Kurhessische Geschichten aus dem vorigen Jahrhundert
Die hessische Geschichte des vorigen Jahrhunderts bietet zur Charakteristik der deutschen Kleinstaaterei und des damaligen Hoflebens manche interessante Einzelheiten. Aber bei der Abneigung der letzten hessischen Kurfürsten, den Geschichtschreibern ihre Archive und Bibliotheken zu öffnen, sind die Quellen, welche hier in Frage kommen, bisher so spärlich geflossen, daß über den Casseler Hof in der letzten Hälfte des vorigen und den ersten Decennien dieses Jahrhunderts so gut wie gar nichts an die Oeffentlichkeit gelangt ist. – Um so freudiger begrüßen wir ein Werk[1], welches, von Karl Fulda und Jakob Hoffmeister herausgegeben, im Monate Juli d. J. die Presse verlassen wird. Dasselbe beruht auf den eigenhändigen treuen Aufzeichnungen des Vaters und des Großvaters des erstgenannten Herausgebers, d. h. auf Mittheilungen zweier Zeugen der hessischen Hofgeschichte, deren Wirkungskreis sie in die nächste Nähe der damaligen Landesherren brachte.
Bei der Authenticität und Neuheit der Berichte glaubten wir die uns durch das gütige Entgegenkommen der Herausgeber gebotene Gelegenheit ergreifen zu sollen, indem wir im Nachstehenden aus den ersten uns zur Verfügung gestellten Druckbogen des Werkes einige Episoden herausgreifen und mit unwesentlichen Weglassungen wiedergeben.
Von allgemeinem Interesse dürfte zunächst die Erwähnung eines noch heute in der Literatur hochangesehenen Namens sein.
„Freiherr Adolf von Knigge, der Verfasser der noch nicht vergessenen Schrift: ‚Ueber den Umgang mit Menschen‘,“ heißt es im dem Buche, „war in den 1770er Jahren Kammerassessor und Hofjunker an dem glänzenden Hofe in Kassel. Er war aus innerster Neigung Sarkast und liebte es besonders, die Hofdamen in den Cercles und Soiréen aufzuziehen und durch seine Unterhaltung in Verlegenheit zu setzen, was ihn verhaßt machte. Unendlich sind die Verwirrungen und Entzweiungen, welche Knigge bei den verschiedenen Persönlichkeiten des brillanten Hofstaates in Kassel damals hervorbrachte, aber Niemand vermochte dies zu hindern und den Urheber zur Strafe zu bringen oder zu entfernen. Der Landgraf liebte den geistreichen jungen Mann zu sehr und mochte den Witz und die Unterhaltung desselben nicht entbehren.
[368] Ein traditionell verbürgter Streich von Knigge ist folgender. Eine junge Dame am Hofe zu Kassel hatte die Gewohnheit, während der Tafel einen ihrer Schuhe unvermerkt auszuziehen. Knigge hatte dies beobachtet und beauftragte daher einen der aufwartenden Pagen, den ausgezogenen Schuh unter dem Stuhle jener Dame heimlich wegzunehmen. Dies geschieht. Als nun die Tafel durch das Aufstehen der höchsten Herrschaften aufgehoben wird und alle Tafelgäste sich erheben müssen, sucht die beraubte junge Dame mit ihrem Fuße vergeblich nach dem ausgezogenen Schuh und muß, da sie ihn nicht findet, ohne denselben von der Tafel wegtreten und durch den großen Saal in das anstoßende Gemach schleichen, wo der Kaffee servirt wird. Erst jetzt, nachdem sich Knigge an der sichtlichen Verlegenheit der armen jungen Dame hinlänglich geweidet hat, läßt er auf einen gegebenen Wink durch den abgerichteten Pagen den geraubten Schuh mit hohem Absatze auf einem silbernen Teller in Gegenwart des ganzen Hofes der unglücklichen Dame demüthig überreichen.“
Wie unser Gewährsmann ferner erzählt, hatte Knigge als Hofjunker die Verpflichtung übernommen, der lebenslustigen Landgräfin Philippine stets Mittheilung darüber zu machen, wenn der Landgraf beschlossen hatte, den Abend auswärts zuzubringen, damit sie alsdann in ihren Gemächern ihre kleinen phantastischen Gesellschaften ungenirt abhalten konnte. „Da Knigge nun nicht immer Gelegenheit hatte, die Landgräfin ohne Zeugen zu sprechen,“ heißt es weiter, „so sang er der Fürstin eines Sonntags während des Gottesdienstes nach der gerade gesungenen Melodie ‚Ein’ feste Burg ist unser Gott‘ die Worte zu: ‚Heut Abend geht der Landgraf aus.‘
Die Nemesis für all’ diese Streiche blieb aber nicht aus. Die Gemahlin des regierenden Herrn, eine geborene Prinzessin von Brandenburg-Schwedt, die schöne Landgräfin Philippine, hatte längst bemerkt, daß ihre Lieblingshofdame, Fräulein Henriette von Baumbach, eine Neigung für Knigge fühle, und dieser hatte sie, eine überaus gutherzige, aber etwas beschränkte und unschöne Dame, öfters geneckt und zu der Zielscheibe seines Witzes gemacht. Als Knigge nun bei dem nächsten Lever sich wieder so auffallend ihrer lieben von Baumbach nähert und diese auf das Lebhafteste und so ausschließlich unterhält, daß sie bald roth und bald bleich wird, tritt die Landgräfin rasch zu dem jungen Pärchen und sagt ganz laut: ‚Herr von Knigge, Sie ziehen meine gute Baumbach so auffallend vor und ich sehe Sie mit derselben so oft und ausschließend vereint, daß ich doch wohl voraussetzen darf, Ihre Absichten werden ernstlich und redlich gemeint sein.‘
Der gewandte, sonst so dreiste Hofmann ist ganz perplex ob dieser Rede; er erwidert keine Sylbe und macht nur eine Verbeugung über die andere. Aber die kluge Landesmutter durchschaut ihn; sie wendet sich um und sagt zu der glänzenden Versammlung: ‚Meine Damen und Herren! ich freue mich, Ihnen hier ein glückliches Brautpaar vorzustellen.‘ Sie nimmt Herrn von Knigge und ihre Hofdame an der Hand und führt sie vor mit den Worten: ‚Herr von Knigge und meine liebe Baumbach haben sich verlobt.‘ Kein Wort, kein Laut von beiden Seiten; acht Tage darauf war die Trauung.“
Eine amusante Geschichte berichtet unser Autor sodann in Folgendem:
„Der kunstsinnige Landgraf Friedrich der Zweite von Hessen hatte eine ganz besondere Vorliebe für die Bewohner Frankreichs und schätzte die französische Sprache vor allen andern.
Im Jahre 1784 kam ein feiner und artiger Franzose aus Paris nach Kassel, der zwar keine Effecten bei sich führte, aber sehr anständig gekleidet war und sehr gut französisch sprach. Er gab vor, Adressen und Aufträge an des regierenden Landgrafen hochfürstliche Durchlaucht zu haben. Der Landgraf nimmt den Fremdling huldreich auf, und da er bescheiden und sehr gut sich ausdrückt, fragt er ihn auch gleich nach seinem Begehr. Der Pariser überreicht alle seine Legitimationspapiere und erklärt, er sei ein Porcellanfabrikant, habe in seinem Vaterlande viel Erfreuliches von der Vorliebe Seiner hochfürstlichen Durchlaucht für Künste und Wissenschaften hier im Lande gehört und wolle daher um die Erlaubnis bitten, sich in Kassel niederlassen und eine Porcellanfabrik gründen zu dürfen, die hier noch nicht bestehe. Er glaube, daß diese Residenz ganz der Platz zu einem solchen Unternehmen sei, und bitte, ihm ein Local anweisen zu lassen, wo er den Ofen bauen und alles weiter Erforderliche zu der Fabrik anlegen könne. Das Ansprechende des jungen Mannes, seine feine, gute pariser Aussprache und das anständige Wesen und Benehmen desselben überhaupt nehmen den Landesherrn dergestalt für ihn ein, daß er ihm nicht allein sogleich die Bewilligung ertheilt, sondern auch den damaligen Bergrath Fulda in Kassel, einen sehr erfahrenen Techniker, der das ganze Wohlwollen des regierenden Landgrafen besaß und schon mehrere Male in solchen Angelegenheiten beauftragt worden war, alsbald rufen läßt, um ihm das Weitere in dieser Sache aufzugeben.
Bergrath Fulda äußert gleich, daß er den Pariser kenne, daß derselbe schon bei ihm gewesen sei und sein Anliegen vorgestellt habe, daß er aber nicht glaube, daß derselbe die Kenntnisse und Erfahrung besitze, die zur Gründung und Anlegung einer Porcellanfabrik erforderlich seien; auch dürften demselben die nöthigen Mittel fehlen und er daher dem Lande zur Last fallen. Als Local für eine solche Fabrikanlage schlägt übrigens Fulda ein der Stadt zugehöriges Haus in der Weißensteiner Allee vor, welches passend gelegen war und Raum genug zu der Ofen-Erbauung und zu allen weiteren Bedürfnissen darbot. Der gütige Landesherr genehmigte den Vorschlag nicht allein, sondern bewilligte dem Nachsuchenden auch die Concession zur Anlage und zum ausschließlichen Betriebe einer größeren Porcellanfabrik, woran es in der Residenzstadt Kassel und in Hessen überhaupt bisher gefehlt hatte.
Die Wünsche des Parisers sind nun erfüllt und am andern Morgen eilt er in das Schloß, um dem Herrn seinen unterthänigsten Dank abzustatten. Die Beredsamkeit des Beglückten ist so groß und sein Benehmen so einnehmend, daß der Landgraf im Uebermaß seiner Gnade jede mögliche Hülfe und Unterstützung im Voraus zusagt, obwohl auch nicht der geringste Beweis der Tüchtigkeit des Porcellanfabrikanten vorliegt und gar kein Zeugniß von ihm producirt worden war, daß er im Stande und befähigt sei, eine solche umfassende Anstalt gründen zu können. Dies Alles macht den Concessionär – Perrissot ist sein Name – so dreist, daß er schon jetzt um einen gnädigen Geldvorschuß von dreitausend Thalern bittet, indem er vorgiebt, daß seine Fonds aus Paris noch nicht angekommen und theilweise auch noch nicht flüssig seien; später wolle er Alles gern wiedererstatten. Der Landgraf stutzt zwar anfänglich bei der Kunde von der Mittellosigkeit des Bittstellers, doch kann er das Gesuch nicht abschlagen, läßt Fulda wiederum rufen und trägt ihn auf, für die Auszahlung der erbetenen dreitausend Thaler als Vorschuß zu sorgen und dem Perrissot außerdem alle thunliche Unterstützung angedeihen zu lassen, die Thätigkeit desselben aber von jetzt an in sorgsame Aufsicht und Controle zu nehmen und über den Erfolg von Zeit zu Zeit mündlichen Vortrag zu erstatten. Jetzt fing Fulda’s Arbeit und Verantwortlichkeit erst recht an. Er hielt denn Perrissot seine Zweifel gegen die Ausführbarkeit und redliche Durchführung des Zugesagten wiederholt vor und warnte ihn recht eindringlich, den nachsichtsvollen Herrn nicht zu täuschen. Perrissot benutzte die ihm verstattete Stunde nach der Tafel täglich, um dem Landesherrn aufzuwarten, und durfte dann unbehindert seiner Redegabe freien Lauf lassen. Der Fürst mochte seine Gegenwart und seine Sprache zu gern leiden. Und so betrachtete Fulda die Sache als ein Opfer, welches ein Fürst seiner Neigung und seinem Vergnügen bringen dürfe, und hörte auf, mit seinen immerwährenden Zweifeln und Verdachtsgründen beschwerlich zu fallen. Der landesherrlichen Weisung gemäß unterließ Fulda nicht, jeden Tag die Unternehmung Perrissot’s zu beaufsichtigen und sich auch von der Verwendung des empfangenen Vorschusses Ueberzeugung zu verschaffen. Aber der schlaue Franzose fand diese Controle zu lästig und störend und wirkte bei dem milden und nachsichtigen Landesherrn die Erlaubniß aus, ohne alle unmittelbare Aufsicht und Inspection arbeiten, bauen und sein Werk ausführen zu dürfen. Er wußte in günstigen Stunden die Güte und Freigebigkeit desselben nach und nach so weit für sich zu steigern, daß er bald das Doppelte des erhaltenen Vorschusses ausgezahlt erhielt. Der Landgraf äußerte dies dem Bergrath Fulda bei dessen Vortrage mit den Worten: ‚Der Mensch wird uns nicht betrügen; er versichert mir so treu seine [369] Arbeitsamkeit, daß ich ihm gern weiter helfen will. Thun Sie auch das Ihrige!‘ Ein großer Ofen war allerdings erbaut, auch manche Materialien zu der Fabrik waren vorhanden, doch das Innere seiner Thätigkeit hielt der Mensch ja stets verschlossen.
Mehr als ein Jahr war vergangen, und die Unterstützungen hatten in sehr auffallender Weise zugenommen, ohne sichtbare Zeichen von günstigen Erfolgen zu liefern; da erscheint eines Morgens der Aufseher, welchen man ganz in der Nähe des Fabriklocals zur Wahrnehmung jedes verdächtigen Vorganges bestellt hatte, bei Fulda und macht die überraschende Anzeige, Perrissot sei über Nacht plötzlich auf und davon gelaufen und habe alle Thüren fest verschlossen. Die Schlüssel müsse er mitgenommen haben, denn die wenigen Arbeiter hätten heute früh keinen Einlaß gefunden. Fulda erstattet augenblicklich Anzeige von dem Vorgange und wiederholt denselben später mündlich bei dem Landesherrn.
Dieser aber äußert in seiner Milde: ‚Der Mann wird schon wiederkommen; lassen Sie ihm nur Zeit!‘ Aber Fulda ersucht auch das Gericht um Versiegelung der Localitäten, weil er die feste Ueberzeugung hegt, daß der Schwindler nicht wiederkommen werde und er die Verantwortlichkeit eines betrüglichen Resultates nicht tragen will. Die Versiegelung erfolgt und wird höchsten Orts berichtet, aber der gütige regierende Herr erklärt: ‚Perrissot ist kein Betrüger; er wird schon zurückkommen.‘ Aber er kam nicht, und als acht Tage und mehr verflossen waren und Niemand ahnte, wohin der Mensch geflohen sei, da die polizeilichen Verbindungen und Controlen damals noch nicht so ausgebildet waren, nun einen entwichenen Betrüger im Auslande treffen und festnehmen zu können, erhielt Fulda den Auftrag, das Fabriklocal öffnen zu lassen und nachzusehen, was für die dem Entflohenen gespendeten bedeutenden Summen angeschafft, fabricirt und geschehen sei und vom Befunde höchsten Ortes Anzeige zu machen.
Die Gerichtssiegel wurden gelöst und Alles genau nachgesehen und inventarisirt; da war aber nichts als schön tapezirte Zimmer und Schlafcabinets, gute und elegante Möbel und ein immenser Brennofen. Dieser war verschlossen, wurde geöffnet und enthielt in seinem großen Raume nichts als eine Tasse, die offenbar nicht darin fabricirt, sondern in irgend einem Porcellanladen erkauft worden war. Diese Tasse nimmt Bergrath Fulda und bringt sie dem regierenden Landgrafen als einziges Ergebniß der kostbaren Anlage. Der gütige Fürst lächelt, indem er die Tasse in die Hand nimmt. Ohne Zorn übergiebt er sie Fulda mit den Worten: ‚Nehmen Sie das Resultat, Herr Bergrath, als ein Geschenk und Andenken von mir an! Sie haben viel Last und Mühe mit dem leichtsinnigen Menschen gehabt. Es ist eine theure Mundtasse; sie kostet mich mehr als zwölftausend Thaler.‘ Und so war der Vorgang beendigt.“
Scherzhaft ist auch ein Passus aus unserem Buche, den wir im Nachstehenden mittheilen:
„Ein genialer Bruder von mir, der bei einem ausgezeichneten Chemiker damaliger Zeit, dem bekannten Professor Johs. Sch. in Kassel, die Vorlesungen der Chemie mit Eifer und Fleiß hörte, hatte soeben von diesem ein Pulver mitgetheilt erhalten, dessen chemische Kraft, wenn es auf glühende Kohlen zum wohlriechenden Dufte und Dampfe gebracht wurde, sofort jede nicht echte Carminschminke in eine grünliche schwarze, wenigstens dunkle Farbe verwandelte. Dieses interessante Pulver brachte mein liebes Brüderchen, der seiner Behendigkeit und seines angenehmen Wesens wegen allein die Erlaubniß genoß, in der Gesellschaft an der Mutter Seite bleiben zu dürfen, nach Hause und schüttete das Pülverchen auf die glühenden Kohlen der Theemaschine vor der Mutter Platz. Augenblicklich verbreitete sich ein überaus lieblicher Duft um den Damenkreis, aber zugleich auch die böse Einwirkung auf die Wangen. Die eine der Damen zieht ihr feines Taschentuch und bittet nun die Erlaubniß, ihrer lieben Nachbarin vis-à-vis einen dunkeln Flecken wegbringen zu dürfen, der sich soeben auf ihrer schönen Wange etablirt hat, und gerade dasselbe thut diese Dame derselben Nachbarin, und bald muß die ganze Gesellschaft sich mit schwarzfleckigem Gesichte ansehen. An das gefährliche Pülverchen und dessen chemische Wirkung denkt Niemand und am wenigsten meine gute Mutter, die es gar nicht bemerkt hat, wie solches in die Maschine gekommen. Die ganze Gesellschaft geht entrüstet auseinander – auch kein einziges Schminkdöschen war echt gewesen.“
Wir schließen unsere Excerpte aus den erwähnten Erinnerungen mit einer Schilderung, welche die Entdeckung einer unterirdischen Richtstätte der Vehme zum Gegenstande hat.
„Die Jugend,“ heißt es daselbst, „hat stets Gefallen an Abenteuern, und die Zeit des Mittelalters begeistert sie noch jetzt zu Theilnahme und lebhaftem Interesse. Als unser Lehrer uns vortrug, daß die Vehmgerichte zwar vorzugsweise in Westphalen bestanden hätten, daß aber auch in unserm hessischen Vaterlande und namentlich in der Stadt Kassel Spuren derselben vorhanden seien, da brannten wir alle vor Begierde, von diesen unterirdischen Localen in unserer Nähe Kenntniß zu erlangen, und die Folge davon war, daß zehn von uns Mittags nach der Unterrichtsstunde sich vereinigten, die nähere Bekanntschaft dieser unheimlichen Stätten zu machen. Der Lehrer hatte uns gesagt, daß außerhalb des Aue-Thores vor Kassel ein großer Quaderstein mit einer darauf ausgehauenen Rittergestalt den Eingang zu einem solchen unterirdischen Gerichtslocale bildete, daß aber dieser Eingang im Laufe der Jahrhunderte ohne Zweifel ganz verschüttet und unzugänglich geworden sei. Kaum waren die Unterrichtsstunden beendigt, so fanden wir Knaben uns, ohne Jemandem etwas davon zu sagen, am Aue-Thore ein. Den großen Stein fanden wir allerdings nach langem Suchen, aber wie sollten wir ihn hinwegräumen, um den Eingang zu finden? Der Aelteste von uns wußte Rath; er holte zwei in der Nähe arbeitende starke Tagelöhner und versprach ihnen Geld; diese schafften mit Brecheisen und Hebebäumen den mächtigen Stein von der Stelle, wenngleich mit großer Kraftanstrengung und nach Verlauf einer Stunde. Wir hüteten uns wohl, den Arbeitern von unsern Absichten etwas merken zu lassen, lohnten sie ab und entließen sie, ohne irgend etwas zu verrathen.
Wir beriethen nun unter uns, wie wir den Schutt unter dem Eingangsstein wegräumen und den Zugang zu dem unterirdischen Gewölbe, das wir voraussetzten, für uns möglich machen sollten. Alle Geräthschaften, die zu dem Geschäft erforderlich, suchten wir unter der Hand, wo wir solche nur zu finden vermochten, an uns zu bringen, ohne jedoch Jemandem von unserem Vorhaben irgend etwas merken zu lassen, und als wir nun hinreichend mit Allem versehen waren, auch Fackeln und Lichter mit Feuerzeug beisammen hatten, bestimmten wir einen Sonntag früh zum Anfang unseres Vorhabens, weil an solchem Tage kein Mensch außerhalb des Thores zu sehen und wir daher durch nichts an unserer Arbeit gehindert waren. Schon vor vier Uhr Morgens fanden wir uns am Platze ein, und da wir unser zehn starke Buben mit kräftigen Armen waren, so hatten wir den ganzen Schutt bald weggeräumt. Wir fanden wirklich einen Eingang und eine geräumige Oeffnung, deren Tiefe wir durch Leitern mit unseren Hacken und Schaufeln verfolgten und immer weiter verfolgten, bis wir, zu einiger Tiefe gelangt, einen großen Raum fanden. Nun stiegen wir wieder mit Hülfe der Leitern hinauf und versparten die Untersuchung der Localität auf einen der nächsten Abende.
Mit Lebensmitteln und Trinkwasser reichlich versehen, schlugen wir, zehn Knaben von zwölf bis fünfzehn Jahren, den bedenklichen Weg ein, nachdem wir unsere Fackeln und Laternen angesteckt hatten. Der Gang war anfangs so schmal, daß nur Einer mit Mühe Platz fand, bald gelangten wir aber in einen größeren, ausgemauerten Raum und darin vor ein großes eisernes Thor, das zwar nicht verschlossen, aber doch auch nicht offen und daher für uns nicht zugänglich war. Mit unsäglicher Mühe und Kraftanstrengung gelang es uns endlich mit Hülfe der Brecheisen, Hebel und Hacken, die gewaltige Pforte so weit zu öffnen, daß wir einzeln uns durchzwängen konnten. Das war nun, wie wir erkannten, der Sitzungssaal des heimlichen Gerichts, der sogenannte freie Stuhl. In der Mitte ein großer steinerner Tisch und um denselben gegen dreißig bis vierzig eherne Sitze, die im Laufe der Jahrhunderte ganz mit Moos bewachsen waren. In der Mitte und an den beiden oberen Seiten bemerkte man erhöhte Sitze, einen mit einer Art von Rückwand und Verzierung, wahrscheinlich der Sitz des Stuhlherrn, welcher in der Regel ein Fürst oder Graf war, die beiden anderen Sitze der sogenannten Freigrafen und die übrigen der Freischöffen, wie die Besitzer genannt wurden. Rund herum [370] in dem großen hochgewölbten Saale sahen wir Steinbänke und zwischen diesen und der Tafel zwei einzelne Sitze, vielleicht die der Angeklagten und unglücklichen Opfer. Aber ein Grausen erfüllte uns Alle, als wir in einem Nebengemach die Marterwerkzeuge sahen. Alle Torturmaschinen damaliger Zeit, zwar grausam verwittert, erkannten wir noch, die Bank, den Stuhl, die Schraubenwerkzeuge, alles fast colossal und der damaligen Kraft der menschlichen Körper angemessen; dann befanden sich auch noch viele alte Waffen, Speere und Schwerter, auch eisernes Rüstzeug an der Wand aufgehängt, vielleicht den Verurtheilten abgenommen. In dem Sitzungssaale erkannten wir aber bei unserer Rückkehr noch eine Maschine, die in einer dunkeln Ecke einen nicht unbedeutenden Raum einnahm; es war die bekannte Jungfrau, eine mit eisernen Gelenken und Gewinden versehene eherne Frau von colossaler Größe, deren Arme mit hundert scharfen – jetzt aber ganz verwitterten und verrosteten – Schwertern und Dolchen versehen waren und die bekanntlich die zum Martertode verurtheilten Unglücklichen zärtlich in ihren Arm nehmen, und so durch die Zusammenziehung der schrecklichen Maschine mit unzähligen Wunden, Stichen und Schnitten im Augenblick tödten mußte. An der Wand zur Seite dieser Jungfrau stand mit großen lateinischen Buchstaben, noch lesbar, geschrieben: „Hans Reitesel“. Vielleicht der Name des letzten zur Umarmung der Jungfrau Verurtheilten, der möglichenfalls ein Ahne des alten Geschlechts der Riedesel war. Gottlob, daß die Zeit der Vehme für immer entschwunden ist!“
- ↑ „Hessische Zustände und Persönlichkeiten aus den Jahren 1751–1830, aus den nachgelassenen Aufzeichnungen hessischer Beamten herausgegeben von Karl Fulda und Jakob Hoffmeister.“