Kunst und Wissenschaft

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Autor: Wilhelm Ostwald
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Titel: Kunst und Wissenschaft
Untertitel: Vortrag gehalten zu Wien am 27. November 1904
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Entstehungsdatum: 1904
Erscheinungsdatum: 1905
Verlag: Veit und Comp.
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Erscheinungsort: Leipzig
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Kunst und Wissenschaft


Vortrag

gehalten zu Wien

am 27. November 1904


von

Wilhelm Ostwald




Verlag von Veit & Comp. in Leipzig

1905


Das Verhältnis von Wissenschaft und Kunst ist immer ein wenig einseitig gewesen. Die Wissenschaft, oder wenigstens ein gewisser Teil derselben, der sich Ästhetik nennt, hat sich von Zeit zu Zeit mehr oder weniger lebhaft der Kunst angenommen und sie nach Art einer zwar nicht lieblosen, aber vor allen Dingen strengen Tante zu erziehen versucht. Die Kunst ihrerseits hat zuweilen solchen Erziehungsversuchen Gehorsam erwiesen. Dieser ist ihr aber im allgemeinen nicht sehr gut bekommen, und es wurde ihr zuletzt schlecht bei der ästhetischen Artigkeit. Sie hat dann über die Stränge geschlagen und die Tante verhöhnt, ja gehaßt und möglichst das Gegenteil von dem getan, was sie gewollt hat. Da heute keine erziehungsbedürftigen Kinder in der Versammlung sind, so darf ich verraten, daß der Kunst die Aufsäßigkeit gegen die Tante meist sehr gut bekommen ist. Während sie in den Tagen der Artigkeit unter der Pflege der Tante zwar sauber gewaschen und gekämmt war, aber doch ein wenig stubenluftig und blutarm zu werden drohte, wurde sie in den Tagen der Aufsäßigkeit äußerst gesund und munter, wenn auch andererseits ihre Ordentlichkeit oft nicht wenig zu wünschen übrig ließ. Das Ergebnis ist, daß zwar die Tante der Meinung geblieben ist, daß die Kunst ohne ihre Hilfe und Führung nicht wohl, wie es sich gehört, durch das Leben gehen kann, daß aber die Kunst ihrerseits durchaus der Meinung ist, daß die Tante besser wäre, wo der Pfeffer wächst, und daß das eigentliche Leben erst angeht, wo sie nicht immer hineinschaut.

Im Leben pflegen derartige Verhältnisse mit einem Bruch zu enden, indem der Bube endlich entläuft, wenn nicht die Tante vorher stirbt. Das kommt daher, daß beide Teile eben älter werden, und daß dadurch der Gegensatz zwischen ihnen immer schärfer in die Erscheinung tritt. Bei dem Verhältnis zwischen Wissenschaft und Kunst kann dies nicht eintreten. Einmal, weil beide unsterblich sind, und zweitens weil sie einander nie entlaufen können. Denn wohin die Kunst auch laufen mag, überall findet sie die Wissenschaft vor. Und die Wissenschaft kann trotz des groben Undankes, den sie bisher von der Kunst erfahren hat, nicht von ihr lassen. So entsteht die Frage: ist nicht doch auf irgend eine Weise ein Auskommen zwischen beiden möglich?

Ich glaube man darf ja sagen, wenigstens ein bedingtes Ja. Es hat Momente gegeben, wo beide so friedlich und förderlich miteinander gehaust haben, wie es ein Menschenfreund nur irgend wünschen kann; ich brauche nur die Namen Lionardo da Vinci und Albrecht Dürer zu nennen. In der Brust und dem Kopfe dieser Männer bestand kein Gegensatz zwischen Wissenschaft und Kunst; eine förderte vielmehr die andere, und zwar nicht einseitig, sondern gegenseitig. Ohne ihre Wissenschaft wären jene Männer nicht die großen Künstler gewesen, ohne ihre Kunst hätte ihnen der beste Teil des wissenschaftlichen Antriebes und der wissenschaftlichen Anschauung gefehlt.

Das sind vereinzelte Erscheinungen, werden Sie sagen, und Ausnahmen beweisen die Regel. Ersteres gebe ich zu, letzteres bestreite ich. Ich kenne keine unsinnigere Behauptung, als daß Ausnahmen die Regel beweisen sollen; meine Logik, soweit ich über sie verfüge, sagt mir im Gegenteil, daß Ausnahmen die Regel entweder ganz umwerfen oder sie mindestens zweifelhaft machen. Wenn also derartige Erscheinungen auftreten, wie wir sie an jenen Männern bewundern, so haben wir sie nicht fortzuschieben mit jener Redensart, sondern wir haben zu untersuchen, wie eine so schöne und wertvolle Erscheinung zustande gekommen ist, um sie womöglich wieder hervorzurufen oder wenigstens zu begünstigen, wenn sich die Aussicht dazu bietet.

Denken wir einmal darüber nach, unter welchen Bedingungen sich die Tante mit dem Jungen gut vertragen wird. Wir haben schon feststellen müssen, daß die Sache immer hoffnungsloser wird, je älter beide werden. Daß sie umgekehrt um so hoffnungsvoller werden müßte, wenn zwar der Junge immer älter, die Tante aber immer jünger würde, bemerken wir zunächst der systematischen Vollständigkeit wegen, ohne wegen der Unmöglichkeit eines solchen Verlaufes besonderes Gewicht darauf zu legen. Aber hier wollen wir uns doch darauf besinnen, daß Kunst und Wissenschaften zwar gewisse Ähnlichkeiten mit menschlichen Wesen haben, sich aber, wie bereits bemerkt, durch ihre Unsterblichkeit erheblich von ihnen unterscheiden. Diese Unsterblichkeit bringt es mit sich, daß sie nicht nur älter, sondern von Zeit zu Zeit auch jünger werden. Da sehen wir mit einem Male Hoffnung! Wenn es sich einmal so trifft, daß die Wissenschaft eben recht jung ist, während die Kunst bereits eine gewisse Reife erlangt hat, so ist ja alles da, was erforderlich ist. Und betrachten wir die eben erwähnten Fälle, so bemerken wir, daß in der Tat beide in einer Zeit liegen, wo bei reifer Kunst die Wissenschaft, insbesondere die Naturwissenschaft, sich zu einem großen Aufschwung vorbereitet und alle Zeichen der Jugendlichkeit zu erkennen gegeben hat.

Aber ich möchte doch den Vergleich nicht zu Tode hetzen; auch geziemt es sich für einen Angehörigen der wissenschaftlichen Zunft, nach den Regeln seines Gewerbes seine Arbeit zu machen. So will ich denn an die bisherigen Betrachtungen alsbald den Ausdruck meiner Überzeugung knüpfen, daß unsere Zeit ein gleiches nahes Verhältnis zwischen Wissenschaft und Kunst teils schon besitzt, teils erwarten kann, wie es in jener glänzenden Zeit um den Anfang des sechzehnten Jahrhunderts bestanden hat. Und diese Überzeugung möchte ich begründen; dazu muß ich zunächst ein wenig von der Verjüngung der Wissenschaft sprechen.

Diese Verjüngung zeigt sich vor allen Dingen darin, daß die Wissenschaft einen großen Teil von ihrer früheren Strenge und Härte aufgegeben hat. Noch Goethe, der doch überall die Rechte der Kunst gegenüber denen der Wissenschaft verfochten hat, drückt seine Überzeugung von der Beschaffenheit der Naturgesetze in den immer wieder zitierten Worten von den ewigen, ehernen, großen Gesetzen aus, nach denen wir alle unseres Daseins Kreise vollenden sollen. Ihm, und wohl auch noch den meisten heute, erscheinen die Naturgesetze als feindliche, unbarmherzige Mächte, die den armen widerstandslosen Menschen zwischen ihre Räder nehmen und ohne Rücksicht auf sein Wünschen und Flehen zermalmen. Wenn wir die wirklichen Verhältnisse beobachten, wie sie heute überall uns ungerufen entgegentreten, wenn wir sehen, wie die zerstörenden Gewalten der Natur durch des Menschen Hand gebändigt und zu seinem Nutzen und Vergnügen zu arbeiten gezwungen werden, wie Seuchen und Pest den größten Teil ihrer Schrecken verloren haben, wie nicht nur das Behagen am Leben, sondern auch die durchschnittliche Lebensdauer durch die Fortschritte der hygienischen Wissenschaften gesteigert werden, so will uns diese Schilderung der Naturkräfte gar nicht mehr passend erscheinen. Sie kommen uns nicht wie feindliche Titanen, sondern vielmehr wie große kluge Elefanten vor, welche zu den wertvollsten Dienstleistungen veranlaßt werden können, wenn man sie nur richtig zu behandeln weiß.

Oder wenn Sie ein anderes Bild vorziehen: unsere frühere Vorstellung von den Naturgesetzen entsprach der zwangsweisen Führung längs eines unabänderlich vorgeschriebenen Weges, der keinerlei Abweichung nach rechts oder links gestattete oder ermöglichte. Jetzt betrachten wir die Naturgesetze wie Wegweiser in einem breiten Gelände, das Berg und Tal, Wald und Sumpf enthält. Wir werden durch diese Wegweiser keineswegs gezwungen, gerade diesen oder jenen Weg zu gehen; ja niemand hindert uns, unmittelbar in den Sumpf hineinzusteuern. Nur belehrt uns das Naturgesetz, daß, wenn wir diesen Weg verfolgen, wir in den Sumpf geraten werden, denn es ist vor uns ein zuverlässiger Mann dagewesen, der ihn gesehen, untersucht und darüber Nachricht hinterlassen hat. Und der Fortschritt der Wissenschaft entspricht der Anbringung einer immer größeren Anzahl von zuverlässigen Wegweisern. Manchmal hat sich der erste Erforscher geirrt, und man kann ganz wohl einen Weg gehen, der früher für ungangbar gehalten worden war. Und dann findet es sich auch wohl, daß der erste Entdecker eines neuen Weges von allen möglichen Wegen gerade den unbequemsten und umständlichsten gegangen ist. Der Nachfolger hat es freilich leichter; nachdem er weiß, daß man jedenfalls ans Ziel gelangen kann, darf er seine Zeit und Aufmerksamkeit ungeteilt auf die Ermittelung eines besseren Weges wenden; die Nachwelt aber weiß dem ersten Pfadfinder um so mehr Dank, als er neben den unabwendbaren Schwierigkeiten des Zieles noch jene zufälligen des ersten Weges überwunden hat.

Es ist nicht sehr lange her, daß sich diese milde oder gemütliche Auffassung der Naturgesetze allgemeiner verbreitet hat; die vorher geschilderte Strenge hat gegenwärtig wohl noch die Mehrheit, soweit diese gezählt wird. Wird sie freilich gewogen, so dürfte ein günstigeres Ergebnis für die Vertreter der neueren Anschauung herauskommen. Ich bin glücklich, hier an dieser Stelle und in diesem Zusammenhange den Namen des Mannes nennen zu dürfen, dem nicht nur die Wissenschaft eine entscheidende Führung nach dieser Richtung verdankt, sondern der auch heute der unmittelbare Anlass gewesen ist, daß ich zu Ihnen reden darf. Es ist Ernst Mach, der Mann, welcher der allgemeinen Wissenschaft seit einem Menschenalter die neuen Wege gezeigt und erläutert hat, die sie nun endlich mehr und mehr zu gehen beginnt.

Sie werden vielleicht schon seit einiger Zeit gefragt haben, was denn diese Betrachtungen mit der Kunst zu tun haben. Nun, wir können sie jedenfalls unmittelbar auf die Wissenschaft von der Kunst, die Ästhetik, anwenden. Die frühere Ästhetik, die Ästhetik von oben, wie sie Gustav Theodor Fechner zu nennen liebte, war solch eine befehlende Wissenschaft. Noch heute gibt es Vertreter derselben, die den Anspruch erheben, sie sei tatsächlich eine normative Wissenschaft, sie habe die Fähigkeit und daher das Recht, dem Künstler vorzuschreiben, was er zu tun, und insbesondere was er zu lassen habe. Das ist der Standpunkt der alten Tante, und dieser wird die Kunst um so mehr zu gehorchen sich weigern, je jugendlicher und schaffenskräftiger sie sich fühlt.

Aber eben derselbe Fechner, dieser Typus eines deutschen Professors mit schwacher Gesundheit und etwas philisterhaften Lebensgewohnheiten, der stillen Gemütes von seinem Schreibtische aus Gedanken in die Welt gesendet hat, aus denen hernach große Gebiete menschlicher Forschung und Entwicklung geworden sind, derselbe Fechner hat uns gezeigt, daß es auch eine Ästhetik von unten, eine experimentelle oder besser erfahrungsgemäße Ästhetik gibt, eine Wissenschaft, die nicht der Kunst befiehlt: dies sollst Du tun, sondern eine, die freundlich und eifrig fragt: kann ich Dir nicht helfen?

Ehe freilich die Kunst diese dargebotene Hilfe annimmt, wird sie fragen: kannst Du mir denn überhaupt helfen? Ist nicht vielleicht alles Eingreifen der Wissenschaft eher schädlich als förderlich, indem sie bestrebt ist, an die Stelle aus schönem Wahnsinn geborener Werke der wahren Kunst die nüchternen und dürftigen Ergebnisse verstandesmäßiger Konstruktion zu setzen? So wird der Künstler es vielleicht zulassen, schon weil er es nicht hindern kann, daß sich die Ästhetik der Kunstleichen bemächtigt, seien diese eines natürlichen Todes gestorben oder zu dem Zwecke erst umgebracht, d. h. ihres künstlerischen Geistes beraubt, um an diesen ihre Anatomie zu betreiben. Aber an den lebendigen Leib der Kunst, d. h. an die Tätigkeit bei der Schöpfung neuer Kunstwerke, wird er sie um keinen Preis heranlassen wollen, schon wegen der Phantasie, „daß die alte Schwiegermutter Weisheit das zarte Seelchen ja nicht beleidige.“

Diese Äußerung Goethes ist eine von den zahllosen, die alle den gleichen Gedanken ausdrücken, und es erscheint hoffnungslos, gegen so gewichtige Autoritäten auftreten zu wollen. Aber der Professor ist nach der maßgebenden Definition der Fliegenden Blätter ein Mann, welcher anderer Meinung ist, und so bitte ich mit Geduld anzuhören, was ich nach der anderen Seite vorzubringen habe. Es ist vor allen Dingen der Umstand, daß Kunst und Wissenschaft wegen ihrer Bedeutung für die Kultur der Menschheit von vornherein aufeinander angewiesen sind. Und es ist zweitens der Umstand, daß in ihrem ursprünglichen Wesen Kunst und Wissenschaft Kinder derselben Eltern sind, Kinder der Not und der Freude des Lebens.

Alle Reste ältester Kultur zeigen uns die Kunst und Wissenschaft jener Zeiten unauflöslich zu einer Einheit verbunden. Sei es, daß die ersten Gesetze, die das Leben regelten und erleichterten, sich in das Gewand der Dichtung kleiden, sei es, daß die täglichen Geräte nicht in Gebrauch genommen wurden, bevor sie mit künstlerischem Ornamentenschmuck bedeckt waren — stets finden wir beide zusammen als den Ausdruck der beginnenden Herrschaft des Menschen über die ihn umgebende Natur. Die bemerkenswerteste Philosophengestalt des griechischen Altertums, Platon, ist durch und durch künstlerisch in der Gestaltung seiner kühnen, wenn auch falschen Gedanken und selbst der Vorgänger des eben vergangenen wissenschaftlichen Mechanismus, Lucretius, kleidet seine naturwissenschaftlichen Hypothesen in ein dichterisches Gewand.

So werden wir nicht zu fragen haben: wie sollen Kunst und Wissenschaft zusammen kommen, sondern wir müssen erst die Antwort auf die Frage haben: wie sind sie auseinander gekommen? Auch diese Antwort will ich vorausnehmen: sie sind auseinander gekommen, weil sie verschiedenen Schrittes gehen. Die Kunst geht immer voran: als die große Zeit der italienischen Malerei während des sechzehnten Jahrhunderts im Erlöschen war, begann die große Zeit der italienischen Wissenschaft unter der Führung des unvergleichlichen Meisters Galilei, und der große Akkord der deutschen Dichtung in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts mußte erst ausklingen, ehe im neunzehnten der Aufschwung der deutschen Wissenschaft eintreten konnte. In der Eroberung immer neuer Gebiete durch den menschlichen Geist ist die Kunst immer die Führerin gewesen. Die Wissenschaft ist hinterdrein gekommen, und so kann es nicht wundernehmen, wenn jene den Anspruch der nachhinkenden Wissenschaft, ihrerseits Führerdienste zu leisten, als lächerlich und unbescheiden zurückweist.

Wenn ein Vertreter der Wissenschaft sich nicht scheut, dieses Verhältnis auszusprechen, so dürfen Sie überzeugt sein, daß es sehr offenkundig sein muß. In der Tat, wenn wir versuchen, in allgemeinster Weise die Richtung festzustellen, in welcher die Menschheit sich hier auf Erden bewegt, so werden wir sagen: es ist die auf eine immer weitergehende Beherrschung der Natur und auf ein immer besseres Auskommen mit den Mitmenschen gewendete Richtung. Und das einzige Mittel, die Natur zu beherrschen und mit den Menschen zu leben, ist, ihre Eigenschaften und Wege kennen zu lernen, so daß man ihr Verhalten voraussehen, sich darnach einrichten und womöglich es beeinflussen kann.

Nun wird man wohl der Wissenschaft im allgemeinsten Sinne eine derartige Aufgabe zuerkennen, wegen der Kunst werden aber einige Zweifel berechtigt sein. Es kann auch alsbald zugestanden werden, daß Kenntnis des Menschen und der Natur nicht die eigentliche Aufgabe der Kunst ist. Ihre Aufgabe ist sie nicht, aber ihr Mittel. Und da eine Kunst ohne ihr Mittel nichts ist, so ist eine Kunst ohne Kenntnis des Wesens der Menschen und der Natur auch nichts.

Was ist denn aber eigentlich die Aufgabe der Kunst? Nun, ich weiß sehr wohl, daß es auf diese Frage ungefähr ebensoviele verschiedene Antworten gibt als Personen, die sie zu beantworten versucht haben. Es ist ein sehr dorniger Boden, den ich hier betreten; aber wir können nicht anders, wir müssen hier festen Fuß fassen, sonst kommen wir nicht weiter! Von einem nüchternen Naturforscher werden Sie nicht erwarten, daß er eine der ebenso schwungvollen wie unverständlichen Definitionen der Kunst zutage fördert, die sich hier so vielfältig finden. Aber wenn ich alles durchsuche, was ich von Kunsteinflüssen in meinem Leben gehabt habe, so läßt es sich unter folgende Beschreibung bringen: Die Kunst soll uns in den Stand setzen, willkürlich erwünschte Gefühle hervorzurufen.

Ich mache mich darauf gefaßt, daß jetzt eine große Anzahl unter Ihnen in Ihrem Herzen denken, daß Sie etwas so verzweifelt Nüchternes selbst nach den bisherigen Ausführungen nicht erwartet hätten, und daß Sie nur durch Ihre Höflichkeit veranlaßt werden, überhaupt sitzen zu bleiben und weiter zu hören. Sie erinnern sich der Weihestunden, die Sie mit Beethovens neunter Symphonie oder vor Böcklins Bildern gefeiert haben, Sie wissen genau, wie die Kunst Sie emporgehoben hat, wenn das drückende Einerlei des Tages oder gar menschliche Gemeinheit Ihnen die Lebensfreude ausgelöscht und die trüben Schleier der Verstimmung über Ihren Tag gebreitet hatten. Und alles dieses soll durch jene nüchternen Worte umschlossen werden?

Ich hoffe, Sie, meine verehrten Zuhörer, durch das, was ich eben gesagt habe, überzeugt zu haben, daß auch bei mir ein persönliches und Herzensempfinden der Kunst gegenüber vorhanden ist. Wenn ich die Jahre überschaue, die ich durchmessen habe, wenn ich zurückdenke, wie ich die großen Aufgaben der Wissenschaft, an denen ich mitzuarbeiten so glücklich war, nur dadurch zu lösen wußte, daß ich einerseits monotone Kleinarbeit in weitestem Umfange übernahm, andererseits mich einer Gegnerschaft aussetzte, die sich unter Umständen bis zu bitterem Hasse gesteigert hat, dann weiß ich, wie mir die Kunst immer wieder Mut und Frische gegeben hat, wie ich schwere Überarbeitungen schnell und sicher dadurch zur Heilung brachte, daß ich irgendwo in reizvoller Landschaft mit Malkasten und Feldstuhl herumzog. Wenn also einer den Segen der Kunst erfahren hat, so bin ich es sicherlich, und undankbar gegen diesen Segen zu sein, kommt mir um so weniger in den Sinn, als ich mich gerade in letzter Zeit eingehender mit hierhergehörigen Arbeiten zu beschäftigen begonnen habe. So kann ich nur als ehrlicher Naturforscher oder Philosoph sagen, daß ich bei allem Suchen keine bessere Definition habe finden können, und ich hoffe Sie in nicht zu langer Zeit zu überzeugen, daß sie wirklich brauchbar und angemessen ist.

Zunächst darf es als ein Ergebnis der neueren Kunstforschung, auf das sich immer mehr und mehr Stimmen vereinigen, hingestellt werden, daß die Kunst es mit der Erweckung von Gefühlen zu tun hat. Fragen Sie sich selbst, weshalb Sie die Kunst suchen und lieben, vergegenwärtigen Sie sich das, was ich von Ihren eigenen Kunsterfahrungen Ihnen eben in das Gedächtnis zurückzurufen versucht habe, so werden Sie alsbald bereit sein, zuzugeben, daß durch die Kunst in erster Linie Gefühle erweckt oder vorhandene gesteigert werden, und daß in diesen Gefühlen das Wesentliche der Kunstwirkung liegt. Aber, werden Sie einwenden, das sind nicht gewöhnliche Gefühle, das sind ganz besonders hohe und herrliche Gefühle. Ganz derselben Meinung bin ich auch, und diese Meinung habe ich eben ausdrücken wollen, wenn ich die Hervorrufung erwünschter Gefühle als die Aufgabe der Kunst kennzeichnete. Sind denn etwa diese hohen und herrlichen Gefühle nicht erwünscht? Freilich, werden Sie sagen, aber „erwünscht“ ist ein so nüchterner und unzulänglicher Ausdruck für das, was wir tatsächlich fühlen. Da haben wir den Punkt. Sie haben von einer Definition der Kunst, also von einer wissenschaftlichen Arbeit, eine künstlerische Wirkung verlangt, nämlich die Hervorrufung einer anschaulichen Erinnerung Ihrer Kunstgefühle, und nur weil diese in den von mir gewählten Worten vermißt wurde, haben Sie die Definition ungenügend oder unpassend gefunden. Als ich dann den gleichen Inhalt mit Worten aussprach, durch welche jene Erinnerungen belebt wurden, waren Sie einverstanden.

Wir dürfen eben nicht vergessen, daß unter Kunst nicht allein die sogenannte hohe Kunst, die Kunst, besonders starke, tiefe oder feierliche Gefühle zu erwecken, verstanden sein will, sondern die gesamte Kunst in allen ihren Ausläufern, bis zum gemalten Blümchen, das unsere Kaffeetasse verschönt und zu der Halsbinde, in deren Knoten der Jüngling den Ausdruck seines innersten Wesens legt. Um dies große Gebiet zu decken, ist eben ein mehr neutrales Wort erforderlich, das gleichzeitig das allgemein Vorhandene kennzeichnet. Und dies allgemein Vorhandene ist, daß die fraglichen Gefühle in der Tat gesucht und angestrebt werden.

Dann werden Sie mir vielleicht den Einwand entgegenhalten, daß manche von den angestrebten Gefühlen keineswegs lobenswert seien, und daß Sie ungern den heiligen Namen der Kunst für derartige Bestrebungen hergeben möchten. Wir können ganz einig über die moralische Beurteilung solcher Bestrebungen sein, ohne daß sich daraus ein Grund ergibt, ihnen den Namen der Kunst vorzuenthalten. Es ist ebenso möglich wie bei der Kunst, daß auch die Wissenschaft zu unmoralischen Zwecken angewendet wird. Wenn ein besonders kenntnisreicher Einbrecher sein Werk mit Hilfe einer Knallgas-Stichflamme ausführt und gelegentlich bei schwierigen Fällen Thermit zu Hilfe nimmt, so kann daraus der Experimentalchemie kein Vorwurf gemacht werden. Und das gleiche gilt von der Kunst.

Um Sie mit dem, was ich durch jene Definition ausdrücken will, noch ein wenig vertrauter zu machen, will ich den Punkt noch von anderer Seite zu erreichen versuchen. Mit Ihrer Übereinstimmung habe ich bisher das Wort Kunst in einem engeren Sinne gebraucht, der in früheren Zeiten nicht ohne weiteres verstanden worden wäre. Früher unterschied man die schönen Künste von den nützlichen Künsten und stellte damit eine weitgehende Ähnlichkeit zwischen beiden Arten der Betätigung fest. Daß gegenwärtig dieser Sprachgebrauch fast ganz verschwunden ist, liegt vermutlich am dem schädlichen Einflusse der normativen Ästhetik, der es nicht recht war, die praktischen Fertigkeiten mit den ästhetischen in einem Atem zu nennen. Hierdurch ist denn manche schiefe Auffassung der Kunst begründet, insbesondere die noch jetzt oft genug geltend gemachte Ansicht, die Kunst im engeren Sinne müsse vor allen Dingen etwas Unnützes sein, und sowie sie mit irgend etwas Nützlichem verbunden sei, höre sie auf, Kunst zu sein.

Ich will mich nicht lange mit der Widerlegung dieser offenbar unhaltbaren Ansicht aufhalten, sondern mich mit dem Hinweis begnügen, daß, wenn auch die Kunst im engeren Sinne nicht den Zweck hat, technische Gebrauchsgegenstände herzustellen, sie ihre erfreuliche Wirkung doch an jedem Gegenstande betätigen kann, welchem Zwecke dieser sonst noch dienen mag. Ebensowenig, wie ein Weinglas aufhört, ein Trinkgefäß zu sein, wenn man dies Gerät in einer für das Auge erfreulichen Gestalt und Farbe, also künstlerisch ausführt, ebensowenig hört etwa ein schöngemalter Theatervorhang auf, ein Kunstwerk zu sein, wenn er außerdem den technischen Zweck erfüllt, die Bühne für die Zeit der Vorbereitung den Augen der Zuschauer zu verdecken. Es kann mit anderen Worten ein Ding gleichzeitig verschiedenen Zwecken dienen, und einer derselben kann natürlich auch der künstlerische Eindruck sein.

Wir werden uns also nicht scheuen, die Ähnlichkeit zwischen dem, was man früher Kunst im allgemeinen nannte, und der Kunst im heutigen engeren Sinne etwas eingehender zu verfolgen. In jenem weiteren Sinne heißt Kunst ein jedes Können. So gibt es eine Kunst des Schlittschuhlaufens und Radfahrens, eine des Drechselns, Schmiedens und Skatspielens, eine Kunst, sich in Damengesellschaft beliebt zu machen, bis zur Kunst des Lesens und Schreibens herab.

Das Allgemeine bei allen diesen Kunst genannten Dingen ist eine über das alltägliche hinausgehende Beherrschung irgend eines Gebietes des Geschehens derart, daß bestimmte Erscheinungen nach Belieben hervorgebracht werden können. Daher bezeichnet man auch solche willkürlich hervorgebrachte Dinge als künstlich im Gegensatz zu den natürlichen, die ohne Dazutun menschlicher oder sonstiger Willenstätigkeit entstehen. Hier sehen Sie alsbald den tatsächlich sehr engen Zusammenhang zwischen diesen Künsten und der Kunst im engeren Sinne eben auf Grund der vorher ausgesprochenen Definition. Letztere ist eben nur ein Sonderfall des allgemeineren Begriffes Kunst. Eine von den vielen möglichen Künsten ist unter anderen auch die Kunst, Gefühle hervorzurufen, und zwar willkürlich oder auf künstlichem Wege. Wenn wir uns den doppelten Gebrauch des Wortes Kunst gestatten, so können wir noch prägnanter definieren: Kunst ist die Kunst, künstlich willkommene Gefühle hervorzurufen.

Von diesen Gesichtspunkten gewinnt man auch leicht eine klare Einsicht in das Verhältnis zwischen dem Naturschönen und dem Kunstschönen. Jeder, der versucht hat, sich in der ästhetischen Literatur zurechtzufinden, wird gewahr geworden sein, wie diese Frage ein wahres Kreuz für die theoretischen Ästhetiker ist, da doch einerseits beide so sehr ähnliche Wirkung haben, während andererseits die ästhetischen Definitionen sogar nicht auf den Fall passen wollen. Wir werden das Naturschöne einfach als dasjenige an den Naturerscheinungen aufzufassen haben, was erwünschte Gefühle in uns hervorruft. Daß eine Naturerscheinung, die gar keine Gefühle in uns hervorruft, auch nicht von uns schön genannt werden wird, brauche ich nur zu erwähnen. Daß wir andererseits eine Natur, die unerwünschte Gefühle hervorruft, auch nicht schön finden werden, ist gleichfalls selbstverständlich. Um uns darüber klar zu werden, brauchen wir uns nur zu vergegenwärtigen, ob wir einen Sturm auf dem Meere vom Lande aus beobachten, oder von einem kleinen Boote aus, das jeden Augenblick umzuschlagen droht. Im zweiten Falle sind die durch die Naturerscheinung erregten Gefühle bei weitem die stärkeren, aber einen ästhetischen Wert werden wir nur im ersten Falle konstatieren können. Im zweiten Falle nimmt uns das Gefühl der Furcht so stark in Anspruch – wenigstens muß ich für mich bekennen, daß es so sein würde – daß wir für die Empfindungen des Großartigen im Sturm keine Zeit und Gedanken übrig behalten. Beim Anblicke eines gemalten Seesturmes fällt die Furcht ganz und gar fort, und so können wir noch vollständiger den Eindruck der Großartigkeit genießen, insbesondere wenn wir vorher einige unmittelbare Erfahrungen über derartige Ereignisse gesammelt hatten, und natürlich auch nur unter der Voraussetzung, daß der Künstler es verstanden hat, gerade das zur Anschauung zu bringen, was in uns das Gefühl des großartigen Ereignisses erweckt.

Diese Betrachtungen erklären uns auch den interessanten Entwicklungsgang, den unser Gefühl fur Naturschönheit genommen hat. Es ist ja bekannt, daß z. B. unsere Fähigkeit, uns an der Schönheit der Alpen zu begeistern, recht neuen Datums ist. Sie ist erst in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts entstanden und auch hier hat Goethe als einer der Bahnbrecher gewirkt. Die Schönheit der norddeutschen Marschlandschaften ist noch viel neueren Datums, ebenso die der Havelseen in der Umgebung Berlins. In allen diesen Fällen handelt es sich um Entdeckungen durch Künstler, die auf diese Weise der Menschheit ein noch wertvolleres Geschenk machten, als durch ihre Kunstwerke selbst. Daß aber Künstler, und nur solche, zu derartigen Entdeckungen befähigt sind, rührt eben daher, daß Künstler berufsmäßig die Quellen willkommener Gefühle zu finden und zu regeln haben, und daß sie solche in der Natur selbst erlebt haben müssen, bevor sie sie wiedergeben und anderen Menschen zugänglich machen können.

An der Hand unserer so als angemessen bewährten Begriffsbestimmung wird es uns nun leicht werden, das Verhältnis der Kunst zur Wissenschaft festzustellen. Handelt es sich um die Erweckung von Gefühlen, so kommen zwei Wissenschaften in Betracht: einerseits die Wissenschaft von den Gefühlen selbst, die einen Teil der Psychologie bildet, und andererseits die Wissenschaft von den Hilfsmitteln solcher Gefühlserregungen. Letztere bezeichnet man zusammenfassend als die Technik der Kunst. Da nun die Kunst sich sehr mannigfaltiger Hilfsmittel bedient, um ihre Zwecke zu erreichen, so macht die technische Kunstlehre in der Tat, ähnlich der Heilkunst, von fast allen Gebieten der Naturwissenschaften Gebrauch.

Dies ist also die Antwort auf die Frage, die wir oben gestellt haben, ob nämlich die Wissenschaft der Kunst überhaupt dienlich und nützlich sein kann. Sie kann es in hohem Maße. Dem Goetheschen: „Wenn Ihrs nicht fühlt, Ihr werdets nicht erjagen“ kann man das Wort entgegenstellen: „Wenn Ihrs nicht könnt, vermögt Ihrs nicht zu sagen“. Was Goethe gemeint hat, besagt, daß ohne Gefühl eine Kunst unmöglich ist. Das entspricht ganz unserer Auffassung, daß die Gefühle eben die Aufgabe der Kunst sind. Was ich mir hinzuzufügen erlaubt habe, besagt, daß dem Künstler alles Gefühl, das er selbst besitzt, nicht zur Lösung seiner Aufgabe ausreicht, wenn er nicht weiß, wie er sein Gefühl in anderen hervorrufen kann, d. h. wenn ihm die Kenntnis der Mittel fehlt.

Was zunächst die Gefühle des Künstlers selbst anlangt, so wird er unzweifelhaft vorziehen, sie selbst zu erleben, als sie aus einem Lehrbuch der Psychologie kennen zu lernen. Damit glaube ich einen Einwand auszusprechen, der vielleicht manchen von Ihnen auf der Zunge liegt. Das ist unzweifelhaft richtig; ebensowenig, wie man aus einem Lehrbuche lernen kann, wie die Empfindung blau oder süß beschaffen ist, ebensowenig kann man sich aus einem solchen über Gefühle unterrichten lassen wollen, die man nicht aus Erfahrung kennt. Aber dies soll die Wissenschaft auch nicht; ihre Aufgabe beginnt erst etwas später. Die verschiedenen Gefühle folgen aufeinander nicht regellos, sondern zufolge bestimmter Gesetzmäßigkeiten. Wenn beispielsweise in Goethes köstlicher Idylle Alexis und Dora, die Schilderung, wie sich die Liebenden im Augenblicke des Abschieds gefunden hatten, sich zu höherer und höherer Glut in der Ausmalung der wonnigen Zukunft steigert und dann an der höchsten Stelle mit schneller Wendung in eine ebenso leidenschaftliche Eifersucht überschlägt, so fühlen wir lebhaft, mit welcher Sicherheit hier der Künstler das psychologische Gesetz von den Kontrastempfindungen gehandhabt hat. Vielleicht erkennt es nicht ein jeder bewußt; wohl aber fühlt ein jeder doch die innere Richtigkeit, ja Notwendigkeit dieses Stimmungswechsels, von dem die künstlerische Wirkung des Gedichtes abhängig ist.

Ja, hat denn Goethe selbst diese psychologischen Gesetze gekannt? werden Sie mich hier wieder fragen. Freilich hat er sie gekannt; wir besitzen Bemerkungen von ihm, in denen er gerade sein Verfahren in diesem Gedichte verteidigt gegenüber solchen, denen die von ihm gewagte Abweichung vom Gebräuchlichen zunächst nicht einleuchten wollte. Aus tausend Stellen seiner Briefe und Abhandlungen kann man sich überzeugen, wie bewußt er die psychologischen Gesetze seiner Kunst handhabte.

Aber wie ist er denn dazu gekommen? wird wieder gefragt werden; die Psychologie seiner Zeit war ja viel zu wenig entwickelt, als daß er sie hätte benutzen können. Dies ist wiederum richtig; er hat sich seine Psychologie eben selbst gemacht, indem er zunächst aufmerksam alle seine eigenen Erfahrungen über die verschiedenen Gefühle beobachtete und sich zum Bewußtsein brachte; jede Seite von „Wahrheit und Dichtung“ gibt Auskunft über diese seine Tätigkeit, wo sich der eigenen Brust geheime tiefe Wunder öffnen. Hierzu nahm er die Erfahrungen an anderen, die er bei seinem lebhaften geselligen und sonstigen Verkehr reichlich zu sammeln Gelegenheit hatte. Nachdem er so das Material zusammen hatte, entnahm er den verschiedenen Erscheinungen das Gleichartige, stellte die gegenseitigen Beziehungen der verschiedenen Gefühle, die Regeln ihres zeitlichen Ablaufes, ihre gegenseitige Beeinflussung u. s. w. fest, und setzte sich so in den Besitz derjenigen Kenntnisse, deren er für seine Kunstwerke bedurfte. Eine systematische Ordnung dieser Kenntnisse im Sinne eines wissenschaftlichen Lehrgebäudes hat er allerdings nicht durchgeführt; für seine unmittelbaren Zwecke genügte ihm sein stets bereites Gedächtnis und seine enorm kräftige darstellende Phantasie. Daß er aber derartigen systematischen Konstruktionen keineswegs abgeneigt war, ergibt sich aus zahlreichen Stellen seiner auf die Kunst bezüglichen Schriften; ich erinnere beispielsweise an die psychologische Klassifizierung der Kunstfreunde, die er unter dem Titel „Der Sammler und die Seinigen“ versucht hat.

Das eben geschilderte Verfahren ist aber genau das der Wissenschaft; auch sie beginnt zunächst mit der Feststellung des tatsächlichen Materials und geht dann zu seiner Ordnung über, die zunächst schematisch, sodann aber womöglich genetisch ausgeführt wird.

Und hier kommen wir auch auf den Punkt zurück, von dem wir vorher zu unseren Betrachtungen über den Zweck der Kunst abgebogen waren. Ich hatte betont, daß die Kunst der Wissenschaft vorauszugehen pflegt; hier haben wir ein Beispiel davon. Die künstlerisch-praktische Kenntnis der Gefühle war längst vorhanden, ehe ihre wissenschaftliche Untersuchung begonnen hat. So hätte auch Goethe wahrscheinlich selbst die inzwischen entwickelte Psychologie der Gefühle von heute ziemlich trivial und kindisch gefunden, da ihm dieselben Sachen viel mannigfaltiger und feiner bekannt und geläufig waren. Es scheint daher, als sei schließlich die Wissenschaft ganz überflüssig in all den Fällen, wo die Kunst die Vorarbeit übernommen hat.

Sie wäre es allerdings, wenn, nachdem die Menschheit einen solchen Genius wie Goethe hervorgebracht hätte, alle nachgeborenen Menschen seiner Vorzüge teilhaftig geworden wären. Wir wissen leider nur zu genau, daß dies keineswegs der Fall ist. Daher sind auch die sehr weitgehenden psychologischen Kenntnisse, die Goethe besaß, sein persönliches Eigentum geblieben und mit ihm dahingegangen. Seine Werke enthalten nur die Ergebnisse der Anwendung seiner Kenntnisse auf besondere Fälle, nicht aber diese Kenntnisse selbst. Mit der Wissenschaft ist es anders. Deren Aufgabe betrachen wir nicht als vollendet, wenn nicht der Entdecker auch die Ergebnisse seiner Forschung der Welt in einer solchen Gestalt mitgeteilt hat, daß sie Gemeingut aller derer werden können, welche sich mit den gleichen Problemen beschäftigen. Wenn der Forscher seine Kenntnisse selbst geheim halten wollte und nur die Ergebnisse der Anwendung derselben der Welt mitteilte, wie das vorübergehend im siebzehnten Jahrhundert von einigen Mathematikern geschah, so würden wir ihn solange als Schuldner der Allgemeinheit betrachten, bis er auch jene Mitteilungen gemacht hat, und wir gestehen ihm nicht einmal das Recht zu, solche Dinge für sich zu behalten.

Für die Kunst hat daher die Unterbringung bestimmter Kenntnisse im Gebiete der Wissenschaft die Bedeutung, daß von nun an jeder kommende Künstler diesen ganzen Inhalt zu seiner Verfügung hat, und ihn nach Bedarf handhaben kann. Er braucht hernach bei weitem nicht den großen Betrag von ursprünglicher Begabung und persönlicher Erfahrung, um psychologisch eben so richtig zu arbeiten, wie es nur einzelne auserwählte Künstler vorher gekonnt haben. Er kann daher unter sonst gleichen Umständen bessere und eindrucksvollere Kunstwerke hervorbringen, als er ohne diese Kenntnis imstande wäre, und die Kunst selbst wird daher durch diese wissenschaftliche Hilfe mittelbar auf eine höhere Stufe gehoben.

Vielleicht wird das, was ich Ihnen hier nahe legen möchte, noch deutlicher an einem anderen Beispiele, einem aus der Malerei. Die Lehren des perspektivischen Zeichnens waren den Malern bis zum Anfange des sechzehnten Jahrhunderts unbekannt. Daß trotz dieses Mangels mancherlei ausgezeichnete Gemälde hergestellt wurden, ist allgemein bekannt. Auch haben einige besonders geschickte Zeichner und sorgfältige Beobachter leidlich richtige Perspektiven fertig gebracht. Aber daneben gab es auch eine große Anzahl verunglückter Versuche in sonst sehr guten Bildern, die deren Wirkung bedeutend herabdrücken. Seitdem gleichzeitig die deutschen und italienischen Maler jener Zeit dann die geometrischen Konstruktionen ersonnen und in wissenschaftliche Ordnung gebracht hatten, nach denen man perspektivisch richtige Zeichnungen ausführen kann, ohne daß es dazu einer besonderen künstlerischen Begabung bedarf, hat die Kunst nicht etwa durch die Mechanisierung eines wichtigen Elements Rückschritte gemacht sondern erhebliche Fortschritte; ein Zeugnis dafür ist der außerordentliche Eifer, mit welchem die beiden großen Maler jener Zeit, Dürer und Raffael, die Wissenschaft der Perspektivkonstruktionen sich anzueignen und sie zu entwickeln bestrebt waren. Umgekehrt hat die zunächst zu rein künstlerischen Zwecken entwickelte Lehre von dem Zusammenhang der perspektivischen Gestalten zu einem wichtigen Gebiete der Geometrie geführt, nämlich zu der synthetischen Geometrie, dem Teile derselben, in welchem sich die erste selbständige Entwickelung dieser Wissenschaft über das von den Griechen Erreichte hinaus betätigt hat.

Mit diesen Betrachtungen sind wir bereits in das zweite Kapitel der Beziehungen zwischen Kunst und Wissenschaft, zu den wissenschaftlichen Mitteln der künstlerischen Technik, gelangt.

Daß bezüglich des künstlerischen Könnens das Wissen, also allgemein die Wissenschaft von maßgebender Bedeutung wird, braucht kaum noch im Einzelnen dargelegt zu werden. Der Maler hat sichtbare Naturerscheinungen so darzustellen, daß die Gefühle, welche diese unmittelbar in uns erregen würden, möglichst lebhaft durch die Nachbildung erregt werden. Dazu braucht er nichts nötiger, als eben die Kenntnis dieser Erscheinungen selbst. Nun kann er sie sich durch fleißige Beobachtung der Natur erwerben; wir haben aber eben an dem Beispiele der Perspektive gesehen, wie auch die fleißigste Beobachtung bei weitem nicht in bezug auf Vollständigkeit und Richtigkeit an die wissenschaftliche Arbeit heranreicht. Weitere Beispiele, die dasselbe beweisen, findet man auf Schritt und Tritt. Dem Anfänger ist es beispielsweise außerordentlich schwer, die Wellenbewegung des Wassers zu angemessenem Ausdruck zu bringen, weil eben die Erscheinung so beweglich ist, daß er keines der beständig wechselnden Bilder festhalten kann; ebenso erscheinen ihm die Farben von einer verwirrenden Mannigfaltigkeit. Weiß er, daß jede Wellenbildung sich in die Übereinanderlagerung mehrerer regelmäßiger Wellensysteme auflösen läßt, so erkennt er bald auch diese Systeme etwa bei der Betrachtung des bewegten Meeres wieder, er versteht nun die verwirrende Mannigfaltigkeit aufzulösen und kann sie daher auch wiedergeben. Was die Farbe anlangt, so braucht er nur einmal sich aus den Gesetzen der Lichtbewegung den Schluß konstruiert zu haben, daß die ihm zugewendete Brust der Welle das aus dem Wasser kommende Licht, also die Eigenfarbe des Wassers (oder die Farbe des etwa unter flachem Wasser befindlichen Bodens), aufweisen muß, während der Rücken der Welle das Licht des darüber befindlichen Himmels spiegelt, also dessen Farbe zeigen muß, und zwar um so mehr die Farbe des Zenits, je näher die Welle dem Beschauer ist und je höher er über ihr steht, um auch diese Mannigfaltigkeit in ihre Bestandteile aufgelöst und sich ihre Darstellung ermöglicht zu haben.

Nun werden Sie mir vielleicht einwenden: der Maler malt ja durchaus nicht nur, was er gesehen hat, sondern auch viele Dinge, die es gar nicht gibt, wenigstens für das leibliche Auge, wie schwebende Engel oder Genien, allegorische Göttergestalten und allerlei andere Erzeugnisse der bildenden Phantasie. Hierauf ist zu antworten, daß derartige Gestalten doch nichts sind als Zusammensetzungen oder Umbildungen sichtbarer Erscheinungen. Ferner ist in Betracht zu ziehen, daß früheren Jahrhunderten die physikalischen und physiologischen Unmöglichkeiten derartiger Gebilde durchaus nicht bewußt waren. Uns, denen diese Widersprüche auffallender sind, machen solche Bilder auch einen zunehmend geringeren künstlerischen, d. h. gefühlsmäßigen Eindruck. Die Allegorie wird zurzeit nur noch bei offiziellen und formellen Gelegenheiten in Dienst genommen; bei gewissen phantastischen Richtungen der modernen Malerei, wo gleichfalls Unwirkliches dargestellt wird, handelt es sich wieder um tatsächlich Erlebtes, nämlich die halb traumhaften Betätigungen des Zentralorgans, die ohne äußere optische Reize eintreten. Derartige freikombinierte Erinnerungsbilder der gestaltenden Phantasie haben zweifellos auch gewisse Gemeinsamkeiten, deren Wiedergabe entsprechende Gefühle beim Beschauer hervorruft. Auch hier liegt wohl wieder ein Fall vor, an welchem die Kunst Erfahrungstatsachen handhabt, deren Bewältigung die Wissenschaft noch nicht versucht hat.

Was ich eben für die Kunst der Malerei darzulegen versucht habe, wobei ich gar nicht einmal auf den offenkundigen Einfluß der Wissenschaft, auf die materielleren Seiten der Technik, das Farbmaterial, die Bindemittel, Malgründe u. s. w. eingegangen bin, das läßt sich an allen anderen Künsten in ähnlicher Weise darlegen. Daß z. B. die europäische Musik, die auf der Harmonie beruht, hierin einen ganz und gar wissenschaftlichen Boden besitzt, bedarf nur einer Andeutung. Auch hier machen wir die Beobachtung, daß der schaffende Künstler der Wissenschaft vorauseilt. Über die logische Verbindung der Harmonien in ihrer Aufeinanderfolge gibt es zwar einzelne Untersuchungen, aber soviel mir bekannt, ist es noch nicht gelungen, die musikalischen Mittel unserer Klassiker, einschließlich Beethoven, vollständig wissenschaftlich aufzuklären. Ich zweifle nicht daran, daß dies künftig möglich sein wird, und wir werden dann erkennen, daß jene großen Meister auf Grund ihres hochentwickelten musikalischen Gehörs Gesetze befolgt haben, von deren Existenz sie selbst keine bewußte Ahnung gehabt haben. Ähnlich wie bei der Perspektive wird es dann möglich sein, durch Anwendung dieser Gesetze Musikstücke zu schaffen, die durch ihre innere Richtigkeit auf uns einen ebenso überzeugenden künstlerischen Eindruck machen werden, wie eine gut ausgeführte Perspektive. Der Künstler jener Zeit wird aber keine Mühe mehr auf diese Seite seiner Arbeit zu wenden haben, die ihm heute noch zu den schwierigsten gehört, und er wird um so freier seinen Stoff zum Ausdruck seiner Gefühle gestalten können.

Meine verehrten Zuhörer! Ich kann in der kurzen Zeit eines Abendvortrages Sie nicht einmal auf einem eiligen Wege durch alle Hallen der Kunst führen, um Ihnen überall die enge Verschwisterung zwischen ihr und der Wissenschaft zu zeigen. Daß eine solche besteht und bei entsprechender Untersuchung überall nachweisbar ist, darf ich Sie auf Grund eigener Erfahrung versichern, und nach dem, was ich Ihnen bereits dargelegt habe, nehme ich an, daß es Ihnen nicht schwer fallen wird, dieser Versicherung Glauben zu schenken. So möchte ich nur noch zum Schlusse, wie der Maler bei der Vollendung seines Bildes, einige Schritte zurücktreten, um das Ganze im Zusammenhange, ungestört von den Einzelheiten, zu überschauen.

Fragen wir wie bei der Kunst nach der allgemeinsten Aufgabe der Wissenschaft, so läßt sich die Antwort noch kürzer geben: sie besteht im Prophezeien. Alle die mannigfaltige Arbeit, welche die Wissenschaft treibt, hat im letzten Ende das Ziel, uns die Möglichkeit zu geben, künftige Vorgänge vorauszusehen. Fast unser ganzes Leben besteht ja in solchen Voraussichten, fast alles, was wir tun, tun wir, damit künftig gewisse Ereignisse eintreten oder andere vermieden werden, und die Erziehung jedes Menschen besteht darin, ihn mit möglichst großer Sicherheit Voraussichten machen zu lehren, daß er seine Handlungen darnach einrichten kann. Die sicherste Voraussicht aber gewährt uns überall erst die Wissenschaft, denn sie stellt ja allgemein die gegenseitige Abhängigkeit oder Aufeinanderfolge der Ereignisse aller Art fest.

Nun arbeitet auch der Künstler für die Zukunft. Ich meine dies nicht in solchem Sinne, daß er erst vielleicht nach seinem Tode zu Anerkennung gelangen mag, sondern ganz unmittelbar. Ehe er sein Kunstwerk beginnt, hat er bereits eine Vorstellung, was es wohl werden wird, aber er muß erst eine ganze Reihe zweckmäßiger Handlungen verrichten, ehe die ersten Spuren seines Werkes in die Erscheinung treten. Und hernach ist es auch nicht in einem Augenblicke fertig. Er muß es verlassen und wieder aufnehmen, er muß es verbessern und umgestalten. Alle diese Dinge kann er nicht tun, ohne daß ihm der Erfolg gegenwärtig ist, bevor er die dazu erforderliche Handlung ausgeführt hat. Er muß also überall in die Zukunft schauen und wird es um so sicherer tun, je wissenschaftlicher er seine Kunst auffaßt und treibt.

Das ist in der Tat ein so naher Zusammenhang, daß er ein untrennbarer genannt werden muß. Ich will nicht behaupten, daß alle Künstler sich dieses Zusammenhanges bewußt sind, und darnach ihre Kunst betreiben; ja ich muß leider die Vermutung aussprechen, daß er vielen nicht nur fremd ist, sondern daß manche sogar ablehnen, ihn anzuerkennen und zu betätigen. Dies steht im Zusammenhange mit Fragen, die ich neulich an anderer Stelle erörtert habe. Auch der Praktiker in der industriellen Technik hat wie der in der Kunst zuweilen die Neigung, die Wissenschaft gering zu achten, weil vielleicht einige ihrer Vertreter einmal Unsinn gemacht haben. Ich habe mich bemüht, darzulegen, wie auch der entschiedenste Verächter der Wissenschaft unter diesen Praktikern doch in seiner Weise ein Theoretiker, d. h. ein Wissenschaftler ist, wenn auch nur ein sehr unvollkommener. Ebenso haben jene der Wissenschaft abgeneigten Künstler auch eine Wissenschaft eigener Art. Diese dient ihnen, wenn sie im übrigen etwas rechtes können, ausreichend für ihre Zwecke, sie gestattet ihnen aber meist nicht, zu den betreffenden Fragen einen weiteren und allgemeineren Standpunkt zu gewinnen. Dies aber gestattet die Wissenschaft, denn es ist ihre Aufgabe. Ich bitte Sie, einen schnellen Rückblick über die Besprechungen dieses Abends zu werfen: Nicht wahr, Sie werden sich erinnern, daß nicht das geringste Verwerfungsurteil über irgend eine Art oder Richtung der Kunst gefallen ist, ohne welche sonst doch ein theoretischer Kunstvortrag beinahe unmöglich ist? Das ist ja der große Segen der Wissenschaft, daß sie erstens durch ihre Aufgabe der Allgemeinheit schon von vornherein verpflichtet ist, alles zu verstehen, und daher auch nach dem alten Worte alles zu verzeihen, soweit überhaupt von Verzeihen die Rede sein kann. Der andere, besondere Segen liegt darin, daß ein jeder Künstler und ein jeder Kunstfreund an der Hand der gewonnenen wissenschaftlichen Klarheit über das Wesen und den Zweck der Kunst sein eigenes und das fremde Kunstwerk fragen kann: Welche Gefühle vermagst Du zu erwecken, wie schöne und starke und willkommene? Und wenn er sich die Antwort zu geben versucht, so wird ihm das ausgeprägt subjektive Element in dieser zum Bewußtsein kommen, und er wird sich sagen, daß ein anderer ganz wohl weniger stark oder stärker fühlen könnte, als er. Das wird ihn zur Milde gegen anders Fühlende stimmen, denn Gefühle lassen sich nicht kommandieren, sie müssen mit Hingebung und Liebe entwickelt werden. Und mit diesem Friedensglockenklang wollen wir unsere Betrachtungen schließen.




Druck von Fr. Richter in Leipzig.