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Lampenfieber (Tucholsky)

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
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Autor: Kurt Tucholsky
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Titel: Lampenfieber
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aus: Lerne lachen ohne zu weinen, S. 208-210
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1932 (EA 1931)
Verlag: Ernst Rowohlt
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Erscheinungsort: Berlin
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Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: ULB Düsseldorf und Scans auf commons
Kurzbeschreibung:
Erstdruck in: Weltbühne, 14. Januar 1930
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Bild
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Bearbeitungsstand
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[208]
Lampenfieber

Heißt „trac“ auf französisch. Der kleine zuckende Laut gibt den Peitschenschlag der Nerven gut wieder. Ich, der Zuschauer, habe oft Lampenfieber, wenn ich im Theater vor dem herabgelassenen Vorhang sitze, und ich, der Bücherleser vor dem unaufgeschnittenen Buch, habe es auch. Warum –?

Weil ich mir manchmal denke: Wie, wenn du nun die ganze Geschichte gar nicht verstehst? Wenn du der Fabel nicht folgen kannst? Wenn du heute abend den Lauf der Fäden, die Knoten und Knötchen, überhaupt nicht faßt? Was dann? Das mathematische Gefühl, das dazu gehört, eine Intrigue von Scribe zu entwirren, ist bei mir nur schwach ausgebildet; in den großen Romanen habe ich schon meinen lieben Kummer, alle Personen auseinanderzuhalten – daher unter anderm der nimmer versagende Reiz der Kriminalgeschichten, die jedesmal wieder anklopfen: Verstehst du uns auch? kannst du folgen? kannst du uns lösen, „geht es auf?“ wie die Schüler sagen, die beseligt aufatmen, wenn als Rest Null bleibt. Manchmal, denke ich, werde ich versagen und mich furchtbar blamieren.

Das muß dann ein hübscher Abend sein … Während rings alles vor Spannung fiebert, sitze ich, der lampenfiebernde Zuschauer, da und verstehe kein Wort. Die Leute [209] lachen; ich bleibe toternst. Die Nachbarinnen ziehen je ein kleines Tuch … ich bleibe ungerührt. Wissen Sie, was dann geschieht?

Dann haßt man die Verstehenden. Ich weiß es noch genau: wir saßen in den „Noctambules“, Holitscher und ich, es war in meinen ersten pariser Wochen, und ich verstand knapp die Hälfte von dem, was sie da sangen. Holitscher, der Frankreich von Grund auf kennt, lachte aus vollem Halse, ab und zu sah er auf mich, ob ich auch meinen Spaß hätte … Ach nein, ich hatte ihn gar nicht. Ich saß, das Trommelfell gespannt, ich machte sozusagen Eselsohren, ganz lang wurden sie … und ich faßte nicht. Schwupp – Pointe vorbei. Und die Leute lachten! In diesem Augenblick haßte ich Holitscher. Ich fand sein Lachen fast albern, sein Verständnis pretiös. Ich hatte ihn sogar ganz leise im Verdacht, er lachte nur, um mir zu zeigen, wie schön er französisch … dann ging es schnell vorüber. Später saß ich selbst neben den deutschen Freunden, lachte mich krumm, wenn der da vorn von einer alten Jungfer sang, die auf dem Omnibus sagte: „Mais j’ai perdu mon chat!“ – und der deutsche Freund saß neben mir, es war ihm leicht unbehaglich, und ich sah es nicht. So ist das.

Merk: es gibt Bücher, vor denen das Verständnis aussetzt. Leg mir Claudel vor – ich verstehe keinen Ton. Ich habe es mit den „Falschmünzern“ von Gide versucht … ein Loch. Hier hilft nur die schärfste Selbstkritik.

So, wie die berliner Journalisten, besonders die Jungen, etwas wie die Begeisterung um jeden Preis erfunden haben, weil sie glauben, sie seien weniger wert, wenn die gestrige Kinopremiere nicht „faabelhaft“ gewesen sei, während ein Posaunenlob sie selbst heben soll („Man geht in die Nacht hinaus und ist erschüttert“) – so, wie viele glauben, es müsse [210] immer etwas los sein und es fiele auf sie zurück, wenn einmal nichts los ist –: so muß man genau wissen: hier hast du nichts zu suchen. Das kannst du nicht. Hier hörts auf. Geh ab. Schweige.

Es ist keine Schande, nicht allgegenwärtig zu sein. Man muß es nur nicht prätendieren. Auch ist es klüger, sich so zu verhalten. Denn es gibt ein Mittel, ein einziges, im Schachspiel unbesiegt zu bleiben. Spiele nicht Schach.