildet, welche hier aus den sogen. centralen Enden dieser zuleitenden (centripetalen) Drähte herausschlagen. In demselben Apparate nun, in welchem die zuleitenden Nerven endigen, nehmen aber auch elektrische Drähte ihren Anfang, welche sich aus diesem Apparate heraus zu den Bewegungsorganen (Muskeln) aller Körpertheile hinziehen, wegleitende (centrifugale) Nervenfäden genannt werden und für bestimmte Bewegungen bestimmter Bewegungsapparate in passende Gruppen geordnet dicht nebeneinander liegen.

Wird ein zuleitender Faden irgendwie und irgendwo in seinem Verlaufe veranlaßt elektrische Fünkchen im Centralapparate (Gehirn, Rückenmark) auszuladen (man pflegt zu sagen „gereizt“, so können diese Fünkchen unter gewissen Umständen im Centralapparate selbst (besonders im Gehirne) verbraucht werden, häufig schlagen sie aber auf die dem funkenliefernden centripetalen Faden zunächst liegenden centrifugalen Fäden über, reizen dieselben und veranlassen so in demjenigen Bewegungsapparate, zu welchem sich jene Fäden hinziehen, diejenige Bewegung, für welche sie gerade von Natur bestimmt sind. Z. B. würden die von der Hand zum Centrum leitenden Nerven gereizt, so fände die Übertragung dieser Reizung zunächst auf die den Arm bewegenden Muskeln statt und daher kommt es, daß man die Hand, die zufällig an den heißen Ofen trifft, sofort wegzieht, selbst in dem Falle, daß man ganz bewußtlos ist. Nur dann würde dies nicht geschehen und die Hand könnte dabei total bis zur Kohle verbrennen, wenn die zuleitenden Nerven ihre elektrischen und im Centrum auszuladenden Fünkchen zu liefern nicht mehr im Stande (d. h. die Nerven gelähmt) wären.

Mit einigen der zuleitenden elektrischen Fäden (oder den centripetal leitenden Nerven) hat es nun aber noch eine ganz besondere Bewandtniß. Diejenigen derselben nämlich, welche sich in dem Theile des Gehirns endigen, welcher vorzugsweise dem Gefühle vorsteht, veranlassen, wenn sie gereizt werden, Empfindungen, jedoch immer nur dann, wenn sich das Gefühlsgehirn schon gehörig entwickelt hat (was beim kleinen Kinde eben noch nicht der Fall ist), und wenn es nicht außer Thätigkeit gesetzt, betäubt (gefühllos) wurde, was beim Chloroformiren und dergl. vorkommt. Man nennt diese Art der zuleitenden Fäden auch Empfindungsnerven. Sie veranlassen, wenn sie ungewöhnlich stark gereizt werden, oder wenn das Gefühlsgehirn krankhaft reizbar ist, widernatürliche und bisweilen äußerst schmerzhafte Empfindungen. Sie können gleichzeitig aber auch dadurch, daß ihre elektrischen Fünkchen, die sich entweder in Folge der stärkeren Reizung in größerer Menge und mit mehr Heftigkeit entladen, oder auch wegen des reizbaren (leitungsfähigeren) Gehirns über eine größere Strecke ausbreiten, auf die Wurzeln von Bewegungsnerven überschlagen und so neben abnormen Empfindungen auch noch abnorme Bewegungen der verschiedensten Art veranlassen. Das Ueberspringen elektrischer Fünkchen (der Reizung) [712] von Empfindungs- auf Bewegungsnerven nennt man in der Wissenschaft „Reflex, Ueberstrahlung“, und die so ohne und gegen den Willen erzeugten Bewegungen „Reflexbewegungen“. Die Kinderkrämpfe sind in sehr vielen Fällen solche Reflexbewegungen; bisweilen werden sie natürlich auch durch Krankheiten im Nervencentrum veranlaßt.

Daß nun aber bei kleineren Kindern häufig Reflex-Krämpfe auftreten, hat seinen Grund darin, daß in dem noch sehr weichen Gehirne bei nur einigermaßen heftigerer Reizung der zuleitenden Nerven das Ueberspringen jener elektrischen Fünkchen auf eine große Anzahl auch entfernt von einander liegender Bewegungsnerven leichter vor sich geht, als bei Erwachsenen. So sah Verfasser beim eigenen Kinde mehrtägige sehr heftige allgemeine Krämpfe in Folge einer starken Reizung des Gehörnerven (durch einen Dampfwagenpfiff) eintreten. Deshalb kommen bei Würmern im Darme, bei leichten Reizungen der Haut, beim Zahnen etc. oft schreckenerregende Krämpfe bei Kindern zum Vorschein, die aber sehr bald und ohne Anwendung irgend eines Arzneimittels wieder verschwinden. Allerdings gesellen sich solche Krämpfe nicht selten auch zu nicht ungefährlichen Krankheiten, besonders im Athmungs- und Verdauungsapparat, aber auch diese Reflexkrämpfe haben keine so gefährliche Bedeutung wie die Krämpfe, deren Ursache im Schädel sitzt. Glücklicher Weise sind diese letzteren (centralen) Krämpfe seltener als Reflexkrämpfe.

Wenn Verfasser nun durch diese Darlegung eines Theils die Angst der Mütter bei vorkommenden Krämpfen ihrer Kinder in Etwas zu beschwichtigen gesucht hat, so möchte er andern Theils aber auch noch vor dem vielen Mediciniren bei Kinderkrämpfen warnen. Man bedenke doch nur, daß der Arzt bei diesen Leiden in den allerwenigsten Fällen die Ursache der Krämpfe mit Sicherheit ausfindig machen kann und daß es gewissenlos ist, auf gut Glück hin wirksam einzugreifen. Verf. würde es niemals über das Herz bringen können, kleinen Krampfpatienten Blutegel an den Kopf zu setzen und das scheußliche Calomel einzugeben, ja er ist sogar der festen Ansicht, daß schon manches mit Krämpfen behaftete Kind nicht diesen, sondern den Mitteln unterlegen ist. Leider nur zu oft öffnete Verf. Kinder, welche unter Krämpfen gestorben waren, bei denen das Gehirn widernatürlich blutarm gefunden wurde, obschon im Leben mit Energie gegen Blutüberfüllung und Entzündung des Gehirns gekämpft worden war. Man möchte wahrlich, selbst als Feind der ganz unwissenschaftlichen homöopathischen Heilkünstelei, doch bei Kinderkrämpfen, wenn es denn durchaus nicht ohne Arzt und Arznei geht, einen Homöopathen mit seinen Nichtsen in Streuküchelchen und Tröpfchen empfehlen.

Ein vernünftiges diätetisches Verfahren bei diesen Krämpfen richtet sein Augenmerk darauf, daß die natürlichen Functionen im kindlichen Körper gehörig in Ordnung gehalten werden. Man lasse den kleinen Patienten in guter, reiner, mäßig warmer Luft athmen und in weichem, trocknem, warmem Lager ohne beengende Kleidung ruhen, sorge durch Klystiere für Stuhlentleerung, fördere die Hautthätigkeit durch warme Waschungen oder Bäder und erhalte die Ernährung mittels leichtverdaulicher nahrhafter Kost (besonders durch Milch und Ei) aufrecht. Ist’s freilich möglich, die Art und den Ort der Reizung, welche durch Ueberstrahlung die Krämpfe hervorrief, aufzufinden, dann muß dieselbe natürlich zu heben versucht werden, aber nur auf unschädliche Weise. Das überlasse man dann einem rationellen Arzte.
Bock.