Kindertragödie (Theodor Lessing)

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Textdaten
Autor: Theodor Lessing
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Titel: Kindertragödie
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aus: Prager Tageblatt 14. Februar 1928
Herausgeber:
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Entstehungsdatum: 1928
Erscheinungsdatum: 1928
Verlag: Heinrich Merch Sohn
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Erscheinungsort: Prag
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Quelle: ANNO und Scan auf Commons
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[3] Theodor Lessing (Hannover):

Kindertragödie.

Steglitz, Berlins schnellstwachsender Vorort, hatte um 1900 einige Bedeutung für die Jugendbewegung. Ludwig Gurlitt (heute vereinsamt auf Capri), hat hier gelehrt. Hans Blüher, sein Schüler, schrieb die Geschichte des deutschen Wandervogels, der von den Steglitzer Schulen aus Aufstieg nahm durch die weite Welt. Dann 1918, seit der Revolution, veränderte sich das Bild. Das Hakenkreuz siegte. An die Stelle gesunder Wanderjugend trat die politisierte Jugend, trat die Spielerei mit Revolvern. Gymnasiasten töteten Deutschlands klarsten Kopf. Gymnasiasten gründeten den „Jungdeutschen Orden“. Zum „Jungdo“ gehörte auch Paul Krantz, geboren am 25. Feber 1909. Heute steht er vor uns als „Mörder“. –

Ein schmaler, schmächtiger Junge verbirgt sein blasses Gesicht, streicht verlegen durch das gescheitelte dunkelblonde Haar, zuckt nervös mit eckigen Gliedern. Es ist der Sohn des Musikus Krantz aus den „Wilhelmshallen am Zoo“, ältestes von drei Geschwistern. Nachdem er die Berliner Volksschule besucht hatte, wurde er 1923, vierzehn Jahre alt, als „begabt“ entdeckt und bekam eine Freistelle an der „Mariendorfer Oberrealschule“. Zunächst geht es gut. Um 1926 aber beginnen Unordnungen. Er möchte „Dichter“ werden. Er träumt den Mädeln nach. Von den Lehrern unverstanden, von nachgiebigen Eltern schlecht behütet, rettet er sich in sein Reich unmoderner Romantik. Herbst 1926 hat er sich durch Nachhilfestunden hundert Mark gespart. Damit läuft er fort. Teils aus Widerwillen gegen die Schule, teils aus platonischer Liebe zu „Gerda, die einem andern zugehört“. Er will nach Konstantinopel. Er will nach Amerika. Kommt bis Wien. Dort leiht ihm die Herbergsmutter des „Jungdo“ Geld zur Heimfahrt. Er kehrt reumütig zurück auf die Schulbank. Die Oberprima aber gefällt ihm nun nicht mehr. Nur Einer ist da, der kameradschaftlich an ihn glaubt: Günther Scheller, 19jährig, ebenfalls Gedichte machend, ebenfalls die schöne Literatur liebend. Günther ist aus wohlhabendem Hause. Der Vater, kalter Geschäftsmann, hat sein Bureau in Berlin; Winters wohnt man in Steglitz, Sommers im Landhaus am Mahlowsee. Auf Einladung Günthers kommt Paul Sommers nach Mahlow. Nun beginnt die Kindertragödie. –

Günther hat eine Schwester: Hildegard, geboren am 27. Juni 1911. Sie gehört zu der bekannten Gattung: Flatterseelchen. Im dunkelbraunen glatthaarigen Bubikopf unter schwarzen Wimpern klare dunkelblaue Augen. Auf den zarten Wangen im fein geschnittenen Gesichtchen Kommen und Gehen des frischen Bluts. Die geschwungenen Lippen sinnlich; weich die sanfte Stimme, voll Energie das gestraffte Persönchen; äußerlich Weltdämchen, innerlich kahl und leer. Die Freundinnen nennen sie „Männe“. Sie ist ja „wie ein Junge“, während Günther „so mädchenhaft“ ist. In dieses Nixchen verliebt sich Paul, schreibt Bände Gedichte und Tagesbücher, läuft einher in der selig-unseligen Jugendstimmung: links in der Brusttasche die letzten lyrischen Ergüsse; rechts einen Revolver: „für alle Fälle“. Die zwei Freunde öffnen einander beim Rudern, auf Spaziergängen das Herz. Paul spricht von Hilde. Günther, verschlossener, weil zaghafter, gesteht, daß er oft wie ein Mädchen fühlt. Ein Geschäftsfreund von Papa bewirbt sich um ihn. Und da ist ein schöner Junge aus dem Bekanntenkreis der Familie: Hans Stephan, 18 Jahre alt; wollte gern Geiger werden, muß nun, da er in der Schule nicht vorankam, im Hotel als Koch lernen. Ein gesunder, derbsinnlicher, dumpfer Draufgänger. Für den hat die zarte Hilde einen Schwarm. Aber er, Günther, liebt und haßt ihn zugleich.

So beginnen vier wurzellockere Kinder ihr trostloses Seelenquartett: zwei lebenspraktische: Hans und Hilde, zwei abgedrängte: Günther und Paul. Günther haßt Hans, Paul liebt Hilde. Aber Hans und Hilde, zwei Kaltherzige, küssen sich und machen sich lustig über die zwei „Jungens“, die für Klabund und Bronnen schwärmen und „Dichter“ werden wollen.

Das ist Jugend von heute, zugleich seelisch verarmt und sinnlich überspannt, zugleich schlechtbehütet und prüde eingeengt … Sie haben Lehrer, denen sie sich nie vertrauen. Sie haben Eltern, denen man die Kinder entziehen müßte. Kinder dieser Art, Lehrer dieser Art, Eltern dieser Art gibt es Tausende. Die Schule vernüchtert, die Großstadt verflacht, die Gesellschaft verpfuscht sie; am schlimmsten verpfuschte sie die leichterregbare weltgewandte Hilde. Die küßt sich reihum mit feschen Jungens, Fräulein „tout mais ne ça pas“. Als Günther ihr Pauls Tagebuch gibt voller Todesglut und Lebenssehnsucht, liest sie es mit ihrer fünfzehnjährigen Kusine, und dann schreiben die zwei Mädels ein neckisches Gedichtchen hinein, welches so endet:

„Was nützt Dir Liebe in Gedanken?
Kommt die Gelegenheit, dann kannst Du nicht,
Ein Mädel wird sich schön bedanken,
Wenn Deine Liebesglut nur aus Gedichten spricht.“

Das läßt sich Hans Taps nicht zweimal sagen. Fortan beginnt auch er mit Hilde Küsse zu tauschen. In der ersten Erregung schreibt er ins Tagebuch:

„Die wilde Glut in Deinen Küssen
Erweckte mich zu Leidenschaft,
Nun bin ich Dein mit aller Kraft
Und werd’ es bitter büßen müssen.“

So treiben sie’s also: Liebe, Küssen, dazwischen blutrünstige Mord- und Selbstmordlyrik im Wedekind-, im Hasenclever-Stil. In diesen Jahren spielt ja jeder mit Liebe und Tod. Das braucht nicht katastrophal auszugehen. Aber nun kommt (wie immer!): Dämon Zufall.

27. Juni 1927, Sonntag abend, befindet sich Paul allein im Mahlower Landhaus. Fräulein Otto, die junge Hausstütze, hat Ausgang. Hilde kommt aus Berlin von einem Tanztee im Excelsior; überrege. Als Paul einschlafen will, pocht Hilde an das Dachstüberl. „Paul, Du hast ja keine Decke. Ich bring Dir ein Kissen“. Sie steht vor ihm im Nachthemd. Er preßt sie an sich und glaubt: „Nun hat sie sich mir gegeben.“ – Am folgenden Morgen fährt Hilde nach Berlin ins Bureau. Die Eltern Scheller reisen mittags nach Stockholm. Die Kinder sind ein paar Tage allein. Günther überredet Paul: „Wir schwänzen die Schule, fahren zur Albrechtstraße nach Steglitz, laden uns in die sturmfreie Wohnung Mädel ein, feiern ein Fest.“ Als sie in die Albrechtstraße kommen, sehn sie: „Unsre Wohnung ist ja erleuchtet!“ Auf der Treppe kommt Hilde ihnen entgegen. Sie wird verlegen. Sie hatte einen ähnlichen Gedanken gehabt. Sie hat morgens vom Bureau Hans Stephan antelephoniert und ihn für den Abend zum Stelldichein in die „sturmfreie Wohnung“ bestellt. Günther ahnt und merkt nichts. Aber Paul wittert sogleich: Hier im Treppenhaus ist Hans Stephan versteckt! Sie hat ihn also lieber als mich! Hilde schwätzt, sie habe grade ihre Freundin holen wollen, Ellinor Retti von nebenan. Nun, dann könnten sie ja zu Vieren feiern; Elli und Günther ein Paar, sie und Paul das andere Paar. Sie geht denn auch, und kommt zurück mit Ellinor, der Fünfzehnjährigen, die eine vollendete kleine Lebedame ist. Aber bei der Gelegenheit gelingt es ihr, unbemerkt den Hans mit in die Wohnung zu schummeln. Sie versteckt ihn im Schlafzimmer ihrer Eltern. Paul aber hat es gemerkt! Er schweigt! Günther geht völlig ahnungslos nochmals aus dem [4] Haus; er will Zigaretten kaufen. Hilde schleicht sich zu Hans in die Kammer und schließt ab. Ellinor und Paul bleiben allein. Da beginnen Paul und Ellinor sich zu küssen. „Du bist mir lieber als Hilde.“ Im Innersten tobt er: „Die Dirne! ich werde jetzt beweisen, wie schnell ich mich trösten kann.“ Schließlich aber muß Ellinor nach Hause. Ihre Mutter erlaubt nicht, daß sie bei Schellers übernachtet. Günther kommt zurück, geht in den Salon und baut dort eine Tafel auf: Johannisbeerwein, Liköre, Keks, Zigaretten. Hilde kommt hervor (ihren Hans hat sie versteckt und eingeschlossen): „Jungens, möchtet Ihr nicht endlich zu Bette gehn?“ (Darauf hofft sie; dann kann sie Hans unbemerkt aus dem Haus lassen.) Paul erwidert trotzig: „Nein. Wir saufen die Nacht durch!“ Schließlich wünscht Hilde „Gute Nacht“ und geht zum Zimmer der Eltern zurück. Die beiden Jungens bleiben allein. „Du Günther“, sagt Paul, „gib mir jetzt Dein Ehrenwort, daß Du schweigst.“ Günther gibt sein Ehrenwort, und Paul flüstert: „Weißt Du, was drüben jetzt vorgeht? Männe hat Hans bei sich in der Kammer.“ Günther will in die Kammer; sie ist abgesperrt. Die beiden Jungen setzen sich in die Küche neben die Kammer. Sie sind in äußerster Erregung; sie kommen schließlich in heulende Selbstmordstimmung. Sie trinken und kommen sich verraten vor, denn sie denken: „Nebenan haben Hilde und Hans ihre Brautnacht.“ In Wahrheit: alles Dämon Zufall! Die Jungen reden sich aber ein, man solle „das ruppige Leben doch von sich werfen“. Zu diesem Zweck legt Paul seine Pistole auf den Küchentisch. Günther, schon sehr betrunken, fuchtelt damit herum. Ein Schuß geht los. Hilde kommt entsetzt aus der Kammer, schimpft die Jungens zusammen: „Geht doch endlich zu Bette! Seid Ihr denn verrückt? Ihr seid ja toll betrunken.“ „Gib Dein Ehrenwort“, schreit Günther, „hast Du wen in der Wohnung versteckt?“ „Du bist völlig verrückt!“ schilt Hilde, „macht, daß Ihr schlafen kommt“. Damit geht sie ab; in ihrem Bette liegt Hans versteckt. Günther faselt: „Paul, wenn ich sterbe, dann soll Hans mit mir sterben. Er hat Hilde verführt.“ Paul sagt: „Mensch, wenn Du eine so große Tat begehn kannst, dann will ich nicht kleiner sein: Ich erschieße erst Hilde und dann mich.“ Nun schreiben sie einen philosophischen Abschiedsbrief: „An das Weltall.“ Sie unterzeichnen gemeinsam. Beschlossene Sache: In dieser Nacht werden vier Menschen „abgekillt“. Inzwischen dämmert der Morgen. Sie werden nüchterner. Gegen sieben klopft es an der Haustüre. Ellinor ist es. Sie will zur Schule, aber zuvor noch ihre Freundin Hilde sprechen. Hilde kommt denn auch frisch und gewaschen aus der Kammer. Und wunderbar! sie läßt hinter sich die Türe weit offen. Günther schleicht hinein. Das Zimmer ist ja leer. Alle Fenster geöffnet. Nur ein Bett benutzt. So wäre also doch der Hans nicht während der Nacht bei Hilde gewesen? Oder? Er müßte durchs Fenster entwischt sein? Da plötzlich sieht Günther, hinterm Schrank hängt ein Badelaken; da bewegt sich was. Scheinbar ruhig geht er hinaus und holt Pauls Waffe. Im Flur schwätzen Paul und die zwei Mädchen. Hilde erschrickt, wittert Unheil, will in die Kammer zurück; da vertreten die zwei Jungens ihr den Weg, laufen vor ihr in die Kammer, klemmen die Türe, zwischen die sie den Fuß stellt, ihr vor der Nase zu, schließen ab. In der nächsten Minute fallen Schüsse. Hilde rüttelt irre. Die Türe ist jetzt geöffnet. Da liegt Günther blutend am Boden: vor ihm kniet Paul. Sie schreit: Mörder! Paul sagt stumpf: „Günther hat es getan“ und deutet auf das Badelaken. Jetzt erst sieht sie, da hängt auch Hans eingekeilt noch röchelnd. Die zwei Mädchen voll Grausen rennen irr kreischend ins Kinderzimmer. Sie wagen sich nicht mehr in die Mordkammer zurück. Paul, ruhig, todtraurig, kommt zu ihnen. „Ich mache Schluß“, sagt er. Die Mädchen nehmen ihm die Waffe fort. Alle sind ratlos. Schließlich klingelt Hilde den Hausarzt an. Der kommt nach einer Viertelstunde. Er kann nur feststellen, daß Hans tot ist, Günther in letzten Zügen liegt.

Der Überlebende, Paul Krantz, wurde des Mordes angeklagt. War er schuldig? Aus sich herausgeworfen, überreizt, betrunken, nach zwei durchwachten Nächten und Tagen, nachdem er die Nacht zuvor die erste Liebeserfahrung seines Lebens gemacht hatte, nachdem er die letzte lange Nacht vor der Kammer gehockt hatte, in welcher dasselbe Mädchen, ebenso zum erstenmal einem Manne sich gab, einem andern als ihm: so hatte er mit Mord gespielt (wer hätte es nicht?) und der Gedanke war Wirklichkeit geworden in einer Sekunde letzter Traurigkeit, wo alles gleichgültig wird. Hinterher, zur Besinnung gekommen, kämpfte der junge Mensch um sein verspieltes Leben, legte sich die Sache natürlich so zurecht, daß er selber sich als der Nurgeschobene, nie als der Schiebende erscheint.

Das Kindertrauerspiel ist zu Ende. Paul wird, so oder so, abbüßen, wird nach einigen Jahren frei und befreit, Dichter werden oder Staatsanwalt oder Agent. Hilde wird, wie andere Amphibien, ihre „standesgemäße Partie“ machen und in Nizza oder Sankt Moritz auf das Volk herabsehn. Aber nun beginnt die wirkliche Klage und Anklage.

Eine Woche lang hat Moabit aus diesem Kindertrauerspiele einen Sensationsprozeß gemacht. Indes hundert Literaten ihre klugen Federn, hundert Lichtbildner ihre Dunkelkammern bemühten, haben Richter, Lehrer, Erzieher, Seelenforscher, ohne schamrot zu werden, keimende Jugend betastet, nackend ausgezogen, viviseziert, ausgepreßt. Ausgepreßt durch jene Fragemartern, die die Erfahrung der alten Generation stellt, eine durchwegs verderbte und schon seelenhäßlich gewordene Erfahrung, die die Jugend nicht besitzt, weil sie triebhaft, momentan, rein anschauend erlebt und die Begriffe der Fragen gar nicht versteht, auch dann nicht, wenn sie ihre Inhalte schon alle erlebte. Ein Fall, der wie je einer vor ein Jugendgericht gehört, der wie kein zweiter keusche Behutsamkeit, Takt und große Menschenkunde fordert, wird vor tausend lüsternen Ohren, vor tausend geilen Augen zum Klatsch der Tagespresse, die die Jugend verschlingt. In solcher Roheit ihre ersten Erfahrungen schlürfend. Zwei Tote standen im Gerichtssaal. Sie verklagen nicht die verworrenen Altersgenossen. Sie verklagen das führende Geschlecht: ihre Lehrer, denen sie nie Vertrauen schenken konnten, ihre Richter, die ihr Zartestes ins Licht zerrten, ihre Seelenforscher, die bald das letzte Restchen Scham „hinweganalysiert“ haben werden, ihre Eltern, die im Wechseltanz zwischen Geschäft und Vergnügen, das heißt Geld verdienen und Geld ausgeben, von der Seele ihrer Kinder (die doch immerhin noch für Gefühle sterben können) so wenig wissen wie von einer eigenen, dieweil sie der Jugend zwar Vergnügen gönnen, aber die Freude stehlen, ihre hohe Ideen verpönen, aber tausend nützliche Zwecke empfehlen, Traum und Phantasie abtöten, aber Wille und Sinne überreizen, und statt der Liebe, die sie den Kindern zu wenig gaben, nun nichts ernten als blutrünstige Orgien der Geschlechtslust, als des letzten Restchens Seele, in dem der Mensch verrotteter Kulturen noch naturunmittelbar fühlt.