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Krystallvisionen

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Textdaten
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Autor: C. Richter
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Titel: Krystallvisionen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 9, S. 280
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1899
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Krystallvisionen.

Zu dem Handwerkszeug, dessen sich die Zauberer alter Zeiten bedienten, um abergläubischen Mitmenschen verborgene, aber wissenswerte Geheimnisse zu entschleiern, gehörten unter anderm auch verschiedene glänzende Gegenstände. Sie wurden besonders gern benutzt, wenn es galt, in die Zukunft zu schauen. In alten Büchern über magische Künste wurde eine ganze Reihe solcher Mittel genau beschrieben. Man konnte übernatürliche Auskünfte über allerlei Fragen, die einem am Herzen lagen, dadurch erhalten, daß man Ringe, in welchen geschliffene Edelsteine gefaßt waren, lange betrachtete. Diese Kunst der Wahrsagung nannte man Daktylomantie. Andere Meister ließen ihre Kunden in Metallbecher blicken, auf deren Grunde nach geraumer Zeit allerlei „Gesichte“ sich zu zeigen pflegten. Zu demselben Zwecke wurden auch glatt polierte Metallkugeln, Pfeile, Schwerter und Messer benutzt. Bediente man sich zum Anstarren blanker Metallspiegel, dann hieß die Wahrsagerei Katoptromantie. Es war auch eine „Beckindeitelei“, d. h. Beckendeutung, oder nach gelehrtem Ausdruck Lecanomantie, im Schwange, wobei man in Becken schaute, die mit Wasser gefüllt waren und auf dem Grunde glänzende Gold- und Silberplättchen enthielten. Anderen wieder genügte blankes Wasser, um bei dessen Anschauen Orakel zu treiben; gelehrt hieß diese Wahrsagungsart Hydromantie. Goß man aber das Wasser in bauchige Flaschen, wodurch besondere Lichtspiegelungen und Lichtbrechungen leicht erzeugt werden konnten, dann gab man dem auf solchem Hilfsmittel sich aufbauenden Zweig der Wahrsagerei den Namen Gastromantie. Eine andere Abart der Hydromantie bestand darin, daß man auf die Oberfläche des Wassers in einem Becher einen Tropfen Oel fallen ließ und das schimmernde Häutchen ausdauernd betrachtete. Oel, mit Ruß gemengt, bildete ferner die Grundlage der Onimantie oder Onychomantie; mit der Mischung bestrich man den Daumennagel, um ihn dann angelegentlich zu betrachten. Sehr beliebt war endlich zu gewissen Zeiten – denn auch die Wahrsagekünste haben ihre Modeschwankungen – die Krystallomantie, die mit dem Anschauen eines Krystalls verbunden war.

Diese letztere Geheimkunst wurde von Faust gern und häufig geübt, wie davon in den Faustbüchern zu lesen ist. Sie erfreute sich auch im 16. Jahrhundert eines gewaltigen Ansehens und zwei Alchimisten jener Zeit, die Engländer John Dee und Edward Kelley, trieben mit ihr Unfug an den Höfen der Königin Elisabeth von England, des Königs Stephan Bathory von Polen und des Kaisers Rudolph II. Der Magier Lucas Gauricus soll dagegen der Katharina de’ Medici die Geschichte ihres Hauses, wie sie sich später erfüllte, in einem Zauberspiegel gezeigt haben. Die „Beckindeitelei“ war schon den Assyrern und Aegyptern bekannt und wurde zur Fragestellung an die Zukunft mit Vorliebe von den byzantinischen Kaisern benutzt.

Nicht jedem war es vergönnt, beim Anstarren der glänzenden Gegenstände „Gesichte“ zu erschauen; die alten Magier wählten zu diesen Zwecken vor allem unerfahrene und unschuldige Wesen, Knaben und Mädchen; aber der kluge Paracelsus hat schon mit Recht darauf hingewiesen, daß es bei derartigen Künsten nicht auf Unschuld und Jungfräulichkeit, sondern auf das „Donum“ (die natürliche Anlage und Begabung) ankomme.

Die Wissenschaft der Gegenwart ist wohl in der Lage, das Zustandekommen der „Gesichte“ bei Anwendung obenerwähnter Zaubermittel zu erklären. Durch festes Ansehen glänzender Gegenstände werden Menschen je nach ihrer Empfänglichkeit in einen mehr oder weniger tiefen hypnotischen Zustand versetzt. In diesem können nun Visionen leicht entstehen. Es ist ja bekannt, daß der Hypnotiseur den Hypnotisierten allerlei sehen lassen kann, was in dem betreffenden Zimmer nicht vorhanden ist. So suggerierte auch der Zauberer alter Zeit seinem durch den Anblick des Krystalls oder des Spiegels hypnotisierten Kunden verschiedenes, was jener erfahren wollte. Tausende solcher Wahrsagungen gingen nicht in Erfüllung, aber einige wenige, die eintrafen, begründeten den Ruf des Zauberers und seines Mittels. Es war aber nicht einmal das Eingreifen des Zauberers nötig: in der Hypnose kommen auch Selbstsuggestionen zustande; der Hypnotisierte sieht manches, was er zu sehen erwartete.

In der jüngsten Vergangenheit hat nun die Krystallomantie, allerdings in veränderter Form, ihre Auferstehung gefeiert. Zahlreiche Personen widmeten sich dem Krystallschauen, um auf Grund vorurteilsloser Selbstbeobachtung das Wesen der Visionen, die dabei entstehen, zu erforschen. Man wählte dazu einen geschliffenen Krystall, der von schwarzem Tuchstoff umgeben war und so gestellt wurde, daß keine scharfen Reflexe, weder von den Fenstern noch von den Gegenständen in der Stube her, von ihm aufgefangen werden konnten. Es hat sich herausgestellt, daß nicht jeder beim Krystallschauen Visionen bekommt; am empfänglichsten dafür zeigten sich Damen.

Dr. Alfred Lehmann, Direktor des psychophysischen Laboratoriums an der Universität Kopenhagen, hat in seinem sehr empfehlenswerten Werke „Aberglaube und Zauberei“ (Stuttgart, Ferdinand Enke) eine zusammenfassende Würdigung jener Versuche veröffentlicht.

Der Charakter der Visionen ist demnach verschieden. Bisweilen sind die Bilder so lebhaft, daß sie das Gepräge von Sinneswahrnehmungen haben. Da ihre Größe aber durch den Krystall bestimmt wird, in dem sie sich zeigen, so wird man sie selten mit der Wirklichkeit verwechseln. Bisweilen fehlen die Farben, so daß die Gesichte mehr Zeichnungen oder Photographien als Malereien gleichen.

Schaut man auf den Krystall, ohne den Wunsch, etwas Bestimmtes zu sehen, so treibt die Phantasie ihr Spiel; Geschichten, die man vorher in Büchern gelesen hat, spielen sich vor den Augen des Visionärs in dramatischer Form ab. Bemerkenswert ist es nun, daß bei solchen Versuchen völlig vergessene Vorstellungen auftauchen oder unwesentliche Erlebnisse, die gar nicht oder nicht klar zum Bewußtsein gekommen sind, in den Visionen erscheinen.

Eine sehr fleißige und geübte Krystallvisionärin ist Miß Goodrich, welche als „Miß X“ ihre Wahrnehmungen beschrieben hat. Unter anderem berichtet sie über folgenden Vorfall:

„Ich sehe im Krystalle ein Stück einer dunklen Mauer, von einem weißen Jasminstrauch bedeckt, und frage mich: ‚Wo kannst du dies gesehen haben?‘ Ich entsinne mich nicht, an einem solchen Platze, der doch in den Straßen Londons nicht gerade häufig zu finden ist, gewesen zu sein, und nehme mir vor, morgen denselben Weg zu gehen, den ich heute ging, und auf solche Mauer achtzugeben. Der nächste Tag bringt die Lösung des Rätsels. Ich finde wirklich die Stelle und erinnere mich nun auch, daß ich von einem Gespräche mit einem Begleiter ganz in Anspruch genommen war, als ich am vorhergehenden Tage an der Mauer vorbeiging.“

Miß X ist auch in der Lage, mit Hilfe ihres Krystalls Dinge, die sie vergessen hat, sich wieder zu vergegenwärtigen. Hier sei nur ein Beispiel dieser Art erwähnt:

„Aus Nachlässigkeit hatte ich einen Brief fortgeworfen, ohne mir die Adresse des Absenders zu merken. Ich erinnerte mich, in welcher Gegend des Landes er wohnte, und beim Nachsehen auf einer Landkarte fand ich auch den Namen der Stadt, den ich freilich vergessen hatte, der mir aber wieder einfiel, als ich ihn auf der Karte erblickte. Aber für den Namen der Straße oder des Hauses hatte ich absolut keinen Anhaltspunkt. Da bekam ich die Idee, meinen Krystall auf die Probe zu stellen, und richtig, nach kurzer Zeit zeigte sich mir in grauen Buchstaben auf weißem Grunde das Wort ‚Hibbs House‘. In Ermangelung einer besseren Auskunft wagte ich, meinen Brief mit dieser Adresse, zu der ich auf etwas ungewöhnliche Weise gelangt war, zu versehen. Wenige Tage nachher bekam ich Antwort; oben auf dem Bogen stand mit grauen Buchstaben auf weißem Papier ‚Hibbs House‘.“

Wir wissen nun aus anderen Versuchen, daß Erlebnisse, die jemand vergessen hat, oder ganz flüchtige Eindrücke, die gar nicht zum Bewußtsein gekommen sind, mitunter im gewöhnlichen oder häufiger noch im hypnotischen Schlaf wieder auftauchen. Man hat aber auch gefunden, daß die Krystallomantiker der Gegenwart beim Anstarren der blanken Flächen in einen der Hypnose ähnlichen Zustand verfallen; Miß X zeigte oft während ihrer Visionen einen starren Blick und war unempfänglich für äußere Reize.

Irgend einen Wert für das praktische Leben hat das Krystallschauen nicht. Als Mittel, sich vergessener Dinge wieder zu erinnern, ist es nicht immer zuverlässig und dabei so zeitraubend, daß es nur von Leuten geübt werden kann, die viel Muße haben. Unter der Leitung sachverständiger Leute bieten aber diese Versuche die Möglichkeit, ungewöhnliche Seelenzustände zu erforschen. Bei scharfer, vorurteilsloser Prüfung erweisen sich alle jene Visionen als durchaus natürliche Vorgänge, als Erinnerungs- oder Phantasiebilder, die der Krystallbeschauer mehr oder weniger bewußt selbst hervorruft. Nichts ereignet sich dabei, was den Forscher zu der Annahme zwingen könnte, daß bei Anwendung von Zauberbechern, magischen Spiegeln oder Krystallen übersinnliche oder übernatürliche Kräfte sich geltend machen. C. Richter.