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Lea und Rahel

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Textdaten
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Autor: Ida Boy-Ed
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Titel: Lea und Rahel
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 17–29, S. 277–282, 293–299, 309–314, 325–328, 341–346, 357–360, 373–379, 389–392, 409–414, 429–435, 462–467, 480–484, 492–496
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Lea und Rahel.

Roman von Ida Boy-Ed.
1.

Daß sich bei den Römpkers auf Römpkerhof etwas Unangenehmes oder gar Unglückliches zugetragen haben müsse, ward allen Nachbarn und Freunden klar, die angefahren kamen, um Herrn von Römpker zu seinem Geburtstag zu beglückwünschen. Man war so sehr gewohnt, in dem gastlichen Hause festgehalten zu werden, daß eine bloße Nichteinladung schon zur auffälligen Thatsache ward.

Die bedrückte Miene der Frau von Römpker wollte nichts besagen; aber daß der Hausherr zerstreut und einsilbig erschien, daß auf seiner Stirn ersichtlich allerlei Gedanken Falten hervorriefen, war eben so selten als bemerkenswerth.

Herr von Römpker sah alle Dinge dieses Lebens aus der Vogelperspektive an: ein Kirchthurm war für ihn eine Stecknadelgröße. Frau von Römpker hingegen betrachtete alles aus der Froschperspektive: ein Gartenzaun schien ihr schon ein unübersteigliches Hinderniß.

Wenn also diese beiden Menschen eine Angelegenheit vom gleichen Gesichtspunkt aus und sorgenvoll ansahen, mußte dieselbe gewiß von außergewöhnlicher Bedeutung sein.

Wagen auf Wagen fuhr in den Gutshof ein, denn die Römpkers hielten muntern Verkehr mit den Gutsbesitzern in der Runde und mit den Angesehenen der unfernen kleinen Stadt. Diese Stadt hatte sogar eine Garnison von einigen Schwadronen Husaren. Mehrere der Offiziere waren verheirathet; dann gab es einen Pastor mit einer liebenswürdigen kleinen Frau, einen Bürgermeister und einen Landrath, ein paar Referendare und Advokaten - kurzum die ganze anscheinend so bunte und verschiedenartige und doch, durch die enge Gleichheit der Lebensinteressen, so einhellige Gesellschaft einer keinen Landstadt.

Alle diese Leute fanden auf Römpkerhof stets freudiges Willkommen und offene Tafel, den ganzen Sommer hindurch. Man verabredete sich, hinauszufahren, wie man sich sonst zu einer Vergnügungspartie nach irgend einem Waldwirthshaus zusammenschließt. Man war mit dem Hausherrn lustig und mit den Töchtern gut Freund, die Hausfrau begrüßte man nebenher. Es war schon immer so lebhaft auf Römpkerhof zugegangen, ehe die erwachsenen Töchter den Vorwand hergaben, daß man ihretwegen ein Haus machen müsse. Kein Mensch in der Gegend konnte sich das Haus anders vorstellen als voll von Gästen, und aus der gastfreundlichen Gewohnheit [278] der Familie schien allmählich eine Pflicht geworden, deren einmalige Nichterfüllung alle Welt in Staunen setzte.

Der Geburtstag des Herrn von Römpker – seine Frau hatte die unbegreifliche Taktlosigkeit, zu erzählen, daß es sein fünfzigster sei – fiel in die ersten Tage des Juni. Das weite Gelände rings schimmerte im frischesten Grün, die Wiesen blühten, das Buchenlaub am See leuchtete wie grünliches Gold in der Sonne. Römpkerhof breitete sein Land in der norddeutschen Ebene aus und einer jener lachenden kleinen Seen, welche da oben die Wälder und Felder so anmuthig unterbrechen, gehörte mit zu dem Besitz. Das weiße, vor zwanzig Jahren neu gebaute Schloß war wie ein Würfel, an dessen vier Ecken man je ein Rohr gesetzt hatte. Der „Würfel“ hatte rundum zwei Reihen blanker, hoher Fenster und die „Rohre“ endeten in spitze Thurmdächer von bläulichem Schiefer. Das Ganze hob sich, durch seine angemessenen Größenverhältnisse zu einem Gebäude von wohlgefälligem Ansehen geworden, frei aus den Rasenmatten und Kieswegen des Parkes. Vorn an der Landstraße hatte das Parkgitter zwei mächtige doppelflüglige Thore; von einem zum andern zog sich drinnen in weitem Halbbogen ein Fahr- und Reitweg, der am Schloßportal seinen Höhepunkt und in einem wohlgepflegten Rasen seine Füllung fand. Hinten am Schloß sah man, von einer Veranda aus, den Park sich bis zum See in sanfter Linie senken.

Das sonst von Park und Wald umdrängte Wasser ließ gerade drüben seine gekräuselten Wellen an Wiesen und Getreidefelder spülen, über die hinweg man eine Windmühle und den Kirchthurm der Stadt sah. Dort hinaus malte sich abends der Himmel roth von der untergehenden Sonne und dann standen die Windmühlenflügel und der spitze Thurm schwarz vor goldenem Grund.

Es war ein schöner, vornehmer und reicher Besitz, dies Römpkerhof, und sein Herr hatte die prosaische Kehrseite der Medaille ganz aus dem Gesichtskreis verbannt. Bei dem großen Umbau vor zwanzig Jahren, welchen Römpker mit dem Gelde seines verstorbenen Schwiegervaters unternommen hatte, waren alle Wirthschaftsgebäude hinter die Parkgrenze gerückt worden und schienen ein Gewese für sich zu bilden.

Die ganze Gegend wußte es, daß Herr von Römpker, der Erbe eines schuldenfreien Familiengutes, mit seiner Frau ein großes Vermögen erheirathet hatte welches ihm gestattete, die Mißerfolge seiner Landwirtschaft mit erhabenem Gleichmuth und die Erfolge als angenehme Sportsiege zu betrachten. Denn er war mit einer gewissen Leidenschaft Landwirth und hatte Freude an Versuchen mit neuen Maschinen, Fütterungen, Fruchtfolgen und Kulturen. Er experimentirte sozusagen für die ganze Gegend Probe.

Ferner wußte man, daß der Vater der Frau von Römpker wohl seine Tochter und deren Gatten als Erben eingesetzt, daß aber die Mutter der Frau ihr unabhängiges, kleineres Vermögen den beiden Enkelinnen vermacht hatte. So waren diese je im Besitz einer stattlichen Mitgift und konnten frei nach ihrem Herzen wählen.

Daß sie immer noch nicht gewählt hatten, setzte viele in Erstaunen.

Es hieß zwar, daß Lea einige Bewerber abgewiesen habe, daß aber jemand sich um Rahel beworben, konnten selbst die feinsten Neuigkeitsspürer nicht behaupten.

Herr von Römpker hatte den „Witz“ gemacht, wie er das nannte, seine Mädchen nach den biblischen Schwestern zu taufen.

Den Namen „Lea“ hatte freilich seine Frau selber bei der Erstgeborenen vorgeschlagen, aus einer poetischen Vorliebe für alttestamentliche Vornamen. Lachend hatte der Gatte eingewilligt mit der Bedingung, daß ein etwa in der Zukunft eintreffendes zweites Töchterlein dann Rahel heißen solle. Diese zweite Tochter war schon anderthalb Jahr später geboren worden. –

Einige sehr nahe Freunde des Hauses hatten an dem heutigen Geburtsfest des Vaters die besondere Ueberraschung erwartet, daß Lea ihnen da ihren Verlobten vorstellen werde; diese nahen Freunde glaubten auch zu wissen, wer einzig und allein der Verlobte sein könne.

Aber nichts bestätigte die Erwartung. Fräulein Lea sah stolzer und ablehnender drein als je, ihre Schwester schien unruhig und das Elternpaar geradezu aus der Fassung.

Die schönen Räume des Herrenhauses waren von Menschen angefüllt. Man hatte die für Landbesucher übliche Stunde des Nachmittagskaffees gewählt, um Herrn von Römpker zu beglückwünschen, und war sicher gewesen, nicht fortgelassen zu werden. Der Diener zwar trug Kaffee und Kuchen umher – es war wie sonst, nur vom Abend war nicht die Rede. Aus Neugier und Erwartung zögerten die Besucher ungebührlich mit dem Aufbruch.

Die vor Ungeduld leidende ältere Tochter fühlte in sich den Entschluß keimen, durch eine Unhöflichkeit diese „lieben Freunde“ und zudringlichen Unbescheidenen hinauszuwerfen. Da kam ihr ein Zufall zur Hilfe und gab ihr Gelegenheit, ohne Unart deutlich zu werden.

„Wo ist er denn, wo ist er denn?“ rief eine laute Männerstimme an der Thür. „Mein Alter, wo steckst Du?“

Alle kannten dies donnernde Organ und die geräuschvolle Art des Eintritts. Der große, starkbeleibte Mann mit dem vergnügten Gesicht, welches sogar auch in der Barttracht auffallend den Viktor Emanuel-Bildern glich, war Herrn von Römpkers bester Freund, sein Jugendgespiele und Gutsnachbar und überdies der Landrath des Kreises.

Er umarmte den ihm entgegeneilenden Römpker.

„Fünfzig Jahre! Donnerwetter, so’n halbes Jahrhundert ist keine Kleinigkeit,“ sagte er, dem Geburtstagskind den Rücken klopfend. „Bin neugierig, wie Dir das Alter schmecken wird.“

Herr von Römpker entzog sich den allzu fühlbaren Liebkosungen. Er nahm eine mit Absicht gezierte Pose an, welche aber seine noch jugendliche Gestalt zur besten Geltung brachte, und sprach abwehrend:

„Sehe ich aus wie ein alter Mann, meine Damen? Raimar ist neidisch auf mein Talent zur Jugend.“

Herr von Römpker fiel trotz seiner ergrauenden Haare in der That durch die Frische und Lebendigkeit seines Antlitzes und seiner Bewegungen auf. Seine mittelgroße Gestalt trug einen feinen Kopf mit edlen und liebenswürdigen Zügen. Die Art, wie er frisirt und gekleidet war, der Schnitt seines schmalen Backenhartes verriethen den Lebemann und auch den ein wenig eitlen Menschen.

Der Landrath schüttelte allen Anwesenden kräftig die Hand und sah sich erstaunt um.

„Was ist denn das? Die Damen noch mit dem Hute auf dem Kopf? Wenn es nur Frau Rittmeister wäre, dächte ich, es geschähe nur, um uns Gelegenheit zu geben, dies Berliner Wunderwerk von einem Sommerhut anzustaunen. Aber da auch Frau Pastor …“

Die kleine hübsche Frau des Geistlichen rief lachend:

„Da auch ich meinen vorjährigen noch aufhabe, wollten Sie sagen – schon gut, lieber Herr Landrath. Vorjährige Hüte gehören doch ein wenig zu meinen Pflichten, wie der ‚Berliner‘ zu denjenigen der Frau Baronin.“

„Ja, sind wir denn nicht gebeten, abzulegen?“ fragte der Landrath ganz unbefangen.

Ebenso frei versetzte Lea laut: „Diesmal nicht, Onkel Landrath.“

„Aber warum denn nicht?“ fragte dieser unbeirrt weiter.

Frau von Römpker ängstigte sich schrecklich, Herr von Römpker wurde nur durch Leas strengen Blick abgehalten, mit der ganzen „Wahrheit herauszuplatzen“, wie er seine jeweiligen Vertrauensseligkeiten nannte. Da sagte Rahel mit einem hübschen Lächeln:

„Siehst Du, Onkel Landrath, Papa hat nie für uns Zeit. Und da haben wir uns denn diesen ernsten Lebensabschnitt – denke doch, ein halbes Jahrhundert! – ausgebeten. Wir wollen Papa ganz allein haben, wir wollen ihn tüchtig verziehen und ihm auch nebenbei ein wenig die Leviten lesen über seinen Lebenswandel. Wenn er sich auch noch so jung fühlt – um jung zu bleiben, sollte er wohl fortan ein wenig auf die Zahl seiner Jahre Rücksicht nehmen.“

Dabei strich sie ihm mit der Hand über seine Wangen, als wäre er nicht der Papa, sondern der verzogene jüngere Bruder. Und ihre Worte waren keineswegs bloß leere Aushilfslügen gewesen, wenn sie auch nur sehr entfernt die Wahrheit streiften.

„Ja, ja, mein Alter,“ sagte Raimar, „der Bordeaux! Und der gute Mittagstisch! Und Dein Portwein! Ich kenne das. Die dumme Leber kündigt eines Tages ihre glatte Funkion und dann heißt es: auf nach Karlsbad!“

„Ach was,“ rief Herr von Römpker mit einem etwas erzwungenen Lächeln, „der Medizinalrath hat die Meinen geängstigt. Ehe ich das neue Lebensprogramm von meinen Töchtern annehme und zu befolgen gelobe, muß ich es genau kennen.“

[279] „Meine Herrschaften,“ sprach der Landrath und wandte sich mit seiner starken Stimme an die Anwesenden, als wollte er eine Rede an das Volk halten, „da wir hier hinausgeworfen werden, lade ich Sie insgesammt ein, nach Kohlhütte zu fahren. Es ist mir ein unabweisbares Bedürfniß seit sechsundvierzig Jahren – also seit ich mich erinnern kann – mir an Römpkers Geburtstag meinen Magen zu verderben. Ach, Römpker – die seligen Zeiten, als wir’s noch mit Chokolade und Kuchen thaten! Ehren wir die feierliche Stimmung dieser guten Töchter, die ihren Vater an seinem fünfzigsten Geburtstag Vernunft lehren wollen, wünschen wir ihnen allen Erfolg und lassen wir sie allein!“

Er zählte jetzt erst, wieviele zugegen waren. Der Pastor und seine Frau, der Rittmeister Baron Ehrhausen und Frau, zwei jüngere Offiziere, die Gattin des Bürgermeisters und ein Gutsnachbar mit Tochter.

„Neun Personen – mit mir zehn. Na, meine Christel wird’s schon machen.“

Christel war seine Wirthschafterin auf seinem Gut Kohlhütte, und man sagte, daß sie, die seit seinen Knabenjahren im Hause war, ihn gänzlich tyrannisire.

„Ist denn Clairon nicht hier?“ fragte er plötzlich, den häufigsten Gast des Hauses vermissend.

Wieder ängstigte sich Frau von Römpker und wieder war es Rahel, die gleichmüthig sagte:

„Er ist schon hier gewesen.“

Also auch er ist nicht zum Bleiben aufgefordert worden, dachten die Damen; mit der Verlobung war es also nichts. Lea sowohl wie ihr Vater bemerkten recht gut die Blicke, welche man sich hier verständnißvoll zuwarf.

Raimar in seiner großen Lebhaftigkeit hatte aber noch etwas zu sagen.

„Kinder, Ihr bekommt einen neuen Landrath,“ rief er und sah alle nach der Reihe triumphirend an. Nachdem er sich an dem allgemeinen Erstaunen geweidet hatte, erklärte er:

„Meine Verdienste schrieen gen Himmel. Dreimal hatte ich schon alle Beförderung abgelehnt mit der Bitte, mich als Landrath in diesem Kreise zu lassen, wo ich mein Gut habe, wo ich jedes Kalb und jede Kuh kenne, wo kein Tagelöhner sich untersteht, ans Auswandern zu denken, und kein sozialdemokratisches Wörtchen gehört wird, wo ich gewesen bin wie ein Vater für die Unmündigen und Waisen …“ Er lachte sein gutes, sehr lautes Lachen.

„Nun, und?“

„Nun, und es ging nicht länger. Ich sollte und sollte meine Talente in einem größeren Wirkungskreis glänzen lassen.“

„Sie gehen von uns?“

„Nein, Raimar, das darfst Du nicht.“

„Was sagt Ihre Christel?“

„Wollen Sie Kohlhütte verpachten?“

Er ließ alle fragen und reden und lächelte siegreich über sie hinweg. „Ich habe abgelehnt. Ich trete aus dem Staatsdienst und bleibe der Eure. Nur die Winterwohnung in der Stadt, die von Amtswegen nöthig war, die gebe ich auf.“

An dem echten Freudenausbruch konnte der heitere Junggeselle ermessen, wie sehr beliebt er war. Die Pastorin hatte einen Einfall:

„Allein auf dem Lande im Winter? Nein, lieber Herr Landrat, nun müssen Sie heirathen, denn wie wollen Sie die Zeit hinbringen, die sonst Ihr Amt ausfüllte?“

„Richtig! Suchen wir ihm eine Frau!“ sagte die Baronin Ehrhausen.

„Mich nimmt keine!“ versicherte Raimar.

„Jede,“ sagte Römpker, „denn Du bist noch ein junger Mann. Eben fünfzig. Als ob das ein Alter wäre!“

„Wir wollen gleich mal sehen,“ lachte Raimar, von dem bloßen Gedanken an lieben, werben, heirathen ungemein belustigt. „Lea, willst Du mich?“

Lea hatte theilnahmlos am Fenster gestanden und auf den Park hinausgeblickt. Sie wandte das dunkle Haupt und sagte: „Ich? Nein. Ich würde Dich wenig glücklich machen, Onkel Landrath. Auch entsprichst Du meinem Ideal nicht.“

„Erster Korb. Meine Damen, ich werde Sie über alle Körbe, die ich bekomme, auf dem Laufenden erhalten. Rahel, mein Kind, willst Du mich denn? Oder hast Du auch ein Ideal?“

Rahel stand neben ihm und lachte. Sie schüttelte den Kopf und sprach:

„Wenn Du mich zuerst gefragt hättest, würde ich ‚ja‘ gesagt haben, denn es ist mein erster Heirathsantrag. Aber das nehmen, was Lea übrig läßt – siehst Du, das mag ich nicht. Wie schade, Onkel Landrath! Denn obenein hab’ ich ein Ideal, und dieses bist just Du.“

„Nun höre einer, wie das Mädchen mich aufzieht.“

„Korb zwei,“ zählte die Baronin.

„Wer wird denn Dein Nachfolger?“ fragte Römpker. „Wenn wir nur kein unangenehmes Element in unsere Gesellschaft bekommen. Denn verkehren muß man mit dem Mann doch.“

„Der Nachfolger? Ja, das ist nun das Allerinteressanteste an der ganzen Geschichte. Lüdinghausen kommt hierher.“

Dabei sah er alle herausfordernd an, als wollte er sagen: „Wundert Euch doch über diese Neuigkeit!“ Aber der Eindruck des genannten Namens war keineswegs der erwartete. Nur der Rittmeister sagte:

„Lüdinghausen? Ist das etwa ein Sohn von dem schlesischen Großgrundbesitzer und Bergwerksbesitzer?“

„Allerdings. Ein einziger Sohn, den indessen besondere Neigung in den Staatsdienst trieb, während er doch als ‚Erbprinz‘ auf seines Vaters Besitzungen wie Gott in Frankreich hätte leben können,“ erzählte Raimar.

„Peinlich,“ sagte Herr von Römpker mit einem hochmüthigen Zug im Gesicht, „solche Söhne von reichgewordenen Emporkömmlingen gefallen sich meist in einem gewissen Protzenthum.“

„Ganz im Gegentheil! Der junge Lüdinghausen soll sehr zurückhaltend sein,“ versicherte Raimar, der aus seinem natürlichen Wohlwollen heraus das Gefühl hatte, als habe er väterliche Fürsorge für seinen Amtsnachfolger zu zeigen.

„Zerbrechen wir uns doch nicht den Kopf über diese unbekannte Größe!“ rief die Baronin heiter aus. „Gefällt er uns nicht, machen wir schweigend Front gegen ihn, und das wird er merken und wieder gehen.“

„Aber meine Gnädige, wie unchristlich!“ sagte der Pastor, ihr freundlich drohend.

„Sollen wir Euch unseren Pastor dalassen, Ihr Römpker- Mädels?“ fragte Raimar. „Soll er Euch bei dem Levitenlesen helfen?“

„Nein, nimm ihn nur mit, Onkel Landrath!“

„Also – auf nach Kreta, meine Herrschaften, und schütteln wir endlich den Staub dieses ungastlichen Hauses von den Füßen!“ mahnte Raimar. Er erwies den beiden Töchtern des Hauses ahnungslos einen großen Dienst, indem er die Sachlage in das Scherzhafte verkehrte.

Indessen verging noch eine weitere halbe Stunde, bis die ganze Gesellschaft Abschied genommen und ihre Wagen bestiegen hatte.

Dann endlich war die Familie allein. Man wußte, daß niemand mehr kommen würde.

Rahel ging mit dem Diener durch die Zimmer, stellte die Ordnung wieder her, lud ihm Bretter mit Tassen und Gläsern auf und bürstete dann noch sorgfältig die Krumen von einer Tischdecke auf eine kleine japanische Schaufel.

Lea stand wieder unbeweglich am Fenster und starrte hinaus.

Herr von Römpker saß in der einen Sofaecke, seine Frau in der andern. Er sah seiner jüngeren Tochter zu und staunte ihre stille Geschäftigkeit an. Das schrieb er ihrem „ungeheuren Phlegma“ zu, über welches er oft gutmüthig gespottet hatte, das ihm zur Stunde aber als eine herrliche Eigenschaft erschien. Denn Lea, die so steinern dastand, die verzehrte sich inwendig vor Erregung, darauf wollte er schwören, und er zitterte nur vor dem Augenblick, wo die „Explosion“ stattfinden würde.

Ach ja, sie waren recht verschieden, seine Töchter. Wenn man aus den beiden hätte ein Wesen machen können, wär’s etwas Vollkommenes geworden. Die eine ruhig, so ruhig bis zur Langenweile; die andere interessant, so interessant, daß es schon unheimlich war. Wenigstens sah er seine Töchter so an. Lea war sehr schön. Als er das dachte, fügte er gleich bei sich hinzu, daß Rahel durchaus nicht häßlich zu nennen sei. Im Gegentheil, Lea mit ihren unregelmäßigen Zügen fiel mehr durch ihren Gesichtsausdruck, durch das flammende Auge und die stolze Haltung auf. Auch kleidete sie sich mit großem Geschmack, ebenso einfach als vornehm. Rahel hatte edlere Züge und einen ruhigen Blick. [280] Sie war etwas blonder und ihre Haltung war mehr sicher und still als auffallend stolz.

Herr von Römpker suchte, wie er so dasaß und sich auf dem Armensünderbänkchen fühlte, immerfort Vorzüge an Rahel auf. Bei ihr, so schien’s ihm, würde er Schutz und Halt gegen Lea finden. Er liebte immer die Tochter am meisten, welche ihm zur Stunde die bequemste war.

Die Mutter seufzte. Diese mittelgroße, von ewigen Sorgengedanken jeder Fülle beraubte Gestalt da in der Sofaecke hätte sich ein Uneingeweihter schwerlich als Herrin des reichen Hauses vorgestellt. Ihr mageres Gesicht mochte einst hübsch gewesen sein, heute war es nichtssagend. Die Frau machte den Eindruck, viel zu alt für den Mann neben ihr zu sein. Sie war obenein wie eine Matrone gekleidet, in sehr faltige braune Seide. Ihr Haupt, dessen unergrautes dunkles Haar sie in glatten Puffen trug, krönte ein Häubchen von Spitzen.

„Wer wohl von der Geschichte anfangen wird?“ dachte Herr von Römpker und überlegte, ob sich nicht ein Vorwand finden ließe, der es ihm möglich machte, nach Kohlhütte hinüber zu reiten.

In den schönen Zimmern, die von der Nachmittagssonne durchfluthet waren, herrschte nun völlige Stille, denn auch Rahel hatte sich gesetzt. Sie saß am Fenster und blickte über die Parkwiesen hin zum See.

Die altmodischen Möbel glänzten in ihrem dunklen Mahagoni und ihrem blanken Messingzierat. Sie hatten schon den Großeltern gedient. Es gab auch sogar ein Zimmer voll Rokokosachen. Herr von Römpker hatte die Pietät und den vornehmen Geschmack gehabt, bei seinem Neubau den ererbten Hausrath einer ganzen Folge von Geschlechtern nicht bei Seite zu werfen. Die Töchter hatten dann die hübsche Vermittlung zwischen den neumodischen Wänden und den alten Sachen hergestellt: sie hatten allerlei Dekorationsstücke zusammengetragen: Stoffe aus dem Orient, Phantasiearbeiten aus Seide und Malerei, niedliche, wenn auch unbenutzbare Gerätschaften, Blumen und Palmenwedel. Darüber waren denn alle Wohnräume sehr behaglich geworden. Und Herr von Römpker liebte so sehr die künstlerisch aufgeputzte Behaglichkeit. Er war stolz auf sein Haus.

Die Wohnzimmer, ihrer fünf an der Zahl, zogen sich vom Portal links im Schloß herum, bis parkwärts auf die Veranda. Hieran schloß sich ein mächtiger Speisesaal, und die ganze Seite rechts vom Portal war dem Festsaal des Schlosses gegeben.

So sehr Herr von Römpker in wachsender Nervosität auf ein erstes Wort gewartet hatte, so sehr fuhr er doch erschreckt zusammen, als es endlich fiel.

„Nun?“ fragte Lea und wandte sich langsam herum, die Ihrigen nach der Reihe ansehend. Sie stand da wie eine Königin, welche man erzürnt hat und die Milderungsgründe zu hören erwartet. Ihr sehr enges rothes Sommergewand sah beinahe wie ein Reitkleid dem Schnitt nach aus. Es stand ihr vorzüglich zu dem zarten Teint und dem dunklen Haar. Sie legte die Hände auf ihren Rücken zusammen und wiederholte herrisch:

„Nun?“

„Aber Lea,“ sagte die Schwester. „Was ist das für eine Frage und was soll Papa denn darauf antworten! Laß uns doch in Liebe und Ruhe über alles sprechen!“

Frau von Römpker fing gleich an, still vor sich hinzuweinen. Was sollte man da noch viel sprechen? Die Geschichte war hoffnungslos, das Glück ihrer Kinder dahin, der Wohlstand des Hauses untergraben.

„Dachte ich’s nicht,“ sagte sich Herr von Römpker aufathmend, „Rahel ist die einzig Vernünftige von meinen Weibsleuten im Hause. Sie wird Lea schon klar machen, daß die ganze Geschichte den Aufwand von Erregung nicht werth ist.“

Lea fühlte sich durch die Ermahnung der Schwester etwas besänftigt. Sie beschloß, „in Ruhe“ zu sprechen. „Denn“ sagte sie sich, „wenn ich nicht die Zügel ergreife, ist alles verloren.“ Sie war wie Vater, Mutter und die ganze Dienerschaft der festen Meinung, daß sie, Lea, das Haus beherrsche, daß sie hier den einzigen festen Willen und die einzige Thatkraft zum Handeln habe – so weit in diesem Hause und mit diesen Menschen überhaupt etwas zu wollen war.

„Vielleicht,“ begann Rahel wieder mit ihrer sanften Stimme, „habt Ihr Euch nur mißverstanden, Papa und Du. Es ist uns ja seit heute morgen keine Stunde des Alleinseins vergönnt gewesen. Die schnellen Worte, die Ihr in den Pausen zwischen den Besuchen wechseln konntet, haben gewiß nicht die Kraft gehabt, Papa von der Unumstößlichkeit Deines Willens zu überzeugen.“

Frau von Römpker hörte vor Erstaunen auf, zu weinen. Sie begriff nicht, woher Rahel die Gabe kam, immer so wohlgesetzt und so überlegen zu sprechen. Das mußte schon daher kommen, weil sie, Rahel, nicht soviel Gemüth hatte wie die Mutter. Wer ein so weiches Herz hat, kann nicht gefaßt sein und Frau von Römpker wurde wieder zu Thränen gerührt über ihr eigenes leidfähiges Gemüth.

„Laß das ewige Weinen!“ bat Herr von Römpker verzweifelt.

„Ich glaube nicht,“ sagte Lea, „daß von einem Mißverständniß die Rede sein kann. Als Clairon heute morgen um meine Hand warb in meiner Gegenwart, wie er es vorher mit mir verabredet hatte, schlug Papa ihm diese meine Hand ab. Ich erklärte noch in Roberts Gegenwart, daß ich ihn liebe und seine Bewerbung annehme. Darauf sagte Papa, daß triftige Gründe vorlägen, welche diese Verbindung unmöglich machten, Gründe, welche er aber nur mir allein nennen könne. Ich sagte Robert, daß ich an ihm festhalten werde, einstweilen möge er gehen und weiteres schriftlich von mir erwarten. Und was für ein nichtiger, künstlich hervorgeholter Grund ist es denn, mit dem Papa mir kam? Er könne mein Erbtheil von Großmama nicht auszahlen! Wir hätten auf zu großem Fuße gelebt! Ich müsse einen reichen Mann heirathen!“

Sie lachte fast spöttisch. In ihrer Stimme – es war eine äußerst wohllautende, etwas tiefe Stimme – hatte keinerlei schmerzliche Erregung mitgeklungen, nur Zorn und Ungeduld.

„Warum Du gerade die Laune hast, den Grafen Clairon heirathen zu wollen!“ bemerkte Herr von Römpker.

„Es handelt sich um keine Laune,“ fuhr Lea auf und trat bis an den Sofatisch heran, an dessen anderer Seite ihre Eltern saßen. „Ich will diesen Mann heirathen, weil ich ihn liebe und weil ich ihn sogar ohne Liebe auch aus reinen Verstandesgründen wählen würde.“

„Heirathen muß Lea doch einmal, lieber Papa,“ sagte Rahel bittend, „oder willst Du, daß sie ein altes Mädchen wird? Sie ist doch schon vierundzwanzig Jahre und Clairon paßt wirklich für sie, als wäre er eigens für sie geschaffen.“

„Du denkst doch auch nicht ans Heirathen!“ murmelte Herr von Römpker, der in der That Lea aus ihrem Wunsch einen Vorwurf machte, bloß weil ihm dieser Wunsch durch die Begleitumstände recht unbequem wurde.

„Ich?“ rief Rahel und lachte. „Nein, Papa, mir sind alle Männer so ungeheuer gleichgültig, und es scheint, daß sie das stets bei der ersten Begegnung bemerken, denn die Gleichgültigkeit ist stets auch auf ihrer Seite.“

„Wir sind also wirklich ruinirt?“ fragte Frau von Römpker jammernd.

„Aber keine Spur,“ sprach ihr Gatte ärgerlich. „Die Thatsache ist, daß wir ein bißchen zu viel ausgegeben haben. Ein paar schlechte Jahre kamen dazu. Kurz und gut, ich habe das Geld der beiden Mädels nach und nach aufgenommen und ins Gut gesteckt, ich könnte Lea ihre hunderttausend Mark nicht auszahlen, ohne in große Verlegenheit zu kommen. Clairon ist nicht vermögend. Er muß als Premierlieutenant ein Kapital bei seiner Eheschließung nachweisen. Das ist alles.“

„Nun, das ist nichts,“ sagte Rahel vergnügt. „Wenn Du unser Geld aufgenommen und ins Gut gesteckt hast, so sind doch die Hypotheken da. Eine solche Hypothek auf ein sonst schuldenfreies Gut ist gewiß Kapitalnachweis genug, und es ist ja genügend, wenn Lea und Clairon die Zinsen bekommen. Reicht es nicht – so gieb ihnen meine dazu!“

„Wo hat das Mädchen denn die verwünschte Geschäftskenntniß her?“ dachte Römpker. Ihm wurde recht elend zu Muth. Dies unglückliche Geld war gar nicht als Hypothek eingetragen, sondern einfach verbraucht. Er bereute es ja in diesem Augenblick aufs allerheftigste, aber wieder herbeizaubern konnte er es auch nicht.

Er schwieg. Seine beiden Töchter sahen ihn lange an. Er stützte den Ellbogen auf den Tisch, barg die Stirn in der Hand und starrte schweigend in den Plüsch der Tischdecke.

Sie waren beide so klug, daß sie alles erriethen. Lea kämpfte heiß mit sich, um ein unkindliches Wort zu unterdrücken. Es [282] gelang ihr. Rahel sprach wieder, ihre Stimme zitterte ein wenig, ihr Auge war feucht. Sie litt, weil ihr Vater sich schämte.

„Nun, lieber Papa,“ fagte sie sehr zärtlich, „ich denke, daß der Werth unserer Lea nicht in ihren hunderttausend Mark Mitgift bestand. Clairon liebt sie um ihrer selbst willen, das weiß ich. So wird er warten, bis sich ein Ausweg gefunden hat. Quäle Dich nicht so sehr!“

Lea aber fragte dagegen:

„Giebt es einen Ausweg? Du denkst doch nicht, daß Clairon und ich warten sollen, bis er Rittmeister ist? Nein, mein gutes Kind, das ist für mich völlig ausgeschlossen. Ich, Lea von Römpker, sollte vier oder fünf Jahre warten in Langen und Bangen? Oder ich sollte mein Lebensziel in einer armen, hungerigen Lieutenantsehe finden? Niemals!“

„Aber Lea,“ rief die Schwester erstaunt, „kennst Du denn das Geld so wenig, daß Du glaubtest, mit den vier- bis fünftausend Mark Zinsen ein elegantes Leben, Sorglosigkeit und Luxus zu finden?“

„Entbehrungen über Entbehrungen hätten Deiner geharrt,“ bestätigte Herr von Römpker eifrig.

„Ach ja,“ seufzte die Mutter, „und das wäre schwer auch für uns gewesen.“

Lea sah die Ihrigen flammend an.

„Luxus? Wohlleben? Wie wenig Ihr mich kennt, wenn Ihr glaubt, daß ich darauf zuerst sehe!“ rief sie aus. „Ich wäre an Clairons Seite mit anständiger Auskömmlichkeit zufrieden gewesen. So muß ich es Euch denn sagen, was ich will, was ich ersehne, was ich haben muß, um glücklich zu sein. Die Erste will ich immer sein in meinem Kreise, wie ich es gewesen bin, seit ich denken kann. Oder ist unser Haus etwa nicht das erste der Gegend, bin ich etwa nicht das gefeiertste Mädchen? Denkt nicht, ich sei eitel! Ich fühle ganz genau, es ist etwas anderes als Eitelkeit. Ich möchte einen festen und hohen Platz haben in der Welt. O, daß ich nicht auf einem Thron geboren bin! Denn zu großen Lebensformen fühle ich mich bestimmt. Der Mann, neben dem ich stehe, soll alle überragen, die um ihn sind. Entweder er soll vornehm sein von Rang und Stand, oder er soll von männlicher Schönheit sein, in Erscheinung und Charakter, oder geistig so bedeutend, daß sich ihm alles beugt. Und ist ihm dies alles nicht eigen, dann soll er wenigstens so reich sein, daß ich durch sein Gold fürstliche Unabhängigkeit habe. Ihr seht es – erst an letzter Stelle nenne ich den Reichthum. Ich ziehe die edleren Eigenschaften vor – wenn ich sie haben kann. Und welche fehlte denn Clairon? Er ist vom ältesten Adel, schön und männlich zugleich. Sein Charakter ist bewundernswerth, sein Wesen nimmt alle ein. Und ich liebe ihn. Und Ihr wollt bezweifeln, daß er der rechte Gatte für mich wäre?“

Sie hatte sich in eine solche Aufregung hineingeredet, daß es ihr heiß in der Brust war und in ihren Augen Thränen funkelten.

„Aber Lea, Du bist doch ein wenig überspannt,“ sagte Rahel. Herrn von Römpker gefiel es, daß Lea den Reichthum erst als letzten, äußersten Heirathsgrund gerechnet hatte. Darin war sie sein Kind. Auch er stellte Schönheit, Seelen- und Familienadel über das Geld. Nur leider – haben mußte man es, denn es floß so verwünscht schnell durch die Finger. Er wollte Lea nun eine Freude machen und bemerkte zu ihrer exaltirten Rede:

„Ja, ja, er ist ein reizender Mensch, Graf Clairon. Wer sollte mir auch als Schwiegersohn willkommener sein! Glaube mir, Lea, ich bin unaussprechlich unglücklich!“

In Wirklichkeit war dies auch die erste schwierige Stunde im Leben des Herrn von Römpker.

„Kannst Du denn keine Hypothek aufnehmen?“ fragte Rahel. „Unser Gut ist ja schuldenfrei, das muß doch leicht zu machen sein!“

Herr von Römpker, der bisher mehr gedrückt als gerade ernstlich unglücklich ausgesehen hatte, veränderte die Farbe. Er wurde wirklich bleich, erschreckend bleich.

„Welche Schande, welche Schande!“ murmelte Frau von Römpker, die nur eine ganz unklare Vorstellung davon hatte, was eine Hypothek sei, und dies Wort immer nur in Verbindung mit bankerott gewordenen Gütern gehört hatte.

„Liebe Mama, das klingt Dir nur schlimm,“ sagte Rahel begütigend.

Wie Herr von Römpker sich beim Beginn der Unterredung an die ruhige Vernunft seiner jüngsten Tochter geklammert hatte, wurde ihm jetzt der Stolz seiner Lea der Hoffnungsstern.

„Lea,“ begann er mit tonloser Stimme, „wenn Du darauf bestehst, kann ich freilich eine Hypothek aufnehmen. Auf Römpkerhof – denke, auf unser freies Familienerbe, darauf noch nie, seit meine Vorfahren es erwarben, ein Heller fremden Geldes gewesen! Diese Schuldenfreiheit war unser Familienstolz seit ungezählten Generationen. Denke an das Aufsehen in der Gegend, ja in der ganzen Provinz! Eine Hypothek aufnehmen und eintragen – das ist ein sehr öffentliches Geschäft, welches nicht zu verheimlichen ist. Man würde das bereden, man würde von Verlegenheiten sprechen, in denen ich sei, mein Ruf und meine Stellung als der unabhängigste Besitzer der Provinz wäre dahin.“

Rahel sah das nicht ein. Ihr erschien diese Furcht als bloße Eitelkeit. Auch konnte sie die „Unabhängigkeit“ nicht so hoch schätzen, welche den Töchtern nicht einmal freie Herzenswahl gestattete. Sollte denn Leas Glück scheitern an der Scheu vor Unbequemlichkeit und an Eitelkeit? Das that ihr schwerzlich weh, für Lea und für den Vater.

Ihr war es, als müsse man für große Ziele auch große Einsätze wagen. Aber sie schwieg, denn sie war es nicht, die den Kampf um Clairons Besitz zu führen hatte. Zitternd wartete sie auf Leas Antwort. Sollte der Hochmuth in dieser ungezügelten Frauenseele alles überwuchern, daß sie den Geliebten aufgab um so äußerlicher Rücksichten willen?

Lea ging auf und ab. Sie ging königlich. Die Schwester sah sie in Bewunderung und Sorge an; sie gestand sich, daß Lea eine von jenen felsenkantigen, aber auch felsenhohen Individualitäten war, die sich nirgends einfügen können, die einen besonderen Platz brauchen für ihre besondere Erscheinungsform.

Und da stand Lea still.

„Ich werde Dir morgen meinen Entschluß sagen, Papa,“ sprach sie finster.

Herr von Römpker athmete auf. Seine Saat mußte guten Boden gefunden haben. Wenn Lea sich erst bedachte, war alles gewonnen. Blinde Leidenschaft hätte gerufen: thue alles, trage alles, aber gieb mir den Mann, den ich liebe!

Er stand auf.

„So haben wir denn heute nichts mehr zu sprechen,“ sagte er wieder mit seinem liebenswürdigen Lächeln.

„Doch noch zwei Worte, Papa!“ rief Rahel, „ich habe auch einen Entschluß gefaßt, kann ihn aber schon heute verkünden. Nämlich, ich habe eben ausgerechnet, daß wir fortan im Hause viel, viel weniger verbrauchen müssen. Siehst Du, Papa – und verzeih, daß ich daran rühre – wenn Du in den zwanzig Jahren seit Großmamas Tod – nicht wahr, sie starb bald nach Großpapa – unsere zweimalhunderttausend Mark so – so – ‚in das Gut gesteckt‘ hast, so sind eben alle Jahre zehntausend Mark mehr verwirthschaftet worden, als hätte sein dürfen. Wenn nun schlechte Jahre kämen – was dann? Wenn die ‚Hypothek‘ vermieden werden soll, ganz unabhängig von Leas Heirath oder Nichtheirath, so müssen wir eben fortan jedes Jahr Geld zurücklegen. Dazu könnten wir zum Beispiel die Hälfte jener Zinsensumme bestimmen, welche Mama aus ihrem Familienfideikommiß bekommt.“

Herr von Römpker war einen Augenblick erstarrt. Lea aber, schnellen Geistes, war den Worten der Schwester verstehend gefolgt und glaubte ihnen das rechte Gewicht geben zu müssen durch ihre Beistimmung.

„Rahel spricht sehr klug und mir aus der Seele.“

„Wie unpoetisch für ein Mädchen, so rechnen zu können!“ rief Herr von Römpker endlich aus.

Rahel erschrak. Eine Thräne glänzte in ihrem Auge. Der Vorwurf der Unweiblichkeit ist jeder Frau der allerschmerzlichste.

„Du weißt, Papa, ich bin in keiner Weise ein Liebling der Grazien,“ versuchte sie zu scherzen, aber ihre Lippen bebten. „Verspotte mich deshalb – aber gieb mir Recht und befolge meinen Rathschlag!“

„Alles, was Ihr wollt,“ rief er verzweifelt, „nun aber laßt mich aus! Das ist ja ein Geburtstag, an dem man’s schon als Strafe empfinden könnte, geboren zu sein. Ich mache einen Ritt. Und Ihr – seid gescheit! Morgen ist auch noch ein Tag und bauscht mir die Geschichte nicht zu einem Fall auf, der einem die ganze Zukunft verleidet!“

Er ging. Und Rahel fürchtete, daß er nach Kohlhütte zur lustigen Gesellschaft reiten würde.

[293]
2.

Römpker athmete auf wie ein Kind, welches den Schluß der Schulstunde schlagen hört, als er endlich im Sattel saß.

Zu Pferde fühlte er sich stets besonders jung, kraftvoll, zu Thaten wie zur Freude aufgelegt. Er war ein eleganter Reiter und war sich dessen stark bewußt. Seine ganze Stimmung hing immer von den Dingen ab, die ihn umgaben. In einem schlechtsitzenden, unkleidsamen Rock kam er sich alt, häßlich, unmanierlich vor. Bei Regenwetter erweckte die kleinste Mißhelligkeit seinen stärksten Unmuth und er hielt sich für ein Stiefkind des Glücks.

Er dachte nicht „ich will nach Kohlhütte“; er dachte überhaupt nicht „ich will so und so lange reiten und da und da hin.“ Er ritt aufs Gerathewohl die Landstraße entlang und bog wie mechanisch in den Heckenweg ein, der nach Kohlhütte führte. In dem Hasel- und Schlehenbuschwerk der Hecken raschelte ein leiser, angenehmer Wind. Fern und fein hörte man das Trilliren einer Lerche. Mit zarten Sinnen für die Schönheiten der Natur ausgestattet, empfand Römpker dies alles mit Genuß. Eine Art Rührung über die Herrlichkeit dieser Gotteswelt überkam ihn, eine gegenstandslose Sentimentalität, in welcher ihn das Verlangen ergriff, gut zu sein und Gutes zu thun. An ihm sollte es nicht liegen, wenn seine Lea nicht glücklich würde. Das mit Clairon war ja Unsinn – vielleicht ein bißchen Sport bei Lea, denn Clairon war der umworbenste Mann der Gegend. Aber er wollte ihr besser als bisher Gelegenheit geben, einen Gatten zu finden, ohne daß die unpraktischen und wahrhaft thörichten, kleinbürgerlichen Sparsamkeitsideen Rahels verwirklicht zu werden brauchten.

Wenn er seine eigene jährliche Badereise aufgäbe und dafür mit Lea diesen Winter an den Hof ginge?

O, Aufsehen würde sie schon machen und mehr als ein Bewerber dürfte sich finden, mindestens von Clairons Rang und reich obendrein.

Freilich, die Badereisen waren so nett gewesen! –

Aber er war ein Vater, der Opfer bringen konnte.

Hier wurden seine Gedanken, die sich ihm schnell und bunt aneinanderreihten, dadurch unterbrochen, daß er Kohlhütte vor sich liegen sah. Das rothe Dach des alten langgestreckten Gebäudes schimmerte durch die Pappeln, die es in regelmäßiger Reihe umstanden. Zu beiden Seiten von dem Herrenhause breitete sich das grüne Busch- und Baumwerk einer bescheidenen Parkanlage aus. Die Anfahrt ging durch schlechte Rasenplätze und an verkommenen Beeten vorbei. Für den Schmuck war auf dem Gut des wohlhabenden Junggesellen weder Zeit noch Geld übrig.

Römpker hielt sein Pferd an und bedachte sich. Ein fast unwiderstehliches Verlangen trieb ihn dahin, wo er wußte, daß man ihm hell entgegenjubeln würde, wo sehr lustige Stunden seinen Geburtstag doch noch zu einem wirklichen Festtag machen würden, und Raimar braute bei solchen Gelegenheiten eine Bowle - [294] der plötzliche Durst nach diesem Getränk trocknete Römpker die Zunge.

Aber seine Frau und seine Töchter fielen ihm ein, und daß er ihnen zeigen wollte, wie auch er Opfer bringen könne. Sollten sie heute allein dasitzen beim trübseligen Abendbrot? Und die umsichtige Rahel hatte wahrscheinlich für seine Leibspeisen gesorgt. Gewiß waren frisch gekochte Krebse da. Er sah im Geist die drei Frauen voll Wehmuth vor der ungewürdigten und vergebens beschafften Schüssel sitzen.

Das ergriff ihn. Nein, sein Platz war daheim bei den Seinen.

Und er wandte sein Roß und galoppirte davon, als sollte er dem Teufel entrinnen. –

Bald nach ihm schickte sich auch seine älteste Tochter an, das Haus zu verlassen. Sie setzte sich ihren großen weißen Gartenhut auf, den eine Fülle rother Mohnblumen zierte, und zog sich langsam und mit Bedacht ihre langen, hellbraunen Marseiller Handschuhe an.

„Du willst noch ausgehen?“ fragte Rahel verwundert, denn ihre Schwester hatte sonst keine Vorliebe für Promenaden. Sie behauptete von sich, sie sei eine Salonpflanze und es mache sie nervös, wenn sie ihre feinen und gutsitzenden Schuhe auf den Landwegen vertreten müsse.

Heute aber schien sie anders gestimmt zu sein. „Ich will allein spazieren gehen,“ antwortete sie vor dem Spiegel, wo sie noch ihre Erscheinung mit einem forschenden Blicke musterte.

Rahel schwieg. Aber ihr Auge haftete fest auf dem Bild der Schwester im Spiegel; und endlich fühlte Lea das und ihre Blicke trafen sich im Glase. Es war etwas in diesem festen, klaren Blick Rahels, was Leas Ungeduld erregte, aber auch die Wahrheit von ihr forderte.

„Nun ja,“ sagte sie, als wäre eine laute Frage an sie ergangen, „ich will ihn treffen. Mir scheint, das müßtest heute selbst Du begreifen.“

„Natürlich begreife ich es,“ erwiderte Rahel.

„Weshalb siehst Du mich denn so an?“ fragte die andere grollend. Aber mit einem kurzen „Adieu“ schritt sie unmittelbar danach aus dem Zimmer, als fürchtete sie doch die Antwort.

Rahel stellte sich an das Fenster und wartete, ob die Schwester drunten erscheinen würde. Sie bewohnten drei parkwärts gelegene Zimmer im ersten Stockwerk; das mittlere diente ihnen als gemeinsames Toilettenzimmer.

Ach, Rahel hätte wohl gewünscht, daß Lea an Clairon festhalte, denn diese bedurfte gewiß einer festen Hand, die sie durchs Leben leiten mußte. Von Erziehung war ja auf Römpkerhof keine Rede gewesen, man hatte die Töchter aufwachsen lassen, ohne sich je um ihre besonderen Fehler oder Eigenschaften zu kümmern. – Clairon aber hatte Charakter. Vielleicht war er auch wie Lea ein wenig Weltkind und voll von Standesvorurtheil, aber Rahel glaubte, daß gemeinsame Fehler zum besseren gegenseitigen Verstehen führen; denn sie sah bei ihren Eltern, wie keines die Fehler des anderen verstand und daher nicht imstande war, sie zu dulden oder zu bessern.

Da tauchte Lea unten auf. Sie brauchte den geschlossenen weißen Sonnenschirm als Stock und pflanzte ihn bei jedem Schritt immer weit vor sich her. Rahel kannte die Welt zu wenig, um zu wissen, daß dies unschön sei. Sie bewunderte ehrlich die Schwester, welche als unerreichbares Muster des „Chic“ in der Gegend galt.

Sie verfolgte sie mit tausend heißen Wünschen auf ihrem Weg und dachte immer wieder: „Hielte sie doch an diesem Mann fest, er und die Liebe könnten das Höchste aus ihr machen, wozu sie fähig ist.“

Leas Brust war von weniger weichherzigen Gedanken erfüllt. Um ihren stolzen Mund zog sich ein bitteres Lächeln, sie ging ohne jede Hast ihres Weges, hielt sich neben den großen Rasenflächen, die sich vom Schloß bis zum See erstreckten, und bog am Wasser rechts in einen Pfad ein, der sich hart am Ufer hinzog. Erlen bildeten hier eine Art Allee, an der Wasserseite tauchten die Bäume ihre Zweige tief in die Fluth. Aus einem schmalen Saum von Schilf, Krauseminze und Rasen stiegen die grauen, rissigen Stämme auf. Das Wasser, welches draußen im Abendsonnenschein funkelte, war hier im Schatten der belaubten Aeste schwarz. Eine sanfte Schwermuth schien zwischen diesen dunklen Erlen zu wohnen. Rechts hinter ihnen stand dichtes Unterholz.

Dieser Weg ging so zwischen Wasser und Wald, ohne seinen Charakter zu verändern, am Ufer hin bis zu jener Stelle, die dem Schlosse gegenüber freies Feld zeigte. Hier wandte er sich dann quer durch eine Brachkoppel und an Getreidebeständen entlang der Stadt zu.

Clairon hatte versprochen, diesen Weg dahergeritten zu kommen. Lea erwartete, ihn nicht vor dem Ende des Waldes zu finden, denn das Reiten unter den Erlen hatte seine Schwierigkeiten. Die Aeste hingen tief, der Boden war durchwurzelt. Aber er, von nur zu erklärlicher Ungeduld getrieben, hatte sich früher aufgemacht, als sie verabredet hatten.

Lea sah ihn daherkommen, sein Pferd am Zügel neben sich führend. Die schmale Allee schloß sich hinter ihm zu einem dunklen Hintergrund zusammen, vor welchem seine hohe Gestalt in der heitern Husarenuniform neben dem schönen Fuchs ein prächtiges Bild abgab.

Leas Auge leuchtete auf. Sie fand wieder wie jedesmal, wenn er ihr entgegentrat, daß er eine vorzügliche, ja fast blendende Erscheinung war. Seine Größe war für die Waffe, bei welcher er diente, ungewöhnlich und hätte ihn eher zum Kürassier geeignet erscheinen lassen. Aber durch seine schlanke Geschmeidigkeit glich sich das aus. Clairon war blond und trug einen Schnurrbart mit lang herabhängenden Enden, was seinem Gesicht im Verein mit der gebogenen Nase zugleich etwas Kühnes und Ernstes gab. Sein helles Auge blickte gerade und scharf.

Als er Lea sah, ließ er seines Pferdes Zügel los und lief ihr entgegen; zu gleicher Zeit hatte auch sie einige Schritte gemacht. Doch als sie nun nahe voreinander standen, waren sie beide von jäher Verlegenheit befallen.

„O Lea!“ sagte Clairon und griff nach ihrer Hand.

Leas Herz klopfte so stark wie das eines Menschen. der sich außer Athem gelaufen hat.

„Der Fuchs!“ sprach sie.

Clairon wandte sich nach seinem Thiere um. Das stand, nachdem es sich zweimal gedreht, hilflos und unmuthig da. Er that einen Pfiff und der Fuchs kam sogleich zu ihm her.

„Bitte um Verzeihung,“ sagte Clairon und hängte den Zügel sicher über einen Ast.

Dann kehrte er zu Lea zurück. Dieser kleine Vorgang, anstatt ihre Verlegenheit zu zerstreuen, hatte beide nur noch befangener gemacht. Sie fühlten beide, daß es sehr merkwürdig war, wie sie so voreinander standen, anstatt sich unter der Gewalt leidenschaftlicher und gefährdeter Liebe in die Arme zu sinken.

Clairon nahm wieder die Hand der Geliebten und hielt sie fest.

„Wie danke ich Dir, Lea, daß Du gekommen bist! Es war ein fürchterlicher Tag,“ sagte er. „Und nicht wahr, Du wirst mir dies Räthsel erklären?“

Lea nickte und sah ihn mit ihren großen dunklen Augen an.

„Als ich Dir vorgestern meine Neigung gestand, Lea, gebotest Du mir, an Deines Vaters Geburtstag zur Werbung zu kommen. Ich habe mir heute immer wieder Deinen Ton und Deine Miene dabei vorgestellt und immer wieder mir sagen müssen, daß auch Du, Geliebte. keine Ahnung davon hattest, unserer Vereinigung könnten sich Schwierigkeiten in den Weg stellen. Du meintest, das gäbe ein hübsches Doppelfest und eine reizende Ueberraschung für Eure Freunde. Also auch Du warst unserer Sache sicher.“

Er drückte ihr heftig die Hand und fuhr fort:

„Da kannst Du Dir nun denken. daß es für mich kein beneidenswerther Augenblick war, als Dein Vater mir anstatt des freudigen Ja ein verlegenes Nein antwortete. Ich, Nobert Clairon – und ein Korb!“

„Ich liebe Dich,“ rief Lea ausbrechend. „Sprich nicht so!“

Und da erst fanden sie die Unmittelbarkeit des Gefühls: Clairon breitete die Arme aus und Lea hing in stummer Leidenschaft an seinem Hals. Er fühlte. wie sie erschüttert war, denn durch ihre ganze Gestalt ging ein Zittern.

„Nicht wahr,“ flüsterte er dann, „Du wirst nichts verschweigen? Du wirst so ehrlich mit mir sprechen, als wäre ich schon Dein rechtmäßiger Gefährte und Beschützer?“

„Ja!“ sagte Lea.

Er nahm nun ihren Arm und langsam schritten sie im schattenvollen Baumgang auf und ab.

„Hat Dein Vater einen andern Gatten für Dich bestimmt?“ fragte er, und da sie heftig den Kopf schüttelte, fuhr er fort:

[295] „Das konnte ich mir auch nur schwer vorstellen. Ein solcher Lebenskünstler wie Dein Vater ist viel zu bequem, um sich mit tyrannischen Gedanken zu befassen. Ich dachte, gerade ihm sollte meine Persönlichkeit, mein Name und mein Stand angenehm sein.“

„So ist es auch. Du wärest der Schwiegersohn seiner Wünsche, wenn Du nicht einen Fehler hättest, mein armer Robert,“ sagte Lea.

Clairon, der sich schon seit dem Vormittag in der beleidigten Stimmung eines Mannes befand, den man in seinem Stolz verwundet hat, ohne daß er sich wehren kann, rief gereizt:

„Nun, so nenne mir diesen schrecklichen Fehler! Ich will ihn ablegen, wenn es geht.“

Lea hemmte ihren Schritt. Sie stand still und besah ihren Sonnenschirmknauf, als wäre er ganz neu und merkwürdig. Das häßliche Wort wollte nicht so glatt von ihren Lippen. Dann wallte wieder ihr unbändiges und trotziges Blut auf und sie dachte: warum nicht die Dinge beim rechten Namen nennen, wenn diese Dinge doch so wichtig sind, daß man daran zu Grunde gehen kann!

„Du hast kein Geld,“ sagte sie hart.

Unaussprechlich erschreckt und durch diese fast brutale Art verletzt, sprach er, indem er langsam und tief erröthete:

„Allerdings. Ich bin der zweite Sohn und mein kleines mütterliches Erbe giebt mir kaum die Zinsen, welche ich bei meiner Waffe nothwendig als Zuschuß brauche; die Güte meines Bruders ergänzt das Fehlende. Aber ich habe geglaubt, mit meiner Stellung und meinem Namen ...“

Die Erregung machte seine Stimme heiser. Er konnte nicht weiter sprechen.

„O Robert,“ rief Lea wieder in weichster Hingebung und warf sich an seine Brust, „nicht wahr, Du fühlst es, das ist schmachvoll! Das ist kein stolzes Werben mehr und kein freudiges Hingeben. Das ist nicht die Art, wie Robert Clairon und Lea von Römpker zueinander kommen dürfen. Wir müssen uns entsagen.“

„Lea,“ schrie er auf. „Besinne Dich! Bevor man solche Worte spricht, muß alles verloren sein. Ich habe kein Vermögen? Was soll denn das heißen? Das wußten wir ja alle, ohne daß je davon gesprochen wurde. Das ist ja nebensächlich in Eurer und meiner Stellung. Hilf mir doch begreifen! Das wenige, was der Staat fordert, hast Du doch. Und das ist uns genug. Hörst Du – ich will nichts vom Vermögen Deines Vaters, nichts. Ich will Dich und Deine Liebe. Den zufälligen Umstand, daß Du den Besitzstand nachweisen kannst, der für unsere Eheschließung nöthig ist, empfinde ich nicht als Demüthigung. Das wäre albern. Wir wollen ja nicht handeln – wir wollen heirathen!“

„Ja,“ sprach Lea voll Feuer, „das wollten wir. Heirathen, vornehm, in großem Sinne! Und deshalb müssen wir uns entsagen. Oder willst Du mich, soll ich Dich in endlosen Unterhandlungen – erschachern?! Fahre nicht auf! Es ist so. Meine Mitgift ist verloren gegangen. Einerlei, wie. Genug, sie ist fort.“

„Dein Vater?“ fuhr er fragend auf.

Leas Blick glitt über ihn hin, blitzschnell, aber fremd und ablehnend.

„Nein,“ sagte sie kalt, „ohne meines Vaters Schuld.“

Vielleicht war mehr ihr Familienhochmuth denn ihre Kindesliebe der Grund, daß sie niemand außer sich selbst ein richtendes Wort über ihren Vater gestattete.

„Verzeihe mir!“ bat er und küßte ihre Hand.

Sie aber hatte durch seine Frage ihre Fassung wieder gefunden.

„Du weißt,“ sprach sie rasch, als wolle sie nun möglichst schnell über das Peinliche hinwegkommen, „daß Römpkerhof eine Million und mehr werth ist und völlig unverschuldet. Aber Du weißt, daß man einen solchen Besitz in Feldern und Wäldern und doch keine verfügbaren Mittel haben kann.“

„Das ist eine alte Geschichte,“ bestätigte er, „die Herren Großgrundbesitzer haben oft genug Schwierigkeiten, zu ihren Terminen ihren Verpflichtungen nachzukommen. Aber Römpkerhof, sagst Du, ist schuldenfrei!“

Lea hielt sich die Ohren zu.

„Ich will mit Dir das ganze häßliche Thema nicht wieder durchnehmen,“ rief sie. „Rahel hat mich schon krank damit gemacht.“

„Rahel?“ fragte er erstaunt. Rahel war ihm unaussprechlich gleichgültig und er hatte sie für eine völlige Null im Hause angesehen. Also Rahel hatte auch Meinungen und eine Stimme?

„Ja, Rahel ist unglaublich praktisch. Sie ist aber leider nüchtern und ihr fehlt der rechte, hohe Stolz, der hier brennt.“ Sie legte die Hand gegen ihre Brust. „Was hat sie mir nicht alles vorgefabelt! Man würde Papa doch schließlich bestimmen können, auf unser Gut eine Hypothek zu nehmen. – Auf Römpkerhof – eine Hypothek – es ist zum Lachen! Unser herrliches Besitzthum mit fremdem Geld beflecken! Oder Dein Bruder sollte zum Schein das Kommißvermögen geben und Papa nachher in Wirklichkeit soviel Zuschüsse, als die Zinsen betrügen. O. ich bin ganz schwindlig. So viel niedrige Dinge habe ich in meinem ganzen Leben nicht hören müssen. Robert,“ rief sie, als sie sah, daß sein Antlitz sich wie in ehernem Ernst versteinerte, „ich fühle es, ich sehe es, Du empfindest wie ich. Dieses Rechnen ist Dir grauenvoll. O, ich wußte es, auch Dein Stolz lehnt sich gegen die Erbärmlichkeit auf.“

„Ich leugne es nicht,“ sagte er halblaut.

Sein vornehmes Gefühl lehnte sich in der That gegen diese Schwierigkeiten auf. Nicht weil es Schwierigkeiten, sondern weil sie so kleinlich geartet waren. Wie Lea es ausgesprochen hatte: vornehm und in großem Sinne wollte er freien. Nicht den Kameraden, nicht der Gegend zum Gespräch werden, wie er es zahllose Male bei andern erlebt hatte, von denen jedermann wußte, woher die Mittel gekommen waren. wie knapp oder wie ausgiebig sie gewesen, durch welche Anleihen, durch wessen Großmuth sie beschafft worden waren.

Sein ganzer Hochmuth wurde wach.

„Nicht wahr,“ fuhr Lea fort, indem sie sich in immer größere Erregung hineinredete. „Rahel versteht nichts von der Liebe. wenn sie meint. daß wir in ihr stark bleiben müßten trotz allem und, wenn’s gar nicht anders ginge, auf Dein Rittmeisterpatent warten. Das ist für die kleinen, für die engen Leute. Das ist unsrer unwürdig! Siehst Du, ich habe oft in mir das Gefühl gehabt, als empfände ich größer und schaute weiter ins Leben als die Menschen um mich her. Und gerade in diesen gegenwärtigen Stunden fühle ich es klarer als je: meine Liebe für Dich ist unaussprechlich, riesengroß. Soll dies göttliche Gefühl durch den Staub des Alltags geschleift werden? Nein! Soll es kranken und vergehen in jämmerlichen Kämpfen um schnöden Mammon? Nein! Sollst Du fortan Dein geliebtes stolzes Haupt weniger frei tragen, weil die Glorie der Unabhängigkeit davon genommen ist? Sollen wir der Gegenstand der Theilnahme werden in einem schwierigen Brautstand? Tausendmal nein!“

Ihr feuriger Redefluß, all die Thatsachen, welche sich noch unverarbeitet in seinem Hirn drängten. der niedersinkende Abend und im Schatten vor ihm die schlanke Gestalt mit dem weißen Gesicht – all dies zusammen wirkte wie berauschend auf ihn und nahm ihm die Denkklarheit.

Er zog Lea an sich.

„Was, ich beschwöre Dich, was soll denn werden? Giebt es keinen Ausweg?“

Lea glaubte im vollen Ernst groß zu handeln und hochsinnig zu empfinden, als sie feierlich sprach:

„Unsere Liebe muß so groß sein, daß sie die Kraft zum Entsagen hat.“

„Lea!“ rief er schmerzvoll aus.

In tiefer Erschütterung hielten sie sich umschlungen.

Lea kostete voll schmerzlicher Leidenschaft die Schauer dieser Stunde aus. Das, ihr selbst völlig unbewußt, in ihr liegende Bedürfniß nach Poesie und Erregung ward in diesem Augenblick voll befriedigt. Sie fand sich von einem außerordentlichen Schicksal zermalmt und fühlte in sich die Verpflichtung, diesem Schicksal groß gegenüber zu stehen.

Wer weiß. ob sie sich gleich in den Wechsel zu finden gewußt hätte, wenn jemand wie im Märchen aus dem Gebüsch getreten wäre und gesagt haben würde: nimm ihn, alle Hindernisse sind gehoben!

Sie schwelgte in dem Gram der Entsagung und liebte Clairon viel mehr als vorgestern bei der ersten Liebeswerbung.

Er fühlte in ihr nur die erhöhte Leidenschaft. Die tiefgründigen und feinverzweigten Wurzeln dieser stärkeren Gefühle zu erkennen, dazu war er sicher ein zu einfacher Mensch und obendrein kannte [298] er Lea noch zu wenig. Er wußte nicht, daß Hochmuth und Phantasie eine so seltsame Verwirrung in einem Frauenkopf anrichten können. Er fühlte deutlich nur zwei Dinge: daß sein Stolz maßlos gekränkt war durch die Vorstellung, wie er sein Ziel, die Heirath mit der Geliebten, nur durch kleinliche und demüthigende Beschwerden würde erreichen können, und weiter: daß er gar nicht das Recht habe, noch um Lea zu werben, wenn sie selbst es unter diesen Verhältnissen nicht wünschte.

„So müssen wir uns trennen? Su muß ich fort von hier?“ fragte er schmerzlich.

Lea riß sich von ihm los und sah ihn beinah zornig an.

„Fort?“ rief sie. „Welche Grausamkeit und welche Thorheit! Fort? Damit die Leute sagen sollen, Du habest einen Korb von mir bekommen? Oder gar der Wahrheit nachspüren? Ich beschwöre Dich, bleibe, wenn Du mich liebst!“

„Geliebte,“ sagte er innig, „das Bleiben ist aber ebenso grausam wie das Gehen. Ich soll Dir nach wie vor begegnen, als hätten diese lieben Arme sich niemals um meinen Hals geschlungen – als wären diese süßen Lippen nie den meinen begegnet? Ich soll vielleicht gar Zeuge sein, wie andere Männer Dich umwerben? Und endlich gar, wie Du Dich einem andern vermählst und aufhörst, mich zu lieben?“

„Das wird nie geschehen,“ rief sie wie in einem heiligen Schwur, „ich werde Dich ewig lieben! Und wenn wir vor den andern Menschen auch wie vordem freundlich und höflich mit einander verkehren müssen, ein Blick, ein Wort wird immer Dir und mir sagen, was in unsern Seelen brennt. Und ich werde darauf sinnen, Tag und Nacht, wie ich meine Lage ändern kann, die so, Gott weiß es, unerträglich ist. Aber verlaß mich nicht! Bleibe mit nahe! So lange, bis meine Zukunft klar ist.“

„So heißest Du mich wirklich bleiben?“ fragte er noch einmal.

„Ja, Robert, bleibe!“

„Leb wohl,“ flüsterte er, „für heute. Und laß mir die Hoffnung, daß ich Dich zuweilen so wiedersehe. Willst Du?“

Sie versprach es ihm nur mit einem glühenden, langen Blick. Und dann schieden sie mit vielen feurigen Flüsterworten heißester Liebe. –

Wie Lea so dahinschritt im Abendschatten und dann, aus der Baum Enge heraustretend, im Park noch den helleren Nachschein der eben erst untergegangenen Sonne fand, fühlte sie sich merkwürdig erregt. Der Sommerabend schien ihr voll von wunderbarer Melancholie; die gekräuselte Wasserfläche, die hohen Bäume und die duftenden Blüthenbüsche sprachen zu ihr. Die ganze Natur schien ihr ein Gedicht, ein großes und wehmüthiges.

Ihr war nicht zu Muthe wie einer, die eben über ihr Schicksal entschieden hat und ihres Lebens Glück dabei verlor, sondern etwa wie jemand, der aus dem Theater kommt, wo er ein poesievolles und traurig endendes Stück gesehen hat. In die Ergriffenheit über das Geschaute mischt sich die Freude an der minder traurigen Wahrheit ringsum und ein gewisser schöpferischer Drang.

Lea fühlte sich gleichsam bewaffnet, sie hatte die Begierde nach Ereignissen und den Willen zu einer neuen Lebensgestaltung mit hinweggenommen von diesem Abschied. War es ein Abschied? Und war dies kraftvolle Emporschießen heißen Lebensdranges nicht unbewußt das Gegentheil von Entsagung?

Sie grübelte jetzt nicht über sich selbst nach und gab sich nur voll ihrer Stimmung hin. –

Unterdessen hatten Rahel und die Mutter im Wohnzimmer neben dem Speisesaal miteinander gesessen. Frau von Römpker machte eine endlose Handarbeit aus bunten Seidenflicken, die sie zusammen auf eine Unterlage heftete und bei deren Farbenzusammenstellung sie in beständiger Rathlosigkeit war. Rahe saß ihr gegenüber an einem Tischchen, das vor einem offenen Fenster stand, und rechnete im Haushaltungsbuch, dessen ewige Fehler sie fast täglich für die Mutter in Ordnung zu bringen hatte.

Als die Zeit zum Abendessen nahte, kam der Diener und fragte, wo er den Tisch decken solle.

Frau von Römpker sah ihn mit einer Gegenfrage an, die deutlich auf ihrem Gesicht geschrieben stand.

Ludwig, dem man den gedienten Kavalleristen auf den ersten Blick ansah, hatte ein offenes, gutes Gesicht, mit hellen Augen, räthlicher Farbe und kurzgeschorenem Blondhaar darüber. Er stand, den Daumen an der Hosennaht – eine Haltung, welche ersich auch in der Livree nicht abzugewöhnen vermochte – und wartete.

„Hat mein Mann oder meine Tochter nichts darüber hinterlassen?“ fragte sie endlich.

„Weder der Herr noch das gnädige Fräulein haben Befehle gegeben,“ sagte Ludwig. Er sprach einen stark ostpreußischen Dialekt und sagte „jejeb’n“.

„Ich meine, Ludwig sollte hier decken. Da wir allein sind, ist es gemüthlicher,“ bemerkte Rahel, ohne von ihrem Bleistift, der eine Zahlenreihe entlang ging, aufzusehen. Nun wandte Frau von Römpker das bange Gesicht der Tochter zu.

„Wenn es Lea nur recht ist!“

„Ich glaube, es wird gerade ihr besonders recht sein.“

„Nun, Ludwig, decken Sie hier!“ befahl darauf Frau von Römpker.

Als er hinausgegangen war, sagte Rahel, indem sie eine Schlußziffer unter ihre Addition setzte:

„Mama, wie würdest Du darüber denken, wenn ich Dir fortan den ganzen Hausstand abnähme? Ich meine Geld und Schlüssel. Du weißt, ich kann ein bißchen rechnen und wirthschaften und würde Dich natürlich immer um Rath fragen.“

Raher hatte sich ausgedacht, daß dies ihr das Leben sehr vereinfachen würde, denn jetzt mußte sie doch alles nachrechnen und jede kleine Angelegenheit fünfmal mit der Mama besprechen. Außerdem fanden sich in dem Haushaltungsbuche Ausgaben, deren Höhe unwahrscheinlich und deren Nothwendigkeit unerfindlich war. Rahel wollte einmal sehen, ob sie nicht denselben glänzenden Hausstand mit weniger Mitteln führen könnte.

„Aber mein Kind,“ rief Frau von Römpker, über den Muth und die Eigenmächtigkeit Rahels sehr erstaunt, „wie könnten wir uns erlauben, einen so großen und wichtigen Entschluß zu fassen, ohne zu wissen, ob Papa und Lea ihn billigen! Und wie schwierig die Ausführung wäre, stellst Du Dir gar nicht vor. Denke nur, ich müßte Die ja alles feierlich überantworten, Dir das Silber und die Wäsche vorzählen, Dir die Einnahmen des Geflügelhofes vorrechnen.“

Rahel lachte. Sie hatte eine liebe Art, zu lachen, so halb in Rührung und halb in Belustigung über ihre hilflose kleine Mama.

„Ich weiß das ja alles schon, Mama. Du brauchst mir nur Dein Körbchen mit den Schlüsseln an den Arm zu hängen – das ist der ganze Akt der Uebergabe. Und mit Lea will ich schon sprechen. Papa bleibt, wie Du weißt, am liebsten mit dergleichen Fragen verschont.“

Ja, wenn Rahel mit Lea sprechen wollte, dann hatte die Mutter auch nichts dagegen!

Rahel besichtigte den Abendtisch und begab sich dann selbst in die Küche, um zu sehen, ob die Wirthschafterin auch die Schüssel mit Krebsen recht hübsch verziere. Als sie später wieder ins Zimmer kam, fand sie ihre Mutter beinahe in Verzweiflungsthränen.

„Papa kommt gar nicht. Er ist gewiß nach Kohlhütte geritten.“

„Aber Mama, er wird doch nicht!“

„Und Lea! Wo ist Lea? Wenn sie sich ein Leid anthut! Wenn sie mit Clairon fortgeht! O der Kummer und die Schmach!“

Rahel streichelte ihrer Mama die Wangen.

„Lea ist nicht danach, etwas Tolles und Schmachvolles zu thun, Mama,“ sagte sie, „beruhige Dich doch! Ich glaube gar nicht, daß sie die Sache so tragisch nimmt. Sie ist es ja auch gar nicht, und wenn Lea nur an Clairon festhält, sind die Schwierigkeiten – meiner Meinung nach – spielend leicht geebnet.“

„Sie sind unübersteiglich!“ jammerte die Frau.

„Unübersteiglich ist nur der alberne Hochmuth, welcher davor bebt, Geldangelegenheiten entschlossen anzufassen,“ sagte Rahel.

Ihr Mutter sah sie an und verstummte vor Erstaunen. Was Rahel sich heute nur alles herausnahm!

Dann fiel ihr wieder der Gatte ein.

„Er ist gewiß nach Kohlhütte geritten – alle Freunde merken es dann, daß bei uns etwas vorgefallen ist.“

Händeringend ging sie auf und ab. Rahel hatte in ihrem Herzen selbst recht wenig Glauben an die Wiederkehr ihres Vaters und vermochte nur schwach zu trösten.

[299] Da that sich die Thür auf und Lea trat herein, hinter ihr Ludwig mit einer brennenden Lampe.

Lea strahlte in Schönheit, ihre Augen leuchteten, ihr Mund lächelte ein wenig, sie trug ihr Haupt besonders stolz. Für ihr rothes Kleid hatte sie im Vorbeigehen einen Strauß weißer Blumen gepflückt und ihn etwas über Gürtelhöhe an der Taille vorn befestigt. Sie sah aus wie eine Siegerin. Rahel wußte sich das nicht zu deuten.

„Wir wollen doch ein wenig festlich beleuchten,“ sagte Rahel und wies Ludwig an, noch mehr Lampen anzuzünden, während sie die Vorhänge dicht schloß.

Bald war der ganze Raum von einem rosigen Licht durchzogen. Das Geburtstagskind konnte kommen. Und es kam.

Stürmisch that sich die Thür auf. Römpker erschien auf der Schwelle und umfaßte mit einem Blick das Gemach. Wie behaglich! Vier große Lampen unter riesigen viereckigen Dächern von Spitzen und Seide – auf dem reizend gedeckten Tisch, zwischen andern angenehmen Sachen, richtig die grellrothen Krebse im grünen Kranz – und da seine drei Lieben, offenbar beglückt durch sein Erscheinen.

Herr von Römpker fühlte sein Herz weit und groß werden. Wie hübsch von ihm, daß er heimgekommen war! Rührung stieg in ihm auf über sein vortreffliches Benehmen.

Er umarmte alle drei nach der Reihe. Er plauderte so liebenswürdig, so voll heiterer und leichter Abwechselung der Gegenstände, als wäre er in Gesellschaft und gäbe sich Mühe, seinen Nuf als „reizender Mensch“ zu wahren. Dabei schmeckte es ihm vortrefflich, und die Seinigen deuteten naturlich mit keinem Wort auf alle schwebenden Fragen hin.

Als man abgegessen hatte, war er wieder völlig auf der Höhe seiner Daseinsfreudigkeit. „Das Leben ist doch ein Vergnügen,“ dachte er, als er behaglich dasaß und Leas schönem Gesang zuhörte, „wenn mir der liebe Gott nur meinen guten Magen erhält.“

Frau von Römpker arbeitete wieder an ihren Seidenflicken und Rahel hörte mit Entzücken, wie ihre Schwester, die herrliche Mezzosopranstimme groß erhebend, Schuberts „Sei mir gegrüßt“ sang.

Als Lea das Lied beendet hatte, saß sie noch ein Weilchen still. Dann griff sie wieder leise in die Tasten und wiederholte für sich eine Phrase aus dem Liede:

„Mit meiner Seele glühendstem Ergusse,
Sei mir geküßt, sei mir gegrüßt.“

Rahel war wenig musikalisch begabt, aber als die Schwester diese Töne wieder und wieder spielte, prägten sie sich ihr doch unverlierbar ein.

„Und sie liebt ihn ja doch gewaltig genug, um für ihn zu kämpfen,“ sagte sie sich.

[309]
3.

Schon vom nächsten Tag an gingen die bisher so einigen Schwestern fremder nebeneinander her. Rahel wartete auf ein vertrauendes Wort, welches nicht zu ihr gesprochen wurde. Sie schloß nur aus dem strahlenden Gesicht ihres Vaters, daß die Heirathspläne mit Clairon ganz aufgegeben seien. Dabei zeigte Lea aber keine unglückliche Miene, und niemals wurde sie gar mit verweinten Augen von der Schwester überrascht. Nur ihre Haltung war noch entschlossener geworden und ihr Ausdruck stolzer.

Einige Tage unterließ Rahel aus der ihr angeborenen Zartheit des Empfindens, eine Frage an die Schwester zu richten. Dann wurde ein kleiner Trotz in ihr wach, von dem begreiflichen Gefühl der Kränkung veranlaßt, daß man sie durch dies Schweigen gleichsam vom Recht der Theilnahme ausschloß.

Aber als man in der folgenden Woche bei Raimar versammelt war, um dessen Abschied aus dem Amt zu feiern, sah Rahel, daß Clairon wohl ein wenig ernster als bisher, aber sonst ganz unbefangen mit Lea verkehrte, so daß niemand, außer den Eingeweihten, vermuthen konnte, es habe sich inzwischen Bedeutsames ereignet.

Am Abend dieses Tages, während die Schwestern in ihrem gemeinsamen Ankleidezimmer noch beschäftigt waren und Lea, anstatt zu sprechen, eine Melodie vor sich hinsummte, brach Rahel in Thränen aus.

„Was ist denn das?“ fragte Lea, sich unterbrechend.

„Du hast mich von Deinem Herzen verstoßen,“ schluchzte Rahel.

Anstatt gerührt zu werden, rief Lea in steigender Verwunderung aus: „Welche Sentimentalität!“

Sie wußte wenig von dem Herzen der Schwester und ahnte nicht, daß dieses Wesen, phantasielos und verschlossen, unfähig, sich gleich andern Mädchen vorübergehenden Schwärmereien hinzugeben, mit ihrem ganzen Dasein aufging in der Liebe zu den Ihrigen.

„Du hast kein Vertrauen mehr zu mir,“ fuhr Rahel fort.

„Ach, weil ich Dir meinen Abschied von Clairon nicht mitgetheilt habe!“ sagte Lea; „nun, das läßt sich ja nachholen. Komm, sei nicht albern! Höre auf zu weinen!“

Und sie erzählte alles, was zwischen ihr und Clairon gesprochen worden war. Aber während sie sprach, redete sie sich in einen großartigen Schwung hinein und gebrauchte sehr bedeutende Worte für die Höhe ihrer Entsagungsfreudigkeit und ewigen Liebe, welche sie dem einen auch dann noch bewahren würde, wenn sie sich vielleicht einst mit irgend einem beliebigen Mann standesgemäß verheirathen würde.

[310] Rahel hörte schnell auf zu weinen und ihre Weichmüthigkeit wich der gewohnten klarblickenden Sammlung.

„Das ist ja alles Unsinn!“ rief sie als einzige Kritik.

„Siehst Du,“ fuhr Lea auf, „weshalb mußte ich mit Dir darüber sprechen! Ich ahnte es ja. Du verstehst weder die Liebe, noch die Handlung einer außergewöhnlichen Natur.“

„Ich verstehe nur dies,“ erwiderte die Schwester, schon die Klinke ihrer Schlafstubenthür in der Hand, „daß Du Dich im besten Fall selbst betrügst, wenn Du glaubst, van Clairon ‚Abschied‘ genommen zu haben. Einer ehrlichen Verlobung, einem treuen Ausharren ziehst Du ein – Liebesabenteuer vor, von welchem Du Dir einbildest, es sei romantisch.“

Rahel schlug die Thür etwas kräftig zu. Sie hatte übrigens mit ihrer Rede gar keine erkennbare Wirkung erzielt. Lea zuckte halb mitleidig die Achseln und fuhr fort, ihr schönes, langes Haar zu bürsten. Sie nahm sich vor, das „enge liebe Köpfchen“ der Schwester nicht wieder mit Dingen füllen zu wollen, die doch nicht hineingingen. –

In dieser Zeit begann Lea eine Vorliebe für einsame Spaziergänge und eine erhöhte Neigung für den Reit- und Fahrsport an den Tag zu legen. Anstatt des Reitknechtes nahm sie lieber Ludwig mit, der ihr angenehmer sei. Um die Vorgänge im Hause kümmerte sie sich gar nicht. Die Ergebnisse von Rahels Wirthschaftsführung waren ihr völlig gleichgültig. Anfangs erzählte Rahel noch mit der Freude, welche häusliche Erfolge jeder echten Frau geben, wie es ihr gelungen sei, alsbald die Fehler in der Wirtschaft zu entdecken, wie sie Ueberschüsse mache und diese, dem Papa zur Ueberraschung, heimlich zusammenspare. Aber als Rahel sah, daß die Schwester dies Streben und die Freude daran kleinlich und unter ihrer Würde fand, schwieg sie und fand sich mit der bescheidenen Erkenntniß ab: „Lea ist eben ein Schwan und ich bin ein Haushuhn.“

An einem sehr schönen Nachmittag gegen Ende des Monats fuhr Lea auf der Chaussee dahin, welche an Römpkerhof vorbei zum Städtchen ging. Man übersah von hier weit das Land. Zur Linken freilich dehnte sich der Wald, welcher zwischen dem Seeufer und der Landstraße lag. Zur Rechten aber sah man über Kornbreiten, deren bläulich schimmernde Aehren auf grünen Halmen wie eine Fluth im Winde wogten. Darüber hinaus erhoben sich fern und klein die Pappeln von Kohlhütte am Horizont. Geradeaus zog sich die weißstaubige Chaussee empor am wellenlinigen Gelände, am Wegesrain standen in gleichmäßiger Entfernung voneinander junggepflanzte Ebereschen, die kleine, lichtdurchbrochene Schattenflecke auf den hellen Wegesgrund warfen.

Lea wollte in die Stadt, um sich Bücher zu besorgen. Sie las neuerdiugs viel und schalt auf den jämmerlichen kleinen Laden, wo man nichts bekommen könne.

Sie fuhr in schlankem Trabe dahin, hinter ihr auf dem Wägelchen saß Ludwig mit gekreuzten Armen und einem vergnüglichen Lächeln unter seinem Cylinder. Sie, in engem, dunkelblauem Leinenkleid, langen, gelbbraunen Fahrhandschuhen und einem kleinen Herrenfilzhütchen, sah ebenso elegant als verwegen aus.

„Wer ist denn das?“ fragte Lea und deutete auf einen Reiter, der ihnen, noch fern, entgegenkam.

„Niemand vom Regiment,“ sagte Ludwig, die Erscheinung scharf ins Auge fassend. Er kannte jedes Offizierspferd schon in den unglaublichsten Entfernungen.

„Wir wollen ihn vorbei lassen,“ sagte Lea und fuhr an dem auf die Chaussee mündenden Waldweg vorbei, in den hinein einen Abstecher zu machen wohl der eigentliche Zweck ihrer Ausfahrt gewesen war.

Der Reiter näherte sich. Ihm folgte ein Reitknecht in einer Livree, welche Lea unbekannt war.

„Wahrscheinlich der neue Landrath,“ dachte sie und sah sich den Mann sehr unbefangen an mit der Neugier einer Dame, welche bei sich zu Hause ist und einen Eindringling prüfend beschaut.

Er saß gut, aber nicht auffallend schneidig zu Pferde. Seine Gestalt konnte man nicht recht beurtheilen, sein Antlitz war ernst und regelmäßig. Den dreisten Blick der Dame erwiderte er mit einem Ausdruck flüchtiger Verwunderung.

„Na,“ dachte Lea. „den hätte ich eher für einen englischen Aristokraten als für den Sohn eines deutschen Emporkömmlings gehalten.“

„Es wird der neue Landrath sein,“ sagte sie zu Ludwig, den sie mit ihrem gnädigen Wohlwollen beehrte. „Gucken Sie sich um, Ludwig!“

Ludwig saß eine Weile mit rückgewandtem Gesicht und meldete dann:

„Außer Sehweite.“

Darauf wendete Lea und fuhr in den Waldweg hinein. Erst eine Stunde später sah man ihren Wagen in dem Städtchen. Er rasselte gewaltig auf dem schlechten Pflaster, aus den Thüren fuhren die Hunde auf ihn los und bellten hinter seinen Rädern her. Hinter den Fenstern bogen sich Frauenköpfe vor, Vorübergehende standen still und grüßten.

Mit der Hoheit einer Fürstin überhörte und übersah Lea Lärm und Neugier und erwiderte die Grüße.

Vor einem Buchbinderladen hielt sie an. Ludwig, immer von feurigem Stolz erfüllt, seit er das Fräulein begleiten durfte, sprang vom Wagen, nahm die Zügel und half Lea heruntersteigen.

Als Lea, welche trotz ihrer Eigenschaft als „große Dame“ sich ruhig mit dem Umtausch vielzerlesener Leihbibliotheksbände befaßte, ihr Geschäft beendet hatte und sich anschickte, den Wagen wieder zu besteigen, sah sie den Herrn, welcher ihr vorhin zu Pferde begegnet war, zu Fuß daherkommen.

Der Ladeninhaber, welcher hinter ihr herdienerte, begann nun seine Verbeugungen vor dem Ankömmling zu machen und fragte:

„Was befehlen der Herr Landrath?“

„Also richtig dieser Lüdinghausen,“ dachte Lea und fuhr davon.

Der Landrath trat in den Laden ein, nicht ohne vorher dem schönen Mädchen nachgesehen zu haben.

„Wer ist die Dame?“ fragte er und war im voraus gewiß, einen großen Namen zu hören. In der Großstadt wäre er nicht sicher gewesen, ob das „Cirkus- oder Theater- oder vornehme Sportwelt“ sei. Hier sagte er sich, daß nur eine in der ganzen Gegend bekannte und geehrte Dame dies franke Auftreten und diesen auffallenden Schick haben konnte.

„Das ältere Fräulein von Römpker,“ sagte der Mann. –

Als Lea nach Hause kam und sich umgekleidet hatte, fand sie unten Raimar als Gast vor und diesen wie ihren Vater in vorzüglichster Laune.

„Er ist hier gewesen,“ rief Herr von Römpker.

„Wer?“

Rahel, die gerade am Tische stand, reichte ihr eine Karte.

„Erasmus Lüdinghausen.“

Kein Titel auf der sehr großen Karte.

„Das ist etwas gesucht,“ sagte Lea; „wie ist er denn?“

„Ein entzückender Mensch,“ lobte Herr von Römpker, für den es nur „unausstehliche“ oder „entzückende“ Menschen gab.

„Na, sagen wir mal: ein bißchen steif und zugeknöpft. Aber bedeutend, entschieden ein bedeutender Mensch,“ ergänzte Raimar.

„Und wie findest Du ihn, Rahel?“

„Ich habe ihn nicht gesehen,“ erwiderte diese, „er wollte Raimar in Geschäften aufsuchen, traf ihn unterwegs und Raimar schleppte ihn zu Papa.“

„Ja, Kinder, er weigerte sich, im Reitrock vor Euch zu erscheinen. Da fiel mir denn auch ein, daß Lea gar nicht zu Hause sei. So ließ ich ihn denn und habe ihn gebeten, morgen mittag bei uns zu essen, anstatt Euch erst förmlich aufzuwarten.“

Herr von Römpker bestimmte dann, daß man auf morgen außer Raimar noch Rittmeisters und Clairon einladen solle, sowie die Freundin seiner Frau, Fräulein Malchen, eine Schwester des verstorbenen Pastors. Diese speiste jeden Donnerstag auf Römpkerhof und wurde außerdem stets geladen, wenn sich keine Persönlichkeit unter den Gästen befand, welche zur Unterhaltung der Hausfrau geeignet war. –

Lea fühlte sich am folgenden Vormittag ein wenig aufgeregt. Dieser Landrath schien ihr keine nebensächliche Persönlichkeit. Das erste Zusammenkommen mit ihm und obendrein in Clairons Gegenwart verursachte ihr ein drückendes Vorgefühl. Sie dachte lange darüber nach, was für ein Gewand sie tragen wolle, und entschied sich endlich für ganz hellgrau. Sie schmückte ihr Kaschmirkleid dann mit einem großen Strauß gelber Rosen, der scheinbar nachlässig in den breiten faltigen Stoffgürtel gesteckt war.

[311] Rahel erschien erst im letzten Augenblick im großen vorderen Salon, wo man die Gäste empfing und von wo aus man die Einfahrt beobachten konnte. Sie war etwas erhitzt, denn sie hatte die Wirtschafterin dabei ertappt, wie diese anstatt einer Torte für den Herrschaftstisch deren zwei gebacken hatte und zwar eine für ihren eigenen Bedarf. Im rechtschaffenen Aerger darüber hatte sie keine Muße gehabt, viel an Putz zu denken, und ihr weißes Kleid nicht einmal mit Blumen geschmückt.

Clairon traf als der erste ein. Rahel wunderte sich über die völlige Unbefangenheit ihres Vaters, aber noch mehr über den Ton, welchen die Schwester dem geliebten Manne gegenüber anschlug. In ihrem Verdacht, daß die beiden sich oft heimlich sähen, wurde sie wieder ganz irre. So freundlich und harmlos konnte man doch unmöglich verkehren, wenn man sich unglücklich, aussichtslos und heimlich liebte.

Clairon widmete sich nachher fast ganz der Frau des Rittmeisters. Die kleine Baronin sah wie ein zierliches Püppchen neben der majestätischen Lea aus, aber sie hatte ihren Zauber für sich, und Raimar sagte, sie sei ein süßer kleiner Tyrann.

Fräulein Malchen kam, mager, groß, mit vorgeschobenen Schultern, in einem schwarzen Seidenkleid, das abgetragen glänzte. Sie hatte einen Strickzeugbehälter von Perlen und Wollstickerei mit lila Seidenbeutel in den beiden vor dem Magen zusammengelegten Händen und verbeugte sich ängstlich nach allen Seiten. Sie war immer wieder von der Ehre benommen, in der ersten Gesellschaft verkehren zu dürfen, und fand erst ein bißchen Ruhe, als sie neben ihrer lieben Alide von Römpker auf dem Sofa saß.

So war denn alle Welt beisammen und wartete auf den „neuen Mann“. Der zufällige Umstand, daß die alten Bekannten sich früher zusammengefunden hatten, gab dem Eintritt des zuletzt Kommenden einen von ihm sicherlich nicht beabsichtigten Schein anspruchsvoller Wichtigkeit.

Lüdinghausen kannte außer seinem Vorgänger Raimar und Herrn von Römpker bis jetzt niemand von der Gesellschaft. Er war noch nicht einmal mit der Einrichtung seiner Behausung fertig und hatte noch gar keine Besuche gemacht. Nun sah er viele Augen neugierig und recht ungenirt auf sich gerichtet. Er machte vor jeder Dame seine Verbeugung und drückte jedem der Herren die Hand, während der neben ihm hergehende Römpker die Namen sagte. Der ganze Vorgang war, man wußte nicht recht warum, erdrückend förmlich.

Dies hielt die kleine Baronin nicht aus, und als Lüdinghausen seine letzte Verbeugung gemacht hatte, rief sie laut:

„Gott sei Dank, das wäre überstanden!“ Alle lachten, und der Rittmeister sagte:

„Wir fühlen uns in diesem engen Freundeskreis stets so sehr en famille, Herr Landrath, daß wir uns zuweilen sogar allerlei Unarten erlauben. Meine Frau insbesondere ist das verzogene Kind dieser ‚Familie‘.“

Lüdinghausen wußte eine Sekunde lang nicht, was er sagen sollte. Die Bitte, sich seinetwegen nicht zu geniren, wäre unbescheiden, die Bitte, daß er hoffe, bald auch zu dieser „Familie“ zu gehören, zudringlich und außer seiner Art gewesen. Und so sagte er ganz geistlos weiter nichts als:

„Ich bitte Sie, Herr Baron . . .“

„Wir haben Sie alle unbescheiden angesehen,“ fuhr jetzt die kleine Frau munter und förmlich stolz auf ihre Unart wieder fort, „wir starben natürlich vor Neugier auf den neuen Landrath. Sie haben alle Vortheile für sich, denn außer den hundert Tugenden, welche die Sage und dieser da“ – sie tippte mit ihrer Fächerspitze auf Raimars breite Brust – „Ihnen nachrühmt, haben Sie noch den Reiz der Neuheit.“

Lüdinghausen wußte mit dem besten Willen wieder nichts zur Antwort zu geben, als ein erzwungenes verbindliches Lächeln.

„Nicht wahr, Lea,“ wandte sich die Baronin an diese und seufzte, „hier giebt es fast nie etwas Neues. Wir werden so alt miteinander in unseren Ideen, Gesichtern, Witzen, Kleidern.“

„Die Frau Baronin erfrischt ihre Ideen und ihre Kleider jedes Jahr in Berlin, wo ihre Schwester an einen Legationsrath verheirathet ist. Ihre Witze und ihr Gesichtchen bedürfen nie der Auffrischung,“ bemerkte Römpker.

Lüdinghausen fühlte eine unaussprechliche Gleichgültigkeit diesem Geschwätz gegenüber. Er bemerkte mit heftigem Unwillen gegen sich selbst zum unzähligsten Male seine Unfähigkeit, sich zu leerem Phrasenspiel aufzuraffen. Es war etwas in ihm, eine gewisse Ernsthaftigkeit, die ihm das verbot. Mit äußerster Anstrengung sagte er:

„Ich werde ja Gelegenheit haben, dies alles zu beobachten.“

„Er scheint ein Taps oder er ist riesig hochmüthig,“ flüsterte die Baronin Clairon zu.

Ludwig erschien in der Thür mit seinem strahlenden Gesicht und die Baronin schnitt ihm lachend seine Meldung ab, indem sie rief:

„Meine Herrschaften, zu Tische! Clairon, Ihren Arm! Römpker, ich soll ihn doch haben? Auf den Tageshelden hab’ ich keinen Anspruch. Auf Sie und Raimar ist mein Mann eifersüchtig. Also was bleibt mir übrig, als Graf Clairon?“

„Diese Frau würde mich wahrscheinlich in einer Stunde krank machen,“ dachte Lüdinghausen.

Rahel sah den Schatten von Mißmuth über seine Stirn gehen.

„Wollen Sie, bitte, meiner Frau den Arm geben,“ bat Römpker.

Bei der Tafel wußte er es aber so einzurichten, daß Lea an Lüdinghausens linker Seite saß, denn er vermuthete, daß die Unterhaltung seiner Frau nicht sehr anziehend für den jungen Landrath sein würde. In Römpkers phantasievollem Kopf war nämlich seit gestern ein Einfall groß geworden. Als er den ernsten Mann mit der schönen Gestalt und dem vornehmen Gesicht sah, kam es ihm wie eine Erleuchtung: das ist der Mann für Lea. Die fürstlichen Besitzungen, welche Lüdinghausen einst zufielen, sicherten ihm ohnehin eine großartige Lebensstellung; außerdem sollte er ein bedeutender Mensch sein, er hatte sich dem Staatsdienst gewidmet, er war Landrath, würde bald in den Reichstag kommen, Oberpräsident werden; kurz, Römpker sah ihn schon als Minister, und er war doch genug Kind seiner Zeit, um die Excellenz dem „von“ gleichzustellen.

Lea kannte ihren Vater und hatte seinen Plan, in dem er vergnüglich schwelgte, ganz durchschaut. Sie beschloß, Lüdinghausen zum Sprechen zu bringen. Dies war recht schwer, denn alle gewöhnlichen Fragen, wie es ihm gefalle, wo er herkomme, welche Wohnung er gefunden, beantwortete er einsilbig und zerstreut. Lea ermüdete nicht. Sie wußte mit sicherer Leichtigkeit immer neue Gegenstände zu finden, und ohne viel Geist zu verrathen, zeigte sie doch die vollendete Dame, welche mit jedem etwas anzufangen weiß.

Endlich fragte sie auch, wie er, der einzige Erbe großer Besitzungen, sich habe dem Staatsdienst, also gewissermaßen der Unfreiheit widmen mögen.

„Ich wollte die ungeheure Verantwortung, so vielen zu gebieten und für das Wohl so vieler sorgen zu müssen, nicht übernehmen, ehe ich nicht selbst gedient hatte. Wem anders konnte ich dienen als dem Staat, wo besser Besonnenheit und Verantwortlichkeit kennenlernen, als in einem öffentlichen Amt? Auch war für meinen zur Verschlossenheit und Schwerfälligkeit neigenden Charakter der Zwang wünschenswerth, mich mit Menschen aller Art befassen zu müssen. Und gerade eine Stellung wie diese wird mir werthvolle Erfahrungen im Verwaltungswesen bringen.“

Rahel, die ihm gegenübersaß und jedes Wort hörte. fragte:

„Also Sie streben nicht nach höheren Stellen?“

„Sobald mein vorderhand noch rüstiger Vater meiner bedarf, wird er mich rufen und ich verlasse den Staatsdienst,“ erwiderte er.

Rahel sah ihn an. Wie klar er über Menschen und Verhältnisse dachte und seine Ansicht einfach feststellte!

Als die lang sich hindehnende Tischzeit vorüber war, hatte Rahel bereits eine fertige Meinung von Lüdinghausen. Sie hatte sein Unbehagen beobachtet bei den neckischen Reden der Baronin, seine Gleichgültigkeit bei den Sportgesprächen Clairons und des Rittmeisters, sein Bestreben, die Unterhaltung mit Lea aus einer „Konversation“ zu einem „Gespräch“ zu machen.

Man stand mit den Mokkatäßchen in den Händen beieinander, Rahel und Raimar nächst der Thür zum Wohnzimmer, wo sich das Klavier befand. Vor demselben bildete Lea mit Lüdinghausen und Clairon eine Gruppe. Clairon hatte mit innerer Qual gesehen, wie dieser Lüdinghausen sich immer eifriger Lea zuwandte; Lea war verstimmt, weil ihr schien, die Baronin sei liebenswürdiger gegen Clairon, als es die Freundschaft des Rittmeisters für den Grafen gestatte. Nun suchten die Liebenden einander und waren [312] ein wenig nervös, als Lüdinghausen immer noch nicht von Leas Seite wich.

Der Grund dieser Beharrlichkeit war ein doppelter. Lüdinghausen fand das schöne und selbstbewußte Mädchen in der That sehr interessant, und dann war ihm der Gedanke zu lästig, nun mit einer andern Dame der Gesellschaft eine Unterhaltung anfangen zu müssen, wahrscheinlich wieder mit der Einleitung über Gegend, Wohnung, früheren Aufenthalt und ähnliche ermüdende Dinge.

Lea saß auf dem Klavierstuhl und sah im Sprechen zu den vor ihr stehenden Männern empor. Dann, wie in halber Zerstreutheit, drehte sie sich auf dem Sessel herum und, ohne die Unterhaltung zu unterbrechen, präludierte sie leise. Die flüchtigen Griffe in die Tasten gestalteten sich zu einer bestimmten Tonfolge. Rahel hörte und erkannte augenblicklich, was sie ausdrückte. Lea spielte dem Geliebten zu, was sie ihm weder durch Wort noch Blick zu sagen vermochte:

„Mit meiner Seele glühendstem Ergusse
Sei mir geküßt, sei mir gegrüßt.“

„Also ist es doch nicht aus zwischen ihnen,“ dachte Rahel. Und seltsamerweise fühlte sie sich jetzt durch diesen Gedanken ebenso beruhigt wie vorher davon beunruhigt. Ja, der Wunsch wallte sogar in ihr auf, den beiden zu einigen Worten ungestörter Aussprache zu verhelfen.

Mit dem Recht der Haustochter, die den neuen Gast unterhalten will, trat sie an Lüdinghausen heran.

„Es ist ganz unsern Gewohnheiten entgegen, den Kaffee im Zimmer zu nehmen bei solchem Wetter,“ sagte sie, „und wie ich unsere Herren kenne, werden sie sich nachher gleich an den Kartentisch setzen. So würden Sie uns heute verlassen, ohne unsern Park gesehen zu haben. Soll ich Ihnen denselben zeigen?“

„Ich bitte darum,“ antwortete er.

„Onkel Raimar, komm! Ein Spaziergang nach Tisch ist Dir sehr gesund,“ rief Rahel.

Lüdinghausen erinnerte sich, daß er sich um diese zweite Tochter noch gar nicht gekümmert habe und daß er sich bemühen müsse, nun artig gegen sie zu sein. Er ging darum mit Rahel und Raimar voran, während Lea und Clairon in großer Entfernung folgten. So gaben diese sich die Miene, mit zu der Gruppe zu gehören, und waren doch ungestört.

„Lea,“ sagte Clairon halblaut, „hast Du etwa die Absicht, an dem neuen Landrath eine Eroberung zu machen?“

„Wie meinst Du das?“ fragte sie.

„Du willst mit ihm kokettiren!“ rief er in aufwallender Eifersucht.

„Nicht mit ihm kokettiren,“ antwortete sie und sah mit halbgeschlossenen Augen in die Ferne, während ein seltsames Lächeln um ihre Lippen spielte. „Aber vielleicht ihn heirathen.“

„Du phantasierst,“ sagte Clairon. „Mich lieben und einen andern heirathen, das wäre … das wäre …“

„Nichtswürdig!“ vollendete Lea mit Ruhe. „Du sagst es, und so ist es.“

Nach einigen Sekunden des Schweigens sprach sie plötzlich in fassungsloser Erregung weiter. Clairon kannte diese jähen Wandlungen in ihrer Stimmung, er wußte, daß sie ihren Grund in der ganzen Sachlage hatten, und ihn ergriff jedesmal unsägliches Mitleid, wenn er das schöne, stolze Mädchen in solcher Gefühlsverwirrung sah.

„Was bleibt mir denn übrig im Leben als das? Was soll ich mit mir, was mit meiner Zukunft anfangen? Soll sich Monat so an Monat, Jahr so an Jahr reihen? Soll ich alt werden und verblühen und niemals den Platz im Dasein haben, für welchen ich geschaffen bin? Dich immer lieben und das ganze Glück dieser Liebe immer darin finden, Dich jede Woche zwei- oder dreimal im Wald zu sprechen, mit einem Bedienten als Zeugen und Ehrenwache? Ich, die ich die Wahl meines Lebensloses frei zu haben schien, ich soll als altes Mädchen zurückbleiben am Wege, den andere, Jüngere, weniger von der Natur Begünstigte lachend und mühelos zur Höhe empor schreiten? Dummen und häßlichen Frauen wirft das Schicksal alles in den Schoß; mir entzieht es selbst das, was ich ein angeborenes Recht habe, zu begehren. In mir ist ein Durst – ich weiß nicht, wonach; nach Glück, nach Liebe, nach Freiheit! Nach Thaten! Ewig die älteste Prinzessin auf Römpkerhof bleiben, immer dieselben langweiligen Menschen als Gäste bei sich sehen und ihnen freundlich lächeln müssen – o, wie fade, wie leer, wie inhaltslos!“

Thränen funkelten in ihren weitgeöffneten Augen. Ihr Gesicht war bitter verzerrt.

Auch Clairon war blaß. Aber er stand zu sehr im Banne der Anschauungen, die Lea ihm immer und immer wieder vorhielt, daß er nicht darüber hinaussah. So sagte er nur im gedrücktesten Ton:

„Ja, wir sind sehr unglücklich.“ –

Vor ihnen führten die beiden Männer mit Rahel allerlei vernünftige Gespräche.

Lüdinghausen lobte aus Höflichkeit den Park.

„O,“ sagte Rahel offen, „nur seine alten Baumgruppen und die Größenverhältnisse sind schön und der Blick über den See, besonders wenn wie jetzt der Himmel vergoldet ist von der untergehenden Sonne. Die Rasen könnten sammetweicher sein, die Blumenanlagen kunstvoller. Aber das ist auf dem Lande ein zu großer Luxus, schon des Wassers wegen, das für Obst und Gemüse so nöthig gebraucht wird.“

„Aber Sie haben ja entsprechende Anlagen, sehe ich,“ bemerkte Lüdinghausen, der irgendwo zwischen den Baumgipfeln die Windflügel eines Motors hatte aufragen sehen.

Rahel lachte.

„Von Papa ein bißchen übereilt angelegt. Der Unternehmer war ein netter liebenswürdiger Mensch, deshalb schwor Papa auf seine Tüchtigkeit. Wir haben selten genug Wasser und es muß meist wie einst aus dem See geholt werden.“

„Sie interessiren sich für die Landwirtschaft?“ fragte Lüdinghausen.

„Sie ist eine großartige Hausmutter,“ versicherte Raimar, um die arme, ewig hintangesetzte Rahel ein bißchen zu heben.

„Ich glaube, nur deshalb,“ antwortete Rahel, „weil es hier nothwendig ist. Es kann wohl sein, daß ich mich immer für die Dinge interessire, welche mich brauchen. Ich habe nie darüber nachgedacht.“

„Man möchte Sie beneiden,“ sagte Lüdinghausen lächelnd; „Sie haben demnach, wie mir scheint, Talent zur Zufriedenheit – das seltenste beim Menschen, soweit ich mir Menschenkenntniß zutrauen darf.“

„O,“ meinte Rahel und wurde verlegen, weil es ihr vorkam, als lobe er sie, „es ist doch keine Kunst, zufrieden zu sein, wenn man gerade das leisten kann, was von einem gefordert wird. Und von mir wird so herzlich wenig gefordert.“

„Na, Kleine,“ sagte Raimar und klopfte sie so im Weiterschreiten wohlwollend auf den Rücken, „so wenig ist’s denn wohl doch nicht. Mein alter Römpker, unsere schöne Lea und die gute, ängstliche Alide – das ist eine anspruchsvolle Gesellschaft, und sie machen Dich manchmal ein bissel zum Aschenputtel.“

„Du irrst Dich, Onkel Raimar,“ sprach Rahel mit strenger Abweisung. „Ich habe schon oft bemerkt, daß die Gesellschaft mir die Rolle der Unterdrückten zuschiebt. Dies ist keineswegs der Fall. Mein Gott – sehe ich denn aus wie ein Aschenbrödel? Und so wenig Papa oder Lea je daran denken, mich zurückzusetzen, so wenig ist in mir die Neigung, solche Zurücksetzung hinzunehmen.“

Ihr Auge blitzte ein wenig auf, als sie den alten Freund ansah, und Lüdinghausen bemerkte das wohl.

„Sie sind eben sehr verschieden von Ihrem Fräulein Schwester,“ sagte Lüdinghausen höflich, „und so weit ich mir schon ein Urtheil erlauben darf, ergänzen Sie beide einander sehr glücklich.“

„Sehr richtig, mein lieber Landrath,“ rief Raimar, „sehr gut beobachtet. Unsere Lea ist der Glanz, unsere Rahel das Behagen des Hauses.“

Wie sehr Lea in der That von der Schwester verschieden war, konnte Lüdinghausen an diesem Abend noch beobachten. Vielleicht aus Rücksicht auf ihn hatte man auf das sonst übliche Kartenspiel verzichtet. Lüdinghausen kannte genugsam den Geist dieser vornehmen Land- und Kleinstadtkreise, er wußte, daß diese Menschen, jahraus jahrein aufeinander angewiesen, immer nur von den gleichen, engen Berufsinteressen bewegt, ihre liebste Unterhaltung, ja gleichsam die Rettung des Vergnügens im Kartenspiel finden. Und so ermaß er die Höflichkeit, die man ihm erwies, indem man es heute unterließ. Aber zugleich auch drückte sie ihn, denn ihm fehlte das Vermögen, mit diesen ihm so fremden [314] Menschen, die sowohl von ihm, als wieder unter sich so verschieden waren, jene ausgleichende, verbindliche Unterhaltung über nichts und alles zu führen. Nun hatte er aber das peinliche Gefühl, daß man erwartete, der „bedeutende“ Mann solle mit seinem Geist glänzen.

In solcher Lage befiel ihn stets gerade entgegengesetzt der Hang zur Schweigsamkeit, und anstatt die Menschen zu unterhalten, beobachtete er sie.

Lea dagegen befand sich just in solchen Stunden, wo die Langeweile um jeden Preis gar nicht erst aufkommen durfte, in ihrem richtigen Fahrwasser. Vielleicht hatte sie recht, wenn sie von sich behauptete, sie sei für die große Gesellschaft geboren. Sie verstand es, alle Welt zu unterhalten, und in dem Maße, als es ihr gelang und sie zugleich fühlte, daß man ihre Verdienste darum bewundere, in dem Maße stieg auch die Munterkeit ihres Geistes, ihre gute Laune und damit ihre Schönheit.

Ihr Vater, von dem sie diese Eigenschaften geerbt hatte, für andere hinreißend liebenswürdig zu sein, berauschte sich förmlich an der Art seiner schönen Tochter, und von ihr fortgerissen, entwickelte auch er seine wahrhaft kindliche Heiterkeit.

Rahel bemerkte man gar nicht mehr. Lüdinghausen vergaß sie ganz, aber er beobachtete Lea in aufrichtiger Bewunderung und dachte: „Die hat alles, was mir fehlt.“

[325]
4.

Wenn lang brütende Unzufriedenheit erst einmal anfängt, sich in Worte zu kleiden, so geht es auf der abschüssigen Bahn gewöhnlich schnell weiter, und es ist keine Rettung mehr vor völliger Verzweiflung.

Seit vielen Jahren war Leas Dasein ein Hin und Her zwischen Langerweile und Vergnügen gewesen. In den Zuständen der Langenweile hatte sie sich und andere mit bösen Launen, Heftigkeit und Ansprüchen gequält, an den Tagen des Vergnügens sich auf einer herrlichen und unantastbaren Höhe des Lebens gefühlt.

Nun aber, seit sie zuerst Clairon gegenüber Worte für ihre Unzufriedenheit gefunden hatte, gab es kein Halten mehr. Eine ungemessene Bitterkeit bemächtigte sich ihrer, die um so peinigender war, als sie der Berechtigung und des Zieles entbehrte.

Jeden Morgen, wenn sie sich erhob, dachte sie: „wozu noch aufstehen? Um sich anzukleiden, zu frühstücken, ein wenig im Modejournal zu blättern, spazieren zu reiten auf den langweiligen, ewig gleichen Landwegen, während der Mittagshitze im Zimmer auf der Chaiselongue zu liegen, wieder zu essen und nachmittags die Bekannten zu sehen, diese unerträglichen, geisttötenden, philiströsen Bekannten.“ Wie das Leben einen anekeln konnte!

Wenn Lea Tagelöhner ihres Vaters sah, regte sich in ihr Neid auf die armen Menschen. Die machten keine höheren Ansprüche, waren beglückt, wenn sie Sonntags ein gutes Stück Fleisch hatten. Die konnten sich noch freuen. Selbst die Geselligkeit machte ihr keine Freude mehr. Wenn nachmittags Gäste kamen, zog sie sich zurück unter dem Vorwand von Migräne, saß dann oben und brütete über ihr verfehltes Leben nach.

Die Ihrigen begannen ängstlich zu werden und Papa Römpker sprach sich im Vertrauen mit dem alten Freunde der Familie, dem Medizinalrath, aus. Dieser, mit der Derbheit des Mannes, der zumeist Bauern kurirt, gab Herrn von Römpker den Rath, Lea zu verheirathen, und begründete seinen Rath ausführlich. Herr von Römpker theilte seiner Frau mit, daß man sich Leas wegen nicht beunruhigen solle, daß es aber am besten wäre, Lea verheirathe sich. Frau von Römpker klagte infolgedessen jeden Tag ihrer ältesten Tochter vor, wie schade es doch sei, daß sie im Vorjahr den und im Vorvorjahr jenen Bewerber ausgeschlagen habe, und wie glücklich sie – die Mutter und auch der Papa – sein würden, wenn Lea sich bald vermählte.

Hieraus sog Lea dann weiter den bittern Gedanken, man wolle sie los sein, und in ihrer verfinsterten Seele befestigte sich der trotzige Entschluß immer mehr, Lüdinghausen zu [326] heirathen. Niemals huschte auch nur ein Schimmer der Erkenntniß durch ihr unglückliches Gemüth, daß dieser ganze Zustand bloß durch ihre falsche Stellung zu Clairon hervorgerufen sei. Sie traf ihn zuweilen im Walde. Aber diese Begegnungen wurden für beide Theile immer qualvoller, und der erstaunte Ludwig, welcher in respektvoller Entfernung das Pferd seiner Herrin hielt, wurde Zeuge, wie diese an Clairons Schulter weinte, oder wie scharfe Worte hin- und herflogen, die er zwar nicht verstand, die aber sehr böse sein mußten, denn ohne Gruß, in hastigem Zorn, warf Clairon sich dann auf sein Roß und ritt davon.

Kaum war Lea allein, so verzehrte sie sich in Sehnsucht nach ihm und tausend innige Worte brannten ihr auf den Lippen, die sie ihm hätte sagen mögen. Und wenn sie ihn in Gesellschaft der andern sah, wo oft jede Gelegenheit zu einem unbewachten Wort fehlte, hätte sie sich am liebsten jauchzend an seinen Hals geworfen. Aber da sagten es ihm dann wenigstens ihre Blicke oder ein Lied, und niemals hatte sie schöner gesungen als jetzt.

Ja, das Ganze war ein schrecklicher und unertragbarer Zustand. Gegen die stille Schwester fühlte Lea auch oft einen feindseligen Zorn. Wie war es nur möglich, daß man diese stete, gleichmäßige Freundlichkeit zeigen konnte? Wie war es möglich, sich mit all dem öden Haushaltungskram so eifrig abzugeben? Welch ein Mangel an Poesie! Welche Aermlichkeit im Geist!

Es reizte Lea förmlich, zu versuchen, ob sie die Schwester nicht auch „zum Erwachen“ bringen könne, das heißt, ob sie ihr nicht das Gleichgewicht zu nehmen, ihr das Leben zu verleiden imstande wäre. Ihr schien, es hätte sie getröstet, auch Rahel an dem „Gitter des Käfigs“ rütteln zu sehen.

Da begab sich denn zuweilen etwas Seltsames. Rahel hatte eine Engelsgeduld mit der Schwester, welche sie für nervös leidend hielt. Aber sowie Lea ihren bittern Hohn über das Wesen und die Person Rahels ergießen wollte, sah diese sie still und groß an, und vor den klaren Augen verstummte Lea regelmäßig.

Nur die Gegenwart eines Menschen ließ die alte Lea wieder hinter den düstern Wolken glanzvoll hervortreten. Das war Lüdinghausen. Dieser sah das Mädchen immer nur von der Seite, wie sie an jenem ersten Abend sich gezeigt hatte. Sie wollte ihn erobern um jeden Preis und sagte sich, wenn so etwas wie Besinnung auf weibliche Ehre in ihr wach wurde, beschwichtigend: „Nachher kann ich ja noch immer thun, was ich will.“

Welcher Mann sollte aber das Entgegenkommen einer Frau nicht bemerken? Auch Erasmus Lüdinghausen durfte sich nicht verhehlen, daß Lea ihn sehr auszeichne. Natürlich war er, als der Erbe großer Reichthümer, solche Auszeichnung bis zum Ueberdruß gewohnt, und er hatte diese denn bis jetzt auch immer nur seinem Reichthum, nie seiner Person zugeschrieben.

Vorsichtig und langsam von Entschlüssen, wie er war, hatte er sich bisher von allen Frauen zurückgehalten und kannte nur eine genau, seine Mutter, die nun längst verstorben war.

Er dachte als Mann nicht gering von sich, hielt sich aber nicht für die geeignete Persönlichkeit, einem jungen Mädchen als Ideal zu erscheinen. Mangel an Enthusiasmus, Unfähigkeit zu romantischen Gefühlen, allzu große Kaltblütigkeit hielt er für seine Eigenschaften, die alle einem jungen Mädchen gegenüber zu schweren Fehlern werden mußten.

So war ihm seit dem Jahre, als er „seinen Regierungsassessor gemacht“ und der Vater ihn bei der Gelegenheit gebeten hatte: „heirathe recht bald,“ sein Schicksal vermeintlich vorgezeichnet. Er sah eine Verstandesheirath vor sich, im höchsten und edelsten Sinne. Er würde, so dachte er, ein Wesen heirathen, das in Bildung und Sitten ihm gleich sei, gleich hohe Lebensziele habe und wie er eine herrliche, aber auch pflichtenvolle Aufgabe darin sehe, auf den großen Besitzungen das Wohl Hunderter von Arbeiterfamilien zu fördern, ein Regent zu sein im kleinen, – ein Wesen, welches daneben alle die äußerlichen, glänzenden Eigenschaften zum Repräsentiren habe, die ihm fehlten. Gleichheit in der Auffassung der Pflichten schien ihm die einzig richtige Vorbedingung zum Glück.

Daß er dies alles und dazu noch Liebe finden sollte, däuchte ihm unwahrscheinlich.

Da sah er Lea von Römpker. In ihr fand er zunächst die äußerlichen Bedingungen alle erfüllt und das Unwahrscheinliche zur Thatsache werden: er wurde geliebt.

Er begann, sich in seinen Gedanken mit ihr zu beschäftigen und sich zu sagen: wenn die innere Gediegenheit ihres Wesens der äußeren Anmuth desselben entspräche, wäre sie die rechte Frau, um neben mir zu stehen in meinem zukunftigen ernsten und doch auch glänzenden Leben.

Ganz im geheimen regte sich auch in ihm das Selbstbewußtsein des Mannes. Er mußte sich sagen, daß Lea von Römpker gewiß ein außerordentlich viel umworbenes Mädchen, daß es bisher offenbar aber noch niemand gelungen war, tieferen Eindruck auf sie zu machen. Dazu befand sie sich zweifellos in der Lage, frei nach ihrem Herzen wählen zu können, und war über jeden Verdacht erhaben, daß sie etwa auf eine „reiche Partie“ gewartet hätte.

Hiernach mußte ihm ihr sichtliches Entgegenkommen als der unbewußte Ausdruck einer schnell entstandenen und unwiderstehlichen Neigung erscheinen, und er durfte sich wohl davon tief und schön berührt fühlen. Nur ein frivoler Mann wird sich aus leerer Eitelkeit darüber freuen, der Gegenstand einer ehrlichen Liebe zu sein, die er doch selbst nicht erwidert, während der ernste Mann dieses Bewußtsein nicht ohne Bewegung ertragen wird.

Der Wunsch, tiefer in ihre Seele blicken zu können, ward immer lebhafter in ihm und gab auch seinem Verkehr mit ihr allmählich den deutlichen Anschein, als werbe er um sie.

Während dieser Zeit schloß er sich sehr an Raimar an. Der heitere Mann, in dem eine Kinderseele lebte, gefiel ihm. Dazu war Raimar, als Römpkers Jugendfreund, der beste Kenner von Menschen und Verhältnissen des Römpkerhauses, und durch ihn konnte Lüdinghausen manch beleuchtendes und aufklärendes Wort hören. Der alte Junggeselle hatte gar keine Angehörigen außer einem leichtlebigen Neffen, dem er feindlich gesinnt war, seit derselbe Schulden gemacht und die Gläubiger auf des Onkels Tod vertröstet hatte. Sein ganzes Herz hing an den Römpkers und in Lea sah er das vollkommenste weibliche Wesen. Für ihn, der seit fünfundzwanzig Jahren nur selten mehr sein Gut und seinen Kreis verlassen hatte, war Lea die Vornehmheit, die Eleganz, der Geist und die Liebenswürdigkeit in Person. Dabei machte aber sein gerechtes Herz ihm stets Vorwürfe, daß er Rahel zurücksetze, und im Bemühen, auch sie herauszustreichen, nahm sein Ton immer etwas Mitleidiges an. Raimar war, gleich seinem Freunde Römpker, von dem lebhaften Wunsch beseelt, aus Lüdinghausen und Lea ein Paar zu machen, in der ehrlichen Ueberzeugung, daß diese beiden Menschen füreinander geboren seien. Und jedes Gespräch über die Familie Römpker artete demnach in einen Lobesgesang auf Lea aus.

So wuchs schnell der zweifelvolle Gedanke einer Werbung um Lea in Lüdinghausen zum Vorsatze heran, ohne daß dieser sich nur einmal gefragt hätte: liebe ich sie auch? Vielleicht nahm er die Erregung, in welche er allmählich hineingerieth, für beginnende Liebe und das Herzklopfen, welches ihn bei Leas Anblick befiel, für Verlangen.

Er ging soweit, an seinen Vater zu schreiben, daß er glaube, das Mädchen gefunden zu haben, welches er für werth halte, seine Zukunft zu theilen. Er nannte den Namen Römpker und fragte an, ob seinem Vater die Verbindung mit dieser Familie erwünscht sei.

An einem Morgen des Monats August bekam er eine Antwort, welche ihn ganz aus der Fassung brachte und beinahe das ganze, langsam aufgeführte Gebäude von Trugschlüssen umwarf, welches er sich für seine Zukunft aufgebaut hatte.

„Mein Junge,“ schrieb der alte Lüdinghausen, „Du hast mir da einen Brief geschrieben, der mir sehr mißfallen hat und in dem ich kein Tröpflein von meinem Blut verspüre. Zum Henker noch einmal, was geht’s mich an! Hättest Du geschrieben: ‚Vater, ich hab’ einen Engel, ein Mädel ohne gleichen gefunden, so was, was es nicht noch einmal auf der Welt giebt, und ob Dir’s recht ist oder nicht, Alter, ich heirathe sie, denn sie ist meiner und somit auch Deiner würdig‘ – ja, hättest Du das geschrieben, dann wäre ich mit einem Extrazug angekommen, um Dich und Dein Mädchen an mein Herz zu schließen. Denn ich will auch etwas von ihr haben. – Aber so! Auf Pedanterie verstehe ich mich nicht. Als ich um Deine Mutter freite, habe ich keinen Menschen vorher gefragt. Auf einmal wußte ich es, als sie und ich uns eines schönen Tages in die Augen sahen: die soll’s sein. Und so hat Deine Mutter es auch gefühlt. Es kann ja sein, daß ein so hochstudierter Mann wie Du anders [327] empfindet als ich Lebenspraktikus. Aber mir ist die Geschichte nicht einfach genug. Darum laß mich heraus aus den Präliminarien! Daß Du nur ehrenhaft wählst, weiß ich, ob das Mädchen nun Müller heißt und bettelarm ist oder ein vornehmes Fräulein. Gott sei Dank, mein Junge, wir haben ja Vertrauen zu einander und ich bevormunde Dich nicht. Es grüßt Dich

Dein Vater.“ 

Lüdinghausen sah seinen Vater förmlich vor sich: die untersetzte, zur Fülle neigende Gestalt, das bartlose, runde, röthliche Gesicht mit den lebhaften Augen und den schneeweißen Haarstoppeln, welche über der Stirn wie eine Bürste aufstanden. Er dachte sich Lea daneben und Lea überhaupt im Gegensatz zu seines Vaters Brief. In der That – da war kein Einklang zu erzielen. Lüdinghausen konnte sich die junge Dame nicht vorstellen als den Gegenstand einer so naturwüchsigen Werbung und Verlobung, wie sie sein Vater sich dachte.

„Ich bin anders als mein Vater,“ dachte er, „Lea ist anders als meine Mutter – Erziehung und Zeitgeist sind heute verschieden von damals. Es kann ja nicht nach einem Schema gefreit werden.“

Das Bewußtsein kam ihm überdies, daß er sein Werben überhaupt schon zu deutlich gemacht habe, um ohne eine entscheidende Aussprache zurück zu können.

Er beschloß, daß dieser Tag nicht zu Ende gehen solle, ohne ihm einen festen Entschluß gebracht zu haben. So ordnete er denn in seinem Bureau die Arbeit für seine Beamten an und bestieg dann sein Pferd.

Es war ein schwüler Sommertag; vor dem Thor, zwischen den schon abgeernteten Feldern, auf der fast schattenlosen Chaussee kam sich Lüdinghausen einen Augenblick wie Don Quixote vor, der auszieht, gegen Windmühlen zu kämpfen. Er konnte nicht umhin, die Gefühle eines Heirathskandidaten für recht beklemmend und sehr wenig männlich zu halten – vorausgesetzt, daß allen Männern, die solche Pläne hegen, so zu Muth dabei sei wie ihm. Der Brief seines Vaters war wohl daran schuld. Dieser hatte ihn von der Bahn der verständigen, gelassenen Erwägung gestoßen, ohne daß er selber den andern Weg, den der jubilirenden Eroberung, zu finden vermochte.

Die Hitze flimmerte über dem Erdboden in jener zitternden Wellenbewegung der Luft, welche diese sichtbar macht. Todtenstille herrschte; die Ferne war mit grauem Dunst verschleiert. Die Sonne stand beinahe in Scheitelhöhe, und wie Lüdinghausen auf der hellen Landstraße langsam dahinritt, glitt fast unter seinem Pferd der schwarze Schatten von Roß und Reiter als formloser großer Fleck immer mit. Ein trockener Wind wehte über die Felder. Die Ruhe des Hochsommers lag auf den grell besonnten Gefilden.

Die Trägheit in der Natur fing an, sich seinem Thier, ja ihm selbst mitzutheilen. Er beschloß, durch den Wald zu reiten, der sich bis Römpkerhof hinzog und der schon unfern an die Landstraße herantrat. Ganz weit auf dem Weg vor ihm wölkte sich jetzt eine Staubmenge auf, aus welcher sich bald ein Zug Husaren entwickelte. Sie kamen von einer Felddienstübung und ritten staubbedeckt, mit rothen, schläfrigen Gesichtern auf müden Thieren, zur Stadt zurück.

Lüdinghausen wechselte im Vorbeireiten Grüße mit den Offizieren. Auch der Rittmeister, Baron Ehrhausen, war dabei. Clairon, welcher bei derselben Schwadron stand, fehlte.

Da war der Wald. Lüdinghausen athmete förmlich auf, denn wenn auch nicht Kühle, so gab es doch Schatten. Er ritt aber immer langsamer. Er dachte darüber nach, unter welchen Vorwänden er den Tag auf Römpkerhof zubringen könne. Daß alle seine Gründe errathen würden, war ihm zweifellos, aber er fand es taktvoll, sie zu verhüllen, ehe er mit Lea gesprochen hatte. In tiefem Sinnen überhörte er, daß ihm ein Reiter entgegenkam, und schreckte über einem lauten Aufwiehern seines Pferdes zusammen. Nun sah er den Grafen Clairon im Dienstanzug, bestaubt und mit einem Antlitz voll finsteren Ernsts daherkommen.

„Sie haben Ihre Schwadron verlassen?“ fragte Lüdinghausen nach freundlichem Gruß, den der andere ohne ein Lächeln erwiderte.

„Der Wald lockte mich. Und Sie? Ich bin ebenso erstaunt, Sie um diese Tageszeit hier zu sehen,“ fuhr Clairon, nun geradezu unfreundlich, fort.

„Ich will nach Römpkerhof,“ sagte Lüdinghausen einfach.

Clairon sah ihn an. Er verbarg kaum ein bitteres Lächeln unter seinem blonden Schnurrbart. Sein helles Auge blirkte voll Hochmuth über den andern hin.

„Nun – ich grüße die Damen voll Ehrerbietung. Auf Wiedersehen!“

Und er sprengte davon.

„Dieser Aktenmensch, dieser Kohlengräber,“ dachte Clairon, und fühlte eine Minute lang den ganzen Stolz des Offiziers auf sein ritterliches Handwerk im Gegensatz zu der Juristerei und dem Bergwerksbesitz Lüdinghausens. „Und der soll der Glückliche sein!“

Lüdinghausen fand das Benehmen Clairons ein wenig befremdlich und erinnerte sich jetzt, daß dieser eigentlich immer besonders kühl gegen ihn geblieben war. Er hatte das bisher kaum bemerkt. Clairon war ihm eine zu fernstehende und unwichtige Persönlichkeit gewesen, als daß er ihm viel Beachtung geschenkt hätte.

Lüdinghausen war noch selten in den Wald gekommen, er glaubte sich aber ohne Schwierigkeiten zurecht finden zu können, wenn er sich immer die Richtung nach Römpkerhof vergegenwärtigte. Ohne Bedenken schlug er einen schmalen Weg ein, der diese Richtung zu haben schien.

Aber ein Schreck, der eher peinlich als freudig war, fuhr ihm durch den ganzen Körper, als er plötzlich ein helles Frauenkleid durch die Stämme schimmern sah. Das mußte und konnte nur Lea sein. Rahel war ja immer im Hause beschäftigt und Frau von Römpker trug keine weißen Kleider. Er war gar nicht vorbereitet, ihr hier zu begegnen, und besann sich, was er thun solle.

Ja, es war Lea. Sie saß auf dem Boden, im braunen Buchenlaube des Vorjahres, an dem grauen Stamme einer Buche. Sie hatte die Ellbogen auf die Kniee gestützt und die Hände gefaltet neben dem tiefgeneigten Kopf. Sie brütete finster vor sich hin. Ihr dunkles Haupt war unbedeckt und ihr Hut lag neben ihr. Ihr weißes Gewand schmiegte sich eng um ihre Kniee und lag in fächerartig ausgebreiteten Falten rechts neben ihr auf dem Boden.

Zum ersten Male war Lüdinghausen von der eigenartigen Schönheit ihrer Erscheinung, die er bisher sozusagen als Unbetheiligter bewundert hatte, innerlich betroffen.

Sie hob den Kopf, müde und gleichgültig, als sie Geräusch hörte, aber augenblicklich sprang sie auf, das Gesicht mit flammender Röthe übergossen.

„Er ist Clairon begegnet,“ dachte sie, „er durchschaut alles.“

Aber Lüdinghausen durchschaute nichts. Er besaß keine Ahnung davon, daß Graf Clairon um Lea sich beworben hatte, und selbst mit solcher Kenntniß wäre er noch weit davon entfernt gewesen, hier eine Verabredung und gar eine zu verheimlichende Verabredung zu wittern. Männer, welche ohne Schwester aufgewachsen sind, denken immer zu gut oder zu schlecht von jungen Mädchen.

Weil er nun selbst bei dieser Begegnung verlegen war, bemerkte er Leas ganz kurze Bestürzung nicht.

„Das nenne ich einen hübschen Zufall,“ sagte sie mit ihrem Lächeln, welches immer etwas Besonderes zu verheißen schien, „erst reitet Clairon hier vorbei, und nun erscheinen Sie, während man sonst wochenlang hier im Walde nichts erlebt.“

„Graf Clairon war wohl sehr ermüdet, wenigstens schien er nicht bei bester Laune,“ bemerkte Lüdinghausen.

„Nun, es mag auch kein Vergnügen gewesen sein, bei der Temperatur auszurücken. Und Sie, Herr Landrath, haben ohne Zwang einen Ritt gemacht?“ fragte Lea, die sich sogleich Gedanken darüber gemacht hatte, aus welcher Veranlassung er komme.

Lüdinghausen schwang sich aus dem Sattel und legte sich die Zügel um die Faust zurecht. Dann erst antwortete er:

„Wenn Sie so wollen, gehorchte auch ich einem Zwang. Es war der unabweisbare Wunsch in mir, den heutigen Tag in Ihrem Hause verleben zu dürfen.“

Er sah Lea mit seinen ernsten, ruhigen Augen gerade an. Sie hielt diesen Blick aus. Ein Lächeln stand fest auf ihren Lippen, ihre Augen strahlten. Und dabei dachte sie:

„Er hat eine Art, jemand anzusehen – so schulmeisterlich, so prüfend.“

„Papa und die andern werden sich sehr freuen.“

„Sie sind allein?“

„Römpkerhof ganz ohne Gast? Nein, das ist undenkbar. Aber es ist nur Fräulein Malchen da, Mamas Freundin, welche jahraus jahrein den Donnerstag bei uns verlebt. Sie zählt also nicht.“

[328] „So will ich mich für jetzt von Ihnen verabschieden und Ihren Herrn Papa aufsuchen,“ sagte Lüdinghausen.

„O, ich gehe mit Ihnen,“ rief Lea, „ich bin ja stolz darauf, einen so lieben Gast als Jagdbeute mit heimzubringen.“

Sie nahm ihren Hut auf und klopfte einige Moos- und Blatttheilchen aus seinem Tüll. Dann faßte sie ihn an dem Rand und trug ihn in der herabhängenden Hand. So ging sie langsam neben Lüdinghausen her.

„Sie waren auf der Jagd . . .?“ nahm Lüdinghausen die Unterhaltung wieder auf.

„Nach schwarzen Gedanken, kohlpechrabenschwarzen,“ lachte Lea.

„Die möchte ich kennen,“ sagte er, „denn sie scheinen so unvereinbar mit Ihnen.“

„Wie wenig Sie mich demnach kennen!“ erwiderte sie langsam. „Ich bin oft sehr ernst, so ernst, daß es schon an Traurigkeit grenzt.“

Lüdinghausen bekam Herzklopfen. Er sah sie an, Ihr Gesicht war ganz streng und stolz, ihr Auge düster. Sie sah aus wie jemand, der gewohnt ist, ein großes Leid stumm zu verbergen. Sekundenschnell flog ihm der Gedanke durch den Kopf, daß ihre Liebe zu ihm sie vielleicht unglücklich mache, weil sie das Gefühl nicht erwidert glaube. Daß Lea denken könne, er sei in sie verliebt, fiel ihm trotz seines werbenden Benehmens nie ein.

Lea hingegen gab sich in dieser Pause, von wenig Herzschlägen Dauer einer ihrer „großen“ Stimmungen hin. Mit Verachtung gegen das Geschick und Spott für Lüdinghausen dachte sie, wie oft sie hier neben einem andern so gegangen war; nicht einmal das Pferd als Staffage fehlte. Und für diesen andern waren Blick und Lächeln echt gewesen! Sie fühlte sich als Märtyrerin und sagte sich, daß sie ihrer Persönlichkeit es schulde, das Unglück stolz zu tragen, und das häßliche Leben fest und muthig anzugreifen.

„Worüber traurig?“ fragte er, und seine Stimme zitterte, „darf ich es wissen? Fühlen Sie so viel Vertrauen zu mir, um sich mir gegenüber aussprechen zu mögen?“

Frauen verachten die Männer immer, welchen sie eine Komödie vorspielen. Lea sah in diesem Augenblick geradezu auf Lüdinghausen herab.

Aber sie fing an, zu sprechen, und schon nach wenig Worten hatte sie diese Aufwallung vergessen. Sie redete sich ganz in das hinein, was sie sprach, und sah in Lüdinghausen die Erfüllung ihrer Augenblicksphantasien.

„Ich fürchte, mißverstanden zu werden,“ sagte sie. „Was kann ein Mann wissen von den qualvollen, ja vielleicht zu hochfliegenden und darum thörichten Träumen einer Frauenseele! Aber jede von uns – das heißt die, welche die Kraft und die Fähigkeit in sich haben, etwas zu leisten – hat einmal eine Zeit, wo sie wünscht, ein Mann zu sein. Was können wir? Nichts! Nicht einmal uns die Aufgaben wählen, zu deren Erfüllung wir berufen wären. Wir müssen warten, bis die Aufgaben an uns herankommen. Wir müssen zufrieden sein mit dem Platz, welchen uns der Zufall der Geburt gegeben hat. Ein Mann kann sich einen höheren und besseren Platz erobern, wenn er sich dem entwachsen fühlt, auf welchem er stand. Er kann empor. Wenn er in sich die Berufung zu einem Thron fühlt, kann er sich den des Geistes, den der Arbeit erobern. Wir können nichts. Wir müssen warten – warten. Und wenn kein freundliches Geschick uns erlöst, müssen wir still unser Können, unser Wollen begraben. Wir müssen schön und anmuthig bleiben, vielleicht brave Frauen werden, die auf Ordnung in Küche und Haus halten, aber zu den Herrlichen dieser Welt gehören wir nicht. O, daß ich eine der Wenigen, Auserlesenen wäre!“

Wie sich jeder in eine schöne Musik das hineindenkt, was ihn gerade bewegt, so vernahm auch Lüdinghausen aus dem Wortgetön Leas gerade das, was er gewünscht hatte, in ihr zu finden: das Bedürfniß nach großen Lebensaufgaben.

„Glauben Sie mir,“ sagte er ernst, „daß ich verstehe, was Sie bewegt. Sie fühlen sich zu höheren Leistungen veranlagt, als diejenigen sind, welche Ihre Pflichten hier von Ihnen fordern. Die Zukunft wird Ihnen ohne allen Zweifel bringen, was sie Ihnen schuldet. Ich liebe und bewundere den Ehrgeiz auch in einer Frauenseele. Auch eine Frau soll kämpfen. Auch eine Frau soll das Pfund recht verwalten, das ihr die Natur gegeben hat.“

Diese seine Worte zogen Lea aus ihren Höhen wieder herab auf die Erde, und sie hörte nur, daß er sie offenbar ganz und gar nicht verstanden hatte. Was Kampf? Was Pfund verwalten? O Clairon, der fühlte mit jedem Pulsschlag ihr nach, daß sie zu etwas Höherem geboren sei. Zu Genuß und Glanz, aber nicht zu Kampf und Arbeit.

Und wieder erschien ihr Lüdinghausen so schulmeisterlich und so unerträglich pedantisch.

O Gott, warum hatte nicht Robert, der schöne, stolze, vornehme Robert, die Millionen dieses Menschen!

Lüdinghausen schwieg, weil seine Gedanken übervoll waren von beglückenden Hoffnungen. Lea schwieg, weil die Bitterkeit ihr Herz verzehrte.

So kamen sie an das Parkgitter.

„Wir sind angekommen,“ sagte sie, „ich eile, den Meinigen den lieben Gast zu verkünden und Ihnen den Reitknecht entgegenzuschicken.“

So war Lüdinghausen denn auf Römpkerhof, und der Tag, welchen er hier verleben sollte, erschien ihm in allen späteren Jahren, wenn er daran zurückdachte, nicht wie ein Tag, sonderst wie eine ungemessene Spanne Zeit.

[341]
5.

Lüdinghausen war sehr oft, aber immer nur in Gesellschaft bei Römpkers gewesen. Er kannte die landläufige Weisheit sehr wohl, daß man eine Familie in einem Tag zwanglosen Zusammenlebens besser kennenlernt als in hundert Gesellschaften. Eine Frau im Ballkostüm stellt sich dem Auge anders dar als eine Frau im Hauskleid. Er war gekommen, um Lea und die Familie Römpker im Hauskleid zu sehen.

Herr von Römpker war nicht daheim, er war davongeritten, auf seine Felder oder zu Raimar oder zu einem andern Gutsnachbar – niemand wußte, wohin. Aber Ludwig, der den Gast in ein Fremdenzimmer führte, damit er sich vom Wegesstaube befreie, Ludwig meinte, zu Tisch würde der Herr gewiß zurückkommen. Wenn der Herr nicht zum Speisen heimzukehren gedenke, pflege er es zu sagen. Der Herr Landrath möge sich nachher nur gefälligst in das Wohnzimmer begeben, woselbst die gnädige Frau sich aufhalte.

Die Aussicht, mit Frau von Römpker lange im ungestörten Gegenüber sitzen zu sollen, war nicht sehr verlockend, denn bisher war es Lüdinghausen nie gelungen, in ein Gespräch mit ihr zu kommen. Indessen beeilte er sich doch, um sie nicht warten zu lassen.

Er fand im Wohnzimmer, an dem Tischchen in der Fensternische, Frau von Römpker und Fräulein Malchen.

„Mein lieber Herr Landrath, ich bin unaussprechlich unglücklich, daß mein Mann nicht daheim ist,“ sagte die erstere [342] kläglich. „Nun müssen Sie mit uns vorlieb nehmen. Ach, und wie wird Römpker ärgerlich sein!“

„Ja, Alide sagte noch eben: es ist doch zu schade, daß Römpker aus ist,“ fügte Fräulein Malchen hinzu.

Beide Damen hatten sich erhoben und umstanden ihn. Es fehlte nur noch, daß sie die Hände rangen.

Fräulein Malchen trug an ihrem magern, vorgebeugten Körper ihr bekanntes schwarzes Seidenkleid und in ihren knochigen Händen ihr Strickzeug. Frau von Römpker sah auch gerade so aus wie immer, dasselbe Spitzenhäubchen, dasselbe dunkelfarbige Seidenkleid.

Lüdinghausen bat, sich zu den Damen setzen zu dürfen. Beide fingen gleich ihre Handarbeiten wieder an, aber das befriedigende Gespräch über alle Leiden und Sorgen dieses Lebens konnten sie nicht wohl fortsetzen. Beide dachten angestrengt nach, welches Thema wohl geeignet wäre, um den Herrn Landrath zu unterhalten, der ihnen, besonders Fräulein Malchen, einen unbegrenzten Respekt einflößte. Aber es fiel ihnen nichts ein.

„Die Damen sind Jugendfreundinnen?“ fragte Lüdinghausen endlich.

Sie sahen sich glücklich an.

„Ja,“ antwortete Frau von Römpker, „wir sind zusammen aufgewachsen, und es war ein so lieber Zufall, daß Malchens Bruder gleich nach meiner Heirath hierher versetzt wurde. So brauchten wir uns nicht zu trennen.“

„Alide sagte noch vorhin, was für ein Glück es gewesen sei, daß wir uns nie zu trennen brauchten,“ bemerkte Fräulein Malchen.

Nun riefen sie sich gegenseitig ihre Jngendgeschichte wach. Diese war offenbar so einförmig wie die Stimmen, mit welchen sie vorgetragen wurde.

Draußen brütete Mittagsschwüle und an der Fensterscheibe surrte ein großer, blauer Brummer auf und ab.

Lüdinghausen war kein nervöser Mensch, aber er fing an, unter einer Ungeduld zu leiden, die er bisher nicht an sich gekannt hatte.

Wo doch nur Lea blieb? Oder wenn wenigstens Rahel gekommen wäre! Und diese „wenigstens“ kam denn auch.

Schnell und frisch trat sie herein – ein vollkommener Gegensatz zur Schwüle draußen und zur Trägheit hier innen. Sie hatte ein dunkles Perkalkleid an mit einem Ledergürtel. Man konnte sich unmöglich einfacher kleiden. An ihrem Arm trug sie ein Körbchen. Ueber ihr Gesicht flog helle Röthe und mit einem freudigen Lächeln streckte sie Lüdinghausen die Hand hin.

„Ich habe eben erst erfahren, daß Sie hier sind, und komme, nach Ihrem Wohlergehen zu schauen,“ sagte sie vergnügt. „Daß Sie verschmachtet sein müssen, nehme ich ohne weiteres an, und hier ist Ludwig mit allerlei kühlen Sachen.“

Wie auf das Stichwort erschien Ludwig zwischen den Thürvorhängen mit einem Brett voll Flaschen und Gläser. Eine thauig beschlagene kalte Flasche Rheinwein ist auch für einen wenig materiellen Menschen ein guter Anblick nach einem Ritt durch Sonnenschein und Staub. Lüdinghauseu empfand plötzlich brennenden Durst und dankte Rahel erfreut.

„O, daß ich nicht daran dachte – wie unverzeihlich von mir! Nein, wie das auch passieren konnte!“ klagte Frau von Römpker.

„Und vorhin sagte Alide noch: wir wollen doch gleich dafür sorgen, daß der Herr Landrath etwas Kühles bekommt,“ bemerkte Fräulein Malchen.

Rahel lächelte in sonniger Schelmerei: Fräulein Malchen hob immer hervor, was ihre Alide alles gesagt und gewollt hatte, das kannte man schon. Sie bediente schnell und geräuschlos den Gast.

„Mama,“ begann sie dann, „Löhnert ist wieder da.“

„Aber Kind, wie kannst Du eine solche Geschichte in Gegenwart des Herrn Landrath … Ich begreife nicht! Verzeihen Sie tausendmal, Herr Landrath,“ bat Frau von Römpker. Fräulein Malchen sah ihre Freundin nur an, um durch einen Blick anzudeuten, daß auch sie mißbillige.

„Eine Geschichte, die keinen Aufschub leidet. Sie werden gewiß begreifen und verzeihen, Herr Landrath, daß wir trotz Ihrer Gegenwart die Geschäfte des Tages verhandeln, besonders, da es sich um das Wohl und Wehe einer ganzen Familie handelt,“ sagte Rahel. Und ehe er noch eine Silbe der Höflichkeit antworten konnte, sprach sie weiter, so gleichsam über ihn hin, als sei es nebensächlich, was er sagen würde.

„Meine Meinung ist es, daß wir dem Löhnert keinen Pfennig mehr geben.“

„Aber mein Kind, wie grausam Du bist! Du hast kein Mitgefühl für die Leiden Deiner Nächsten. Wenn Lea das hörte, Lea, die jedesmal ihre ganze Börse leert, wenn man kommt und ihr klagt! Ich bitte Dich, wir können die Löhnerts doch nicht umkommen lassen. Man wird sagen, wir seien hart. Und das erzeugt Feindschaft in diesen schrecklichen Zeiten. Löhnert ist so wie so ein rabiater Mensch. Er kann unser Schloß anzünden, uns nachstellen. O Gott!“

„Alide bemerkte gerade noch vorhin, daß man bei diesen Zeitläuften doppelt gütig sein müsse,“ sagte Fräulein Malchen.

Lüdinghausen sah auf Rahels Gesicht einen harten Zug. War es Ungeduld oder Spott? Es war ein Ausdruck, vor welchem er beinahe erschrak.

„Mir scheint, wir haben für diese Löhnerts soviel gethan, daß wir sie durch dies ‚Thun‘ ins Verderben trieben. Wir haben die Wohlthaten so um sie gehäuft, daß sie darin erstickten und verlernten, sich selbst zu rühren. Wir haben mit ihnen gewissermaßen den Sport des Gutthuns betrieben,“ erwiderte Rahel.

Lüdinghausen fühlte deutlich, daß dieses „wir“ eigentlich „Ihr“ heißen sollte. Er war hoch erstaunt und keineswegs angenehm davon berührt, die „unbedeutende Rahel“ in diesem Ton reden zu hören. Ihr Gebahren erschien ihm als das rechthaberische Auftreten eines Mädchens, welches noch kein Urtheil hat und sich in Dinge mischt, über die mitzusprechen es nicht befugt ist.

„Ist es unbescheiden, daß der Zeuge nach dem Thatbestand fragt?“ sagte er.

„Sie werden ihn schlimm genug finden. Dieser Löhnert war viele Jahre Knecht bei uns, seine Frau Großmagd. Zehn Jahre hatten die Menschen uns treu und bescheiden gedient. Daß wir sie bei ihrer Heirath gut ausstatteten, war selbstverständlich. Daß ihnen eine Käthnerstelle mit sechzig Morgen Land dazu gekauft wurde, war fast zu viel, aber es hätte noch hingehen mögen, wenn diese Großmuth den Leuten nicht zu Kopf gestiegen wäre. Sie glaubten, daß ihre Verdienste um uns doch wohl sehr große gewesen sein müßten. Sie überhoben sich Gleichgestellten gegenüber durch herrisches Gebahren und wirthschafteten, als seien sie reiche Leute mit unerschöpflichen Geldquellen. Dabei fuhren wir fort, ihnen jede Bitte zu gewähren, ihnen aus jeder Verlegenheit zu helfen. Es kamen Kinder, wir standen Gevatter und sorgten für alles. Längst schien ihnen ein Recht der Forderung, was unsererseits nur Güte der Gewährung war. Endlich fing der Mann an, zu trinken und die Frau zu mißhandeln. Ihre Einsicht erwachte nun, doch zu spät. Der Konkurs stand vor der Thür. Wir wollten ein Gewese nicht so untergehen sehen, das wir gegründet. Wir halfen. Es ging von neuem der böse Tanz los. Wir halfen noch einmal. Und nun ist Löhnert zum dritten Mal da und fordert Geld. Zweihundert Thaler. Dabei riecht er nach Schnaps.“

Rahel hatte das alles mit ihrer klaren Stimme und ihrem festen Vortrag gesprochen, wie man von einer Sache spricht, über welche es keine verschiedene Meinung mehr geben kann. Die Mutter begleitete ihre Rede gelegentlich mit zustimmendem Kopfnicken und sagte jetzt weinerlich: „Aber wir können die Leute doch nicht bankerott werden lassen. Ich traute mich aus Angst vor Löhnert dann nicht mehr in den Park.“

„Was dachten Sie denn zu thun?“ fragte Lüdinghausen, der schnell von seiner Meinung zurückkam, daß Rahel kein Urtheil habe. „Sie wird von ihrer bedeutenden Schwester manches gelernt und gewonnen haben,“ dachte er.

„Ich hätte wohl einen festen Plan,“ sagte sie. Aber ihr Gesicht bekam einen versteckten Ausdruck. Was hätte es ihr geholfen, geradeheraus eine Meinung zu sagen. Richtig fiel Frau von Römpker schon ängstlich und eilig ein:

„Nein, wir dürfen nichts thun. Mein Mann ist nicht da; Rahel, so gehe und trage Lea die Sache vor!“

Rahel, immer mit dem merkwürdig verschlossenen Gesicht, ging hinaus, die Treppe hinauf und trat bei der Schwester ein. Diese ward dadurch aus allen möglichen Träumereien aufgeschreckt, denen sie sich gerade vor dem Spiegel hingegeben. Sie hatte sich [343] ihr Haar auf eine besondere Weise geordnet und dachte, wie ein Diadem sich darin ausnehmen würde.

„Ich soll Deine Meinung hören über …“

„Ach was! Mama ist sich gewiß im unklaren, ob sie einen schwarzen oder rothen Seidenflicken auf ihren Teppich nähen soll. Laßt mich doch zufrieden!“ rief Lea.

„Nicht gerade das …“

„Einerlei was. Thut, wie Ihr wollt, mir ist alles recht, oder besser, alles gleichgültig!“

Rahel schwieg ein Weilchen. Dann sagte sie noch:

„Beeile Dich doch mit Deinem Anzug! Lüdinghausen wundert sich gewiß, wo Du so lange bleibst.“

Unten trat Rahel ganz sicher ein, als habe sie den ausführlichsten Bescheid bekommen.

„Ich habe mit Lea gesprochen. Wie werden es also folgendermaßen machen: die Schulden werden bezahlt, aber die Gütergemeinschaft zwischen den Eheleuten wird aufgehoben, das Gewese der Frau zugeschrieben und im Kreisblatt bekannt gemacht, daß der Mann weder das Recht hat, zu kaufen noch zu verkaufen. So ist er völlig abhängig von ihr, hat kein Geld zum Trinken mehr und kann Frau und Kinder nicht abermals ins Elend bringen. Giebt er dann durch Mißhandlung der Seinen oder dergleichen Grund zur Klage, so wendet man sich endlich an die Behörde. Lea ist es so recht,“ schloß das Mädchen.

Das schelmische Lächeln war wieder auf ihren Lippen und Lüdinghausen vergaß den herben Eindruck von vorhin. Wie gut sie wiederzugeben wußte, was Lea ihr gesagt! Und welche verständige Klarheit Lea in solchen Dingen hatte! Das nannte er zugleich barmherzig und gerecht entscheiden. Abermals fühlte er, daß seine Wahl die rechte sei.

Frau von Römpker lächelte Fräulein Malchen zu. Sie war sehr stolz auf ihre kluge und willensstarke Tochter Lea und begriff nur dies eine nicht, wie sie, Alide von Römpker, gerade zu solchem Kinde kam.

„Wenn Lea so entschieden hat, wird Papa gewiß derselben Meinung sein. Glaubst Du, daß wir ohne Bedenken Löhnert diesen Bescheid geben können?“ fragte sie.

„Gewiß! Um so mehr, als ich das Geld gerade liegen habe,“ sagte Rahel munter. Sie fühlte sich sehr glücklich und voll heimlichen Stolzes, hier die ersten guten Früchte ihrer Sparsamkeit zu ernten. Sie konnte ohne Besinnen und Zögern die Existenz einer Frau und mehrerer Kinder retten, während sonst lange Verhandlungen mit dem Papa nothwendig gewesen wären, der vielleicht bei seiner stets knappen Kasse noch obendrein diese Hilfe verweigert hätte.

Frau von Römpker sah ihre Tochter fassungslos an.

„Geld? Du? So viel? Woher?“ fragte sie.

Rahel lachte.

„Gespart,“ sagte sie geheimnißvoll und heiter. „Also, ich gehe hinaus zu dem Löhnert.“

„Darf ich mitgehen?“ fragte Lüdinghausen. „Dieser Löhnert – ich kenne ihn wohl – ist ein roher Mensch.“

„Stehen Sie mir immerhin mit Ihrer landräthlichen Würde zur Seite,“ sprach sie, „wenn ich auch gewiß bin, keines Schutzes zu bedürfen.“

Sie ging voran. Auf dem großen Flur, welcher sein Licht durch die beiden Fenster rechts und links vom Portal erhielt, saß auf einem der rings an den Wänden gereihten Rohrstühle ein Mann, der sich unsicher erhob, als Rahel erschien.

Der Mann war groß, trug sich etwas gebückt, hatte ein braunrothes Gesicht, bartlos und voll tiefer Falten. Unter seiner vorgeneigten Stirn schimmerten die Augen in schwimmendem Glanz. Er drehte eine schlechte Mütze in den Fäusten, seine blaue gestrickte Jacke war an den Ellbogen zerrissen. Er sah scheu auf das Fräulein und den neben ihr stehenden Landrath.

Er hatte keine Hilfe für sein Elend mehr erwartet. Er war nur gekommen, weil seine Frau ihn hergetrieben hatte. Die Herrschaft hatte ja schon so viel gegeben, es war undenkbar, daß sie noch mehr that. Und ihm war’s auch ganz egal. Bankerott oder nicht. Käthner oder Tagelöhner – der Schnaps schmeckt so oder so gleich gut.

Daß der Herr Landrath mit dabei stand, war sehr widerwärtig. Der predigte ihm sicherlich noch etwas Moralisches vor. Und Geld gaben sie doch nicht.

„Löhner,“ begann Rahel, „wir wollen Ihnen, Ihrer armen Frau wegen, noch einmal helfen.“

Er schrak zusammen, richtete sich etwas auf und starrte Rahel blöde an. Auf seinem Gesicht begann aber, als er zu verstehen anfing, allerlei zu wetterleuchten: böse Gedanken, Trotz, Wuth über die Abhängigkeit, zu welcher er verdammt sein sollte, die Unfähigkeit, das Gute in dieser Maßregel einzusehen, das Tasten nach einem ihm begreiflichen Grund dafür und endlich das Aufblitzen einer ganz niedrigen, häßlichen Erklärung.

Als Rahel endete: „Also schicken Sie Ihre Frau nur her, damit wir mit ihr alles abmachen,“ brach der Mann in ein Lachen aus.

„Wir sollen noch ’mal aus der Patsche kommen,“ sagte er höhnisch, „das ist ja über Erwarten. Und wegen meiner Frau? Na, wenn der Herr soviel für meine Frau thut, wird der Herr auch wohl seine guten Gründe dafür haben und ich bin am Ende dazumal bloß der Dumme gewesen. Aber jetzt will ich der Kluge sein, und entweder ich krieg’ das Geld oder die Karre kann im Schmutz stecken bleiben.“

Lüdinghausen stand wie auf Kohlen. Er fühlte, daß sein Gesicht sich mit dunkler Röthe bedeckte, weil man in seiner Gegenwart das Zartgefühl eines jungen Mädchens beleidigte. Er wagte nicht, Rahel anzusehen. Aber als er ihre klare, ruhige Stimme hörte, sah er doch in ihr Angesicht und erkannte, daß es völlig unbefangen und verständnißlos rein geblieben war.

„Mir scheint, Sie haben wieder getrunken,“ sagte Rahel und schüttelte den Kopf zu den sinnlosen Reden, die er führte.

„Man wird Sie gar nicht fragen, ob Sie wollen oder nicht,“ rief Lüdinghausen streng. „Ich werde die Sache in die Hand nehmen und nach dem Wunsch der gütigen Damen ordnen. Gehen Sie jetzt und hüten Sie sich, daß man Sie im trunkenen Zustand irgendwo betrifft.“

„Mir hat keiner was zu verbieten – und den Landrath geht es nichts an, wenn ich mal einen kippe,“ knurrte Löhnert und ging mit schlürfenden Schritten der Thür zu. „Und Herr von Römpker muß zahlen. Ja, das muß er. Ja, das muß er!“

Er wiederholte das Wort noch mehrmals, und noch als die Thür von draußen wieder zufiel, hörte man sein murrend schwerfälliges: „Ja – das muß er!“

„Man lernt doch auf dem Lande allerlei kennen, wovon die jungen Damen in der Stadt keine Ahnung haben,“ sagte Rahel und schaute ernst auf die wieder geschlossenen Thür. „So viel von den Rohheiten und Unbarmherzigkeiten des Lebens. Dieser Mann wird nun heimgehen und seine Frau in Gegenwart seiner Kinder schlagen. Und er wird faul auf der Ofenbank sitzen, während seine zarten Kinder graben, Wasser tragen, Kühe melken und alle möglichen anderen Arbeiten thun, welche ihr Wachsthum verhindern und ihnen die Freude der Jugend rauben. Es wird immer so viel von der Kinderarbeit in den Fabriken geredet, warum denn nie von den Kindern auf dem Lande? Aber den kleinen Löhnert, der mein Pathe ist, nehme ich mir ins Schloß, der soll mir nicht verkümmern. Das ist doch meine Pflicht und zum Glück hier mein Recht, für dies eine Kind einzutreten.“

So kam sie, ganz weiblich, von ihrer allgemeinen Bemerkung auf ihren besonderen Einzelfall zurück.

Lüdinghausen fühlte sich von ihrer Rede unbeschreiblich angenehm berührt. Gerade so war seine Mutter gewesen. Das Allgemeine, Große war ihr nicht entgangen, sie hatte sich auf ihre Art und nach dem Maß ihres weiblichen Verständnisses für alle Fragen der Volkswirthschaft interessirt, sich gern und begierig darüber belehren lassen, aber hatte alles in ihrem kleineren Pflichtenkreis zur Nutzanwendung gebracht, ohne sich in Erörterungen einzulassen.

„Wie gut,“ dachte er, „daß mir die Schwester meiner Zukünftigen so sehr zusagt! Das ist nicht gleichgültig – o, gar nicht, denn die Familie meiner Frau ist auch meine Familie.“

Er begann, als Antwort auf Rahels Bemerkung, von seiner Heimath zu sprechen und ihr von all den Maßnahmen zu erzählen, welche seine Eltern in Laufe der Jahre für die Kinder der Bergleute und Tagelöhner getroffen hätten. Er schilderte sehr beredt die Wirksamkeit seiner Mutter, und sein ernstes, kaltes Gesicht bekam dabei einen Schimmer von Wärme, der seine Züge sehr schön machte. — —

Unterdessen fing Lea oben an, sich ein wenig zu beeilen. Ihr war natürlich völlig klar, weshalb Lüdinghausen heute einen [344] Tag so in ihrem engsten Familienkreis verleben wollte. Sie fand das unaussprechlich schwerfällig.

„Es fehlt nur, daß er endlich, wie der Freier im bürgerlichen Lustspiel, in Frack, weißen Handschuhen und den Strauß zwischen den Fingern bei uns vorfährt,“ dachte sie spöttisch, während sie ihr Kleid mit einer Schmucknadel schloß.

Nach einem lange prüfenden Blick fand sie diese Nadel zu groß, nicht einfach und deshalb nicht elegant genug, und während sie eine andere suchte, dachte sie, daß man „ihm“ das Spießbürgerliche schon abgewöhnen könne, daß der schwarze Frack sich mit Orden bedecken werde und daß er selbst in seiner Pedanterie nicht der Mann sei, über den außer ihr irgend ein Mensch zu lächeln wagen werde. Sie dachte es sich doch sehr großartig, an seiner Seite als Herrin in seinem Reich zu walten. Das war eine Lebensstellung voll fürstlicher Hoheit. Aber den Staatsdienst durfte er nicht aufgeben, er würde zweifelsohne sehr rasch steigen.

Und wenn sie dann draußen in der großen, glänzenden Welt Robert Clairon begegnete! Wie sie beide leiden würden in ihrer unglücklichen und nie endenden Liebe! Sie, die gefeierte Gattin des großen Lüdinghausen, war im Herzen gleichgültig gegen allen Glanz und dachte auch dann nur an den armen, einsamen, unvermählt gebliebenen Clairon.

Plötzlich kamen ihre Gedanken von der noch fernen Zeit etwas vernünftiger auf die nächste. Ziel und Ende waren nicht zu erreichen ohne den Weg dahin. Um Lüdinghausens Gattin zu werden, mußte sie sich zunächst mit ihm verloben, vielleicht heute noch und morgen dann schon dem Geliebten begegnen.

Ihr Herz begann so stark zu schlagen, daß es ihr dunkel vor den Augen wurde. Sie kämpfte einen Schwächeanfall nieder, und aus ihren Träumereien verfiel sie jäh in eine kalte Entschlossenheit.

„Das darf nicht sein,“ sagte sie sich. „Lüdinghausen darf nicht zu Wort kommen, so lange Robert noch hier ist. Die nächste Woche beginnen die Regiments- und Brigadeexerzitien – dann geht Robert ins Manöver. Heute will ich ihm schon entschlüpfen. Und morgen und alle Tage soll das Haus voll von Gästen sein.“

Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und schrieb einige Zeilen an Clairon:

„Unser Schicksal naht sich einer Entscheidung. Stehe mir in diesen schweren Tagen durch Deine Gegenwart bei. Laß mich nicht allein mit L., ich fühle, daß er einen Antrag plant. Und kann, darf ich vernünftigerweise Nein sagen? Hilf mir, mich recht zu entscheiden! Bringe von den Bekannten mit, wen Du auftreiben kannst! Ich erwarte Dich morgen gegen Abend.
Deine Lea.“ 

Sie steckte diesen Brief in ihre Kleidertasche und war dann in zwei Minuten unten. Auf dem Flur fand sie Rahel mit Lüdinghausen in ihrem ernsten Gespräch einträchtig auf- und abgehen.

„Löst Ihr die soziale Frage?“ rief sie lachend.

„Annähernd,“ sagte Rahel.

„Es wäre nicht so übel, sie in Frauenhände zu geben, wenn alle so glücklich und so klug im Zugreifen und Ordnen wären wie Sie und Ihre Schwester,“ erklärte Lüdinghausen.

„Er bemerkt nicht, daß ich mich umgekleidet habe,“ sagte sich Lea, die immer gleich herausfühlte, ob man ein Auge für ihre Erscheinung hatte oder nicht.

„Denn über die Sache ‚Löhnert‘ haben Sie vortrefflich entschieden,“ fuhr er fort.

„Löhnert? Ich? Wieso?“ fragte Lea erstaunt.

„Aber ich bitte Dich – Du weißt doch – Löhnert mit seinen ewigen Geldschwierigkeiten,“ sagte Rahel, in große Verlegenheit gerathend.

„War der wieder einmal hier?“ fragte die Schwester gleichgültig. „Was habt Ihr denn mit ihm gemacht?“

„Das, was Sie befohlen haben,“ rief Lüdinghausen schnell, aber er sah Rahel groß an.

„Ich – befohlen? Ich weiß von nichts.“

Rahel lachte und ward dunkelroth. Lüdinghausen begriff.

„Mein Gott,“ dachte er beunruhigt, „diese Rahel regiert im Namen ihrer Schwester das ganze Haus.“

Zahllose kleine Züge fielen ihm ein, die er sonst wohl beobachtet, aber nicht des Nachdenkens für werth gehalten hatte. Ja, gewiß, Rahel gab immer Lea vor und beherrschte mit ihrem Willen die Eltern sowie das ganze Hauswesen. War das stille Herrschsucht, die sich so hinterlistig klug versteckte? Oder war diese verständig lenkende Hand hier nöthig und war es angeborene Bescheidenheit, daß sie so im Verborgenen waltete?

Während dieser seiner grübelnden Gedanken erzählte Rahel der Schwester den Hergang.

Lea fand die Geschichte sehr nett, besonders komisch aber fand sie es, daß Rahel zweihundert Thaler bereit liegen hatte.

„Sie macht ‚Schmugroschen‘ vom Haushaltungsgeld,“ rief sie und lachte unbändig. „Schmugroschen! Wissen Sie, was das ist, Lüdinghausen? Das thun die Köchinnen auch.“

Lüdinghausen fühlte einen kurzen, heftigen Aerger, der fast einem Schmerz glich – er wußte nicht, gegen welche der Schwestern. Es war ihm peinlich, daß die eine die andere auslachte wegen der nützlichen Sparsamkeit, und es war ihm mehr als peinlich, daß die vermeintliche nützliche Sparsamkeit vielleicht den Charakter dienstbotenartiger Durchsteckereien haben könne.

Rahel schossen Thränen in die Augen. Sie ging schnell und wortlos davon.

„Sie haben Fräulein Rahel gekränkt,“ sagte er mit bebender Stimme.

„O, das thut mir sehr leid,“ erwiderte Lea mit so einfacher und schöner Betonung, daß er ganz entwaffnet war.

„Sie lieben sich sehr?“

„Unaussprechlich. Und Rahel ist so ein Wesen – die könnte in den Tod gehen für mich,“ sagte Lea in ihrer pathetischen Art. Sie hatte nie daran gedacht, wie ergeben und selbstlos Rahel ihr gegenüber immer war; in diesem Augenblicke aber war ihr das ernste Ueberzeugung, welche sich daneben mit dem unbewußten Gefühl verband, daß es einen schönen Eindruck mache, wenn sie so warm von der Schwester spreche.

Lüdinghausen küßte Lea die Hand. Er war ganz stumm. Eine unerklärliche Bewegung hatte sich seiner bemächtigt.

Jetzt kam Herr von Römpker nach Hause. Er war außer sich vor Vergnügen über den Besuch „seines lieben Freundes“ Lüdinghausen. Fast umarmte er ihn. Lüdinghausen hätte blind und taub sein müssen, nicht zu bemerken, wie er in diesem Hause willkommen war. Römpker nahm den Gast mit in seine Stube und that überhaupt, als hätte Lüdinghausen schon ein Recht, sich hier heimisch zu fühlen.

Lea suchte Ludwig auf und stellte ihn in einem dämmerigen Gang des Erdgeschosses, wo er eben einen Arm voll Flaschen aus dem Weinkeller nach der Anrichtkammer trug. Ludwig lächelte sie strahlend an. Er schwärmte für sein Fräulein und fühlte sich ihm bei allem Respekt doch recht vertraulich nahe in seiner Stellung.

„Wollen und können Sie diesen Brief heute noch besorgen?“ fragte Lea und deutete mit dem Zeigefinger auf ihre Tasche, was für Ludwig verständlich genug hieß, daß ein Brief für den Grafen Clairon darin sei.

„In jedem Fall. Und sei es in der Nacht,“ erwiderte Ludwig, die Flaschen enger an seine Weste drückend, als bekräftige er damit das Versprechen.

„Sie sind ein vortrefflicher Mensch, Ludwig,“ sagte sie und lächelte ihn an, so, wie es ihr eine Nothwendigkeit war, jeden anzulächeln, im unbewußten Wunsch, immer zu bezaubern.

Dann ging sie in bester Laune wieder hinauf und war bei Tisch der Mittelpunkt der muntersten Unterhaltung.

Lüdinghausen fühlte sich allen Anwesenden in der That bei diesem Mahle schon sehr nahe. Ihm war, als übersähe er Menschen und Verhältnisse schon klarer, und er beobachtete freier. Er begriff jetzt nicht, daß er Rahels Stellung zwischen den Ihrigen so lange verkannt, und daß er sie überhaupt für eine so nebensächliche Person hatte halten können. Er versuchte, sich in knappen Formeln den Unterschied zwischen den beiden Schwestern festzustellen.

„Leas Augen sagen: ich möchte! diejenigen von Rahel: ich will!“

Er bewies sich, daß es für einen Mann reizvoller sein müsse, viel Wünschen, als viel Willen zu begegnen.

Und auf einmal kam ihm die Erkenntniß, worüber er ein Lächeln des Vergnügens unterdrücken mußte, daß es ihm heute ja sehr wunderlich ergehe: er war ausgezogen, Lea besser kennenzulernen, und gewann Einblicke in Rahels Wesen.

[346] Daneben begleitete ihn der eine Gedanke, daß die Familie heute von ihm mit Recht eine Aussprache erwarte und daß er ohne ein entscheidendes Wort nicht gehen dürfe. Wohl bemerkte er, daß Lea ihm zu entschlüpfen suchte, aber das fand er sehr weiblich.

Lea hatte auf eines nicht gerechnet, auf das Interesse ihres Vaters an dieser Verlobung. Er war wie ein Kind, welchem man ein neues Spielzeug oder ein Vergnügen versprochen hat: er wollte schnell haben, was das Geschick ihm zu verheißen schien. So kam er denn Lüdinghausen auf allen Wegen entgegen. Er sprach sogar von dessen Vater und lud ihn durch den Sohn nach Römpkerhof ein. Und dies Entgegenkommen war so heiter, so glücklich und zugleich so selbstverständlich sicher in dem Bewußtsein, daß er, Römpker, den andern nur dadurch ehre, daß Lüdinghausen in der That davon beglückt wurde.

Nach dem Abendessen, als die beiden Herren noch in Römpkers Zimmer eine Cigarre zusammen rauchten, legte Herr von Römpker mit einem charmanten und nachsichtigen Lächeln dem schwerfälligen Bewerber denn auch das entscheidende Wort in den Mund.

Lüdinghausen fragte, ob er morgen kommen und um Fräulein Leas Hand anhalten dürfe.

Von so steifen Feierlichkeiten war aber Römpker kein Freund, am wenigsten bei einer Angelegenheit, welche sein väterliches Gemüth so bewegte. Er zerdrückte eine Thräne, umarmte den künftigen Schwiegersohn, verglich sich mit Wodan, der Brunhilde lassen mußte, und sang „leb’ wohl, du mein schönes, mein herrliches Kind“. Uebermuth und Rührung überwältigten ihn zugleich. Das alles war Lüdinghausen an einem fünfzigjährigen Mann sehr neu, aber er konnte sich dem liebenswürdigen Eindruck nicht entziehen.

Also von einer steifen Werbung wollte Papa Römpker nichts wissen. Er klingelte, ließ Lea rufen und machte in der Zwischenzeit Pläne, daß man auf morgen abend die nächsten Freunde zu Tische bitten und ihnen die Verlobung mittheilen wolle.

Lea erschien. Sie hatte bei der Mutter und Rahel gesessen, nachdem Fräulein Malchen sich eben mit schwerem Herzen und vielsagenden Seufzern und Händedrücken aus der spannenden Situation losgerissen hatte. Die Arme wurde in die Stadt zurückbefördert, ohne die Entscheidung zu erfahren.

Lea war sehr blaß geworden bei der Botschaft, daß ihr Papa sie bitten lasse. Sie stand zögernd auf der Schwelle. Mit heiserer Stimme fragte sie:

„Du wünschest, Papa?“

„Ich nichts. Aber hier dieser da, unser vortrefflicher Lüdinghausen wünscht viel – nicht mehr wie alles,“ sagte er mit einem Gesicht voll vergnüglicher Schelmerei.

„Mein gnädiges Fräulein,“ begann Lüdinghausen, „ich habe mir die Ehre gegeben, um Ihre Hand bei Ihrem Herrn Vater zu bitten, und ich wage, mich der Hoffnung hinzugeben, daß Sie mich genug achten, mir innig genug gesinnt sind, um mir Ihr Leben anzuvertrauen.“

Auch er war sehr bleich. Trotz der sehr förmlichen Art seines Antrags klang seine Stimme männlich und feierlich, und es durchschauerte Lea bänglich. Dieser Mann, den sie bisher nur als eine Ziffer für ihre Daseinsrechnung betrachtet hatte, flößte ihr urplötzlich so etwas wie Furcht ein.

Es begann in ihren Ohren zu sausen, so stieg ihr alles Blut zum Kopf empor. Sie fühlte einen Schwindelanfall und ihre Gestalt kam ins Wanken. Nur mit übermenschlicher Gewalt faßte sie sich und streckte, vorerst noch wortlos, ihre Hand hin.

Lüdinghausen sah wohl, welche Erschütterung sie durchbebte, und fühlte sich in seinem Innersten davon ergriffen. Er konnte nur die eine, ihm natürliche Auslegung dafür haben, daß Lea, die ihn liebte, von der Gewißheit des Glücks überwältigt sei.

Er küßte ihre Hand, lange, innig und fast voll Ehrfurcht. Alle zarten und feinen Empfindungen seiner Seele vereinigten sich zu einem Gefühl von Dankbarkeit für die, welche sich so bereit zeigte, ihm ihr ganzes Sein hinzugeben.

Herr von Römpker war ganz fassungslos vor Rührung über diese Scene und machte ihr ein Ende, indem er die beiden Stummen nacheinander umarmte. Zärtliche Gebärden hatte er bei jeder Gelegenheit schnell bereit.

Lüdinghausen fühlte, daß er etwas sagen müsse.

„Ich hoffe, theure Lea, daß die Zukunft Ihr Vertrauen rechtfertigen und Sie es nie bereuen lassen wird. Mein Vater wird gleich mir bemüht sein, Sie auf Händen zu tragen. Und ich darf hoffen, daß die äußeren Lebensverhältnisse, welche wir Ihnen bieten dürfen, Ihren Anforderungen ganz genügen können.“

Da streckte Lea ihm beide Hände hin und sagte mit ihrem bezauberndsten Lächeln:

„Ich heirathe nicht den reichen Mann – ich heirathe den bedeutenden.“

Sie hatte sich ganz wiedergefunden.

„Ja, ja,“ rief Herr von Römpker, „sie hat es immer gesagt, sie wolle nur einen Gatten, der alle überragt.“

Lüdinghausen sah Lea ernst und groß an.

„So bin ich Ihnen sehr viel für die Zukunft schuldig,“ sprach er langsam, „denn noch habe ich mir in keiner Weise irgend eine auszeichnende Meinung verdient.“

„Ich glaube an Sie,“ sagte Lea mit besonderem Ausdruck.

Lüdinghausen bekam Herzklopfen und der Wunsch wallte in ihm auf, sie zu küssen.

„Aber nun zu Mama und Rahel!“ rief Herr von Römpker.

Lüdinghausen erschrak und ein großes Unbehagen erfaßte ihn. Vor andern als Bräutigam aufzutreten, das war ein zwangvoller Gedanke. Und gar vor Rahel, die ihn wohl mit ihren klaren Augen darauf ansehen würde, ob auch er als Familienmitglied sich ihrer heimlichen Herrschsucht beugen möchte.

„Darf ich mich verabschieden und diese Begrüßung bis morgen aufsparen?“ fragte er hastig. „Nennen Sie es meinetwegen die Pedanterie eines zu zärtlichen Sohnes, aber ich möchte erst meinen Vater benachrichtigen, erst ihm mein Glück mittheilen, ehe ich, außer mit Ihnen, mit irgend jemand davon spreche.“

Herr von Römpker war in der guten Laune, alles zu verstehen. Von dem Bedürfniß, in solcher entscheidungsvollen Stunde die Gattin und Mutter ans Herz zu ziehen, fühlten weder er noch Lea etwas.

Und so, nachdem er sehr feierlich von Lea Abschied genommen hatte, verließ Erasmus Lüdinghausen Römpkerhof als der Verlobte der ältesten Tochter. Während er durch die Sommernacht heimritt, wunderte er sich immerfort, daß keine völlige Umwälzung mit ihm vorgegangen, daß außer dem ruhigen, feierlichen Ernst, den eine so wichtige Entscheidung immer hervorbringt, kein neues, kein himmelstürmendes Gefühl in seiner Seele war.

Sein Lieben – wenn das Lieben war – und sein Werben hatte so programmgemäß stattgefunden, wie er es für sich immer nur erwartet hatte. Und das gab ihm ein Sicherheitsgefühl sondergleichen.

[357]
6.

Herr von Römpker theilte seiner Frau die Verlobung mit, Lea gönnte Rahel so nebenher ein Wort davon. Als die beiden Schwestern in ihrem gemeinsamen Zimmer noch beschäftigt waren, dachte Rahel traurig: „Ob sie mir wohl noch sagen wird, weshalb Papa sie rufen ließ?“

„Donnert es nicht?“ fragte Lea und trat an das Fenster.

„Ich habe nichts gehört.“

„Es wäre sehr unangenehm, wenn das Wetter morgen schlecht wäre.“

„Weshalb gerade morgen?“

Lea guckte mit Wichtigkeit in die schwarze Nacht hinaus, sah aber nichts als auf der blanken Fensterscheibe die Spiegelung ihres eigenen blassen Gesichts und die Gestalt der Schwester hinter sich im Zimmer.

„Vielleicht wird Papa auf morgen Gäste laden. Ich habe mich vorhin mit Lüdinghausen verlobt,“ sagte Lea.

Sie wagte doch nicht, sich unbefangen wieder umzudrehen. Aber da fühlte sie sich schon von zwei festen Händen an den Schultern erfaßt.

„So sind die Würfel gefallen? Schon jetzt? Bist Du glücklich? Liebst Du ihn? Begreifst Du die Größe Deines Glücks und Deiner Pflichten?“ fragte Rahel.

Lea sah sie ein wenig hochmüthig an.

„Du weißt recht gut, liebes Kind,“ sagte sie in einem weltweisen Ton, „daß dies zunächst eine Vernunftheirath ist. Aber ich leugne nicht, daß Lüdinghausens Persönlichkeit mir den Entschluß leicht gemacht hat und daß er mir sehr sympathisch ist.“

Rahel fiel ihr um den Hals. Ihre Thränen brachen hervor, sie konnte sich gar nicht fassen.

„So liebst Du Clairon nicht mehr? So war jene Leidenschaft nur eine täuschende Aufwallung? Und Du beginnst, den andern zu lieben? O, er verdient auch, daß neben ihm sein Weib keinen andern Gedanken hat. Vergieb mir, Lea, ich habe in letzter Zeit oft Zweifel an Dir gehegt, ich sah Deine einsamen Wege und dachte, Du treffest Clairon. Und ich sah, daß Du ihm entgegenkamst, und begriff meine Schwester nicht mehr. Vergieb mir! Sage mir, daß zwischen Dir und Clairon alles aus ist und daß Du eine glückliche Braut sein wirst.“

Lea war leichenblaß geworden. Ein böser Zug kam in ihr Gesicht.

„Sei doch nicht so dramatisch und so überspannt,“ sagte sie wie angewidert.

Allen Menschen, die selbst zum Ueberschwang in Ton und Gebärden neigen, ist solcher Ueberschwang bei andern lästig, vielleicht weil sie ihr Spiegelbild sehen, vielleicht weil sie selbst jenen Aufwand oft um nichtiger Ursache willen machen und daher aus eigener Erkenntniß jede Erregung für übertrieben oder gar für unecht halten.

[358] Und nun obendrein derartige Reden aus dem Munde der nüchternen Rahel!

Aber diese schroffe Abweisung hatte eine sehr unerwartete Wirkung. Anstatt, wie es ihr sonst wohl eigen war, in gekränktem Stolz oder mit einem letzten ruhig entschiedenen Tadelswort sich still zurückzuziehen, richtete Rahel sich auf, trat von der Schwester zurück und sagte:

„Wenn Du meine schwesterliche Liebe und Theilnahme in dieser Stunde als überspannt empfindest, will ich sie Dir nicht aufdrängen. Aber ich frage Dich noch einmal, ob zwischen Dir und Clairon längst alles aus ist und ob Du mit einem ehrlichen Gewissen Deine Hand dem andern geben kannst?“

Lea zitterte. Sie dachte daran, daß Clairon morgen kommen und daß man sie in seiner Gegenwart als Braut des andern feiern würde. Litt sie nicht schon genug? Mußte die Schwester mit ihrer unzarten Hand auch noch an diese Wunden fassen? Schmerz und Trotz verführten sie, zu erwidern:

„Mische Dich doch nicht in Dinge, die Dich nichts angehen!“

„Es geht mich wohl sehr viel an,“ rief Rahel schmerzlich, „wenn ich die Meinigen unehrlich handeln sehe. Ja es ist die Pflicht des Klarblickenden, die Verblendeten zu retten. Du und Papa, Ihr werdet mir dafür danken, wenn Ihr zur Besinnung gekommen seid. Ich werde es nicht zugeben, daß Du Lüdinghausen heirathest, wenn Du Clairon noch liebst. Das ist Deiner unwürdig. Du befleckst Deine Frauen- und Deine Familienehre. Und wenn Du das nicht begreifst und Papa das nicht fühlt, so bin ich da, für Euch zu wachen.“

Lea war sprachlos vor Schreck. So viel „hellen Wahnsinn“ hatte sie ihrer Schwester gar nicht zugetraut. Rahel nahm ja einen geradezu drohenden Ton an. Welche Wandlungen konnten denn in ihr vorgegangen sein, daß sie es wagte, so gegen ihre Schwester aufzutreten?

Endlich fand sie ihren halb nachsichtigen, halb überlegenen Ton gegen die Schwester wieder:

„Du erregst Dich völlig unnütz,“ sagte sie, „zwischen Clairon und mir ist alles aus. Ich habe das überwunden und denke, noch einmal sehr glücklich mit Lüdinghausen zu werden.“

„Er verdient es! Er verdient es!“ rief Rahel. Sie war augenblicklich erweicht und glaubte der Schwester.

Zu Leas Erleichterung dröhnte jetzt ein Donnerschlag durch die Nacht und riß Rahel aus ihrer Rührung. In den Parkbäumen rauschte der schnell einherfegende Wind.

Die Schwestern horchten hinaus und beriethen, ob sie wieder hinuntergehen oder ihr Bett aufsuchen sollten. Indessen begann ein heftiger Regen und der nächste Donner klang schon ferner; so gingen sie zu Bett.

Rahel lag fast die ganze Nacht wachend. Sie war von heißen Wünschen bewegt für das Glück ihrer Schwester, und gerade so zuversichtlich, wie sie einst von Clairon gedacht: er wird sie leiten, gerade so vertrauensvoll glaubte sie nun: Lüdinghausen ist der beste Gatte für sie. Alles, was sich begab, wandte sie in ihrem Kopf so lange hin und her, bis sie eine heilbringende Seite für ihre Schwester daran entdeckte. Sie dankte Gott, daß Lea Clairon nicht mehr liebe. Denn das fühlte sie merkwürdig fest und klar in sich: sie – Rahel – würde es niemals zugegeben haben, daß Lüdinghausen das Opfer einer Lüge werde, und daß Lea sich mit einer Lüge beflecke.

Wie sie das hätte verhindern wollen, darüber dachte sie jetzt nicht nach: das Geschick hatte ihr ja alle weiteren Kämpfe erspart.

Sie lächelte in wehmüthiger Freude. Es war auch nur zu natürlich, daß Lea den Grafen über ihm vergessen, und ebenso natürlich, daß er sich in ihre schöne, geistvolle, herrliche Lea verliebt hatte!

Und dann fiel ihr ein, daß man die Feierstunden des nächsten Tages doch nicht entweihen sollte durch eine lärmende Gesellschaft. Sie wollte es schon durchsetzen, daß nur Raimar geholt werde. Und geschäftig dachte sie sich aus, daß sie morgen recht früh aufstehen müsse, um Lea einen Rosenstrauß an ihr Bett zu bringen. Dazu rauschte der Regen andauernd auf die Blätterfülle der Linden vor dem Fenster nieder, eintönig, immerzu, immerzu, bis er mit seinem raunenden Geräusch das Mädchen einschläferte. – –

Am nächsten Morgen war das ganze Schloß in ersichtlicher Aufregung. Jeder wußte, daß Fräulein Lea sich heute verloben werde. Die Dienerschaft rieth einstimmig bis auf Ludwig, daß der Landrath der Bräutigam sei. Ludwig, der im Morgengrauen den Brief an den Lieutenant besorgt hatte, glaubte es besser zu wissen und lächelte hochmüthig zu dem Gerede der anderen, das er mit geheimnißvollen Andeutungen bestritt.

Frau von Römpker weinte viel und brach fast zusammen unter der Vorstellung von all den schwierigen Pflichten, welche ihrer nun als Brautmutter harrten. Herr von Römpker war seelenvergnügt. Er brannte vor Begierde nach dem alten Lüdinghausen, den der junge telegraphisch herbeirufen wollte, malte sich die dicke Freundschaft aus, die ihn mit jenem verbinden würde, sprach davon, nach Schlesien zu reisen, und sah die Lüdinghausenschen Besitzungen schon als sein Miteigenthum an. Er würde zur Jagd hinreisen und man müßte freundschaftlich vereinbaren, wann man sich auf Römpkerhof, wann in Schlesien vergnügen wollte.

Rahel hatte den Papa bestimmt, die Gesellschaft aufzuschieben, bis der alte Lüdinghausen angekommen sei; aber Onkel Raimar war durch einen reitenden Boten für den Abend gebeten. Rahel hatte rothe Wangen und leuchtende Augen und lief im ganzen Schloß geschäftig umher. Alles mußte imstande sein, alle Vorräthe mußten ergänzt, der Plan für die Verlobungsfeier genau durchgesprochen werden.

Lea war erschreckend bleich und saß thatenlos am Fenster, in den Regentag hinausstarrend. Sie hatte schon in der Nacht vergebens gesonnen, wie sie Clairon von dem Geschehenen Kunde geben könne. Ludwig zu sprechen, konnte sie nicht wagen, denn Rahel war überall und nirgend. Und es war ihr doch eine seltsame Beklemmung im Herzen zurückgeblieben nach dem kräftigen Auftreten der Schwester. Eine stumpfe Ergebung hatte sich endlich ihrer bemächtigt.

„Es muß überstanden werden,“ sagte sie sich, „Clairon wird Haltung bewahren, das ist er mir und sich schuldig. Und besser, wir ertragen das gleich heute.“ –

Clairon war im Dienst, als Ludwig den Brief bei ihm abgab. Erst gegen Mittag kam er heim, durchnäßt bis auf die Haut, übermüdet und sehr verstimmt. Er hatte nur das rein körperliche Bedürfniß, sich trocken anzuziehen und zu schlafen. Leas Schriftzüge auf dem Briefumschlag erweckten ihm in diesem Augenblick Mißbehagen. Er kannte den Inhalt ihrer Zeilen im voraus. Ein ganzes Bündel solcher Briefe ruhte schon in seinem Schreibtisch; sie waren stets voll von leidenschaftlicher Reue nach heftigen Auftritten, wie sie einen solchen gestern vormittag wieder im Walde erlebt hatten.

Diese Liebe voll Unruhe, Zorn, Verlangen und Jammer rieb ihn auf. Sein ganzes Wesen neigte sich noch immer Lea zu, vielleicht sogar in erhöhter Leidenschaft, aber er sagte sich seit langer Zeit, daß es seine Mannespflicht sei, eine Entscheidung herbeizuführen. Leas Benehmen gegen Lüdinghausen erregte seinen grenzenlosen Zorn, er verzehrte sich vor Eifersucht und glaubte doch, daß er ihre Entschließungen nicht beeinflussen dürfe. Wenn er auch noch immer eine Heirath mit ihr als recht schwer zu erreichen und als eine viele Opfer fordernde Sache ansah, so gewöhnten sich seine Vorstellungen doch mehr und mehr daran. Er spielte bereits mit dem Gedanken, den Dienst aufzugeben und als Schwiegersohn mit auf Römpkerhof zu wohnen, was niemand auffallen würde, da Römpker keinen Sohn hatte.

Lea freilich fand das alles bis jetzt noch „pauvre“ und unter ihrer beider Würde. Aber Clairon war der Ueberzeugung, daß eine zeitweilige Trennung von ihm ihr erst recht die Gewalt ihrer Liebe klar machen werde, und wenn er hie und da doch wieder zweifelte, ob er sie je erringen könne, in seinem geheimsten Innern hielt er es für völlig unmöglich, daß sie mit Lüdinghausen Ernst machen werde.

So sah er dem Manöver mit Ungeduld entgegen. Er ließ sich lange Zeit, ehe er ihre Zeilen heute überflog, und diese beunruhigten ihn nicht besonders. Der hastige, leidenschaftliche Ton darin war ja überhaupt oft Leas Ton. Mochte Lüdinghausen denn mit seiner Werbung kommen. Dann hatten wenigstens diese Kämpfe ein Ende; die Lage war ohnehin schon verwickelt genug. Daß Lea, wenn sie sich auch tausendmal vorgenommen haben sollte, [359] Ja zu sagen, dennoch, von der Gewalt ihres alten Gefühls getrieben, schließlich Nein sagen würde, war ihm ganz sicher.

Ihr Wunsch, daß er heute mit einer Schar von Bekannten draußen erscheinen solle, ließ sich allerdings nicht erfüllen bei dem Regen! Aber als der Nachmittag vorrückte, entstand trotzdem Unruhe in ihm.

„Sie wird mich vergebens erwarten,“ dachte er, und als er sich vorstellte, wie sie mit ihren dunklen sehnsüchtigen Augen in den Regen hinausstarrte, überfiel ihn das heftigste Verlangen nach ihr.

Er kleidete sich schleunig an, hing seinen Mantel um und ging in das Nebenhaus, wo der Rittmeister von Ehrhausen das erste Stockwerk bewohnte.

Die Baronin freute sich seines Erscheinens unbändig. Sie hatte gerade vor Langerweile weinen wollen und ihrem Mann eine Scene gemacht über das öde Dasein in einer kleinen Garnison.

„Das ist nur was für bedeutende Geister,“ sagte sie, „wenn man nicht ganz versimpeln will. Ich mag nicht lesen. Ich mag nicht Klavier spielen. Ich mag nicht malen. Ich mag nicht sticken. Ich muß Menschen haben, viele Menschen und sehr nette. Clairon, Sie retten durch Ihr Erscheinen meinen armen Mann vor einem fürchterlichen Abend. Ich bin ja nicht böse und sehe meine Schlechtigkeit ein. Aber ich bin nun mal so.“

„Eigentlich wollte ich Sie nur abholen; ich wollte Sie bitten, Ehrhausen, anspannen zu lassen und …“

„Ausfahren? Bei dem Wetter? Nein!“ rief sie dazwischen und that, als ob sie friere, indem sie ihr Spitzentüchlein um die Schultern nahm, „ich bin ohnedies etwas erkältet. Wohin denn?“

„Nach Römpkerhof.“

„Mit meinem abscheulichen Regenmantel? Lea lacht mich ja aus, daß ich noch immer dies Monstrum trage!“

„Aber wie die Herrschaften draußen sich wohl langweilen müssen! Sind wir es ihnen nicht gerade bei dem Wetter schuldig, sie aufzusuchen?“ bat Clairon.

„Du kannst ja hier bleiben,“ rieth ihr Gatte.

„Allein? Ich? Wie finden Sie das, Clairon?“

„Also kommen Sie mit!“

„Aber ich muß mich umkleiden – ich kann doch bei diesem Wolkenbruch nicht mit solchem hellen Kleid fahren,“ sagte sie zweifelnd. Ihre Zweifel galten also schon der Wahl des Kleides, nicht mehr der Fahrt.

„Aber bitte, schnell, ich lasse sofort anspannen.“

Ehrhausens gingen hinaus und Clairon blieb allein. Er wartete, eine Viertelstunde, eine halbe. Der Wagen fuhr vor. Man hörte draußen den Rittmeister schelten. Wieder eine halbe Stunde. Es schlug sechs Uhr. Da endlich kam die kleine Frau, frisch, niedlich, grau wie ein Mäuschen, und sagte mit der unschuldigsten Miene:

„Ich habe sehr schnell gemacht.“

Ihr Gatte seufzte.

„Das ist noch mein größtes Unglück in dieser Ehe,“ sprach er, „daß ich ihr nie böse sein kann. So werde ich sie auch nie erziehen.“

„Ach Du,“ rief sie und schlug mit dem Handschuh nach ihm.

So wurde es denn halb sieben Uhr, bis man abfahren konnte. –

Auf Römpkerhof erwartete sie niemand außer Lea. Diese ging gleich nach Tisch in ihr Zimmer und bat, daß man sie rufe, wenn „jemand“ käme.

Rahel sah der Schwester innig und sorgenvoll nach. Sie schonte ihr Gemüth heute, sie tastete mit keiner Frage, kaum mit einer leisen Zärtlichkeit an ihre Seele. Sie dachte, daß der Schwester das Herz zum Zerspringen voll sein müßte, und daß an einem solchen Tage alle ihre Gedanken dem Erwählten gehörten. Aber sie umgab Lea mit immerwährender, zarter Aufmerksamkeit.

Im Laufe des Vormittags sandte Lüdinghausen durch seinen Reitknecht einen sehr ehrfurchtsvollen, kurzen und ernsten Brief an Lea, meldete, daß er seinem Vater eine Depesche geschickt und daß sie es seiner Pietät zu gute halten möge, wenn er erst die Antwort abwarte. So könne es Abend werden, ehe er vor ihr erscheine, er hoffe dann aber, gleich die Segensgrüße seines Vaters mitbringen zu können. Lea verschlang förmlich diese Zeilen, denn sie ersah das eine daraus, was ihr heute die Hauptsache war, nämlich daß Lüdinghausen wahrscheinlich erst später eintreffen würde als Clairon.

Sie wartete nun mit nervöser Ungeduld. Er sollte und mußte kommen, und sie würde ein Alleinsein von zwei Minuten schon zu erzwingen wissen, um ihm zu sagen: ich bin Lüdinghausens Braut. Der Regen rann gleichförmig hernieder, das Blattwerk der Bäume glänzte blank, an den Rasenkanten höhlten die fließenden Wassermengen Rinnsale aus und führten den Sand mit hinweg, die zarten Pflanzenleiber der Astern und Levkojen lagen gebadet und mit Erde befleckt flach zu Boden – es war unbeschreiblich traurig und endlos eintönig, dies Bild der Natur.

Die Stunden schlichen. In Lea erwuchs eine zornige Verzweiflung, sie hätte toben mögen. Aber Clairon kam immer nicht.

Eben schlug es sieben Uhr, als Rahel hastig eintrat, entgegen ihren sonstigen sicheren und sachten Bewegungen. Mit hochrothem Gesicht rief sie:

„Er ist da.“

Lea stieß einen Laut aus, einen Seufzer, der fast einem Aufstöhnen glich.

„Allein?“ fragte sie mit blassen Lippen.

„Nun, sein Vater kann doch erst in zwei Tagen hier sein!“ sagte Rahel.

„Ach – Lüdinghausen!“ entfuhr es Lea. Das war voll so unverhohlener Enttäuschung, so ganz deutlich in der Mattigkeit gesagt, welche jäh zurückfluthende Freude hinterläßt, daß Rahel es bemerken mußte.

Ein schreckensvolles Verständniß fuhr ihr wie ein Blitz durch die Gedanken. Sie taumelte fast zurück.

„Also doch! Doch noch!“ stammelte sie. „Du dachtest an einen andern? Erwartetest einen andern?“

Lea faßte sich und erwiderte ungeduldig:

„Ich bitte Dich, nun endlich davon zu schweigen. Ich habe Dir doch gestern abend noch gesagt, wie die Sachen stehen.“

Aber diesmal glaubte Rahel nicht mehr so schnell und so blind. Sie ging wieder treppab, fast mit wankenden Schritten, fassungslos und entsetzt. Wie soll das werden? Was muß ich thun? fragte sie sich.

Sie ging in das Zimmer ihres Vaters – natürlich, es war leer. Herr von Römpker hatte den Schwiegersohn eben der Hausfrau zugeführt. Rahel wußte kaum, was sie that, sie ging an die Thür des Salons und rief:

„Papa, ein Wort!“

Herr von Römpker kam sogleich und eilte der sich schon entfernenden Rahel nach. Er glaubte, daß Rahel ihn nach den Weinsorten fragen wolle, die heute abend auf den Tisch kommen sollten, und war ärgerlich, denn er hatte Ludwig schon die nöthigen Anordnungen gegeben.

„Was willst Du? Ludwig weiß ja über alles Bescheid.“

Rahel wandte sich plötzlich um, ergriff mit beiden Händen den rechten Arm ihres Vaters, als wolle sie sich daran halten, und sprach leise:

„Papa, ich beschwöre Dich, von der Verlobung Leas kein Wort verlauten zu lassen, nicht einmal gegen Raimar. Gönne ihr noch Zeit! Ich bin gewiß, daß Lea Clairon noch liebt. Hilf ihr nicht, in der Verblendung ein Unrecht zu thun!“

Herr von Römpker sah in das völlig farblose und erregte Gesicht seiner Tochter. Er war so erstaunt, daß er nicht einmal unwillig wurde. Er wunderte sich nur, wie man sich über die harmlosen, unbegreiflichen Einfälle eines Kindes wundert, die weiter keine ernste Beachtung verdienen.

„Thu mir den Gefallen, Rahel, und schweig von der alten Geschichte, über die längst Gras gewachsen ist. Clairon konnte nicht geheirathet werden – das that vielleicht weh – Lea wie er haben sich aber darein gefunden, Du hast doch schon oft genug gesehen, daß sie ganz unbefangen als gute Freunde verkehren. Nun thut Lea das Vernünftigste, was sie thun kann: sie nimmt den bedeutendsten und reichsten Bewerber, der sich ihr je genähert hat. Und Lea weiß, was sie thut. Alt genug ist sie auch, sie wird schon wissen, wie es in ihrem Herzen aussieht und wie sie mit sich fertig wird.“

„Papa,“ erwiderte Rahel mit flüsternder Stimme, denn sie standen auf dem Flur und konnten gehört werden. „Du mußt Dir doch sagen, daß die Unmöglichkeit, Clairon zu heirathen, [360] nur in – in Leas eitlen Einbildungen besteht. Ich flehe Dich an: verhüte ein Unglück! Mehr: verhüte eine Schändlichkeit! Gieb es nicht zu, daß man diesen Mann betrügt! Sprich mit Lea!“

Nun wurde es Herrn von Römpker aber wirklich zu bunt.

„Laß mich zufrieden mit solchen verrückten Einfällen,“ sagte er heftig und schüttelte Rahels Hände von sich. „Wie kann ich mich und Lea vor Lüdinghausen so lächerlich machen! Sie hat Ja gesagt und damit basta!“

Er ging davon und ließ Rahel stehen. Diese sah ihm nach mit großen, traurigen Augen. Ihr Herz war unaussprechlich betrübt. Sie fühlte, daß es ihrem Vater zu – unbequem war, sich in diese Angelegenheit zu mischen, und ein bitteres Lächeln schlich um ihre Lippen.

Sie versuchte, sich zu fassen, sich auf die Pflichten zu besinnen, die ihrer noch im Hause harrten. Es wurde ihr schwer. Sie konnte nur an Lea denken und versuchte sich einzureden, daß sie sich doch täuschte. Wie sollte Lea denn auch Clairon erwartet haben, für dessen Kommen heute und bei diesem Wetter doch gar keine Wahrscheinlichkeit vorlag!

Das bißchen mühsam zusammengesuchte Vertrauen sank aber jäh wieder zusammen, als Ludwig mit der Meldung in die Wirthschaftsräume kam, daß soeben Rittmeisters und der Graf Clairon fast zugleich mit Raimar angelangt seien.

So hatte sie ihn bestellt gehabt und ihn erwartet, um ihm ihre Verlobung mitzutheilen – oder wußte sie von derselben noch nichts, als sie an Clairon schrieb? Wann hatte sie ihm geschrieben und durch wen?

Sekundenlang kämpfte Rahel mit dem Wunsch, Ludwig zu fragen: Haben Sie einen Brief meiner Schwester besorgt? Aber ihr Stolz verbot ihr das.

Bleich, doch ziemlich gefaßt begab sie sich in die Wohnräume. Sie war entschlossen, zu beobachten, sie sammelte ihre Kräfte.

Die Gesellschaft war sehr laut und lustig. Römpker freute sich ungemein, daß Rittmeisters, die er nicht hatte einladen dürfen, von selbst gekommen waren. In Clairons Anwesenheit sah er einen „gesunden Zufall“, man konnte da gleich und ein für alle Mal mit dem früheren Bewerber Leas den rechten, unbefangenen Ton herstellen und Clairon mußte Haltung bewahren, selbst wenn’s ein wenig schmerzte. Lüdinghausen war noch etwas ernster und stiller als sonst. Er hielt sich aber stets in Leas Nähe und machte es ihr unmöglich, mit Clairon ein unbewachtes Wort zu reden. Auch Rahel bewegte sich immer in Hör- und Sehweite, und Lea fühlte dunkel, daß dies nicht, wie bei Lüdinghausen, harmlos geschah.

Ihre Augen brannten, ihre Kniee bebten. Wenige Minuten noch und man ging zur Abendtafel, und dann hörte Clairon die Wahrheit, ohne daß sie ihm ein kleines, ein armes Zeichen davon gegeben, wie ihre Seele litt und sich nach ihm sehnte.

Sie setzte sich an den Flügel und begann zu präludieren. Rahel sah, daß Lüdinghausen und Clairon neben der Spielerin standen, es war dieselbe Gruppe wie damals, als Lüdinghausen zum ersten Mal vertrauensvoll der Gast dieses Hauses gewesen war, wo man ihn jetzt betrog. Betrog? Wirklich? War denn jede Täuschung darüber ausgeschlossen?

Rahel fuhr zusammen. Ja, nun gab es keinen Zweifel mehr.

In dem Wahn, daß die Sprache der Töne allen Anwesenden ein Geheimniß sei, am meisten aber der überwachenden unmusikalischen Schwester, griff Lea eine Reihenfolge nur zu bekannter Akkorde:

„Mit meiner Seele glühendstem Ergusse
Sei mir gegrüßt, sei mir geküßt.“

Und in Clairons Augen leuchtete der Gegengruß auf. Er verstand, was die Geliebte ihm sagte.

„Was spielen Sie?“ fragte Lüdinghausen.

„Phantasien,“ sagte Lea und ging leise in solche über.

„Bitte zu Tisch!“ rief Herr von Römpker. Lüdinghausen bot Lea den Arm.

„Papa,“ raunte Rahel und erhaschte mit ihren eiskalten Fingern seine Hand.

„Was denn wieder?“

„Es kann, es darf nicht sein!“

„Ach, Unsinn! Ich verbiete Dir, noch eine Silbe davon zu sprechen. Du erzürnst mich ernstlich.“

Er bietet der Frau des Rittmeisters den Arm, der Rittmeister nimmt Frau von Römpker und Raimar führt Rahel, während Clairon, ohne Dame, es gewandt einrichtet, daß er an Leas anderer Seite bleibt. Die kleine Tafelrunde schließt sich.

Rahel ist stumm und ihr Gesicht weiß wie das eines Todten.

„Bist Du krank, mein Kind?“ fragt Onkel Raimar. Das Aussehen des immer rosig blühenden Mädchens erschreckt ihn.

Sie hört ihn gar nicht. Sie sieht nur immer starr ihren Vater an. Diesen ärgert ihr Blick, dem er zuweilen wider seinen Willen begegnen muß und der ihm allen Appetit an dem trefflichen Vorgericht verdirbt.

So viel Ueberspanntheit hätte er Rahel nicht zugetraut. Aber freilich, sie spielt bei jeder Gelegenheit irgend einen „sittlichen Grundsatz“ aus. Sie ist pedantisch, ein bißchen engherzig und gar zu unbeholfen. Allein das gute Kind wird sich schon beruhigen, wenn man ihr beweist, daß Clairon die Sache, ebenso wie Lea, als ein „Märchen aus uralten Zeiten“ ansieht. Daß das „Märchen“ überhaupt Lüdinghausen etwas angehe, begreift er gar nicht. Er versteht Rahel nur soweit, daß sie fürchtet, Lea könnte mit der alten Liebe im Herzen elend werden. Und das ist ja am Ende auch ganz schwesterlich gedacht. Deshalb muß man ihr wohl dies Benehmen verzeihen.

Ludwig trägt die erste Schüssel ab. Lea hat ganz gefaßt, nur etwas ernster und eintöniger als sonst mit Lüdinghausen gesprochen, während sie unter dem Tisch leise ihren Fuß neben denjenigen Clairons gestellt hat.

Da erhebt sich Herr von Römpker und schlägt an das Glas. Lea erbleicht und preßt ihren Fuß enger an den Clairons. Lüdinghausen sieht ernst vor sich hin.

Rahel, wie von einer Macht, der sie gehorchen muß, willenlos emporgezogen, steht mit vorgeneigtem Leibe da, ihren Vater anstarrend.

„Meine Freunde,“ beginnt Herr von Römpker, „ein artiger Zufall hat Sie heute in dies Haus geführt, wo die Freude eingekehrt ist.“

„Ah,“ sagt die kleine Baronin ganz laut und sieht Lea lachend an.

„Sie stehen mir alle zu nahe durch die innigen Beziehungen langer Freundschaftsjahre, als daß ich mit Ihnen an einem Tisch sitzen könnte, ohne Ihnen, vorerst im Vertrauen, eine Neuigkeit mitzutheilen …“

Da fällt ein Glas, und kurz klirrt es von den zusammenbrechenden Scherben auf. Rahel hat es umgestoßen und eine Sekunde lang schaut der Redner auf sie, auch die andern sehen flüchtig nach ihr.

„Eine Neuigkeit,“ fährt Herr von Römpker fort.

„Eine Neuigkeit,“ sagt Rahel laut und schwer und hält sich mit der rückwärtsgreifenden Hand an ihrer Stuhllehne, ihre Stimme übertönt die des Vaters und macht diesen vor Schreck verstummen.

Dann setzt sie hinzu, mit eherner Härte im Ton:

„Meine Schwester Lea hat sich mit dem Grafen Robert Clairon verlobt.“

Und sie sinkt auf ihren Stuhl zurück, bleich, mit geschlossenen Augen, nicht ohnmächtig. aber unfähig, zu sehen, zu sprechen, eine Hand zu bewegen. Doch hört sie alles.

Eine lähmende Stille folgte zunächst ihren Worten.

Jeder fühlte und sah: da war etwas Ungewöhnliches, etwas Unerhörtes geschehen, Rahel hatte diese Worte unbefugt gesprochen.

Herr von Römpker verlor jede Fassung. Er wollte sprechen, sagen, daß Rahel phantasiere, sie hinausführen lassen, er wollte eine Erklärung an Lüdinghausen, eine andere an Clairon richten. Aber die Worte blieben ihm im Halse stecken, was er auch hätte sprechen können, wäre verkehrt gewesen, alles eine Taktlosigkeit, welche diese Lage nur verschlimmern konnte. Er wagte nicht, Lüdinghausen anzusehen, noch weniger Lea.

[373] In die auf Rahels Worte folgende entsetzliche Stille hinein scholl als rettender Laut die helle Stimme der Baronin, die mit ihrer Neugier, Rücksichtslosigkeit und Keckheit sogleich zur Stelle war. Sie sah sich verwundert die Anwesenden der Reihe nach an, sah Frau von Römpker in ihr Spitzentuch weinen, sah Lüdinghausen sowie das eben so seltsam verkündigte Brautpaar gleich Bildern von Stein dasitzen und Rahel kraftlos zusammengesunken.

„Hier giebt es einen Roman,“ sagte sie, „und ich will wissen, welchen. Das ist mein Recht als alte Freundin des Hauses. Römpker, ich soll doch nicht etwa glauben, daß Sie ein Rabenvater gewesen sind und meinen lieben Clairon und unsere Lea nicht zusammenkommen lassen wollten? Hat es deshalb mit Rahel Zank gegeben? Es ist doch wahr und man darf doch gratuliren?“

„Rahel ist sehr voreilig gewesen,“ versetzte Herr von Römpker mit unsicherer Stimme, „ich bitte Sie, ihren Worten vorerst keine Beachtung zu schenken. Rahel ist heute etwas krank, sie ist fieberisch erregt und weiß nicht, was sie thut.“

Diese Antwort war sehr schwächlich, denn sie erklärte keineswegs, weshalb Herr von Römpker selbst eine Rede angefangen hatte, die auf eine Verlobungsanzeige angelegt war. Aber der Rittmeister hatte inzwischen seiner Frau einen strengen, Schweigen gebietenden Blick zugeworfen, und so sagte sie nur noch:

„Dann sollte das arme Kind sich lieber ins Bett legen.“

Rahel stand schwankend auf. Unwillkürlich erhoben sich alle, denn an eine Fortsetzung der Tafel zu denken, wäre eine zu weit gehende, zu martervolle Lüge gewesen.

Der Rittmeister, der bei sich dachte, daß er morgen von Clairon schon alles genau erfahren werde, war jetzt umsichtig thätig, den Freunden seine und seiner Frau störende Gegenwart möglichst unauffällig zu entziehen. Er hielt seine kleine Frau, scheinbar zärtlich, mit eisernem Druck an seinem Arm fest, begann ein Gespräch mit Raimar und schritt langsam mit diesem durch die Zimmerreihe, bis sie außer aller Gehörweite waren.

Lea fühlte zum ersten Male in ihrem Leben, daß die Nähe einer Mutter ein Schutzgefühl geben kann. Kaum daß Frau von Römpker in ihre gewohnte Sofaecke gesunken war, trat Lea neben sie und zog [374] den Kopf der Sitzenden an sich, ihn mit den Händen umschließend. Doch war mehr Trotz als schutzsuchende Zärtlichkeit in ihrer Haltung. Ihre großen Augen hingen an Clairon, der schweigend auf und ab ging.

Römpkers bange Aufmerksamkeit war hingegen ganz auf Lüdinghausen gerichtet, der stolz aufgerichtet am Tische stand. Kaum verklang des Rittmeisters Stimme, so sprach Lüdinghausen:

„Ich darf um eine Erklärung dieses Vorfalls bitten!“

Er sagte es langsam, seine Stimme klang sehr kühl. Ein feindseliger Hochmuth schien aus seinen Zügen zu reden, er sah Herrn von Römpker mit einem Blick an, vor dessen Kälte dieser zitterte.

„Vor allem ich,“ fiel Clairon ein, „wünsche die Geschichte dieser Verlobungsanzeige zu erfahren; welches Interesse der Herr Landrath daran hat, ist mir nicht erfindlich.“

„Aber meine Herren,“ sagte Römpker, hilflos von einem zum andern sehend, „wollen Sie mir nicht gestatten, mit jedem von Ihnen lieber unter vier Augen zu sprechen? Ich bitte Sie, Herr Landrath, doch mich und Lea den tollen Einfall meiner jüngsten Tochter nicht entgelten zu lassen.“

Clairons Schritt stockte, er sah mit einem Ausdruck zu Lea hinüber, der sein beginnendes Verständniß verrieth. Wären doch wenigstens unter der Gewalt dieses Blickes die guten Geister in Leas Seele wach geworden! Aber sie war auch in diesem Augenblick noch ganz verblendet. Die Grausamkeit des Weibes war in ihr wach geworden, sie freute sich der Demüthigung, welche Lüdinghausen, dieser ernsthafte, feierliche und hochmüthige Mann, gleich erdulden sollte und schon erduldet hatte. In einer seltsamen Verirrung kam es ihr plötzlich vor, als sei er an allem schuld. Anstatt sich zu retten und vielleicht zu reinigen durch ein muthvolles Bekenntniß, schwieg sie.

„Ich,“ entgegnete Clairon mit dem Versuch, in seiner Stimme ruhige Festigkeit zu bewahren, „ich wüßte nicht, was für diskrete Dinge denn vorlägen, die eine Besprechung unter vier Augen nöthig machen könnten. Ich habe vor Monaten um Leas Hand geworben, mag denn auch der Herr Landrath es wissen; wenn ich bis heute noch nicht die Hoffnung aufgab, Lea zu erringen, so kam mir doch die Erfüllung in dieser Form und von Rahels Lippen zu unerwartet, als daß ich sie frohen Herzens hinnehmen könnte.“

Lüdinghausen wußte ganz deutlich, daß in dieser Lage alle Nachtheile auf seiner Seite waren. Seine Fassung hatte ihn keinen Augenblick verlassen. Wohl fühlte er, daß etwas Unlauteres vorgegangen war, zu dessen Opfer man ihn hatte machen wollen, aber noch verstand er den Zusammenhang nicht ganz. Er empfand nur, daß er in Gefahr kommen könne, eine klägliche Rolle zu spielen. Merkwürdigerweise jedoch zweifelte er keine Sekunde lang, daß Rahel ehrlich gehandelt habe, so rücksichtslos ehrlich, wie es nur die Verzweiflung tut, um ein schweres Unrecht zu verhüten. Dies blinde Vertrauen zu dem Mädchen, im Verein mit der besonnenen Beurtheilung seiner Lage, rettete ihn davor, in die Jämmerlichkeit des Getäuschten zu verfallen.

Als Clairon von seiner Werbung um Lea und von den Hoffnungen sprach, die er immer noch nicht aufgegeben habe, kam ein Schein von Leben in Lüdinghausens gleichsam versteinertes Gesicht. Mit der vollendetsten Höflichkeit und einer Ruhe, als handle es sich nicht um den Besitz eines Weibes, sondern etwa um den Vortritt in einer Gesellschaft, sagte er:

„Ich habe keine Ahnung von unserer Nebenbuhlerschaft gehabt, Herr Graf. Selbstverständlich gebe ich unter diesen Umständen dem gnädigen Fräulein das gestern abend erhaltene Jawort zurück und bitte sie, sich nochmals frei zu entscheiden.“

Clairon stieß einen Schrei aus. Er hatte nicht die eisige Fassung des andern. Er hatte geliebt, mit tausend Schmerzen, heißer Leidenschaft und immer neu getäuschter Hoffnung.

„Lea,“ schrie er, „das hast Du gethan? Mir angethan? Mir, den Du liebst? O, ich glaubte, Du spieltest nur mit solchen Gedanken. Du konntest sie zur Wahrheit machen – zur Wahrheit?“

Er schlug beide Hände vor sein Angesicht und stand mit abgewandtem Haupt fassungslos da.

Als Lüdinghausen seine höfliche Redensart vorgebracht hatte – o, Herr von Römpker verstand nur zu gut, daß es ein Abschied war – verbeugte er sich und zog sich zurück. Er wollte nichts mehr hören und wollte dies recht deutlich zeigen. Doch er konnte nicht verhüten, daß Clairons Worte noch sein Ohr erreichten und ihm die ganze Wahrheit verriethen.

Seine Füße waren ihm schwer, sein Athem kurz. Aber er ging aufrecht und mit herbem Angesicht davon und hielt sein Haupt für zu stolz, um es unter einem Schlag zu beugen, den niedere Berechnung gegen ihn geführt hatte.

„Meinen Wagen!“ sagte er kurz zu dem auf dem Flure herumlungernden Ludwig, der vor Neugier umkam, aber fürs Horchen doch zu anständig war. Ludwig, entsetzt vor diesem harten Gesicht, flog davon.

Lüdinghausen ging mit wuchtigen Schritten eine Weile auf und ab. Raimar, der sich mit Rittmeisters im ersten, an den Flur grenzenden Zimmer aufgehalten hatte, mochte das gehört haben. Er kam heraus und that angesichts dieser blassen Züge, dieser ehernen Stirn und dieser stolz geschlossenen Lippen keine Frage.

„Ich fahre mit Ihnen,“ sagte er einfach und sehr entschieden, „ich nehme Sie mit nach Kohlhütte. Mein Wagen kann leer nachkommen. Sie müssen mir noch Gesellschaft leisten.“

Lüdinghausen streckte ihm die Hand hin und umschloß die des Freundes mit festem Griff. –

In dem Zimmer, in welchem sich die Familie Römpker und Clairon befanden, herrschte eine Weile brütendes Schweigen. Herr von Römpker fühlte sich so elend wie noch nie in seinem Leben und er war unaussprechlich böse auf Lea. Er redete sich in der Geschwindigkeit ein, von dem Doppelspiel Leas keine Ahnung gehabt zu haben, denn sonst würde er doch niemals diese Verlobung mit Lüdinghausen gestattet haben.

Ein dumpfes Vorgefühl kam über ihn, daß hier für Lea sehr viel auf dem Spiel stehe. Der Angstschweiß perlte auf seiner Stirn. Wenn nun auch Clairon im Zorn davonging? Der Skandal! Und Lea sitzen geblieben! Natürlich war’s dann für immer aus und sie konnte ihre Tage im Elternhaus beschließen. An die vielen Schwierigkeiten, an die ewigen üblen Launen Leas nur zu denken, war schon entsetzlich.

„Mein lieber Clairon,“ begann er mit seinen liebevollsten Tönen, „daß Lea Sie noch immer liebt, war mir fremd. Warum hat das arme liebe Mädchen sich mir nicht vertrauensvoll geoffenbart? Ich hätte sie dann nicht beredet, Lüdinghausen zu nehmen. Man hätte schließlich zugesehen, ob man Sie beide nicht vereinigen könnte. Eltern scheuen ja zuletzt kein Opfer, wenn es sich um das Glück ihrer Kinder handelt. Aber unsere Lea wollte kein Opfer nehmen, sondern in ihrem Edelmuth lieber eines bringen.“

Herrn von Römpkers Stimme brach vor Rührung. Während er die Ereignisse so gruppierte, glaubte er auch schon, daß sie gerade so verlaufen wären, wie er erzählte.

„Meine Lea!“ rief er und eilte mit ausgebreiteten Armen auf sie zu.

Sie ließ sich von ihm umarmen und küssen, aber ihr Schweigen löste sich nicht.

Frau von Römpker hatte hoch aufgehorcht und fing nun mit dem Ausruf: „Mein armes, selbstloses Kind!“ heftiger an zu weinen.

Clairon richtete sich auf. Er wandte sein Gesicht Lea zu. Als er ihrem großen, starren Blick begegnete, brach seine Fassung nochmals. Er sank auf die Kniee neben ihr und barg sein Gesicht in ihren Kleiderfalten.

„Ich habe Dich so maßlos geliebt,“ murmelte er.

Da ging ein Zittern durch Leas bisher unbewegliche Gestalt, sie neigte ihr Haupt tief, tief, daß ihre Stirn in Clairons Haar tauchte, und flüsterte:

„Robert! Vergieb mir!“

Er sammelte sich, stand auf und legte seine Hand über die Augen. Dann seufzte er schwer und sah sich wie traumverloren um.

Athemlos hingen sie an seinen Lippen und warteten auf ein Wort, ein gutes, versöhnendes Wort der Rettung.

Endlich sprach er leise:

„Es ist wohl am besten, ich gehe jetzt. Ich bedarf der Sammlung, Lea. – Gute – Nacht!“

[375] Es schien. als fasse ihn ein Schwindel.

„Robert!“ rief sie und wollte sich an seine Brust werfen.

Er wehrte sie sanft ab.

„Laß mich! Du wirst von mir hören, morgen – oder wann ich das Rechte erkannt habe, Lea.“

Er hielt ihre Hand fest und sah sie an. Seine ganze Seele mit allem Jammer lag in diesem Blick. So verharrte er lange, lange und ging endlich hinaus.

Er wunderte sich über nichts, auch nicht darüber, daß Ludwig aus eigener Machtvollkommenheit des Rittmeisters Wagen hatte anspannen lassen und daß das Ehepaar schon auf ihn wartete.

Er schwieg still, als die Baronin sagte:

„Mein Gott, wir schleichen uns davon, ohne uns zu verabschieden? Wird Römpker uns das je vergeben?“

Er saß im Wagen seinem Kameraden gegenüber und hielt im Dunkel dessen Hand. Der Rittmeister verstand den Armen. „Schone mich und verlaß mich nicht,“ bat diese klammernde Hand.




7.

Rahel war in ihr Zimmer gegangen. Dort setzte sie sich still auf den Rand ihres Bettes und dachte nach.

Der kurzen und ungeheuren Aufregung war stille Fassung gefolgt.

„Ich konnte nicht anders,“ sagte sie sich. „Es war das Rechte. Sie werden mir danken, daß ich sie vor einer Sünde bewahrt habe.“

Das stellte sich in ihrem Kopf als eine ganz einfache Thatsache dar und sie wunderte sich nur, daß sie den Muth gehabt habe, aufzustehen und ihrem Vater in die Rede zu fallen. Aber sie bereute es nicht.

Sie versuchte, sich die Folgen auszudenken. Ob Clairon und Lea nun sich wirklich vereinigen würden? Wahrscheinlich. Aber das erschien ihr sehr nebensächlich. Das Eine, Große war gewiß: sie hatte Lea aus der Lüge errettet.

Mit all der Liebe und Bewunderung, welche für die Schwester in ihr lebte, versuchte Rahel sich vorzustellen, wie es überhaupt hatte kommen können, daß ein so bedeutendes Wesen sich so in Unwahrheit verstrickte. Es muß alles von dieser unglücklichen Liebe gekommen sein, meinte Rahel entschuldigend. In Leas Herzen mußte jetzt ein klarer und sonnenheller Tag aufgegangen sein und das reine Glück ihr Leben fortan bestrahlen. Das bloße Bewußtsein, aus der Lüge befreit zu sein, erschien Rahel als die Bedingung zum Glück.

Sie horchte ein paarmal, ob keine Stimmen drunten laut würden, obschon sie wußte, daß man hier doch nichts höre. Wie „er“ wohl die Sache aufgenommen hatte? Gewiß, es mochte ihm weh gethan haben, sehr weh. Ob er wohl Lea wahrhaft geliebt hatte? Nun, die Entsagung mußte er tragen, die entehrte sein Leben nicht. Aber in Lügen geküßt zu werden – das wäre Schmach gewesen.

Rahel fühlte sich von einer unaussprechlichen Befriedigung durchdrungen, ihn vor etwas Unwürdigem geschützt zu haben. Sie gestand es sich freudig: dies war der erste, vornehmste Beweggrund ihres Thuns gewesen.

Er würde heute gehen und gewiß niemals, niemals wiederkommen in dieses Haus.

Die Lippen zitterten ihr und vor ihren Augen wurde es thränendunkel. Aber das mußte ertragen sein. Sie lächelte tapfer.

Ein heißer Wunschgedanke zog durch ihre Seele, daß er einst ein echtes, großes Glück finden möge.

So träumte sie lauter gute und stille Gedanken, als sich die Thür aufthat und Lea, von ihren Eltern begleitet, hereintrat.

Rahel vermochte vor Schreck sich nicht zu erheben. Die Ihrigen sahen so erregt und so feindlich aus.

„Ihr seid mir böse?“ fragte sie mit einer Stimme, in welcher Zärtlichkeit und Furcht sich mischten. „Habt Ihr denn nicht verstanden, warum ich es mußte? Gewiß, Du begreifst es doch, Papa?“

„Unerhört und unverzeihlich hast Du Dich benommen,“ brach Herr von Römpker los.

„Ungewöhnlich, Papa,“ sprach Rahel mit sanfter Bescheidenheit. „Das fühle ich tief, und dies allein beschämte mich einige Minuten.“

„Unweiblich!“ rief er heftig.

Rahel wurde dunkelroth. Das hatte man ihr schon einmal vorgeworfen, und es that so weh. Mein Gott – wenn es wahr wäre! Wenn sie vor ihm unweiblich gehandelt hätte!

„Nun,“ sprach Lea mit einer Bitterkeit, die Rahel entsetzt aufschauen ließ, „meine schulmeisterliche Schwester hat erreicht, was sie wollte: Lüdinghausen ist gegangen. Meine Zukunft ist zerstört.“

„Die Zukunft Deines Herzens ist aber doch Robert Clairon,“ sagte Rahel und sah sie fest an; „ich hörte Dich heute durch die Musik ihm Liebesworte sagen, die ich kenne. Du liebst ihn also. Und ihn hast Du doch nicht verloren?“

„Und wenn ich ihn doch verliere?“ fragte Lea in immer steigendem Zorn.

„So hast Du Deine Ehre. Das ist mehr als alles.“

„Ueberlaß die Sorge für meine Ehre mir und Papa,“ höhnte Lea, „wir verstehen das wohl besser zu beurtheilen als Du.“

„Gewiß,“ sagte Rahel leise, „aber diesmal waret Ihr blind und sahet nicht ein, daß Ihr ein Unrecht thun wolltet.“

„Du hast einen Skandal heraufbeschworen,“ jammerte Frau von Römpker, „wir sind unmöglich geworden.“

In Rahels Innerem begann sich’s zu regen. Mit etwas mehr Nachdruck und mit weniger Demuth sagte sie:

„So schnell werden Menschen wie wir nicht unmöglich. Ein Skandal ist ein Nichts gegen die Schändlichkeit, einen Mann wie Erasmus Lüdinghausen zu betrügen.“

„Ah,“ rief Herr von Römpker, „die Liebe und Rücksicht auf die Deinen steht Dir erst in zweiter Linie.“

„In der allerersten. Deshalb bewahrte ich Euch vor Reue.“

„Sie ist noch trotzig! Obendrein noch trotzig!“ rief Lea und ging händeringend auf und ab, so daß die Lampe vor dem Pfeilerspiegel von ihren heftigen Bewegungen aufflackerte. „Unglückskind, was hast Du Dir gedacht, daß nun aus mir werden solle? Die Geschichte spricht sich in der ganzen Gegend herum. Die Dienstboten merken genug. Die schwatzhafte Baronin war zugegen. Ich bin unmöglich – für ewig dem Gespött preisgegeben, wenn ich nicht morgen eine Verlobungsanzeige herumschicken kann.“

„Ja, was hast Du Dir gedacht?“ rief auch Herr von Römpker.

„Meine Lea, meine arme Lea,“ klagte Frau von Römpker, „Deine Jugend ist vernichtet.“

„Und Du selbst,“ fuhr Lea schneidend fort, während Rahel blaß und stumm dasaß, „was soll mit Dir werden? Alle Bekannten werden mit Fingern auf Dich weisen wegen Deines romanhaften Benehmens. Jedermann wird eine Erklärung suchen für den Auftritt, den Du hervorgerufen hast, und schließlich wird man noch gar sagen, Du habest Lüdinghausen gern für Dich selbst gewollt.“

Ihr Auflachen verschlang den wehen Laut, der von Rahels Lippen kam.

„Denkst Du denn,“ sagte Herr von Römpker, „daß Lea noch schwesterlich mit Dir zusammenleben mag und kann nach diesem Vorfall? Muß uns Dein Anblick nicht immer diesen schrecklichen Tag ins Gedächtniß rufen?“

Rahel neigte das Haupt. Ihr war es, als ob alle mit Keulen auf sie einschlugen. Sie wollte wehrlos stillhalten, damit es nur ein Ende nähme.

„Thut es Dir denn gar nicht leid?“ fragte Frau von Römpker.

Da erhob sich Rahel, sah fest der Schwester ins Gesicht und sagte laut:

„Nein!“

„Nun, Papa!“ rief Lea zitternd, „ich darf Dich wohl bitten, daß mir Rahels Anblick für einige Tage erspart bleibt. Wenigstens, bis mein Geschick entschieden ist. Sie oder ich, eine von uns muß dies Haus verlassen.“

Jetzt trat der Streit für Herrn von Römpker aus dem Stadium des bloßen Wortwechsels in ein sehr unbequemes: in das der folgenreichen Forderungen an seine väterliche Gewalt. [378] Das war ihm schrecklich. Augenblicklich fand er, daß Lea doch wohl ein bißchen zu weit gehe. Rahel hatte sie in eine schöne Patsche gebracht, das ließ sich nicht wegleugnen; aber am Ende war die Tollheit doch nur aus ehrenhaften Absichten entsprungen.

„Kinder,“ sagte er begütigend, „es kann ja noch alles gut werden. Morgen kommt Clairon wieder – er ist doch so gut wie mit Dir verlobt, Lea, und dann wird die Scene vertuscht und Du verzeihst Rahel.“

In Leas Gesicht leuchtete es auf. Ja, ihrer Macht über Robert war sie sicher. Der ließ nicht von ihr.

„Rahel kommt über Nacht gewiß zur Besinnung und bittet Dich morgen um Verzeihung,“ sagte auch Frau von Römpker. „Gott, was für ein Abend! Meine armen, armen Nerven! Ich muß mich niederlegen. Gute Nacht!“

„Ja, mein Kind, wir gehen,“ schloß Herr von Römpker und gab sich viel Mühe, würdig zu sprechen, „mögest Du in Dich gehen und Dein unweibliches und von wenig Familiensinn zeugendes Benehmen aufrichtig bereuen.“

Rahel sprach kein Wort. Sie schrak nur zusammen, als Lea krachend die Thür schloß.

Nun war sie wieder allein. Sie setzte sich mechanisch auf ihren alten Platz. In ihrem Kopf war es ganz wüst.

Was man alles in sie hineingesprochen hatte, tobte in wirrem Durcheinander hinter ihrer Stirn.

Sie konnte gar nichts begreifen. So war also nicht für alle Menschen Recht und Unrecht gleich! Weder ihr Vater noch ihre Mutter noch Lea hatten verstanden, weshalb sie sich dazwischen geworfen! Sie hatte Dank erwartet wie für eine Rettung und man schmähte sie wie eine Missethäterin. Sie – Rahel – sah es als ein Verbrechen an, sich einem Mann mit solcher Lüge auf den Lippen zu vermählen, als ein Verbrechen, dem Meineid gleich, den das Gesetz straft. Und weil die feinverborgenen Meineide vor dem Altar nicht von der weltlichen Strafe erreicht werden, bleiben sie deshalb nicht dennoch strafwürdige Sünde? Aber Lea sah es im Gegentheil als ein Verbrechen an, daß man sie an solchem Meineid hinderte! Lea, ihre bewunderte Lea, in deren Adern das gleiche Blut rann!

Warum?

Und plötzlich sah das arme Mädchen die Wahrheit. Sie sah die Schwester entkleidet von all den schimmernden Gewändern, mit denen blinde Liebe sie geschmückt hatte. Sie sah Lea, wie Lea wirklich war. Von klein an wegen ihrer Schönheit und ihrer drolligen Einfälle von den Eltern und den zahllosen Gästen bewundert, hatte sich ihre natürliche Grazie bald in Koketterie, ihre Drolligkeit bald in Keckheit verwandelt. Rahel erinnerte sich, mit welcher Tyrannei die Schwester die Dienstboten und sie selbst behandelt hatte und was alle damals gelitten. Aber in ihre der Liebe so bedürftige Seele, die obenein vom Bewußtsein eigener Nichtigkeit erfüllt war, kam nie ein Gedanke, daß dieser Zustand unnatürlich sei. Auch sie selbst hatte von Anfang an in Lea eine Vereinigung aller menschlichen Vorzüge erblickt.

Dann wurden sie älter. Die kluge Lea lernte sich selbst erziehen und beherrschen und ward sanfter und gefälliger in ihren Umgangsformen. Heute begriff Rahel, daß nur die Eitelkeit die Erzieherin gewesen.

Diese Eitelkeit Leas war der Götze gewesen, dem das ganze Haus huldigte. Liebenswürdigkeit kleidet gut, so gab Lea sich liebenswürdig. Gefallsucht stößt ab, so verbarg Lea ihre Gefallsucht tief unter sicheren und vornehmen Formen. Sie wollte immer die Erste, die Gefeierte sein. Sie duldete niemand neben sich und hatte durch ihre vordrängende Sicherheit des Auftretens die jüngere Schwester immer im Schatten zu halten gewußt.

Doch dies alles war keine durchdachte Schlechtigkeit. Es geschah ganz unbewußt, daß Leas Eitelkeit sich Leas Klugheit dienstpflichtig machte, um ihre Zwecke zu erreichen. Eine schwächliche Erziehung hatte alle schönen Gaben dieses Wesens entarten lassen.

Nur eine große Liebe, eine glückliche Ehe, ein charaktervoller Mann hätte gutmachen können, was hier verdorben war. Aber Leas Herz war so in Selbstsucht verstrickt, daß es nicht einmal mehr um der Liebe willen eitle und nichtige Gelüste hatte opfern können.

Eine Trauer, die fast dem Entsetzen glich, ergriff Rahel. Ihr war, als habe man ihr die Schwester entrissen, das Wesen, um welches ihre Liebe und ihre Sorge seit vielen Jahren ausschließlich gewaltet. Erst jetzt begriff sie, daß ihr Dasein immer nur den einen Inhalt gehabt hatte: Lea. Und alles war jämmerliche Täuschung gewesen, ihre Bewunderung ein Irrthum, ihre Hingabe Verschwendung. Und alle die treue Liebe hatte nicht einmal ein Fünkchen ähnlicher Empfindung in Leas Brust hervorgerufen. Zum ersten Mal kreuzte die bescheidene Schwester Leas Weg, anstatt wie sonst in Demuth nachzufolgen, und gleich wandte diese sich in harter Feindschaft gegen sie und sagte ihr Worte, Worte …

Rahel weinte nicht. Sie ward immer gefaßter und ruhiger.

Ihr fehlte jene schmiegsame und nie rastende Einbildungskraft, welche Leas väterliches Erbe war. Lea hätte wie der Vater nach so hartem Zwist alsbald mit allen Möglichkeiten gespielt, welche der andere Tag bringen könne. Anstatt klar nachzudenken, hätte sie erst im Zorn gewüthet und sich dann in allerlei erhebende Versöhnungsscenen hineingedacht, bei welchen sie selbst eine rührende und großartige Rolle spielen würde.

Anders Rahel. Ihr Wesen glich einer geraden, starren und unbiegsamen Linie. Es konnte nicht so weich werden, daß es sich in jede beliebige Form gegeben hätte.

So sah sie nur, daß sich eine Kluft zwischen ihr und den Ihrigen aufgethan hatte, die ihrem Charakter gemäß ihr unüberbrückbar erscheinen mußte.

Lea, wie Vater und Mutter zürnten ihr um einer Sache willen, in der sie sich entschieden im Rechte glaubte.

Man hatte ihr gesagt, daß man die nächsten Tage ihren Anblick nicht ertragen würde. Und sie sah und bedachte nur diese eine harte Thatsache. Sie verstand die Ihrigen nicht genug, um zu wissen, daß diese die bedeutungsvollsten Dinge sagen konnten, ohne eine Stunde nachher denselben noch Bedeutung beizumessen. Aus ihrem eigensten Wesen heraus mußte sie solche Worte ansehen wie erzene Denkmale ewiger Trennung.

Und da die Drei gegen sie, die Eine, waren, so hatte sie zu gehen.

Gerade durch den Mangel an jedem leichtbeweglichen Vorstellungsvermögen, an jeder phantasievollen Abenteuerlichkeit kam sie auf den Gedanken, der ihr natürlich war und der anderen romanhaft vorkommen mußte: sie wollte ihr Vaterhaus für einige Tage verlassen.

Geräuschlos ging sie im Zimmer hin und her und packte sich ein Täschchen voll mit nöthigen Gegenständen. Sie schrieb einige Zeilen an ihren Vater, worin sie sagte, daß sie seinen und Leas Wünschen folge und für einige Tage fortgehe. Sie begebe sich zu Onkel Raimar, wohin man ihr Nachrichten senden möge. In dem ganzen Briefchen war kein pathetisches Wort. Die Schriftzüge waren fest, die Fassung knapp und gleich fern von Schuldbewußtsein wie von Unbescheidenheit.

Dann sah sie nach der Uhr, und als sie den Zeiger noch vor zehn stehen sah, wunderte sie sich nicht. Ländlich früh hatte man sich ja an den Abendtisch gesetzt und das Mahl war bald unterbrochen worden.

Sie horchte auf den Regen, der rann noch immer, und sie dachte, es sei besser, einen Knecht zu wecken und anspannen zu lassen.

Aber das Aufsehen – die Verzögerung – und die Todesmüdigkeit der Leute abends – nein, es widerstrebte ihr.

Sie sehnte sich nach der freien Luft, der Kühle im Regen draußen und nach Bewegung. Mit Bedacht wählte sie starke Schuhe und einen dichten Mantel und ging hinaus.

Auf dem Flur war es dunkel, durch das Treppenhaus aber schimmerte noch Licht. Im Eßsaal hörte Rahel noch sprechen und mit Geschirr klappern, die Leute räumten auf.

Daß durch die Büsche noch Licht vom Wirthschaftshof blinkte, fiel ihr auf. Sie wußte nichts davon, daß Lüdinghausen und Raimar des ersteren Wagen benutzt hatten und daß Raimars Fuhrwerk allein folgen sollte. Raimars Kutscher hatte keine Eile, sich von den ihm befreundeten Stallbedienten auf Römpkerhof zu trennen.

Die Gewohnheit, nach dem Rechten zu sehen. war so stark in Rahel, daß sie unwillkürlich stehen blieb und versucht war, nach [379] den Ställen zu gehen. Aber sie unterließ es doch und ging mit ihrem gewöhnlichen, gleichmäßigen Schritt weiter, zum Parkthor hinaus.

Es war so dunkel, wie eine Regennacht im August nur sein kann. Der schreitende Fuß hob sich schwer aus dem aufgeweichten Boden. Den Schleier, welchen Rahel um ihr Gesicht gebunden hatte, mußte sie entfernen, denn er nahm ihr die Möglichkeit, auch nur das Geringste zu erkennen.

Schwarz war alles: die Luft, die Erde, die Bäume, die Wegeslinie. Dennoch hoben sich aus der Dunkelheit zuweilen die Körper hervor, die durch ihren Mangel an Durchsichtigkeit noch schwärzer wirkten als die Nacht selbst. Die Baumstämme am Wege wurden in einer gewissen Nähe deutlich und an ihnen, die sie alle genau kannte, sah Rahel dessen Richtung, die sie auch durch den tastenden Fuß fand, da dieser ein Abirren in den grasigen Rain sogleich fühlte.

Mit einer drückenden Eintönigkeit war der Regen den ganzen Tag herabgefallen, seit einigen Stunden kämpfte ein leichter Wind mit dem Wolkenmeer am Himmel. Rahel hatte den Wind von der Seite und merkte bald, daß ihr Mantel dort naß und immer schwerer wurde. Dabei schritt sie stetig vorwärts.

Bei der Bewegung des Gehens arbeitete das Gehirn doppelt rastlos und frisch. Rahel wiederholte sich immer wieder, was sie schon seit einer Stunde gedacht; aber ganz unmerklich wirkte das steigende Unbehagen ihres Körpers auf ihre Gedanken und stimmte diese immer zaghafter.

Ihre Schuhe waren ganz durchnäßt, das Kleid, welches ihre Hand bisher zusammengerafft hatte, mußte sie loslassen, weil ihr die Finger lahm wurden. Nun schlug der nasse und bald vom Straßenschlamm schwere Kleidersaum um ihre Füße. Sie stolperte zweimal und erschrak jedesmal so, daß ihr Herz rasend kopfte. Davon stieg ihr das Blut zu Kopf und sie hörte allerlei sausende Geräusche, welche ihre erwachende Angst nach außen verlegte und für Wirklichkeit hielt.

Und jäh wußte sie, daß das, was sie hier that, keineswegs einfach und natürlich war, sondern sinnlos und verzweifelt.

Sie blieb stehen und weinte vor Erschöpfung und vor Scham.

Wie lange sie wohl gegangen sein mochte? Sie wußte es nicht. Der Baum, an welchem sie so jammervoll stand, schien ihr der alte Apfelbaum zu sein, welcher auf der Kohlhütter Grenze die Reihe der Ebereschen am Weg unterbrach. Dann lag mehr als der halbe Weg hinter ihr, und „zurück“, das hieß mehr Mühen, Nässe und Dunkelheit überwinden, als wenn sie sich vollends ans Ziel schleppte.

Zurück?!

Rahel zitterte heftig. Hier in dieser bangen Verlassenheit wurde noch eine Stimme in ihr laut, welche sie im Licht ihres Zimmers nicht zur Sprache hatte kommen lassen. Morgen, wenn sie der Schwester wieder ins Auge sehen mußte, würde diese vielleicht noch einmal sagen: „Du wolltest ihn wohl für Dich selbst!“

Dies Wort konnte sie nicht noch einmal hören. Lieber ewig so fortwandern in Angst und Beschwerde.

Sie wollte weiter, allein ihre Füße gehorchten ihr nicht mehr; ihre Kniee zitterten und es fehlte ihr an Willensmacht, dem Körper zu gebieten. Sie lehnte sich gegen den Baumstamm. Daß sie hier nicht stehen bleiben könne, bis der Morgen tage, war der letzte klare Gedanke, der noch mit ihrer fassungslosen Verzweiflung rang. Sie weinte, weinte alle Thränen, die sie seit Monaten zurückgehalten hatte.

Durch das rauschende Getön der im Wind bewegten nassen Baumkrone klang ein dumpfes Rollen. Sie hörte es gar nicht. Sie merkte nicht, daß ein Wagen herankam, und hätte ihn gewiß mit einem stumpfen Blick äußerster Gleichgültigkeit an sich vorbei gelassen.

Aber der Kutscher hatte neben seinem Bock die Laternen brennen, welche seinen Pferden die nächste Wegstrecke beleuchteten und ihr ausstrahlendes Licht auch über die Bäume am Rain gleiten ließen, so daß diese in ausnahmsloser Regelmäßigkeit vor seinem Auge kurz auftauchten und wieder in die Nacht hinter ihm zurücktraten.

„Na nu,“ sagte der Mann und hielt sein Gespann an, als der Schein ihm eine Gestalt unter dem alten Apfelbaum an der Kohlhütter Grenze zeigte.

„Heda, Sie!“ rief er und senkte seine Peitschenspitze auf die Gestalt zu, als wollte er sie antippen, aber die Peitsche reichte nicht so weit.

Jetzt sah er, daß er ein weinendes Weib vor sich hatte. Das wurde ihm denn doch zu bunt, besonders auch, weil sie nicht antwortete und die Hände nicht vom Gesicht nahm. Er fühlte sich von den Zeiten her, da sein Herr Landrath gewesen war, noch immer als „Behörde“ und hatte die Neigung behalten, mit väterlicher Strenge das junge Volk in der Gegend zu ermahnen. Er kletterte vom Wagen und hatte dabei in Gedanken schon ein Dutzend Personen als verdächtig an sich vorübergleiten lassen.

„I, du lieber Himmel! Das kommt mir doch vor, als wenn’s unsere Trine ist. Und bei solchem Wetter treibst Du Dich auf der Landstraße herum? Wohl wieder hinter dem Heini? He, was? Er heirathet Dich doch nicht.“

Der Alte, dem das Wasser von seinem mit Wachstafft bezogenen Cylinder wie eine Traufe vorn herunterfloß, packte Rahel hart am Arm. Er hatte natürlich nur an irgend eine Kuh- oder Küchenmagd von Kohlhütte gedacht.

Als Rahel die Stimme so nahe hörte und den Griff am Arm verspürte, seufzte sie tief auf und erhob ihr Gesicht.

„Ich bin es, Claußen,“ sagte sie leise.

Der gute Mann war für sie ein Stück von Raimar selbst. Seit sie denken konnte, kannte sie ihn.

Claußen taumelte fast zurück. Die Römpkers waren für ihn, nächst seinem Herrn, die am meisten respektheischenden Personen von der Welt. Aber bei einer solchen Gelegenheit ging der Respekt in Erstaunen, Neugier und abfälliger Kritik unter.

„Na, da hört sich einfach allens auf,“ sagte er breit und sah Rahel von oben bis unten an.

„Da bei Ihnen auf Römpkerhof ist ja wohl heute der Deubel los. Erst muß mein Herr hinfahren, bei dem Wetter, wo wir sonst nicht mal ’nen Ackergaul riskieren, geschweige denn die Füchse. Aber es hilft nicht. ‚Claußen,‘ sagte er, ‚auf Römpkerhof ist was Feierliches im Gange.‘ Schön feierlich! Kunterbunt ist es zugegangen. Vom Essen sind sie weggelaufen und mein Herr fährt mit dem jungen Landrath auf und davon. Und hier finde ich das kleine Fräulein!“

Nach einer kleinen Pause, während welcher Rahel ihn matt ansah, fuhr er zögernd fort:

„Soll ich Ihnen nach Römpkerhaf zurückfahren? Es ist ein bißchen viel für die Füchse, in dem Regen …“

„Nehmen Sie mich mit, Claußen,“ bat Rahel schnell, „ich kann auf Kohlhütte bleiben.“

Aus Rücksicht auf seine Pferde unterdrückte Claußen die Bemerkung, ob man sie zu Hause denn nicht vermissen werde. Er knöpfte das Leder los und half Rahel in den Viktoriawagen steigen. Dabei brummte er, daß ihm so eine verrückte Geschichte auch noch nicht vorgekommen sei und daß man besser gethan hätte, allerseits zu Hause zu bleiben, denn er habe bloß Mühe davon, indem er morgen den Wagen zwei Stunden putzen könne.

Er kletterte wieder auf den Bock und fuhr zu.

Rahel barg sich tief in einer Ecke unter dem Verdeck.

Ihre Thränen versiegten. Sie starrte ins Dunkel. So, schien es ihr, lag auch nachtgleich ihr zukünftiges Leben vor ihr.

Sie fühlte sich ganz aus der ruhig sicheren Bahn ihres bisherigen Seins geschleudert und fragte sich verzweifelt, wie das gerade ihr habe geschehen können, die das Ungewöhnliche nie gewollt und nie gesucht habe.

Es hatte ihr immer als etwas so Selbstverständliches geschienen, Wahrheit zu geben und Wahrheit zu fordern.

Und durch diese Forderung hatte sie sich jetzt von ihrem ganzen friedlich stillen Dasein entfernt und war auf die Bahnen des Ungewissen, ja des Zweideutigen gerathen. Denn was sollte die Welt von einem Mädchen denken, das im Zwist mit Vater, Mutter und Schwester allein in die Nacht hinauslief!

„Und dennoch,“ dachte sie mit einer leidenschaftlichen Festigkeit, „dennoch war es recht. Ich durfte nicht leiden, daß man ihn betrog.“

[389]
8.

Wortlos saßen Raimar und Lüdinghausen nebeneinander. Es wurde Raimar zwar etwas schwer, seine Lebhaftigkeit zu unterdrücken, aber er sagte sich, daß die Aussprache ja erfolgen werde und müsse und daß es taktvoller sei, keine Fragen an Lüdinghausen zu richten.

Man fuhr eine kleine Stunde von Römpkerhof nach Kohlhütte. Eine Stunde Schweigsamkeit für einen Mann wie Raimar – es war in der That eine schwierige Fahrt.

„Donnerwetter,“ dachte er, „hat der Mann ein unheimliches Talent zum Schweigen!“

Als man endlich vor dem langgestreckten, einstöckigen Gutshause hielt, war er ordentlich glücklich. Er konnte sich zunächst Luft machen durch lautes Schelten, denn nirgends brannte Licht, man mußte warten, ehe überhaupt jemand kam.

Seine alte Christel gab ihm, als sie dann erschien, die Schelte gründlich zurück: wenn er anstatt, wie man habe erwarten müssen, spät nachts, schon um halb zehn Uhr nach Hause komme, sei es natürlich dunkel, denn den ganzen Abend unnütz die Räume zu beleuchten, sei Gott sei Dank nicht ihre Angewohnheit; er freilich halte bekanntermaßen nie auf Ordnung und Sparsamkeit.

Sie trug in der Hand eine Dielenlampe mit einem Blechblender, so daß ihr rothes, derbes Gesicht im Schatten blieb. Eine weiße Haubenkrause rahmte ihre Züge ein, eine große weiße Schürze deckte ihr graues Gewand. Christel war von hoher, breiter Gestalt, und ihren derbstapfenden Schritten, mit welchen sie den Herren voranging, merkte man keine Altersschwäche an.

Während sie in Raimars Wohnzimmer, wo es stark und schlecht nach kaltem Cigarrendampf roch, die Lampe anzündete, fragte sie mit der größten Unbefangenheit:

„Was ist denn los, daß Sie schon wiederkommen? Und noch dazu mit einem andern Wagen?“

Ihr Ton war strafend. Sie war es seit fünfzig Jahren gewöhnt, für Raimar zu sorgen, und sah in ihm noch immer ein erziehungsbedürftiges Wesen.

Sicherlich würde er morgen jedes Wort, das gefallen war, mit Christel durchsprechen. Aber in Lüdinghausens Gegenwart war das nicht gut möglich, obendrein wußte er ja den Zusammenhang selbst noch nicht. Raimar hatte in seinen vier Wänden recht wenig zu sagen, er war der Sklave seiner alten Dienstboten. Er fürchtete, Christel zu erzürnen, weil er auf ihre Fragen keine Antwort geben konnte, und bat schmeichelnd um heißes Wasser. Und dabei gab er ihr heimlich einen kleinen Knuff, womit er ihr andeuten wollte: „Sei doch still in Gegenwart des Landraths!“

Christel ging übellaunig [390] hinaus. Jetzt sollte auch noch Punsch getrunken werden; diese abendliche Angewohnheit ihres „Herrn“ hielt sie für sehr gesundheitswidrtg, denn sie wachte noch ebenso ängstlich über sein Wohlbefinden wie damals, als sie ihn gehen lehrte.

„Nun legen Sie ab, lieber Freund! Wenn wir erst ins Punschglas gucken, wird uns Leib und Seele schon wieder behaglich werden. Ein Drache, meine Christel, was? Ader das hat einen großgepäppelt und man hat immer Rücksichten genommen und Rücksichten genommen, bis man glücklich unter dem Pantoffel stand. Na, gut habe ich es ja dabei, pflegen thut sie mich, daß ich keinen Ehemann der Welt zu beneiden habe.“

Er ging auf und ab, rieb sich die Hände, trug Cigarren und Zündhölzer auf den Tisch und wartete, ob Lüdinghausen denn nun nicht endlich reden wolle.

Es war sehr altmodisch, sehr verräuchert und sehr gemüthlich in Raimars Zimmer. Die Lampe, welche auf dem Tisch stand, verbreitete ein durch einen grünen Schirm angenehm gedämpftes Licht.

Die Männer setzten sich an den Tisch einander gegenüber, jeder in einen mächtigen Lehnstuhl. Der blaue Dampf von Raimars Cigarre zog unter den Lampenschirm und in diesem wie in einem Schornstein empor. Lüdinghausen rauchte nicht. Vor ihnen standen die Punschgläser, deren Inhalt Raimar mit Sorgfalt zusammengegossen hatte.

„Wollen Sie mir helfen, alles zu verstehen?“ begann Lüdinghausen plötzlich.

„Na endlich,“ erwiderte Raimar in naiver Zufriedenheit. „Fragen Sie, sprechen Sie, erklären Sie! Stehe ich doch zunächst ganz dumm und stumm vor lauter Räthseln. Lädt mich mein alter Römpker da ein – wie er durchblicken läßt, um mir Leas Verlobung mit Ihnen anzukündigen, und was erlebe ich? Rahel nimmt ihrem Alten das Wort vom Munde weg und proklamiert Clairon. War nun Rahel nicht bei Sinnen? Ober sind die andern verrückt?“

Lüdinghausen lehnte sich zurück und sah in die Lampe. Auf seinem bleichen Gesicht war ein neuer Ausdruck, ein belebter und nervöser Zug, den Raimar zuvor nie in diesem strengen, ein wenig zu gemessenen Antlitz gesehen hatte.

Ueber was er in der langen, schweigsamen Stunde gegrübelt hatte, das mußte jetzt ausgesprochen werden. Er, der stets Verschwiegene, empfand zum ersten Male in seinem Leben das Bedürfniß, sein Herz auszuschütten und auch einen andern sprechen zu hören über das, was ihm begegnet war.

„In der That, – wir waren auf Römpkerhof beisammen, um Ihnen die Verlobung zu verkünden, welche Sie zu hören erwarteten,“ begann er. „Lea hatte mir gestern abend in Gegenwart ihres Vaters ihre Hand zugesagt. Seit Wochen hat sie meine Bewerbungen begünstigt, ja, wenn ich unerbittlich wahr gegen sie und mich sein soll: erst ihr sichtliches Entgegenkommen erweckte in mir den Gedanken an diese Bewerbung. Denn ich bin kein leidenschaftlicher Mensch, der unter dem Eindruck eines verliebten Augenblicks handelt. Ich wollte heirathen und ich hatte eine bestimmte Ansicht von denjenigen Eigenschaften, welche ich von meiner Frau fordern mußte. Als Lea ein deutliches Wohlgefallen an mir zeigte, fing ich an, sie zu beobachten, und meinte, an ihr alle Ergänzungen zu finden, deren ich bedurfte. So warb ich um sie; ich durfte mich von ihr geliebt glauben und nahm ihr Jawort als Bestätigung dieses Glaubens hin.“

„Hören Sie ’mal,“ unterbrach ihn Raimar, „ich bin ein alter Junggeselle und versteh’ mich nicht aufs Freien. Aber mir scheint, verliebt, so rechtschaffen blindlings verliebt in Lea sind Sie nicht gewesen.“

Lüdinghausen erröthete. Er dachte an das Herzklopfen gestern abend, als er Lea so schön und begehrenswerth gefunden hatte. Nein, das war dennoch keine Liebe gewesen. Und nun peinigte ihn die Erinnerung, daß sein Blut ihretwegen in Wallung gekommen war.

„Sie scheinen zu denken wie mein Vater,“ sagte er mit mattem Lächeln. „Also gestern gab sie mir ihre Hand und heute höre ich, daß sie es in schändlicher Lüge gethan hat.“

Er richtete sich plötzlich lebhaft auf und rief mit einer Wärme, mit einer Begeisterung, wie sie noch nie ein Mensch an ihm bemerkt hatte:

„Die edle Schwester aber, o, die wollte keine Lüge dulden. Mir ist, als sehe ich in ihre Seele, in diese wahrhaftige, tapfere Seele hinein. Sie wußte von der Liebe – nein, sagen wir hart und offen – von dem Liebesverhältniß Leas zu Clairon. Und als man ihr sagte, Lea wolle mein Weib werden, mag sie gewarnt, gebeten, beschworen haben. Sie wollte nicht, daß die Schwester ein solch unwürdiges Unrecht begehe. Vielleicht wollte sie auch nicht, daß man mich zum Opfer einer schnöden Lüge mache. Sie fühlte stolz für die Ihrigen, stolz für mich. Und als man nicht auf sie hörte, griff sie mit muthigen Händen in die Speichen des rollenden Rades und hielt es auf, damit es nicht zermalmend über meine Mannesehre gehe!“

Er sah mit großen, leuchtenden Augen ins Dunkle. als schaue er dort auch jetzt, wie er’s die ganze Fahrt hindurch gesehen, das bleiche Mädchen mit vorgeneigtem Leibe und dem bangen Gesicht. Er sah die feinen Nasenflügel beben und hörte immer und immer wieder die Stimme, die so klar, so metallen gesprochen hatte.

Raimar sah sein Gegenüber verdutzt an.

Von diesem Standpunkt aus hatte er Rahels Benehmen freilich noch nicht betrachtet. Er besann sich lange.

Ja freilich, wenn sich alles so verhielt, war die Rahel ein kleiner Held gewesen. So ein weibliches Heldenthum ist zwar meistens für die betheiligte Familie recht peinlich – na, einerlei! Offenbar hatte er das Mädel immer unterschätzt und ihr Lea mit Unrecht vorgezogen, worüber er jetzt große Reue fühlte. Diese verflixte Lea! Wer hätte das für möglich gehalten! Das war ja wie auf einen französischen Roman angelegt, und am Ende hatte sie gar gedacht, auch nach der Heirath mit dem einen dem andern nicht zu entsagen. O – o ... Raimar schüttelte den großen Kopf und trank sein Punschglas auf ein Mal aus.

Lüdinghausen hatte sich gefaßt, seine Worte klangen ruhiger, als er fortfuhr:

„Es liegt wohl in allen Menschen, daß sie ein wenig am Treppenwitz kranken, das heißt, erst nachträglich alles recht verstehen. So wird mir jetzt erst beim Rückblick mancher kleine Zug klar in meinen Begegnungen mit Clairon. Wäre er für mich nicht ein völlig gleichgültiger und unbedeutender Mensch gewesen, so würde ich die Unarten, die er von Anfang an gegen mich ausspielte, bemerkt und bestraft haben; ich würde erkannt haben, daß er von jeher in mir den Nebenbuhler wußte und haßte, daß er selbst um Lea warb und im Einverständniß mit ihr war und blieb. Weshalb haben die beiden sich nicht geheirathet? Weshalb forderte sie meine Bewerbung heraus, indem sie mich an Liebe oder mindestens an ein sehr warmes Interesse glauben ließ? Sehen Sie, Raimar, da ist ein dunkler Punkt für mich. Wären es eben nicht Römpkers, so könnte man sagen, sie wollten die reiche Partie. Aber ihnen, dem alten Geschlecht, den reichen Grundbesitzern, mußte der Graf doch willkommener sein als der Sohn des Industriellen, der sich selbst emporgearbeitet hat.“

„Mein guter Lüdinghausen,“ sagte Raimar und faltete die Hände vor dem Magen, indem er sich weit zurücklehnte, „das ist mir ebenso unverständlich wie Ihnen. Ich habe wohl mal so was läuten hören, Lea wolle einen aparten Mann, sie wolle groß dastehen in der Welt. Allein Clairon, den sie liebte, war ja gerade deshalb der Mann für sie – denn ‚Gräfin Clairon‘ – das ist doch ein schöner, stolzer Name.“

Sie grübelten beide schweigend weiter. Raimar rauchte sehr stark. Er hatte so seine Gedanken, die er sich aber wohl hütete, laut werden zu lassen. Er kannte Römpker wie seine eigne Tasche und wußte gut, daß der allezeit vom Rechnen nicht viel hatte hören mögen. Er war mit seinen Gedanken auf der allerrichtigsten Fährte, auf einer noch richtigeren als selbst Rahel. Diese hatte oberflächlichen Familienhochmuth angenommen bei der Weigerung ihres Vaters, den alten, schuldenfreien Besitz zu belasten, allein wenn das auch bei Lea zutraf, so war doch bei Herrn von Römpker die Angst vor Einschränkungen, die ein unbemittelter Schwiegersohn nothwendig ihm auferlegte, der Hauptgrund seiner Ablehnung Clairons und auf der andern Seite seiner Freude an Lüdinghausen.

„I, der alte Egoist,“ dachte Raimar bei sich. „Aber das muß man ihm lassen, er ist Egoist mit Grazie.“

Nach einer Weile fiel ihm noch etwas ein, etwas sehr Unangenehmes.

„Es ist eine verfluchte Geschichte,“ begann er. „Und sie wird sich herumsprechen, ja, das wird sie. Die Baronin saß dabei, und man hätte zu borniert sein müssen, wenn man nicht verstanden [391] hätte, daß der Papa ‚Lüdinghausen‘ sagen wollte, als Rahel ‚Clairon‘ dazwischen rief. Ich fürchte, mein lieber Freund, wir werden Sie noch darüber verlieren, denn Sie werden kaum Lust haben, in einer Gegend zu bleiben, wo Sie in der Gesellschaft und im Amt Römpker stets begegnen müssen, wo es Ihnen nicht verhohlen bleiben kann, daß man Sie zum Gegenstand endlosen Klatsches macht. Denn hier kommt so selten etwas vor, daß man an jedem Ereigniß, ewig herumkaut, ehe man es runterschluckt. Ganz verdauen thut das Gedächtniß einer kleinen Stadt nie.“

Lüdinghausen sah ihn an. Alle Wärme, die vorhin sein Gesicht so schön durchleuchtet hatte, war wieder erloschen. Er sah wie immer kühl und klug aus.

„Sie sind völlig im Irrthum, lieber Raimar,“ sprach er langsam. „Die Gründe, welche mich bestimmten, einen Wirkungskreis wie diesen zu suchen, waren tief erwogen und wurzelten in der Erkenntniß der Größe meiner künftigen Pflichten. Sie bestehen doch unverändert fort, diese Gründe, und haben mit meinem Privatleben nichts zu thun. Den kleinen Ereignissen in diesem darf ich die Ernsthaftigkeit jener nicht unterordnen, ganz abgesehen davon, daß es mir beinahe albern vorkäme, mit dem Staat so kurzer Hand umzuspringen, ihm mit meiner etwaigen Empfindlichkeit lästig zu fallen, indem ich sagte: erst habe ich dich um ein Amt gebeten, du hast es mir gegeben; nun hat mich hier jemand belügen wollen, also nimm mich weg und gieb mir eine andere Stätte. Aber diese Empfindlichkeit ist nicht vorhanden, mein lieber Raimar, ich versichere Sie. Wie schlecht müßte es um mein Selbstbewußtsein bestellt sein, wenn ein paar neugierige Blicke, ein paar unzarte Bemerkungen es schon zu erschüttern vermöchten. Ich denke das mit Gleichmuth zu ertragen!“

Dieser ruhige Stolz machte auf Raimar einen tiefen Eindruck. Er fühlte wieder, daß es ein ganzer Mann war, der ihm da gegenübersaß.

„Aber die Römpkers?“ fragte er zaghaft. „Sehen Sie, ich werde ja hinfort Bedacht nehmen, Sie nie zusammen einzuladen. Allein andere werden es mit harmlosen Mienen und mit heimlicher Schadenfreude thun.“

Erasmus Lüdinghausen lächelte ein wenig.

„Wenn Herr von Römpker und Fräulein Lea sich nicht scheuen, mir zu begegnen,“ sagte er – „mir scheint, ich bin es nicht, der die Augen niederzuschlagen hat. Mögen sie mich meiden oder mich treffen – es ist ihre Sache, nicht die meine.“

Der gute Raimar hatte allerdings nicht diese souveräne Höhe der Anschauung. Er suchte nach erleichternden Auswegen und rief:

„Nun, das wird sich alles besser und leichter machen, als man heute denkt. Clairon und Lea werden um jeden Preis sehr schnell heirathen, dann läßt Clairon sich versetzen und die beiden sind aus dem Wege.“

„Glauben Sie so gewiß, daß der Graf Fräulein Lea heirathet?“ fragte Lüdinghausen erstaunt.

„Lea muß ihn jetzt doch nehmen,“ sagte Raimar, „die etwaigen finanziellen Schwierigkeiten werden und müssen geebnet werden, der Alte muß eben rechnen lernen.“

Das entfuhr ihm so unbedacht. Lüdinghausen hemmte einen Laut auf seiner Lippe, aber in seinem Auge blitzte es auf. Diese Worte hatten ihm endlich einen erhellenden Funken in die Seele geworfen und dort rasch das Licht eines völligen Verständnisses entzündet.

Trotzdem verrieth er dem guten Mann, den wohl der schnell getrunkene Punsch so redselig machte, mit keiner Silbe, daß er verstanden habe.

„Ich kenne den Herrn Grafen zu wenig,“ sagte er, „ich weiß nicht, wie er handeln wird. Ich weiß nicht, ob er Fräulein Lea nehmen wird – das war es, was ich sagen wollte. Jeder hat seine eignen Ehrengesetze: die meinen würden mir verbieten, ein Mädchen noch zu heirathen, das sich ohne wahrhaft innerlich zwingende Gründe einem andern geben wollte.“

„Ah,“ machte Raimar verblüfft. Die Möglichkeit schien ihm denn doch undenkbar. Lüdinghausen war auch zu strenge.

„Da kenne ich Clairon besser. Er wird tüchtig wettern, sich vielleicht mit Ihnen schlagen wollen, aber schließlich …“

Lüdinghausen konnte nicht mehr einwenden, daß eine Forderung Clairons an ihn ja der bare Unsinn wäre, denn Raimar unterbrach sich, sprang auf und eilte an das Fenster.

„Ein Wagen? Das ist Claußen natürlich. Aber warum fährt er hier vor? Gewiß noch eine Bestellung von Römpker.“

Er stieß mit der Stirn an die Scheibe, hinter derselben war ägyptische Finsterniß, denn die Läden waren schon vorgemacht.

„Hier ist die Welt buchstäblich mit Brettern vernagelt. Na, da bin ich aber begierig …“

Draußen wurde es schon laut, denn Christel hatte mit einem heißen Punsch die Heimkehr ihres Freundes Claußen erwartet, um den zweifelsohne Durchnäßten vor Rheumatismus zu schützen. Claußen war nicht mehr so wetterfest wie die zehn Jahre ältere Christel.

„Herrjes! Herrjes!“ hörte man Christel zweimal laut rufen.

Raimar riß die Thür auf und prallte zurück.

Da stand eine Gestalt auf der Schwelle, in nassen, dunklen Kleidern, mit verwirrtem Blondhaar und großen, traurigen Augen im blassen Gesicht. Sie neigte das Haupt wie ein armer Sünder, der lieber sterben als noch weiter fliehen will.

„Rahel!“ schrie der alte Mann.

„Rahel,“ sagte leise der andere, der bleich wurde und so erschrak, daß er sich mit dem Rücken gegen den Ofen lehnen mußte, vor dem er gerade stand. Einen Herzschlag lang war ihm, als müsse er vorwärts stürzen zu ihr hin, sie umklammern und zu ihren Füßen ihr danken für das, was sie für ihn gethan hatte.

Der Schreck lähmte ihn. Wie sie aussah! Wie jemand, der in höchster Lebensnoth ist. Und das Antlitz, das er immer wie einen lichten Tag gefunden, es war gefurcht von Thränenspuren und gleichsam verdunkelt von Leiden.

„Mein Kind,“ rief Raimar und suchte sie an der Hand zu fassen und an sich zu ziehen. „Wo kommst Du her? Was haben sie Dir gethan?“

Rahel folgte ihm wankend ins Zimmer. Sie schüttelte stumm den Kopf.

Christel hatte sich in aller Geschwindigkeit von Claußen unterrichten lassen.

„Er hat ihr unter unserm alten Grenzapfelbaum gefunden. Da stand sie und weinte. Sie wollte, daß er sie hierherbringe, und das that er denn auch,“ erzählte sie. „Mein Gott, das arme Kind! Wir behalten ihr wohl hier die Nacht? Ich will man gleich die blaue Stube aufschließen und das Bett wärmen.“

Christel hatte an allen Römpkers viel auszusetzen, sie waren ihr zu vergnügungssüchtig und sie sah in Römpker den Verführer ihres Herrn. Nur bei Rahel machte sie eine Ausnahme, ihr war sie sehr zugethan, ja sie fühlte ein Anrecht an sie, weil ihr Herr Rahel aus der Taufe gehoben hatte. Was auch geschehen sein mochte – daß das Mädchen hierher zu Raimar und Christel gekommen war, bewies für Christel ohne weiteres, daß die Arme jedenfalls im Recht sei. Sie ging, um alles für ihre Aufnahme zu bereiten.

„Was ist Dir geschehen?“ rief Raimar und half ihr mit ungeschickten Händen Hut und Mantel ablegen.

„Nichts,“ hauchte sie.

„Ach was! Um nichts läuft ein so verständiges kleines Menschenkind nicht in die Nacht hinaus,“ schalt er.

Da fiel sie ihm um den Hals.

„Sie sagten schlimme Worte, aber ach, sie haben sie nicht so gemeint. Ich war so thöricht, ich glaubte wirklich, sie wollten mich nicht mehr sehen. Doch ich hätte warten sollen – morgen vielleicht, morgen denken sie gewiß anders.“

„Jawohl, Du bist ein kleines Schäfchen,“ sagte Raimar tröstend, der sich dabei recht wohl vorstellen konnte, wie man gegen die arme Rahel getobt hatte, „natürlich haben sie es nicht böse gemeint. – So, so!“

Er klopfte ihr leise auf den Rücken, wie er es hatte bei Kindern thun sehen.

Sie blieb still an seiner Brust. Aber über seine Schulter hinweg fanden plötzlich ihre Augen ein anderes Augenpaar, das dort aus der Dämmerung her unverwandt ihre Blicke suchte.

Sie konnten sich nicht losreißen voneinander, diese Augen, und es schien, als wollten sie Seelen ergründen.

Während Raimar so das Mädchen lange und still in seinen Armen hielt, erwachten allerlei sonderbare Gedanken in ihm. Erst fand er es doch sehr unangenehm, daß Lüdinghausen mit jemand von Römpkers zusammengetroffen sei, dann fielen ihm die [392] begeisterten Worte ein, die Lüdinghausen über Rahel gesprochen hatte. Er schielte, so gut er konnte, seitwärts auf sie nieder und sah ihre Augen groß dahin gerichtet, wo Lüdinghausen stehen mußte. Und daß dieser sich so mäuschenstill verhielt, war ihm verdächtig. Ein Lächeln zog plötzlich über sein Gesicht, ein ganz verschmitztes, vergnügliches Lächeln.

„Müssen wir einen Reitenden hinüberschicken, oder suchen sie Dich nicht?“ fragte er nach einem Weilchen, sie loslassend.

„Sie suchen mich nicht. Ich habe geschrieben, daß ich zu Dir gehe,“ flüsterte Rahel.

„Gut, also schicke ich morgen mit dem frühesten einen Brief an die Deinen und frage an, ob Du heimkommen sollst. Und da ist auch schon Christel und will Dich zu Bett bringen.“

Christel hatte den linken Arm voll mit allerlei Gewandstücken und Sachen, deren Nothwendigkeit für Rahel nicht recht erfindlich war. Mit der Rechten faßte sie ihren Schützling jetzt so vorsichtig an wie ein rohes Ei.

Rahel folgte ihr. An der Thür blieb sie stehen und ihre Augen richteten sich noch einmal mit einer bangen, großen Frage auf Lüdinghausen. Und er war mit zwei Schritten bei ihr und neigte sich tief auf ihre Hände, die er zugleich erfaßte und mit Bewegung küßte.

„Ich danke Ihnen,“ sagte er leise.

Da ging über ihr Gesicht ein Schimmer seliger Verklärung. Nun war alles gut und alles ließ sich ertragen. Er dachte gut von ihr, er hatte sie verstanden. Wortlos neigte sie das Haupt und ging mit leichten Schritten davon.

„Ja, ja,“ sagte Raimar hinter ihr her, „sie ist ein Charakter.“ Er begriff jetzt gar nicht mehr, daß er Lea stets höhergestellt hatte. „So sind wir Männer aber. Eine schöne Figur, ein Paar verheißender Augen mit so einem gewissen Aufschlag à la Lea – und weg sind wir.“

„Ja,“ bestätigte Lüdinghausen, in Gedanken verloren, „neben dem Flitter übersehen wir das echte Gold.“

„Kommen Sie – setzen wir uns wieder. Noch einen Punsch!“ bat Raimar.

„Nein, ich danke.“

„Einen halben?“

„Mein Kutscher und meine Pferde sind solche Rücksichtslosigkeiten von mir nicht gewöhnt; ich muß wirklich heimfahren.“

„Aber wir haben noch so viel zu besprechen,“ bat Raimar und drängte seinen Gast in den Lehnstuhl zurück. „Zum Beispiel, wie wird es nun mit Ihrem Vater?“

„Der kommt wohl morgen abend und anstatt der erwarteten Schwiegertochter findet er seinen Sohn um eine Erfahrung reicher,“ sagte Lüdinghausen mit einem ganz muntern Gesicht.

„Wissen Sie – Ihr Alter kann bei mir wohnen. Einverstanden?“ Raimar floß von herzlichen Gefühlen förmlich über.

„Wenn mein Vater will – gern.“

Beide Männer hatten dabei einen versteckten Gedanken. Der Sohn hoffte, daß sein Vater dann Rahel kennenlernen werde, Raimar dachte Rahel festzuhalten und sie „dem alten Lüdinghausen von allen Seiten in großartigster Beleuchtung vorzuführen.“

Auf einmal schlug Raimar mit der Faust auf den Tisch.

„Fortan will ich ihr Vater sein. Ich habe ein Recht an sie – hab’ bei ihr Gevatter gestanden und werde diese Rechte geltend machen.“

„Wie merkwürdig,“ erwiderte Lüdinghausen, „sonst kam sie mir immer so gesetzt, so kaltblütig und ein wenig altjüngferlich vor. Heute abend war sie wie ein Kind, so rührend jung und schutzbedürftig.“

„Und was mir besonders von der Rahel gefällt,“ fiel Raimar ein, „ist, daß sie trotz ihrer zurückgedrängten Stellung stets von sich wußte, was sie war. Sie blieb bescheiden, weil die Familienverhältnisse sie nicht aufkommen ließen, aber sie trug doch den Kopf fest und hoch. Ich erinnere mich – es war bloß Spaß – man wollte, daß ich noch heirathen solle; aus Unsinn hielt ich um Lea an, wie gesagt, aus Spaß, und die sagte Nein. Und da fragte ich die Rahel. Was denken Sie wohl, was das Mädel antwortete: ich hätte Dich genommen, Onkel Raimar, wenn Du mich zuerst gefragt haben würdest, aber was Lea übrig läßt, das mag ich nicht.“

Er lachte jetzt noch beifällig im Gedanken an jene Antwort.

Lüdinghausen stand auf. Seine Augen blickten wieder ernst, seine Züge waren plötzlich sehr abgespannt. „Nun will ich endlich fahren,“ sagte er. Sein Ton war ganz klanglos.

Raimar erschrak. Hatte er da nicht eben eine furchtbare Dummheit gemacht? „Wie gesagt, Rahel machte Spaß,“ stotterte er.

Lüdinghausen lächelte schmerzlich und schwieg.

Was war da auch viel zu sagen? Welches Weib würde es wohl vergeben können, daß man monatelang nicht sie bemerkt hatte, sondern nur neben ihr die prunkende Eitelkeit? Wie konnte eine Rahel das noch für werthvollen Besitz erachten, was sich zum Spielzeug einer Lea hergegeben hatte?

Er fuhr davon und sein unbegründetes Glücksgefühl war völlig einer nur zu begründeten Niedergeschlagenheit gewichen.

Und er dachte daran, daß er die Nacht vorher auch nach Hause gefahren war, aber wie anders!

Nun hatte er doch keine Programmerfüllung erlebt, sondern einen Roman, einen sehr gewöhnlich begonnenen und sehr hoffnungslos endenden Roman.

[409]
9.

Graf Clairon brauchte kein Unwohlsein vorzuschützen, um sich den folgenden Tag dienstfrei zu machen. Seine Stirn brannte, seine Hände waren kalt, sein Auge glänzte fieberisch.

Auf seine Abmeldung hin kam pflichteifrigst von selbst der ihm befreundete Stabsarzt und fand es ganz begreiflich, daß Clairon sich bei dem Regenschauer gestern einen kleinen Fieberzustand zugezogen hatte. Die Schwadron war ja überhaupt nur einmal naß und gar nicht wieder trocken geworden. Er verschrieb ihm ein fieberstillendes Mittel und fragte, ob man ihm abends durch einen Skat die Zeit vertreiben solle und welche Herren ihm dazu erwünscht seien. Clairon dankte; er fühle sich so ernsthaft schlecht, daß er den ganzen Tag zu verschlafen suchen wolle.

So ließ man ihn denn ziemlich ungestört.

Zuweilen sprach der eine oder andere Kamerad vor und fragte nach seinem Ergehen.

Ehrhausen saß eine Viertelstunde bei ihm und redete ruhig über das Wetter, die bevorstehenden Brigadeexerzitien und die Dauer des Manövers. Als er ging, hielt Clairon lange seine Hand fest und sagte:

„Sie dürften ein offenes Wort von mir erwarten, lieber Ehrhausen. Sie waren gestern abend Zeuge eines räthselhaften Vorgangs. Vergeben Sie mir, wenn ich noch schweige! Ich muß das allein mit mir abmachen.“

Eine Thräne flimmerte in seinem Auge.

„Es giebt Fragen, für deren Entscheidung wir nur die Richterstimme in der eigenen Brust anhören dürfen,“ sprach er weiter und seine Stimme bebte.

Ehrhausen war tief erschüttert, den stolzen und glänzenden Mann in solcher Gemüthsverfassung zu sehen. Er konnte ihm nur wieder und wieder die Hand drücken.

„Wenn ich um eins bitten darf, so veranlassen Sie [410] unsere liebe, kleine Baronin, zu schweigen von – von – jener Verlobungsanzeige, die Sie von Rahel gehört haben.“

Ehrhausens Stirn verschattete sich.

„Sie wissen, mein lieber Freund, daß meine Frau wie ein Kind ist und ihre Zunge nicht bewachen kann. Sie meint es nicht böse, sie will nicht klatschen. Aber das entfährt ihr so – sie kann nicht anders. Und so fürchte ich, hat sie schon heute vormittag der Frau des Rittmeisters von Fahning erzählt, daß Sie sich doch mit Lea verlobt hätten. Und die Fahning, immer bestrebt, sich auch als eine der Intimen von Römpkerhof hinzustellen, obschon man sie dort alle Jahr nur einmal einlädt, wird eilig ihre Wissenschaft verbreitet haben.“

Clairon seufzte schwer. Aber er gab dem Kameraden nochmals mit festem Druck die Hand.

Am späteren Nachmittag konnte er schon an den Gesichtern und Bemerkungen der Kameraden sehen, daß die Geschichte herum war.

Man neckte ihn wegen des Pechs, gerade heute krank zu sein. Man machte allerlei Anspielungen über Gerüchte, die umgingen und deren beneidenswerther Held er sei.

Clairon bat, daß man doch solchem Geschwätz nicht glauben solle. Wenn er ein besonderes Ereigniß mitzutheilen hätte, dürften die Kameraden gewiß sein, daß er selbst sie unverzüglich in Kenntniß setzen würde.

Er zeigte dabei eine ruhige Miene und sein Ton war fest, aber er litt unaussprechlich.

Endlich kam niemand mehr.

Er konnte die zahllose Male unterbrochenen Gedanken aufnehmen und weiter, immer weiter ausspinnen.

Das war eine quälerische Arbeit. Er überdachte sein Lieben, sein Irren und sein Entsagen.

Solche Stunden haben den Zeitwerth von Jahren für die Seele. Die Selbsterkenntniß steht auf und nimmt den verblendeten Augen die Binde ab. Und die Wahrheit, welche sie nun schauen, ist ein Anblick, der die Stirn furcht und die Wangen bleicht.

Sein Herz und seine Ehre fingen einen harten Handel miteinander an.

Das schöne, verführerische Mädchen, welches er auch jetzt noch heiß und verlangend liebte, schien vor ihm zu stehen und ihn zu bitten: „Nimm mich hin!“ Er sah sie so genau vor sich, daß ein Schauer ihn durchrieselte, halb des unheimlichen Bangens, halb der Sehnsucht.

Seine Lippen brannten, diese Lippen, die ihr rother, glühender Mund so oft geküßt hatte.

Ihm war, als müßte er sich auf sein Roß werfen und zu ihr hinjagen und in ihren Armen alles vergessen. Er wollte die Besinnung verlieren im Glück ihres Besitzes.

Er warf sich auf sein Sofa und drückte das Gesicht in die Kissen. Wie qualvoll! wie qualvoll!

War es nicht Wahnsinn, auf ein Weib zu verzichten, nach dem jeder Nerv seines Wesens begehrte?

Er richtete sich wieder auf. Er ging in der Geschichte seiner Liebe zurück bis zu ihren Anfängen und lebte alle zarten, heimlichen Freuden und Zweifel jener ersten Zeit noch einmal durch.

Dann ward er ihrer Gegenliebe sicher und warb um sie.

Und da begann seine Schuld. Ja, seine Schuld, welche er sich erbarmungslos eingestand.

Sein Hochmuth und seine Eitelkeit hatten sich mit ihrem Hochmuth und ihrer Eitelkeit verbündet, anstatt daß er mannhaft und stark sie zum Erkennen geführt hätte.

Wie jämmerlich erschienen ihm heute diese Bedenken um Geld und Gut und was die Leute dazu sagen, daß man nicht so unabhängig und reich sei, als man bisher geschienen!

Wie kläglich fand er sich selbst, daß er, anstatt solche Bedenken stolz von sich zu weisen, sie getheilt und für richtig gehalten hatte!

„Lea,“ hätte er sagen müssen, „wenn Du mich wahrhaft liebst wie ich Dich, dürfen uns diese Fragen nur nichtig sein. Können wir nicht im Glanz freien, so freien wir eben in Bescheidenheit. Die Liebe sei uns Glanz und Glück genug.“

Und dann, wenn sie trotzdem in ihrer Eitelkeit verstrickt blieb, hätte er sagen müssen: „Leb’ wohl!“

Stark und streng hätte er ihr entgegen halten müssen: „Entweder Du wirst meine Braut oder wir trennen uns auf immer.“

Aber das kochende Blut seiner Jugend hatte nicht von ihr lassen wollen. Ihre Augen hatten ihn verlockt, und heimlich war er ihr fort und fort so begegnet, als seien sie Brautleute.

Und er hatte ihre spielenden leichtsinnigen Redensarten über die Heirath mit einem andern angehört, hatte ihr nicht zornig verwehrt, dergleichen auch nur zu denken. Er hatte alles hingehen lassen und heimlich, heimlich geglaubt, das könne sie doch niemals thun.

Sie aber gab ihre Hand dennoch förmlich und feierlich einem andern! Und wenn diese ehrliche brave Rahel nicht gewesen wäre, hätte er dabei sitzen müssen und anhören, wie man Lea als künftige Frau Lüdinghausen beglückwünschte.

Maßloser Zorn wallte in ihm auf. Er hätte sie erwürgen können. Er liebte sie und hätte sie zugleich tödten mögen.

Dann kam wieder sein Verstand mit allerlei Scheingründen.

Rahel hatte ihn selbst als Verlobten Leas genannt vor mehreren Zeugen. Diese hatten schon davon gesprochen und Lea war schwer beschimpft, wenn er sich zurückzog. Rahel war die Verantwortliche, sie hatte seine Kavaliersehre herangezogen, flüsterte eine feige Regung ihm zu, eigentlich handelte er in einem Zwang und sein Gewissen brauchte nicht dreinzureden.

Er ging in seinem Zimmer mit großen Schritten hin und her. Sein Herz klopfte, daß er in den Schläfen das Hämmern des Blutes hörte.

Wenn wirklich für ihn als Mann der Zwang vorliegen würde, das Mädchen zu heirathen? Diese Frage, die seinem geheimsten Sehnen entgegenkam, machte ihn schwindeln.

Das Entsagen ist so schwer, so übermenschlich schwer! Und besonders dann, wenn es aus freigeborener Entschließung geschehen soll. – –

Er versuchte darüber nachzudenken, was er sagen würde, wenn er diesen Fall für einen Dritten zu entscheiden hätte.

Sekundenlang huschte der Einfall durch sein Hirn, daß er rathen würde: fordere diesen Lüdinghausen und tödte ihn, damit der Mann nicht mehr athmet, dem sie sich geben wollte und der sich von ihr geliebt glaubte.

Doch sofort erkannte er, daß das unreif und sehr knabenhaft gehandelt sein würde. Lüdinghausen hatte ausdrücklich erklärt, von dieser Nebenbuhlerschaft keine Ahnung gehabt zu haben. Und Lüdinghausen, das fühlte Clairon wohl, wäre nicht der Mann gewesen, um Lea zu werben, wenn er die Wahrheit geahnt hätte. Sie waren beide gleich schwer gekränkt, ja, wenn er unerbittlich wahr sein wollte – Lüdinghausen noch schwerer.

Und ihn, der um seinetwillen in solche Lage gekommen war, wollte er noch fordern?

Das war jedenfalls Thorheit.

Er dachte mit einem Gefühl der Achtung und Theilnahme an Lüdinghausen, dessen Haltung gestern abend sehr männlich gewesen war.

Und diesen Mann, der seinem ganzen Auftreten und seiner ganzen Persönlichkeit nach nicht sehr einlud, ein Spiel mit ihm zu wagen, diesen hatte Lea so getäuscht, daß er an ihre Neigung für ihn glaubte! Welche fluchwürdige Komödie!

Robert Clairon trat ans Fenster und sah auf die nächtige Straße der kleinen Stadt hinaus.

Der Regen hatte heute nachgelassen, aber zwischen den unregelmäßigen Pflastersteinen standen vereinzelt blanke kleine Lachen. Die Laterne, welche auf einem eisernen, aus der Hausmauer gegenüber vorspringenden Arm brannte, beleuchtete dort den Bürgersteig. Ganz selten ging in ihrem Schein jemand an den Häusern entlang. Die Schritte verhallten allmählich und fern hörte man manchmal eine Thürglocke bimmeln.

Die Augen des Mannes am Fenster trübten sich.

Wie eng das Leben! Wie einförmig der Dienst! Wie vorgezeichnet das ganze lange Dasein!

Und die eine heiße Sonne darin untergegangen für immer! Die Liebe verloren, die Hoffnung verdorrt!

Es war dunkel und niemand da, der sehen konnte, wie sich die Lippen unter dem blonden Bart fest, fest zusammenpreßten, wie das Haupt sich stolz wieder erhob und die Stirn sich furchte.

Wenn der Tag aufdämmern wird, findet er eine Falte auf dieser Stirn, die vorher nicht dastand, die aber nie mehr verschwinden wird.

Das kam daher, weil diese Stirn sich auf ein Grab geneigt hatte, ehe sie dem Leben wieder Trotz bot. –

[411] Der Kampf war zu Ende. Die Ehre hatte in ihm gesiegt.

Clairon machte Licht, seine Hände bebten nicht. Er setzte sich an den Tisch und schrieb:

„Lea, ich muß Dir für immer Lebewohl sagen. Ich erkenne an, daß auch ich schwer an Dir, an mir selbst und meiner Ehre gefrevelt habe, als ich darein willigte, Dich wieder und wieder zu sehen. Als Mann hätte ich Dich zwingen sollen, trotz all der vermeintlichen Hindernisse, welche nur in unserm Hochmuth solche waren, meine Braut zu werden oder mich zu lassen. So bin ich Dein Mitschuldiger, und die Strafe, welche mich heute trifft, trage ich zu Recht. Aber daß Du mich lieben und Dich zugleich einem andern als Gattin geben wolltest, macht Dich unwürdig des Namens einer Gräfin Clairon. Ich könnte und dürfte Dir nicht mehr mit ruhigem Bewußtsein die Ehre dieses Namens anvertrauen. Ich weiß es, ich thue Dir mit diesen Worten unaussprechlich weh. Aber der Tod ist wohl immer schmerzhaft, und von heute an soll und muß unsere Liebe todt sein und bleiben.
Robert, Graf von Clairon.“ 
*               *
*

Lea wachte im Bett und hörte, wie vor ihrem Fenster die Spatzen laut waren und sich trotz des düstern Tages vergnüglich wichtig machten. An den Falten des Betthimmels hing ein grau-brauner Nachtschmetterling; er war lange wild und planlos umhergeflattert, vergebens nach einem Ausweg suchend. Dabei hatten seine Flügel den Sammetschmelz verloren. Jetzt saß er da, sich mit klammernden Beinchen an dem bunten Stoff haltend, und ab und zu ging ein Zittern durch seinen Leib, die müden Flügel klappten auf und legten sich wieder.

Alles war grau und glanzlos, das Stückchen Himmel über den Baumkronen regendunkel, die Lindenblätter wie von einer nassen Hand abwärts gestrichen, und in den grünen Wipfeln fleckte es da und dort schon gelb auf.

Lea hatte merkwürdigerweise im ganzen recht gut geschlafen, aber weil sie die eine oder andere Viertelstunde gewacht hatte, glaubte sie, kein Auge zugethan zu haben. Jetzt, nachdem sie lange auf das trübe Bild hinter den Fensterscheiben geblickt hatte, bildete sie sich ein, zu frieren, weil der Anblick von viel Nässe ihr die Vorstellung von Kälte erweckte.

Es mußte auch schon spät sein und sie wollte lieber aufstehen.

Sie hatte keineswegs das Gefühl, als habe sich etwas ganz Außergewöhnliches, Schicksalentscheidendes begeben. In ihrem Kopfe hatten sich bereits die Ereignisse des gestrigen Abends vollständig verarbeitet.

Von irgend einer andern Gestaltung der Zukunft konnte nun nicht mehr die Rede sein, die ganze Zukunft hieß fortan eben „Clairon“.

Dem Lüdinghausen mochte schändlich kläglich zu Muth sein. Der arme Mann konnte ihr beinahe leid thun – es ist keine Kleinigkeit, wenn einem die Braut so vor der Nase weggeschnappt wird und man noch obendrein erfährt, daß sie einen gar nicht geliebt hat. Das heißt, diese letztere Demüthigung gönnte sie seiner schulmeisterlichen Ueberhebung; im übrigen würde er sich wohl augenblicklich aus der Gegend entfernen. Man nimmt Urlaub, läßt sich versetzen – so etwas kann man ja einrichten.

Und was die Heirath mit Clairon betraf, so konnte Rahel auch die Kosten ihres unsinnigen Benehmens tragen.

Sie – Lea – hatte aus Familienrücksichten und auch aus besonderen Rücksichten auf die Schwester, wie ihr in diesem Augenblick wenigstens vorkam, keinen armen Mann heirathen wollen. Rahel hatte sie dazu gezwungen – nun wohl – mochte sie also an den Opfern mittragen, die erforderlich wurden.

Das anständigste Auskunftsmittel war natürlich, daß Clairon den Dienst quittierte. Dann fiel die Nothwendigkeit fort, das Kommißvermögen beizubringen. Clairon mußte Landwirth werden und Römpkerhof mit bewirthschaften. Er verstand es ohne Zweifel besser als der experimentiersüchtige Papa. Vielleicht zog Papa sich auch ganz zurück; von Mamas Rente konnten die Eltern sehr anständig leben in Berlin oder in irgend einer Pensionsstadt wie Wiesbaden oder dergleichen.

Clairon übernahm Römpkerhof und nannte sich später „von Clairon und Römpker“.

Rahel mußte dann eben bei den Eltern oder bei ihnen bleiben und auf ihren Antheil an Römpkerhof verzichten.

Sie war im ganzen ja ein verständiger Mensch und Lea wollte es ihr schon in allen Tonarten vorstellen, daß das ihre Pflicht sei. Für den ungeheuren Skandal, welchen sie der Schwester bereitet hatte, war sie ihr dies Opfer schuldig. Sie würde es auch bringen – zweifellos. Denn Rahel war doch eigentlich eine selbstlose Seele, das mußte man ihr lassen. Na, irgend einen Vorzug hat schließlich jeder Mensch und derjenige der Unbedeutenden ist meistens die Selbstlosigkeit.

So sah Lea ihre Zukunft fertig vor sich, freilich ein bißchen magerer, als sie sich’s gewünscht hatte, aber man blieb wenigstens vornehm, sehr vornehm. Lea beschloß, als Gräfin Clairon sich von dem größten Theil der hiesigen Gesellschaft unter dem Vorwande des Hochmuthes zurückzuziehen. Dann sparte man und konnte es vielleicht ermöglichen, jeden Winter zur Saison nach Berlin an den Hof zu gehen. Der gute Papa mußte eben auch lernen, sich ein bißchen einzurichten.

Sie stand auf und ging in ihr Toilettenzimmer, wo sie zu ihrem Erstaunen Rahels Tisch unbenutzt stehen sah. Sie horchte, – alles still nebenan. Nun, Rahel hatte wohl ebenfalls die Nacht durchwacht und schlief jetzt.

Es klopfte. Lea schrak zusammen. Freudige Röthe stieg ihr in das Gesicht. Natürlich schon eine Botschaft von Robert; er fühlte wohl, daß man noch heute die Verlobung anzeigen müsse. Sie lief in ihren Pantoffeln an die Thür; ihr reiches Haar umwallte sie aufgelöst, und ein Frisiermantel, von Spitzen umrandet, hüllte ihre Gestalt ein. Sie öffnete ohne Besinnen.

Herr von Römpker stand vor ihr, er hielt einen offenen Brief in der Hand und sah sehr ärgerlich aus.

„Nun?“ fragte Lea.

„Uns solche Geschichten zu machen! Dem einen Skandal den zweiten hinzuzufügen!“ rief er.

Lea empfand einen kurzen, eisigen Schreck.

„Was ist?“ stammelte sie.

„Rahel ist auf und davon. Einfach weggegangen und zu Raimar,“ sagte er.

„Ach, weiter nichts?“ rief Lea und die Farbe kam langsam in ihr Gesicht zurück. Aber ihr war doch so elend geworden, daß sie sich auf den nächsten Stuhl setzte.

„Raimar schreibt mir: ‚Deine Rahel kam gestern abend spät durchnäßt und weinend hier an. Ihr habt dem armen Kinde wohl schöne Dinge zu hören gegeben. Einstweilen behalte ich sie hier, bis ich weiß, daß sie, ohne Gefahr, neuen Kränkungen zu begegnen, heimkehren kann. Wenn Du willst, magst Du sie Dir dann holen. Gieb Nachrichten Deinem Raimar.‘“ Und Herr von Römpker fügte hinzu: „Es ist beinahe komisch. Was haben wir ihr denn gethan?“

Lea und ihr Vater sahen sich an und besannen sich.

„Ach ja,“ meinte Lea, „mir ist, als ob wir ein bißchen heftig gewesen wären. Aber wer legt denn in solcher Stimmung die Worte auf die Goldwage? Und sie hatte ja die Schuld, sie hat uns in der unglaublichsten Weise wie Schachfiguren ihres Willens behandelt.“

„Was soll ich aber antworten?“

„Sieh mal nach, vielleicht hat sie etwas hinterlassen!“

Herr von Römpker ging in Rahels Zimmer. Da lag ein Brief unter der Lampe vor dem Pfeilerspiegel, und darin stand:

„Liebe Eltern, da Lea meines Anblicks für einige Tage überhoben zu sein wünscht, gehe ich nach Kohlhütte. Wenn Ihr und wenn Lea wirklich empfindet, daß ich recht für Euch gehandelt habe, so ruft zurück Eure betrübte Tochter
Rahel!“ 

Herr von Römpker gab Lea den Brief und lachte.

„Es scheint wirklich, daß eine kleine Schraube bei ihr los ist,“ sagte er.

„Antworte, daß Du Rahel herüberholen werdest, sobald wir Nachrichten von Clairon hätten!“

Vater und Tochter sahen sich tief an, als wollte jeder lesen, was für Gedanken dem andern im geheimsten Innern wohnten.

„Du fürchtest …“ begann er.

„O, nichts!“ sagte Lea, stolz den Kopf erhebend.

Wie sie schön war, in ihren weißen, reichen Gewändern und mit dem prachtvollen Haar, die feine Haut blühend in Morgenfrische! Nein, ein solches Mädchen läßt man nicht, dachte der Vater.

[412] „Du hast recht,“ meinte er vergnügt, „Clairon wird schon kommen. So bist auch Du entschlossen, ihn zu nehmen? Hast Du übrigens auch bedacht, daß die Schwierigkeiten in gleichem Maße wie damals fortbestehen?“

„Gewiß! Clairon muß den Dienst quittieren und Römpkerhof mit bewirthschaften.“

„Aber nein,“ rief Römpker glücklich, „Du bist doch so recht mein Kind und denkst immer dasselbe! Dieser Ausweg erschien auch mir als der einfachste. Er nimmt später mal das Gut und nennt sich ‚Clairon und von Römpker.‘“

„Das ist zu reizend,“ jubelte Lea, „genau so, wie ich mir’s ausmalte.“

Herr von Römpker ging davon. Ja, wohl hatte er sich’s genau so ausgemalt wie Lea, nämlich folgendermaßen: eine Hypothek nehme ich nicht auf, Clairon muß quittieren, dann fällt der Vermögensnachweis fort, das junge Paar wohnt hier, für sein Taschengeld hat Clairon die kleine Erbschaft von seiner Mutter, Lea bekommt von mir eins, etwas höher als ihr jetziges, vielleicht giebt der ältere Clairon, der Majoratsherr, auch etwas dazu und im übrigen muß sich das junge Paar eben nach der Decke strecken. Wir können nicht alle Millionäre sein, das ist mal so in der Welt. Und vielleicht ist Clairon tüchtig in der Wirthschaft, er schlägt mehr heraus als ich, und ich brauche mir trotz des Familienzuwachses keine Einschränkungen aufzuerlegen. Und wenn’s Lea ein bißchen sauer fällt, daß ihr Leben nicht fürstlich wird, wie sie wohl dachte und wie sie’s auch fordern konnte, na, da muß sie sich eben gestehen, daß sie selbst die Karre so verfahren hat. Wozu brauchte sie noch mit dem einen zu liebeln, wenn sie doch den andern heirathen wollte? Das war unvorsichtig, sehr unvorsichtig! Und Rahel, diese eckige, sonderbare Person, hing das dann gar an die große Glocke! Was die Töchter eingebrockt hatten, mußten sie wohl oder übel ausessen.

Er schrieb an Raimar, daß er seine Tochter heute oder morgen abholen werde und daß Rahel ein Gänschen sei; kein verständiger Mensch nehme gleich jedes Wort so buchstäblich. Aber er wolle weiter nicht böse mit Rahel sein. Er begreife auch, daß sie aus idealen Beweggründen so gehandelt habe, allein auch sie werde wohl inzwischen eingesehen haben, daß die Welt bald einem Narrenhaus oder einem Kampfplatz gleichen würde, wenn die Menschen sich gegenseitig stets die Wahrheit an den Kopf werfen wollten.

Als der Bote nach Kohlhütte abgeritten war, frühstückte Römpker sehr behaglich.

Seine Frau erschien mit erloschenen Augen und vergrämten Mienen, das Unglück hatte sie zu tief gebeugt. Sie hatte nur die einzige Sehnsucht, mit Fräulein Malchen sich auszusprechen.

Ihre Stimme bebte, als sie um Erlaubniß bat, Malchen holen lassen zu dürfen.

„Ach, was soll die alte Schachtel immer hier,“ meinte Herr von Römpker, „sie schwatzt doch nur aus dem Hause. In ihrem Strickbeutel trägt sie die Neuigkeiten fort. Mir wird immer ganz übel, wenn ich diese Carrés von Glasperlen und schwarzer Wolle sehe mit dem lila Seidenbeutel daran.“

„Malchen klatscht nicht,“ erwiderte Frau von Römpker gekränkt. „So soll mir der einzige Trost versagt sein, an dieser treuen Brust zu weinen?“

„Aber warum willst Du das Weinen denn nicht allein besorgen.“

„Du kannst noch frivol sein, nachdem das Schicksal uns so gestraft hat!“ klagte sie und schluchzte vor sich hin.

Lea kam geräuschvoll, ihr Schritt klang fest, die Seide ihres orientalischen Morgenkleides knisterte.

„Kein Brief für mich?“

„Noch nicht.“

Und der Morgen rückte vor. Bis elf Uhr hielt ihn Lea erträglich aus. Dann erfaßte eine qualvolle Ungeduld ihr ganzes Wesen.

Wenn er gestern abend oder heute morgen gleich geschrieben hätte, müßte sie schon längst seinen Brief haben.

Aber vielleicht hatte sein Bursche denselben fahrlässigerweise gar nicht besorgt und Clairon, vom Dienst nach Hause kommend, fand ihn noch vor.

Dann würde er wettern und auf jagendem Roß jemand senden.

Ja gewiß, so war es. Dann konnte es halb eins oder gar eins werden, denn die Felddienstübungen waren erst gegen zwölf Uhr zu Ende.

Lea hatte einen rettenden Einfall, rettend insofern, als er ihre Ungeduld beschäftigte. Sie zog ein wetterfestes Kleid, einen Regenmantel und Gummischuhe an und lief durch den Park, am Seeweg unter den Erlen dahin, bis sie an das freie Feld kam. Dort watete sie im schlammerweichten Boden weiter, daß die Erdspuren dick an ihren Füßen kleben blieben. Der Regen prasselte auf die Seide des Schirms über ihr und an jeder Schirmrippenspitze bildete sich eine rinnende Traufe.

Endlich hörte der Regen auf. Eine Schar von Raben flog über die Stoppelfelder links und ließ sich nieder.

Rechts von ihr grenzte ein noch ungemähtes Weizenfeld an den Pfad. Das Getreide lag schwer vom Regen niedergestrichen, bei jedem Schritt rauschte es Lea gegen die Füße.

Das Gelände hob sich sanft vom See her und fiel gegen die Stadt zu wieder ab. So entstand eine Wegeshöhe, die, so gering sie auch war, doch gestattete, die beiden Chausseen zu übersehen, welche sich von rechts und links der Stadt näherten.

Lea stand wie eine Statue. Der Wind hob die Enden ihres Gazeschleiers, den sie unter dem Kinn verknotet trug, und spielte damit vor ihrem Gesicht. Das hinderte den freien Blick und sie mußte die flatternden Zipfel mit der Hand auf die Brust niederhalten.

Ihr Hoffen erfüllte sich. Fern und klein erschienen auf der Chaussee von links die Husaren, die im Schritt daherzogen. Sie sahen aus wie lauter Zinnsoldaten, so winzig und so gleichmäßig.

Dicht vor der Stadt fingen ihre Trompeter an zu blasen; der Wind trug einige schwache Laute herüber.

Da wandte sich Lea um, und während sie heimging und sich dann trocken anzog, war ihre Seele gleichsam abwesend. Jetzt ritten sie in die Vorstadtstraße. Jetzt schwenkten die Züge ab. Jetzt hielt Clairon vor seiner Wohnung. Ehrhausen, der nebenan wohnte, sprach vielleicht noch mit ihm. Dafür gab Lea fünf Minuten zu. Dann trat er ein und fragte: ist kein Brief da? Nein. Wie, ist keine Antwort von Römpkerhof gekommen? Keine Antwort? War es zu glauben? Da lag ja noch sein Brief. Verwünscht – und das Pferd war schon weggeführt. Schnell in den Stall und den Fuchs gesattelt. Der Bursche lief nach dem Stall, welcher sich einige Häuser weiter im Hof eines ländlichen Gasthauses befand. Das dauerte wieder einige Minuten. Und gewiß schwatzte er unnütz mit dem Burschen von Ehrhausen, der die Pferde im selben Stall hatte. Aber nun ritt er. Endlich, endlich! Lea sah ihn näher kommen, Meilenstein um Meilenstein.

Sie stand am Fenster der vorderen Wohnräume, um ihn gleich durch die Parkpforte einreiten zu sehen.

Es schlug zwei Uhr. Alle Verzögerungen, die Lea nach und nach um zahlreiche vermehrt und deren mögliche Dauer sie um reichliche Minuten verlängert hatte – alle Verzögerungen gerechnet, war die Zeit dennoch längst verronnen, in der sein Bote hätte hier sein können.

Ihre Wangen brannten, ihr Kopf ward heiß und schwer. Er schmerzte sie so, als bohrten sich ihr Nägel in die Augenhöhlen.

Aber noch ein neuer Hoffnungsgedanke kam ihr.

Er wollte am Ende selbst herausreiten. Er fand ein geschriebenes Wort in dieser Stunde zu kalt und leer. Und er, immer doch ein Sklave seines Dienstes, konnte nicht vor dem Nachmittag.

Aber welche dienstlichen Verpflichtungen ließen sich denn nicht abstreifen? Ein Freundeswort an seinen Rittmeister und er wurde von allen Pflichten frei für heute.

Doch Ehrhausen oder ein Sekondelieutenant von der Schwadron konnte krank oder der Brigadekommandeur angelangt sein.

Er mußte ja schreiben, er mußte! Er konnte sie doch nicht so vergehen lassen in Verzweiflung und Ungewißheit.

Schon wagte sie nicht mehr, ihren Vater anzusehen, schon mied dieser ihren Blick.

Unheimliches Schweigen lag auf dem ganzen Hause.

Im Wohnzimmer, parkwärts, saßen Frau von Römpker und Fräulein Malchen. Fräulein Malchen strickte und ihre Alide nähte an dem Flickenteppich und beide tranken Thee und flüsterten immerfort zusammen.

[414] Leas Kopfschmerzen nahmen so zu, daß sie unfähig war, noch stehen und gehen zu können.

Sie wankte in ihr Zimmer, legte sich zu Bett und ließ sich Eisumschläge auf die Stirn machen.

„Wenn ich Ludwig zu ihm schicken würde?“ dachte sie.

„Hinschicken? Ihn rufen? Zeigen, wie man leidet? O nein!“

Ein letzter Rest von weiblichem Stolze bäumte sich in ihr auf.

Es wurde Abend. Ihr Vater saß lange still an ihrem Bett und hielt ihre Hand. Sprechen konnte sie nicht, aber ihr Blick, matt unter halbgesenktem Lid, suchte ihn.

Er war sehr blaß und seine Augen waren feucht.

„Lea,“ begann er mit einmal aus einem Gedanken heraus, den er verfolgt hatte, „ich habe mich gefragt, ob wir ihm schreiben sollen, oder ob ich selbst hineinfahren könne zu ihm. Aber wir dürfen es nicht. Weiß Gott, es geht nicht. Das Warten will ertragen sein.“

Lea preßte mit ihren Fingern seine Hand. Ja, sie empfand es auch, das Warten wollte ertragen sein.

Die Nacht brach an. Frau von Römpker erbot sich, bei Lea zu wachen, doch Lea sagte, daß sie nur ein wenig Kopfschmerzen habe und daß Ruhe für sie am besten sei.

Man ließ die Thür nach dem Ankleidezimmer offen und in diesem eine Lampe brennen. Uebrigens hatte ja Lea neben ihrem Bett den Knopf einer elektrischen Glocke, mittels welcher die Jungfer ihrer Mutter jeden Augenblick geweckt werden konnte.

Lea war allein. Sie sah unverwandt den Lichtstreifen an, der breit durch die Thür kam, auf dem Fußboden lag und dann in einem Winkel schräg an der Wand aufstieg.

Der unglückliche Falter am Betthimmel wachte wieder auf und flatterte an der Decke des Zimmers schattenhaft umher. Zuweilen senkte er sich und taumelte über Leas Gesicht in solcher Nähe hin, daß er ihr ein widriges Gefühl verursachte; endlich fand er den Weg zum Licht. Lea hörte, wie er nebenan ab und zu dumpf gegen die Lampenglocke stieß.

Sie lag ganz regungslos, und allmählich, in der Dauer von Stunden, wurde ihr schmerzender Kopf freier. Aber der Schlaf kam nicht auf ihre Lider.

Und plötzlich brach sie in ein Weinen aus.

Sie preßte die gefalteten Hände vor ihr Gesicht und ihre umhergehetzten Gedanken lösten sich in einem Gebet.

„Nimm ihn mir nicht, Gott! Ich liebe ihn zu sehr. Seit heute weiß ich erst, wie sehr. Vergieb mir, daß ich ihn lassen wollte! Ich will ihn glücklich machen und ein edler Mensch werden.“

Und weil sie in Noth war, geschah es ihr wie Hunderten von Menschen: da demüthigte sie ihre Seele und flehte zu Gott, den sie im Alltagsleben so wenig brauchte.

Als sie gebetet hatte, fühlte sie sich sehr beruhigt. Ihr schien es, als könne einer so selten Bittenden der liebe Gott nichts abschlagen.

Sie schlief ein.

Am nächsten Morgen fand sie ihren Vater allein unten; die Mama ließ um Entschuldigung bitten, daß sie heute im Bette frühstücke.

Lea sah todtenbleich, aber gefaßt aus. Sie wußte, heute kam die Entscheidung, und sie glaubte an eine erlösende.

Aber sie sprachen wenig zusammen bei diesem Frühstück.

Da erschien Ludwig mit strahlendem Gesicht.

„Der Bursche mit diesem Brief vom Herrn Grafen ist gekommen und sagt, Antwort sei nicht nöthig,“ meldete er.

Seine treue Seele freute sich, eine Botschaft bringen zu können, denn er hatte seit vorgestern abend Unheil gewittert.

„Es ist gut,“ sagte Herr von Römpker und nahm ihm den Brief ab.

Leas Aufregung steigerte sich so, daß sie eine förmliche physische Uebelkeit davon empfand.

„Lies!“ sagte sie heiser.

„Er ist an Dich!“

„Einerlei! Ich kann nicht,“ stieß sie hervor.

„Lea,“ begann Römpker mit fast flüsternder Stimme zu lesen, „ich muß Dir für immer Lebewohl sagen!“

Da stieß sie einen fürchterlichen Schrei aus und mit einem verzweifelten Satz war sie neben ihrem Vater und riß ihm das Blatt aus den Fingern.

Sie hielt es zwischen ihren beiden Händen, sah hinein mit vorgeneigtem Haupt. Ihre Lippen lallten die Silben nach.

„Un – würdig – des Na – mens – ei – ner Gräfin – Clai – ron …“

Und das stramm auseinander gehaltene Briefblatt riß mitten durch.

Lea brach in die Kniee. Sie stemmte die Fäuste auf den Fußboden und neigte den Kopf, tief, tief.

So blieb sie lange und ihre Augen bohrten sich in das Holz des Fußbodens.

Ihr Vater stand und barg sein Gesicht in den Händen.

Wie lange sie so blieben, sie wußten es beide nicht. Minuten? Eine Stunde?

Diese Zeit war länger, als ihr ganzes bisheriges Leben ihnen gewesen war.

Endlich raffte Lea sich empor und trat vor ihren Vater. Aus ihrem weißen Gesicht flammten ihn ihre Augen an. Sie packte mit festem Griff sein Handgelenk und sagte mit ihrer tieftönigen Stimme, die jetzt hart und gebieterisch klang:

„Du wirst alles thun, was ich will?“

„Alles, mein Kind,“ sagte er zitternd.

„So laß uns in die Welt hinaus. Am liebsten heute noch. Er soll erkennen, wen er in mir verwirft.“

Römpker umarmte seine Tochter. Er war von Centnerlasten der Angst befreit durch diesen „verständigen Wunsch“.

[429]
10.

Die gute Christel hatte die Gewohnheit, über alle ungewöhnlichen Vorkommnisse im Leben ihres Herrn lange, still und kritisch nachzudenken; es waren deren ja auch so wenige, daß sie jedes einzelne in Gedanken oft jahrelang durchnehmen konnte. Dadurch hatte sie sich eine wahrhaft philosophische Ueberlegenheit angeeignet, und nichts vermochte sie aus ihrer Ruhe zu bringen. Und gerade, wenn ihr Herr sehr erregt war, steigerte sich diese Ruhe. Sonderbare Zwistigkeiten brachen dann zwischen ihnen aus; er warf ihr Theilnahmlosigkeit vor, während sie sagte, daß er noch immer nicht gelernt habe, sich wie ein gesetzter Mensch zu benehmen.

Den Tag nach Rahels Ankunft gönnten sie einander kein gutes Wort. Raimar wollte durchaus, daß Christel sich mit entrüsten solle über den „Rabenvater“ und das „Ungeheuer von Lea“; Christel fand es beinahe jämmerlich, daß ein Mensch von gesunden Sinnen seine Meinung so ändern könne wie eine Wetterfahne. Er habe ja stets in Römpker wie in einen vergoldeten Kelch gesehen, während sie ihn von jeher für einen Leichtfuß taxiert habe; er sei ja immer in Leas schöne Fratze verliebt gewesen, während sie die Lea nie für etwas anderes als für eine Zierpuppe ästimiert habe. Um Rahel habe er sich gar nicht bekümmert und seine jetzige plötzliche Hitze habe in ihren – Christels – Augen so viel wie gar keinen Werth. Sie habe keinen Grund, sich über die Römpkers aufzuregen, denn sie sei in keiner Weise verwundert, sie habe gar nichts Besseres von diesen Menschen erwartet. „Denn wer auf den Wegen von Hochmuth und Selbstsucht wandelt, geht auch über sein eigen Fleisch und Bein weg,“ schloß sie feierlich.

Raimar entgegnete, sie solle ihre Predigten für sich behalten.

Und jeder wollte dem andern zeigen, daß er der eigentlich Berufene wäre, sich Rahels anzunehmen, so daß diese schon in den Morgenstunden des ersten Tages vor lauter Pflege zu keinem Augenblick der Gemüthlichkeit kam.

Sie aber bedurfte keiner Pflege mehr; sie hatte sich selbst und ihre stille sichere Haltung wiedergefunden.

Auf das Geschehene sah sie klar zurück. Sie fühlte, daß, wenn noch einmal alles so wiedergeschehen könnte. auch sie wieder ebenso handeln würde. Sie hatte unter einem sittlichen Zwang gehandelt.

Vielleicht hätte sich eine besonnenere Form finden lassen, die Verlobung Leas mit Lüdinghausen zu verhüten. Vielleicht wäre es richtiger gewesen, Lüdinghausen selbst noch zu benachrichtigen im Augenblick, ehe man sich zu Tisch begab. Indeß, sie hatte ja noch dem Vater beschwörende und aufklärende Warnungen [430] zugeflüstert und sich der Hoffnung hingegeben, daß er auf sie hören würde. In jenen bangen Sekunden hatte sie nicht anders gekonnt als aufstehen und die entscheidenden Worte sprechen.

Heute wurde sie sich auch darüber klar, daß Lea und ihr Vater in der Heftigkeit Dinge gesagt hatten, welche sie jetzt vielleicht schon nicht mehr wußten, gewiß aber nicht mehr so meinten. Deswegen gleich das Haus zu verlassen, war sicherlich eine Thorheit.

Aber selbst diese Thorheit bereute sie nicht. Ihr war es, als müsse Lea daraus lernen, das Zartgefühl der Schwester mehr zu schonen.

Sie nahm sich von ganzem Herzen vor, die Schwester fortan doppelt zu lieben, nicht müde zu werden, um ihr Vertrauen zu werben, damit Lea nicht wieder so unberathen abirre von dem einfachen Weg der Ehrlichkeit.

Sie zweifelte gar nicht, daß dieses Ereigniß einen Wendepunkt in deren Leben bedeute, daß die Schwester erkennen werde, wie sie mit einer blinden Selbstsucht sich alles und alle dienstbar gemacht habe, und daß sie von nun an weich und warm sich den Ihrigen anschmiegen werde, anstatt sie als Vasallen an ihrem Thron zu betrachten.

Einen Fehler erkennen, meinte Rahel in ihrer geraden Art zu denken, heiße ihn alsbald ablegen.

Und in solchen Gedanken hatte sie ihre Ruhe wiedergefunden und wartete, daß ihr Vater sie zurückholen werde.

Auf ihrem Gesicht lag sogar ein Schimmer von Freudigkeit, den nur ein inneres Glücksgefühl dahin gezaubert haben konnte. Und in ihrem Gedächtniß klang fort und fort die Stimme nach, welche ihr gesagt hatte: „Ich danke Ihnen.“

Mit der Erinnerung an diesen Augenblick ließ sich das Leben schon weiter tragen.

Aber Herr von Römpker kam nicht, worüber Raimar sich alle Stunden von neuem erboste und woraus er das Recht ableitete, Rahel für immer bei sich behalten zu dürfen.

Denn das gefiel ihm ungeahnt wohl, so ein Töchterlein um sich zu haben. Rahel hatte sich unter der lächelnden Bemerkung, daß sie doch nicht krank sei, die allzu geräuschvolle und lästige „Pflege“ verbeten und sich gleich im Hause nützlich gemacht.

Christel hielt sich mit einigem Recht für die beste Hausverwalterin und Köchin der ganzen Gegend und bereitete noch immer für ihren Herrn selbst das Essen. Schönheitssinn aber hatte sie gar nicht.

In den Zimmern standen die Stühle steif aufmarschiert an den Wänden entlang, vor den blanken Scheiben auf den saubern Fensterbänken bunte Blumentöpfe, in den Vasen auf Pfeilertischen und Möbeln Sträuße von Papierblumen. Die dunklen Tischdecken waren mit weißen Theeservietten überlegt. Es sah so ordentlich und so sauber aus, daß darüber die Wohnlichkeit entflohen war. In Raimars Zimmer dagegen hatte der tägliche Tabakrauch allen Gegenständen jenen dunkeln und warmen Ton gegeben, der eine gewisse Behaglichkeit verbreitete.

Rahel bat, ob sie sich nicht ein paar Blumen holen dürfe, und Christel erlaubte ihr, nur von dem Standpunkt aus, daß man mit dem armen Kinde Geduld haben müsse, heute zu thun, was ihr beliebe. Rahel streifte unter dem Regenschirm in dem verwilderten Garten umher und schnitt ab, was sie fand. Sie füllte Vasen und Schalen, rückte die Möbel zurecht und nahm die vielen weißen Decken fort. Der Onkel konnte es kaum begreifen, daß seine vier Wände „nach soviel auszusehen“ vermochten. Christel enthielt sich jedes Urtheils, verstand aber nicht, wieso das schöner sein sollte, wenn ein Sofa schräg vor einer Ecke, anstatt ordentlich an einer Wand stehe; und daß das Reinmachen der vielen Vasen eine Arbeit sei, die nun auf sie falle, indem man doch den Mädchen die feinen Sachen nicht anvertrauen könne, schien das Fräulein auch nicht zu bedenken.

Bei Tisch meinte Raimar, es sei ja ordentlich wie in Gesellschaft, und bekam sentimentale Anwandlungen, als er die Rose in sein Knopfloch steckte, welche Rahel ihm auf seine Serviette gelegt hatte. Seit wann hatte er keine Rose mehr bekommen!

Er fing an zu klagen, daß er nicht geheirathet habe und nicht im Besitz einer solchen Tochter sei.

„Aber Onkel,“ tröstete Rahel, indem sie ihm Gemüse auffüllte, „es können eben nicht alle Menschen heirathen. – Noch mehr Bohnen? Du hast aber Appetit! – Siehst Du, ich muß doch auch ledig bleiben!“

Raimar legte Messer und Gabel hin und sah sie verblüfft an. Er hatte bei sich schon alles in Bereitschaft für sie: einen Gatten, und was für einen! – eine prachtvolle Häuslichkeit und dazu einen wirklichen Schwiegervater und einen Adoptivpapa, und dieser Adoptivpapa wollte ihr mal sein ganzes Geld vermachen, theils aus Liebe, theils um den Neffen zu ärgern, der auf seinen Tod lauerte.

Und nun sagte das schlecht berathene Mädchen, es müsse ledig bleiben!

„Warum denn, wenn ich gefälligst fragen darf?“ sprach er.

Rahel wurde dunkelroth. Sie habe sich nichts dabei gedacht, am Ende würde sie auch keiner nehmen, und wenn Lea Clairon heirathe, sei sie sozusagen arm, weil doch Lea dann Römpkerhof bekommen müsse – kurz, lauter Gründe, welche Raimar schlankweg für Unsinn erklärte.

Allein er blieb trotzdem ein bißchen besorgt.

„Sie wird sich doch nicht einreden,“ dachte er, „daß sie ihn nicht nehmen kann, weil er erst die Schwester wollte!“

Er hielt Rahel für sehr verständig und für unfähig, aus verletzter Eitelkeit zu handeln. Aber er gestand sich, daß dennoch einerseits ihr Stolz und andererseits die Rücksicht auf die Ihrigen ihr eine Verbindung mit Lüdinghausen unmöglich mache.

Und doch hatte er sich gestern abend infolge eines plötzlichen erleuchtenden Gedankens fest vorgenommen, aus diesen beiden Menschen ein Paar zu machen.

Er fand, daß sie großartig für einander paßten, und konnte nur das Eine nicht fassen, warum er selbst diese Bemerkung nicht früher gemacht hatte. Anstatt dessen war er beflissen gewesen, Leas Lob zu singen. Wer weiß, ob Lüdinghausen ohne seine Loblieder überhaupt auf Lea „angebissen“ hätte, denn diesem mußte doch gerade sein Urtheil bestimmend gewesen sein. So sah er sich als Mitschuldigen an und fühlte die Pflicht, den Fehler wieder gut zu machen. –

Als sie nach Tische noch beim Kaffee zusammen saßen, meldete Christel, daß der „neue Landrath“ da sei. Für sie blieb Lüdinghausen immer der „neue“.

„Bitte, bitte, nur herein!“ rief Raimar, aber er war entschieden ein bißchen verlegen dabei.

Lüdinghausen zögerte auf der Schwelle. Er hatte sich eingeredet, daß „sie“ natürlich schon in ihr Elternhaus zurückgekehrt sein werde und daß er ruhig nach Kohlhütte reiten könne. Und nun saß sie dennoch da und ihr Angesicht war ganz von zartem Roth überleuchtet.

Er reichte ihr die Hand und fühlte eiskalte und zitternde Finger.

Raimar bot ihm noch ein ganzes Mittagessen, alle Sorten Getränke, Kaffee, Cigarren an, und darüber kam es wenigstens so weit, daß Lüdinghausen sich zu ihnen setzte und um eine Tasse Kaffee bat.

Er sah sich erstaunt in dem Zimmer um, dessen frühere nackte Nüchternheit ihm nur zu bekannt war.

„Ja,“ sagte Raimar triumphierend, „das hat sie gethan.“

Es schien, daß Lüdinghausen wieder seinen wortkargen Tag hatte. Raimar mußte unaufhörlich schwatzen, und da er mit einer ziemlichen Wortfertigkeit begabt war, fiel es ihm nicht schwer.

Zuletzt rückte Lüdinghausen mit dem Zweck seines Besuches heraus. Er hatte ein Telegramm von seinem Vater bekommen. Der alte Herr reiste ohne Aufenthalt und dachte, heute abend einzutreffen. In dem Telegramm stand: „Hoffe dann morgen meine Schwiegertochter zu umarmen,“ weshalb Lüdinghausen es vorsichtig in der Tasche behielt. Von der derben Jovialität Raimars mußte er sonst gewagte Scherze befürchten, wie, daß man demnach schnell Ersatz suchen müsse, oder ähnliches.

Er sagte, daß das Anerbieten Raimars, den alten Herrn bei sich aufzunehmen, vielleicht übereilt gewesen sei, jedenfalls aber müsse er das von seiner Annahme der Einladung behaupten.

Nun ging jedoch Raimar mit den lebhaftesten Gebärden und seiner lautesten Stimme dagegen an. Was gesagt sei, bleibe gesagt, er würde es sehr übel vermerken, wenn Lüdinghausen dies Haus nicht als das nächste Freundeshaus ansähe und den Vater im Gasthaus des Städtchens einquartierte, weil er ihm in seiner eigenen engen Wohnung nicht die nöthige Bequemlichkeit bieten könne.

Rahel hatte bei dem Streit die Empfindung, als wolle Lüdinghausen seinen Vater nicht der Gefahr aussetzen, ihr, einer [431] Römpker, zu begegnen, während er in der That nur genöthigt sein wollte, um seinen Wunsch, eine Begegnung gerade herbeizuführen, zu verhüllen.

„Meinetwegen, Herr Landrath,“ sagte sie mit zitternder Stimme, „darf Ihr Herr Vater ruhig kommen, denn ich werde noch heute heimgeholt.“

Wie sie sich selbst wehthat mit diesen Worten! Und wie sie ihm in die Seele schnitten!

Er sah sie traurig an und fuhr fort:

„So werden wir heute abend eintreffen. Mein Vater – ich bitte Sie dringend, lieber Raimar, dessen eingedenk zu bleiben – hat gar keine Bedürfnisse als ein sehr gutes Bett und morgens einen sehr guten Kaffee, und da diese beiden Dinge hier unter Christels Regiment selbstverställdlich sind, werden Sie keine Umstände durch ihn haben, noch sich solche machen.“ Dann stand er auf, um fortzugehen.

„Sie ist meine Feindin geworden,“ dachte er, „wie natürlich, wie sehr natürlich. Sie verachtet mich, weil ich Lea nicht zu durchschauen verstand. Sie hat ja völlig recht.“

Raimar sah beide nacheinander an, aber er vermied, etwas zu sagen.

„Ich werde demnach,“ begann Lüdinghausen, zu Rahel gewandt, „kaum noch das Vergnügen haben, Sie wiederzusehen, wenn Sie heute heimkehren. Ich bitte Sie, nicht gar zu klein von mir zu denken.“ Er beherrschte kaum seinen Ton.

„Ich denke nicht klein von Ihnen,“ stammelte Rahel, und in Thränen ausbrechend, eilte sie aus dem Zimmer.

Lüdinghausen wandte sich ab, damit Raimar sein Gesicht nicht sehe. Aber der war ohnedies viel zu gerührt, um den andern zu beobachten. Er war wie ein Kind und weinte mit, wenn er jemand weinen sah.

„Fräulein Rahel ist wenigstens barmherzig,“ sagte Lüdinghausen nach einer Weile mit einem erkünstelten Lächeln, „sie verschmäht es, mich zu demüthigen.“

Da konnte Raimar nun doch nicht mehr an sich halten, denn Gedanken lange zu verbergen, war ihm unmöglich.

„Ohrfeigen möchte ich mich, daß ich Ihnen die Lea so gelobt habe,“ rief er, und das war genug, um dem andern seine Plane zu verrathen. Lüdinghausen errieth sie auch und wurde so verlegen, daß er sich förmlich auf die Flucht begab. –

*               *
*

Römpker holte auch am Nachmittag sein Töchterchen nicht heim.

Aber Rahel bat es sich sehr entschieden aus, diesen Abend in ihrem Zimmer bleiben zu dürfen. Und da saß sie denn vor einem Buche und horchte mit allen Sinnen auf die Laute im Hause.

Ein Wagen fuhr vor. Raimars Lachen schallte durch den Hausflur. Eine andere, angenehme, volle Stimme sprach dazwischen. Das war seines Vaters Stimme.

Rahel hörte vor Herzklopfen eine Weile nichts. Dann Schritte auf der Treppe und dann – o Schreck! – nebenan Stimmen und das Niederstoßen eines zu hart hingesetzten Koffers. Man hatte doch nicht den alten Herrn zu ihrem Nachbar gemacht?

Herrn Lüdinghausen senior wurden von Christel zwei Räume gegönnt, weil man ihr gesagt hatte, daß er einer der reichsten Männer im Königreiche und dementsprechend angesehen sei.

Er hatte richtig ein Wohngemach neben dem Rahels bekommen.

Rahel vernahm durch die dicke Zwischenwand nur die verschiedenen Klangfarben der redenden Stimmen und lauschte mit wehmüthiger Freude besonders auf die eine. Und sehr bald stiegen Vater und Sohn wieder treppab.

Rahel hörte nun nichts mehr. Sie fing an, schmerzliche Reue zu empfinden, daß sie sich von der Wohlthat ausgeschlossen hatte, Lüdinghausen zu sehen, dieselbe Luft mit ihm zu athmen.

Das gleiche Dach schirmte sie in diesen Stunden, aber sie waren sich so fern und würden es ewig bleiben.

Sie legte ihr Gesicht in das Buch. „Nein, Lea, ich habe ihn nicht für mich gewollt; wenn Du ihn geliebt hättest wie er Dich und wenn Du ihn beglückt hättest, ich wäre glücklich gewesen in Eurem Glück,“ dachte sie. „Und jetzt haßt er Lea und mit ihr alle, die zu ihrem Hause gehören, und am meisten mich, die ich störend zwischen ihn und sie trat. Vielleicht hätte er gewünscht, in der Täuschung zu bleiben – man sagt, daß Liebe sich so weit verirren kann. Nahm er nicht Abschied von mir? Hieß das nicht, daß er mich nicht wiedersehen will?“

Daß er ihr gestern abend so innig gedankt und daß sie gemeint hatte, aus dieser Erinnerung für alle Zukunft Muth schöpfen zu können, war ihr jetzt ganz aus dem Gedächtniß entschwunden, freilich nur, um vielleicht in der nächsten Viertelstunde wieder ein seliges Lächeln auf ihre Lippen zu locken. –

Die drei Herren besprachen sich unterdessen mit erstaunlicher Offenheit, oder richtiger, die beiden alten thaten es und der jüngere hörte nachdenklich zu, nachdem er schon im Wagen in langer Rede alle Ereignisse gebeichtet und seinen Vater wegen der unnöthigen Reise um Vergebung gebeten hatte.

Der Geheime Kommerzienrath Lüdinghausen war ein untersetzter Mann, den die Neigung zur Körperfülle nicht in sehr schnellen Bewegungen hinderte. Sein lebhaft gefärbtes Gesicht war bartlos, unter buschigen, grauen Brauen flammte ein Paar junger Augen, die von starkem Willen zeugten; über der hohen Stirn stand das weiße Haar dicht und dick wie eine Bürste empor.

Raimar staunte ihn unausgesetzt an. „Ja, ja, das sind die Naturen, die im engen Kreise keinen Platz haben und die vielleicht mit Fäusten niederschlagen, was sich ihnen in den Weg stellt; unsereiner kommt sich wunder was vor, wenn er sich anständig auf der Scholle erhält, die er von den Vätern geerbt hat.“

Und wie einfach dieser Fürst der Arbeit von sich und seinem Wirken sprach!

Er prahlte weder mit seiner Lebensleistung, noch verbarg er sie in ängstlichem Zagen, hier Vorurtheilen zu begegnen. Ihm war alles ganz ungemein natürlich.

Das Mißgeschick seines Sohnes schien er wie eine kleine Unannehmlichkeit hinzunehmen, über welche man nicht viel zu reden braucht. Die Dunkelheit im Wagen hatte freilich das seltsame Mienenspiel verborgen, welches bei dem Bericht des Sohnes sein Gesicht belebte.

Als der jüngere Lüdinghausen in die Stadt zurückgekehrt war, saßen die beiden Alten noch lange beim Wein. Vor Raimar machte der Vater des Landraths kein Hehl daraus, daß ihm dieses Erlebniß für seinen Sohn von unbezahlbarem Werth scheine.

Der Erasmus sei ihm, sagte er, immer zu vernünftig gewesen. Ein Musterknabe, von dem seine Frau stets gefürchtet habe, daß die Tollheiten doppelt schlimm nachkämen. Aber bewahre, es sei bei dem Jungen alles programmmäßig gegangen, und noch nie habe man ihn einen andern Schritt als einen lange und wohl überlegten thun sehen. Nun sei es doch von größtem Vortheil, daß er die Lehre empfangen habe, wie man sich in gewissen Dingen weniger auf Ueberlegung, als auf den Trieb des Herzens verlassen solle. Er wisse dieser Rahel noch besondern Dank, weil sie ihn selbst vor einer Schwiegertochter bewahrt habe, welche der Beschreibung nach zu sehr große Dame gewesen wäre, um ihm je herzlich nahe zu stehen.

Raimar hütete sich, zu verrathen, daß Rahel im Hause sei und daß er glaube, der junge Lüdinghausen stehe seit gestern abend plötzlich in lichterlohen Flammen für sie. Er hatte sich vorgenommen, ungemein diplomatisch zu sein, und wollte nicht den Verdacht erwecken, als spiele er den Heirathsvermittler für die Töchter des Freundes.

Am folgenden Morgen fuhr der alte Herr in die Stadt zu seinem Sohn. Noch sah man seinen Wagen fern auf der Landstraße, als Herr von Römpker angeritten kam.

Seine Tochter wie sein Freund sahen ihm sogleich an, daß er nicht erschien wie jemand, dem es froh und leicht ums Herz ist.

Er umarmte Rahel sehr flüchtig, aber nicht aus Feindseligkeit, sondern in bemerkbarer Zerstreutheit. Er hatte auch gar keine Zeit, sondern war nur gekommen, um sehr Nothwendiges zu besprechen.

Lea wolle schleunigst verreisen, erst nach Wiesbaden, dann vielleicht nach Paris oder nach Italien, kurz, man werde viele Monate abwesend sein, und die Eltern wollen beide mit, in der beruhigenden Gewißheit, daß Rahel unterdeß die Wirthschaft und das Schloß gut bewachen werde. Zwar sei die Kasse zur Zeit recht knapp, aber er habe den Verwalter beauftragt, die ganze Ernte schnell zu Geld zu machen, und weiterhin werde sich schon [432] Rath schaffen lassen. Denn die arme Lea müsse andere Menschen und andere Gegenden sehen, um sich zu zerstreuen.

„Und Clairon?“ fragte Rahel, die sich mit Gewalt in ihrem Schmerz bezwang. So ganz nebensächlich war sie den Ihrigen, man schob sie einfach bei Seite und reiste in die Welt hinaus.

„Hat vollständig mit Lea gebrochen,“ sagte Römpker kurz.

Raimar dachte an Lüdinghausen und konnte eine Art von Genugthuung nicht unterdrücken, daß dieser Recht behalten hatte.

„Bleibe noch hier bis morgen, Kind,“ bat Römpker; aber die Bitte klang wie ein Befehl. „Lea ist sehr nervös und möchte zur Zeit nicht gern viel mit Dir zusammen sein. Es muß erst ein bißchen Gras darüber wachsen. Das verstehst Du doch.“

Ja, das verstand Rahel. Aber ob sie denn nicht einmal Abschied nehmen dürfe von der Mutter?

Gewiß, gewiß. Morgen reise man, und wenn Rahel eine Stunde vor der Abreise eintreffen wolle, habe man zum Abschied genügend Zeit.

Es war offenkundig, daß Römpker sich alle Mühe gab, seine Freude an dieser Reise zu verbergen, die finanziell doch eine Thorheit für ihn war. Aber er hatte vor seinem Verstand einen Vorwand. Für die tief gekränkte und um ihr ganzes Lebensglück gebrachte Tochter hieß es eben kein Opfer scheuen.

Als er wieder davonjagte, schaute ihm Rahel mit einem schmerzvollen Lächeln nach.

„Nur den Kopf hoch, mein Kind,“ tröstete Raimar, den sie dauerte. „Heute kommst Du Dir arm vor und verlassen von Liebe. Wer kann aber wissen, wie die Zukunft noch zwischen Dir und Lea theilt!“

„O, ich gönne ihr die Liebe der Eltern,“ schluchzte Rahel, „allein warum muß ich denn ausgeschlossen sein?“

Der alte Lüdinghausen blieb diesen ganzen Tag im Städtchen und erschien erst abends wieder, und zwar mit seinem Sohn.

Beide machten große Augen zu den Neuigkeiten von Römpkerhof. Der alte Herr hatte doch so viel Interesse an der Familie, daß er sie wenigstens im Bilde kennenlernen wollte. Raimar besaß ein Gruppenbild, welches schon an die fünfzehn Jahre alt war und wie alle alten Photographien eher komisch als unterrichtend wirkte.

„Von Rahel allein habe ich das neueste Porträt,“ sagte Raimar, während sein Gesicht vor Vergnügen strahlte, denn er hatte einen kostbaren Einfall. „Ich will es holen.“

Er ging hinauf.

„Du mußt schnell mitkommen,“ bat er hastig. „Der alte Herr will Dich sehen.“

Rahel sträubte sich, während doch ihr eigenes Herz vor Verlangen brannte, den Vater des Landraths begrüßen zu dürfen. Raimar ließ indessen kein Zögern gelten und führte sie mit sich.

Er stieß die Stubenthür auf und die beiden Männer staunten dieses lebende „Bild“ sprachlos an.

Der Vater blickte erst fragend zum Sohn hinüber und sah dessen Gesicht wie verklärt. Vor Verwunderung über diese Wahrnehmung vergaß er fast, aufzustehen und das Fräulein zu bewillkommnen.

Er that es endlich mit etwas umständlicher und altfränkischer Höflichkeit, aber Rahel fühlte doch eine besondere Wärme heraus und lächelte unwillkürlich den alten Herrn sonnig an.

Dies Lächeln gefiel ihm und erquickte sein Herz. Er war sofort im höchsten Grade von ihr eingenommen und beklagte sich, daß sie so lange unsichtbar geblieben sei. Sie mußte neben ihm sitzen, und er machte ihr förmlich den Hof, wobei er schelmisch zu seinem Sohne hinüberblinzelte, als wollte er fragen: „He, das hast Du wohl nicht von mir gedacht, daß ich mit liebreizenden jungen Damen so umgehen kann?“

Rahel sah dabei sehr glücklich aus, ebenso der junge Lüdinghausen, aber wenn ihre Augen sich trafen, flohen sie scheu wieder auseinander.

Als Vater und Sohn allein waren, sagte der Alte in seiner naturwüchsigen Art:

Hör’ mal, Erasmus, Du scheinst mir von allen guten Geistern verlassen gewesen zu sein, als Du aus Römpkerhof um eine andere als diese warbest. Wie kann man so seinem Glück aus dem Wege gehen! Denn jetzt ist ja wohl Deine Stellung zu den Römpkers eine so schiefe, daß da nichts mehr zu machen ist. Außerdem: man muß nicht aus Vernunft, sondern nur aus unbezwinglicher Liebe heirathen. So mit ’nem Blitzschlag muß es kommen. Unbegreiflich, daß die Rahel Dir nicht dieser Blitzschlag geworden ist.“

Der alte Herr ahnte nicht, daß er mit seiner derben Rede alle die kleinen, noch ärmlichen Hoffnungskeime in der Brust des Sohnes erstickte.

Als er am nächsten Tag abreiste, war er in Rahel fast verliebt und mit seinem Sohne böse. Was er erst für eine „heilsame Lehre“ angesehen hatte, darin fand er nun schon die gerechte Strafe für eine unglaubliche Dummheit.

Rahel kehrte in ihr Vaterhaus zurück. Der Abschied von den Ihrigen war flüchtig, vielleicht auch etwas befangen von der einen, sehr gedrückt von der andern Seite. Im letzten Augenblick erfuhr Rahel noch eine neue Kränkung: ohne sie zu fragen, ob ihr gerade diese Gesellschaft willkommen sei, hatte man ihr Fräulein Malchen als Ehrendame ins Schloß geladen für die ganze Dauer der elterlichen Abwesenheit.

Und so konnte denn das neue einsame, hoffnungsleere Leben anfangen. Es gab nichts darin als Pflichten, die sich in täglich genau wiederholter Reihenfolge gewohnheitsmäßig erfüllen ließen.

Die stete Gegenwart von Fräulein Malchen wirkte dabei so niederdrückend; es war Rahel, als habe sie ein wandelndes Bild ihrer eigenen Zukunft vor sich.

Die Tage waren endlos lang, und wenn Onkel Raimar nicht jede Woche einige Male gekommen wäre, hätte Rahel diese Oede nicht ertragen.




11.

Der Monat September ging schon zu Ende, und damit stellte sich für Rahel eine neue Sorge ein. So lange die Husaren sich im Manöver befanden, ruhte in der Gegend stets fast alle Geselligkeit. Die Baronin Ehrhausen begab sich während dieser Zeit auf Reisen, Römpker pflegte sonst in Karlsbad zu sein, die Offiziersdamen meist zum Besuch bei Verwandten. Nun aber, wenn alle zurückkehrten, begann das lustige Leben von neuem, und so unerträglich Rahel oft die Einsamkeit mit Fräulein Malchen war, jetzt dünkte es ihr noch unerträglicher, in Gesellschaften zu gehen, wo sie unter Fremden „ihm“ begegnen würde.

Sie hatte ihn nicht wiedergesehen; denn einmal, als Onkel Raimar sie und mit ihr pflichtschuldigst Fräulein Malchen eingeladen hatte – es war gleich in der ersten Woche gewesen – gab es eine alberne Scene. Fräulein Malchen sträubte sich, das Haus eines Junggesellen zu betreten. Rahel mochte ihr vorstellen, daß sie ja auf Kohlhütte sogar schon gewohnt habe, und daß Raimar ihr Vater sein könnte, es half alles nichts. Fräulein Malchen blieb dabei, daß Raimar eben ihr Vater nicht sein könnte, sondern nur ein Jahr älter sei als sie, daß er ihr überdies früher den Hof gemacht habe und sie deshalb um jeden Preis üblen Schein vermeiden wolle.

Hieraus schloß Rahel zu ihrem Erstaunen, daß Raimar offenbar der Gegenstand zarter Hoffnungen für Fräulein Malchen gewesen war.

Junge Leute denken nie, daß ein so verkümmertes ältliches Wesen auch einmal das Herzensrecht ausgeübt haben könne, still zu lieben und zu hoffen.

Rahel hatte nun weder gefühlsseliges Mitleid dafür, noch verständnißlosen Spott; sie fand nur, daß es ihre Pflicht sei, Malchen das Opfer „Kohlhütte“ zu bringen.

Eines Tages kam Raimar mit einer Neuigkeit, welche sehr erschütternd wirkte.

Graf Robert Clairon war aus dem Manöver nicht mehr zu seinem Regiment zurückgekehrt. Die Nachricht, daß sein Bruder und dessen Frau mit einem Jagdwagen verunglückt seien, habe ihn nach Westernburg, seinem Familiengut, gerufen. Die Frau solle nur ganz gering verletzt sein. der Bruder dagegen schwer, fast hoffnungslos. Raimar wußte es von Ehrhausen, der noch in Urlaub war, aber ihm ausführlich geschrieben hatte. Ob der Majoratsherr Kinder habe, wußte Raimar nicht.

Fräulein Malchen glaubte sich gewiß zu erinnern, daß nie von solchen die Rede war. Sie erging sich in großen Klagen, daß eine solche Schicksalsverkettung offenbar eine ersichtliche Fügung Gottes sei und als eine vorbedachte Strafe gegen Lea erscheinen müsse.

[434] Rahel, die ihr ganzes Wesen von der Wucht bloß einer solchen Möglichkeit erschüttert fühlte, sagte scharf:

„Ich denke größer von dem Gott über uns, als daß ich ihm eine so schadenfrohe und merkwürdige Art von Bestrafung zutrauen könnte. Wie unsinnig! Um Leas Hochmuth, ihren Mangel an Opferwilligkeit für ihre Lieben zu züchtigen, sollte der arme, vielmißbrauchte, liebe Gott den älteren Grafen Clairon tödten? Du sollst den Namen Deines Gottes nicht unnütz führen.“

Malchen streckte das magere Hälschen vor wie ein Huhn und schlug die Augen zu Raimar auf.

„So geht es leider oft. Die liebe gute Rahel marschiert immer in Waffen gegen mich.“

„Aber es sind nur kleine Uebungen, kein wirklicher Krieg,“ tröstete Raimar lachend. Ihm war das alte Dämchen äußerst langweilig und er hätte sich schön gewundert, hätte er erfahren, daß sie ihn als einen früheren Verehrer ansah.

Rahel verbarg tief, daß sie fieberhaft auf weitere Nachrichten warte, und machte sich ungewöhnlich viel zu thun, um ihre Gedanken abzulenken.

Eines Tages fand sie in ihrem Schreibtisch zweihundert Thaler Papiergeld in einem Briefumschlag. Da fiel es ihr vorwurfsvoll aufs Herz, daß sie die Löhnertsche Familie vergessen habe über all den eigenen Leiden. Frau Löhnert hatte gerade in den Tagen das Geld holen sollen, als Schlag auf Schlag jene Ereignisse kamen. War die Frau vielleicht hier gewesen, während sie selbst sich auf Kohlhütte befand? Hatte der Vater sie fortgeschickt oder ihr geholfen? Und weshalb ließ sich die Frau nicht sehen?

Rahel beschloß, sogleich hinzugehen. Eine Viertelstunde über Römpkerhof hinaus lag das Dörfchen, welches, zum Gut gehörend, meist aus den Wohnungen der Tagelöhner und einigen Käthnerstellen bestand.

Sie steckte das Geld für alle Fälle zu sich und machte sich auf den Weg. Es war Herbst geworden, gelbe Blätter schwebten, vom eigenen Gewicht herabgezogen, durch die stille Luft zur Erde nieder. Auf den Feldern zogen die Pflüger ihre langen, klebrig dunklen Furchen. Der Horizont, mit den Pappeln um Raimars Haus, schien ganz nahe gerückt. Friedvoll und klar war der Tag. Eine Reihe von Kartoffelwagen, mit vollen Säcken beladen, fuhr dem Wirthschaftshof zu. Fern blinkte irgendwo ein Flämmchen auf, wie ein Stück Blattgold, das man da hingeklebt hat, und darüber hin, fast am Erdboden kriechend, zog blauweißer Dampf. Die Leute verbrannten das Kartoffelkraut, und die ganze Luft roch nach feuchter Erde, so daß Rahel hoch aufathmete. Sie liebte den kräftigen Geruch des Bodens, der all diesen Menschen seine Früchte gab.

Im Dörfchen war es still. Eine alte Frau wartete eines kleinen Kindes im blassen Sonnenschein vor einer Hausthür. Rahel sprach freundlich mit ihr. Unter der großen Pumpe waren ein paar kleine Jungen beschäftigt, eine Rinne auszugraben, ihre Nußschalschiffchen mit den Schwefelholzmasten und den Papiersegeln hielt der eine von ihnen auf seinen flachen Händen ängstlich vor sich hin.

Vor Löhnerts Haus stand eine Wiege, der Knabe, welcher Rahels Pathenkind war, saß daneben, lernte laut aus einer Fibel und wiegte dabei das Schwesterchen auf eine unsinnige Art. Es gab jedesmal ein dumpfes Aufstoßen, wenn die Gängel hüben und drüben mit ihrem äußersten Punkte den Boden erreichten.

„Wilhelm, Junge, das darfst Du nicht! Die Kleine wird ja schwindlig,“ rief Rahel.

Der Junge ließ die Wiege los, die nun langsam ausschaukelte.

„Wo ist Deine Mutter?“

„Bei den Kartoffeln.“

„Und Vater?“

„Auch bei den Kartoffeln.“

Rahel mochte den Burschen nicht ausforschen, wie es ihnen gehe, ob die Schulden bezahlt seien.

„Weshalb bist Du denn nicht mit?“ fragte sie, da sie wußte, er werde sonst schon herangezogen zu solchen Arbeiten.

„Nee, ich soll nicht. Der Herr Landrath sagt, ich wachse sonst nicht,“ erklärte der Knabe wichtig.

Rahel fand, daß er sowie die Kleine in der Wiege sehr ordentlich aussahen.

„Von wem hast Du die Jacke?“

„Vom Herrn Landrath.“

Rahel bekam Herzklopfen. Wie kam er dazu, sich ihrer bisherigen Schützlinge anzunehmen?

„Ich gehe mal ins Haus, Wilhelm, und schaue mich da ein bißchen um.“

„Schön,“ erwiderte er.

Rahel ging ins Haus. Auf der Tenne lagerten Kartoffelsäcke, die heute hereingefahren worden sein mochten. Trotzdem sah man, daß Ordnung herrschte. Die Bansen waren voll Heu und Stroh, links im Verschlage standen zwei schöne Kühe. Rahel kraute ihnen kosend die schwarzweiß gefleckte Stirn. Im Hintergrund des Hauses befanden sich die Stuben und die Küche. Alles war sehr ordentlich, und Rahel, die hier jedes Stück kannte, bemerkte das eine und andere neue Geräth.

Kein Zweifel mehr, hier waltete eine helfende Hand und hier wachte ein strenges Auge.

Er also, er hatte die bedrängte Familie nicht vergessen trotz des eigenen Leids. Ihr war, als müsse sie sich tief vor ihm schämen.

Sie ging wieder hinaus und setzte sich neben den Knaben auf die Bank. Nichts wäre einfacher und natürlicher gewesen, als ihn auszufragen. Aber in ihrer Aufregung war sie dazu nicht imstande.

Bauernkinder sind nie gesprächig, der kleine Wilhelm schwieg auch. Aber als Rahel geraume Zeit still neben ihm saß, dachte er, sie warte auf seine Mutter.

„Mutter kommt noch lange nicht,“ ließ er sich vernehmen, das Wort „lange“ so ausdehnend, als wolle er damit eine ungemessene Dauer ausdrücken.

Rahel stand auf.

„Nun, ich besuche Euch ein ander Mal,“ sagte sie. „Sei nur recht artig und fleißig, damit der Herr Landrath Freude an Dir hat!“

Der Junge grinste. Diese Ermahnung hatte für ihn etwas sehr Vergnügliches.

„Und er sagt,“ erwiderte er, „ich soll wegen Fräulein Rahel brav sein.“

„Weshalb lachst Du darüber?“ fragte sie.

„Aber ich lache ja gar nicht,“ rief der Iunge, „es ist man, weil Vater sagt, wir könnten uns das wohl gefallen lassen.“

„Was?“

„Vater sagt, den Sack schlägt man und den Esel meint man,“ erzählte Wilhelm etwas ängstlich, denn die streng auf ihn gerichteten Augen erschreckten ihn, auch hatte das Fräulein einen solch rothen Kopf bekommen. Und er war sich doch nicht bewußt, etwas Böses gesagt zu haben, es war ja nur so komisch, daß der Vater Recht behalten hatte, denn der hatte gemeint, der Landrath thäte es ja nur wegen des Fräuleins, und nun fehlte noch, daß das Fräulein auch was thäte wegen des Herrn Landrath.

„Ach, sein Sie man nicht böse,“ setzte er weinerlich hinzu, „sonst krieg’ ich Haue von Muttern.“

Aber Rahel klopfte ihn fast zärtlich auf die rothen Wangen und erwiderte sanft:

„Also grüße die Mutter, und ich käme übermorgen wieder.“

Sie hatte, vor ihm stehend, der Straße den Rücken zugekehrt, und als sie sich jetzt umwandte, schrak sie zusammen. Erasmus Lüdinghausen ging eben mit raschen Schritten auf das Haus zu. Er hatte sie schon gesehen und erkannt. Nun stand er vor ihr und ergriff ihre Hand.

Ihre Blicke versenkten sich tief ineinander, wie damals an dem Unglückstag.

„Ich danke Ihnen für das, was Sie an diesen Leuten gethan haben. Ich bin beschämt, denn ich hatte ihrer Noth eine Weile vergessen,“ sagte sie leise.

„O, ich war so glücklich, hier von Ihnen sprechen zu können, von dieser guten, anhänglichen Frau mir aus Ihrer Kindheit erzählen zu lassen. Ich habe im Eigennutz gehandelt. Vor Ihnen wenigstens soll mein Thun nicht den Schein selbstloser Wohlthätigkeit haben.“

Er fühlte, wie ihre Hand in der seinen zitterte. Ihre Augen, die an ihm hingen, waren feucht.

Er sah, daß auch sie schmerzlich bewegt war, und mit festerem Druck umschloß er ihre Hand, welche sie ihm jetzt entzog.

[435] Nur unhörbar kam ein Abschiedswort von ihren Lippen, und dann enteilte sie.

Ihr war, als sei sie auf der Flucht; sie ging so schnell, daß ihr Athem hastig wurde.

Lüdinghausens Wagen stand auf der Landstraße, der Kutscher grüßte Rahel, ohne daß sie es bemerkte.

Sie befand sich in einer wunderlichen Verfassung.

Die Brust war ihr so eng, die Welt so kein; sie hätte weinen, die Arme nach der dämmernden Ferne ausstrecken, hätte fliehen mögen. Nur hinaus, hinaus aus den beklemmenden Schranken des menschlichen Lebens.

Eine süße Traurigkeit ergriff ihre ganze Seele, ein Schmerz, den zu empfinden ihr doch eine Art von Lust schien. Ihre Gedanken verloren sich ins Grenzenlose, in weltvergessene Träumerei. Ihre Schritte wurden immer langsamer und ein müdes Gefühl ging ihr durch alle Nerven.

Ein großes Sehnen nach Einsamkeit und Ruhe bemächtigte sich ihrer.

Aus den menschenleeren Feldwegen, in deren Furchen sie wohl eine Stunde lang umhergewandert war, ohne daß sie des mehr für Wagenräder als für Damenschuhe geeigneten Pfads geachtet hätte, kam sie in den Park. Die Wege waren von gelben Blättern überdeckt, die vom beginnenden Abendthau des Herbstes sich stark gefeuchtet hatten.

Im braunen Geäst spielten noch zitternd verlorene Reste des Laubes. Der blasse Himmel sah da hinein, wo sonst die Sonne dichte Schatten geworfen hatte. In einer hohen Pappel hielt ein Rabenvolk lärmende Versammlung.

Abendkälte durchschauerte herb die Luft, und Rahels ungewisses Träumen wandelte sich in tiefe Trauer. Die Herbststimmung ergriff ihre in diesem Augenblick so wehrlose Seele. Sie weinte. –

[462] Fräulein Malchen hatte schon lange nach Rahel ausgesehen, nicht gerade in Sorgen, daß ihr etwas widerfahren sei, sondern mehr aus Ungeduld, denn von den „Reisenden“ waren Briefe eingetroffen.

Flur und Wohnzimmer waren schon erleuchtet, als Rahel im Schloß ankam. Sie bat nicht um Erlaubniß, sich zurückziehen zu dürfen; ihre Rücksicht gegen ihre „Ehrendame“ ging so weit, daß sie diese nicht allein lassen mochte. Fräulein Malchen hätte auch die Nacht nicht geschlafen, wenn der Inhalt der Briefe ihr nicht sofort bekannt geworden wäre. Sie begleitete Rahel förmlich als Wache, sah zu, wie diese sich andere Schuhe anziehen ließ, und wartete, bis sie wieder mit ihr treppab stieg; Rahel mußte trotz ihrer Wehmuth lächeln.

„Liebes Malchen,“ sagte sie, „ich laufe Dir wirklich nicht davon mit den Briefen.“

Unter der Lampe auf dem Sofatische lagen sie, drei an der Zahl. Rahel seufzte. Diese Briefe der Ihrigen hatten ihr seither immer einige harte Stunden gebracht, denn ausdrücklich oder zwischen den Zeilen pflegten Dinge drin zu stehen, die wie Nadelstiche wirkten. Außerdem stimmten sie niemals überein, aber gerade deshalb konnte Rahel sich stets die mittlere Wahrheit daraus zurechtlegen. Sie hatte daher auch schon die Gewohnheit angenommen, sie jedesmal in der gleichen Reihenfolge zu lesen. Auch heute begann sie mit den Zeilen der Mutter.

„Mein liebes Kind!“ – Rahel las laut vor, nachdem sie die Worte schnell überflogen hatte – „Ich bin ganz abgespannt und werde Dir nicht viel schreiben können. Meine Gesundheit wird ganz zerstört durch dies unruhige Reiseleben, zu welchem uns ja das Unglück der armen Lea zwang. Lea wird sich nie trösten. Sie klagt nicht, aber dies stumme Leid zu sehen, ist mir schrecklich. Sie sieht leichenblaß aus, und leider ist sie noch hochfahrender geworden, als sie früher war. Man feiert sie ungemein. Aber eben deshalb wollen wir nun Wiesbaden verlassen und nach Paris gehen. Es drängte sich hier eine Persönlichkeit an Lea, der wir entfliehen wollen, weil sie sehr abenteuerlich ist. Ein russischer Fürst – wahrscheinlich ein Schwindler. Papa macht mir auch Sorgen, er giebt schrecklich viel Geld aus. Wie soll das erst in Paris werden! Ueberhaupt wird mich Paris tödten.

Ich weine Tag und Nacht. Grüße mir mein liebes, theures Malchen und theile uns bald mit, wie es Dir geht! Wie glücklich bist Du, auf Römpkerhof leben zu können!
Deine arme Mama.“ 


Malchen trocknete ihre Thränen. „Ja,“ sagte sie, „meine Alide opfert sich für ihre Familie auf. Ach, daß auch alles so kommen mußte!“

Rahel hatte inzwischen schon den zweiten Brief, den ihres Vaters, gelesen und machte jetzt auch Malchen mit dessen Inhalt bekannt.

„Mein Schätzchen!“ schrieb Römpker, „Es wird mir schwer, eine ruhige Stunde für Dich herauszufinden, und ich muß mich mit wenigen Zeilen begnügen. Das war eine famose Zeit hier, das Faulenzen bekommt großartig; selbst Briefe zu verfassen, scheint schon eine Last. Und nun: auf nach Valencia, das heißt nach Paris. Lea, die hier ungeheuer gefeiert wurde, will Paris sehen. Da paßt sie auch hin. Aufsehen hat sie hier gemacht, sage ich Dir, und mit einer königlichen Haltung hat sie die Huldigungen hingenommen – großartig! Verändert hat sie sich, es ist wahr. Sie ist bleicher und stiller geworden, aber sie ist immer die große Dame und regiert mit einem halben Lächeln alle ihre Vasallen. Besonders ist der Fürst Dasanoff ihr Verehrer. Ein Prachtmensch! Unermeßlich reich, Freund des Zaren, älteste Familie Rußlands. Ich denke, er folgt uns nach Paris, wo ich den russischen Botschafter gut kenne; bei dem kann ich mich noch nach Dasanoff erkundigen.

Wie sieht es denn auf Römpkerhof aus? Du armes Schäfchen langweilst Dich wohl halb todt? Aber gewissermaßen bist Du ja an allem schuld. – Sage doch dem Verwalter, daß er die nächste Geldsendung nach Paris an die beigelegte Adresse richten soll.

Ich küsse Dich innig, meine kleine Schloßverwalterin!

Dein treuer Papa. 

P. S. Mama und Lea geht es vortrefflich; sie schreiben auch noch selbst.“

Hier vergoß Fräulein Malchen natürlich keine Thränen, sondern gab sich Mühe, nichts zu sagen, konnte sich indessen nicht enthalten, sehr laut und sehr deutlich zu seufzen, – eine Kritik, welche von Rahel völlig verstanden wurde.

Das Mädchen erröthete, sie gestand niemand das Recht zu, ihren Vater zu bekritteln. Ueber seine Fehler heimlich weinen – ja, das konnte sie, aber einen Tadel über ihn hören, nein – und wenn der Tadel auch nur in Form eines Seufzers vorgebracht wurde.

„Papa ist doch eine sonnige und liebenswürdige Natur,“ begann sie deshalb, „ich kann mir denken, wie er alle Welt für sich einnimmt.“

„Ja, besonders dadurch, daß er viel ausgiebt,“ erwiderte Fräulein Malchen, die, wenn man sie reizte, schlagfertig wurde, eine Fähigkeit, die gerade untergeordneten Geistern eigen ist, während der vornehm Denkende dann verstummt. So fand auch Rahel vor Erstaunen über diesen Mangel an Takt kein Wort. Nach einigem Zögern ging sie zu Leas Brief über. Dieser war der kürzeste von den dreien.

„Liebe Rahel, willst Du die Güte haben, mir als Eilfracht meine weiße Atlasrobe sowie das hellgrüne und das rosa Ballkleid herzusenden? Ich nehme sie am besten von hier als Passagiergut mit nach Paris, und ich glaube, sie sind mit einigen Veränderungen noch werth, angezogen zu werden. Man braucht unglaublich viel große Toilette, während ich ja mehr Straßenkostüme mitnahm. – Es war ziemlich langweilig in Wiesbaden. Von Paris verspreche ich mir auch nichts. Du verlierst wirklich kaum etwas durch das Zuhausebleiben.
Herzlich Deine Lea.“ 

Und da brach es aus, was seit Stunden in Rahels Seele gewühlt hatte. Trotz Malchens Gegenwart fing sie an, bitterlich und ohne Aufhören zu weinen.

Malchens im Grunde gutes Herz fühlte sich in äußerste Mitleidenschaft gezogen. Sie hatte gar nicht gewußt, daß Rahel [463] weich sein könne, und, so viel sie sich erinnerte, nie Thränen bei ihr gesehen. Sie erklärte sich diese Thränen nun von ihrem Standpunkt. Wie natürlich, daß es der Armen einmal zum Bewußtsein kam, wie sehr man sie zurücksetzte – und wie begreiflich, daß sie nun weinte vor Kummer, sich von all den schönen Vergnügungen ausgeschlossen zu finden, während die Ihrigen sich amüsierten! In solchem Sinne sprach denn auch das Fräulein mit ihrer murmelnden Stimme tröstend in Rahel hinein.

Diese aber hörte gar nicht auf sie. Ihr Herz war getroffen worden wie von einem Dolchstich. So kalt, so fremd schrieb die Schwester! War das Maske? Entsprach es der Wirklichkeit? Konnte ein weibliches Wesen so schnöde, so verschlossen, so hochfahrend sein? Keine Frage: wie geht es Dir? Und mehr noch, keine Frage nach allem, was sie hier bei ihrer fluchtartigen Abreise zurückgelassen hatte! Kein Wort über Clairon, keines über Lüdinghausen! War denn Leas Herz geworden wie ein Stück todter Schlacke? Glühte nicht einmal mehr eine letzte Wärme der Erinnerung darin? Trieb es sie gar nicht, vertraulich und zart bei der Schwester anzufragen: wie lebt er? Wohin ist er gegangen?

Und drängte ihr Gewissen sie nicht, nach dem andern zu fragen, mit dem sie so frevelhaft gespielt hatte?

Rahel erglühte in Schmerz und Entrüstung. Wieder ward sie sich bewußt, wie grenzenlos die Selbstsucht der Schwester war, wie alles nur ihrem eitlen Ich dienen mußte. Und in dieser Selbstsucht war Lea mit leichtfertiger Miene und tändelnden Schritten über Rahels Zukunft hingegangen und hatte sie zertreten.

Lüdinghausen hätte sie geliebt – o, Rahel fühlte es deutlich – wenn die andere nicht gewesen wäre, die ihn gebieterisch an sich lockte. Er liebte sie vielleicht jetzt trotz alledem, Rahel ahnte es in seligem Bangen. Aber die Handlungsweise der Schwester stand für immer trennend zwischen ihnen. Eine Vereinigung mit ihm war unmöglich. Gerade Rahel war die letzte, welche er wählen konnte. Alle Welt würde sagen, sie habe seine Verlobung mit Lea verhindert, um ihn selbst zu gewinnen. Lea hatte das gleich angedeutet. Und er, der Stolze, Tiefbeleidigte, würde er jemals wieder seinen Fuß über die Schwelle dieses Hauses setzen?

In der Nacht, die folgte, schlief Rahel kaum. Sie rang ehrlich mit sich, die Feindschaft gegen die Schwester gleich im Keime zu ertödten. Sie wollte und mußte die Ihrigen lieben. Ohne diese Liebe schien ihr das Leben werthlos.

Die folgenden Wochen brachten es denn auch mit sich, daß Rahel ihre Sorge und ihr Mitleid für Lea wiederfand und das eigene Weh mehr zurückdrängte.

Jedesmal wenn Onkel Raimar kam, wußte er Neues über Clairons Bruder zu berichten.

Rahel selbst hatte es durchgesetzt, sich von allem Verkehr fernzuhalten, so war Raimar allein ihre Verbindung mit den bisherigen Kreisen.

Clairon schrieb offenbar sehr oft an Ehrhausen. Wer konnte ermessen, ob es nicht in der Absicht geschah, daß die Mittheilungen nach Römpkerhof weitergelangen sollten, um mahnend an Leas Ohr zu dringen! Denn sie waren wie ernste Trauertöne, diese Nachrichten. Und obgleich Rahel selbst den Ihrigen kein Wort von diesen Dingen zukommen ließ, wußte sie doch, daß Lea alles erfahre, denn Raimar verfehlte nicht, haarklein an Römpker davon zu schreiben.

Graf Clairon-Westernburg schwebte seit jenem Sturz noch immer zwischen Leben und Tod. Seine junge, zarte Frau hatte infolge des Schreckens zu früh ein Knäblein geboren, welches noch an demselben Tag gestorben war.

Rahel versetzte sich in die Stimmung Clairons hinein. Wie entsetzlich das sein mußte, den einzigen, geliebten Bruder in solchen Leiden zu sehen und dabei zu denken, daß deren Ende ihn selbst reich und zum Herrn der Familie machen würde!

Welch grausamer Hohn des Geschicks! Der Mann, welcher für Leas Hochmuth nicht unabhängig genug gewesen war, dem ihre Liebe nicht in bescheidene Verhältnisse folgen wollte – er sollte nun reich und frei werden!

Von allen Wünschen, welche für die Genesung des Grafen Clairon-Westernburg himmelan stiegen, waren die aus Rahels Seele gewiß die heißesten. Ihr schwindelte, wenn sie daran dachte, was in Lea vorgehen mußte, wenn sie vernahm: Robert Clairon hat das Majorat erhalten.

Und Clairon! Was mußte ihn dann bewegen, ihn, der so ehrenhaft und männlich gehandelt hatte, allen Versuchungen des eigenen Herzens zum Trotz!

So kam das Weihnachtsfest heran, und es mochten kaum noch vierzehn Tage bis dahin sein, als Raimar mit der Entscheidung eintraf. Er trat sehr ernst ein. Das war so ungewohnt bei ihm, daß Rahel auf der Stelle errieth, welche Nachricht er bringe.

Er zog einen Brief mit Trauerrand heraus und einen andern, sehr zerknitterten.

„Diese Traueranzeige,“ begann er und setzte sich ans Fenster, „meldet mir den Tod des älteren Grafen Clairon. Sie ist unterzeichnet vom Grafen Robert Clairon-Westernburg.“

Rahel sank in einen Stuhl, sie weinte nicht, sondern starrte wie entgeistert vor sich hin. Fräulein Malchen aber schluchzte um so mehr.

„Du wirst es Lea mittheilen,“ sagte Raimar, während er den zweiten Brief entfaltete. „Vorbereitet sind sie ja.“

„Nein,“ sprach Rahel tonlos, „ich kann ihr nichts darüber schreiben, keine Silbe.“

„Schicken Sie doch einfach die Todesanzeige, Fräulein Malchen,“ bat Raimar, der sich außerstande sah, eine solche Botschaft zu übermitteln.

„Ich werde meine arme Alide bitten, es Lea sanft beizubringen,“ sagte Malchen.

„Also gut! Und hier ist noch ein Brief, fast nur ein Zettel, an Ehrhausen von Clairon. Ehrhausen hat ihn mir gegeben. Da, Rahel, willst Du lesen?“

Rahel stand auf, nahm den Brief und überflog ihn für sich.

 „Mein treuer Kamerad und Freund!

Mit fliegender Feder und zitternder Hand das Furchtbarste: heute hat der Arzt erklärt, meines Bruders Ende sei längstens binnen vierundzwanzig Stunden zu erwarten. Wollte Gott doch mein Leben nehmen anstatt dieses theuren, unersetzlichen. In schrecklicheren Gefühlen wurde kaum ein Erbe angetreten als das, welches ich auf mich nehmen muß. Aber vielleicht ist Gott noch barmherzig. Es geschieht vielleicht noch ein Wunder. Und dies arme, junge Weib! O, Ehrhausen – mein Dasein soll fortan ihr und dem Geist meines edlen Bruders geweiht sein. Geht er von hinnen, dann werde ich nur leben, um so zu wirken, wie er es wollte. Eins stärkt mich: in seinen letzten klaren Augenblicken hat er mich noch gelobt um meiner Haltung willen gegen jene, die ich nicht nennen mag. Seine Zufriedenheit wird die Wunden heilen helfen. Denken Sie meiner, Ehrhausen!

Ihr unglücklicher Clairon.“ 

In tiefster Erschütterung blieb Rahel stehen. Nein, es war kein Wunder geschehen, und Clairon hatte seinen Bruder begraben müssen. „Ja,“ sagte sie leise, „Clairon ist ein edler Mensch, und für seine kurze Schwäche hat er hart gebüßt.“

„Man fühlt auch aus diesem Brief, daß der Gedanke ihm ganz fern liegt, sich nun doch noch mit Lea zu vereinigen,“ bemerkte Raimar.

„Hast Du das überhaupt für denkbar gehalten?“ rief Rahel.

Der gute Raimar hatte in manchen Punkten ein bißchen bequeme Ansichten und neigte stets zu dem Glauben, daß sich alle Risse zusammenkitten ließen.

„Du fährst mich ja gerade so an, wie Lüdinghausen es zu thun beliebte,“ sagte er, halb verlegen scherzend. „Der entgegnete mir mit derselben Frage.“

„Ah!“ rief Rahel mit leuchtenden Blicken, „ich wußte es. Er denkt in allen Fragen wie ich.“

„Ja, sehr merkwürdigerweise,“ gab Raimar vergnügt zu.

Und dann fing er an, eine lange Rede über das bevorstehende Weihnachtsfest zu halten, welches er sonst alljährlich hier auf Römpkerhof gefeiert habe. Er bestand darauf, daß die Damen zu ihm kommen müßten und daß er für einen solchen Tag Fräulein Malchens Weigerung nicht gelten lasse.

Natürlich richtete er nichts aus, denn das alternde Fräulein blieb dabei, daß es sich nicht schicken würde.

Raimar dachte, daß für seine Zwecke alle Mittel heilig wären, und log dem guten Fräulein vor, daß Römpkers eine Weihnachtskiste für die Damen an ihn senden wollten, damit er ihnen aufbaue.

Ja, wenn ihre liebe Alide selbst sie auf diese Weise zwang, mußte Malchen wohl diese Kühnheit wagen.

Hoffentlich, beschwichtigte sie sich, wird er nicht so taktlos sein, mir in seinem Hause den Hof zu machen. Und dabei war sie [464] im Grunde sehr glücklich, daß man sie gezwungen hatte, denn sie wünschte brennend seit Jahren, Kohlhütte einmal betreten zu dürfen.

Raimar mußte nun einen Eilbrief an Römpker verfassen und diesen bitten, die etwaige Weihnachtskiste für die Damen jedenfalls nach Kohlhütte zu senden. Dabei kam er sich wie ein ungemein schlauer Ränkeschmied vor.

Hatte er ja doch außerdem gegen Rahel geäußert: „Wir werden natürlich unter uns sein“, was diese in der Annahme bestärkte, Lüdinghausen werde zu seinem Vater reisen. Daß Raimar aber in den Begriff „unter uns“ Lüdinghausen gerade mit einbezug, davon hatte das Mädchen natürlich keine Ahnung.




12.

Daß von einem Tannenbaum auf Kohlhütte nicht die Rede sein konnte, verstand sich von selbst. Raimar dachte wohl daran, aber er wagte nicht, davon zu sprechen. Christel würde doch bloß sagen: „Für solchen Kinderkram sind wir zu alt.“ Er selbst hatte keine Vorstellung davon, wie man so ein Ding herrichtet, sonst hätte er es allein versucht. Für Christel bestand jegliche Festvorbereitung, mochte das Fest nun heißen, wie es wollte, ausschließlich in bedeutenden Kuchenleistungen. Und weil im Winter die Menschen mehr essen können als im Sommer, wurden an Weihnachten noch einmal so viel Kuchen gebacken und Gerichte gekocht als zu Pfingsten. Die sonst etwas geizige Christel sah es über die Weihnachtszeit als das Recht aller ihr unterstellten Dienstboten an, von morgens bis abends zu schmausen.

Daneben hielt Christel darauf, daß von ihrer eigenen Person an bis herab zum Kuhjungen jeder Einwohner von Kohlhütte in den Festtagen einmal zur Kirche ging. Hierüber stellte sie förmlich einen Plan fest, damit die Arbeit nicht gestört werde und doch jeder zum Kirchenbesuch Zeit finde.

Von Poesie war demnach keine Rede bei dem Heiligen Abend auf Kohlhütte. Ebensowenig kannte man dort einen Aufbau von Geschenken; Raimar als Junggeselle verstand sich nicht auf Frauenzimmerbedürfnisse, und so bekamen alle Dienstboten zu ihren Kuchen und Nüssen, Aepfeln und Feigen Geld. Reichlich und doch so kahl war diese Art von Bescherung.

Nun hatte Raimar den herzlichen Willen gehabt, diesen Abend die arme Rahel nicht im öden Elternhaus zu lassen. Zudem versprach er sich Großes davon, wenn er sie mit Lüdinghausens Anwesenheit überrasche. Aber als jetzt bestimmt war, daß sein Plan sich verwirklichen solle, war er in großer Verlegenheit. Er mußte doch für seine Gäste ein wenig Weihnachtszauber herbeischaffen.

Sonst ließ er sich aus Berlin zum Fest jedes Mal drei „Aufmerksamkeiten“ für die Damen kommen und überreichte sie bei Römpkers unter dem Tannenbaum. Ein alter Freund in Berlin besorgte ihm das, und dieser wählte blindlings die immer kostbaren, indessen häufig recht thörichten Gegenstände.

Das ging doch diesmal nicht. Der Gaben mußten mehr sein, und er hatte für Dinge zu sorgen, die gerade für Rahel paßten. So eine ordentliche kleine Bescherung sollte es werden, wie ein Vater sie der Tochter giebt, denn Raimar sah sich durchaus als „Pflegevater“ an.

Bei Christel fand er keinen Rath, sondern nur Unwillen. Sie hatte es gleich gesagt, daß es ein Unsinn sei und daß Damen bei solcher Gelegenheit nicht hierher paßten, weil man sich nicht auf solche Geschichten verstehe.

Endlich fuhr er in die Stadt und klagte Lüdinghausen sein Leid.

Erasmus Lüdinghausen hatte keine Schwester gehabt und in seinem Leben wenig mit Frauen verkehrt. Aber er erinnerte sich gut der Weihnachtsgabentische für seine Mutter. Ohne weiteres glaubte er, daß man Rahel ganz die gleichen Sachen schenken könne. Jedenfalls fühlte er sich viel verständiger in diesen Fragen als Raimar, und da er ohnehin – wie er betonte – in diesen Tagen noch nach Berlin reisen wolle, bot er sich an, alles zu besorgen. Daß er sich plötzlich zu der Reise entschloß, nur um das wehmüthige Glück zu haben, etwas Freundliches für „sie“ zu thun, ließ er natürlich nicht merken.

Und so fuhr Lüdinghausen denn am Nachmittag des Festabends mit einer großen Kiste auf seinem Schlitten bei Raimar an.

Dieser empfing ihn mit knabenhafter Freude. Eine Sendung, welche der Postbote vormittags gebracht, hatte sein unbändigstes Vergnügen erregt. Es waren Blumen, lauter wunderbare frische Blumen, und dabei die Karte von Lüdinghausen, der diese kostbare Blüthenspende als Festgruß an seinen Freund Raimar schickte.

Christel hatte es einfach „verrückt“ gefunden, so viel Geld für „so was“ auszugeben.

Raimar schüttelte sich vor Lachen. „Als ob ich eine junge Dame wäre, Lüdinghausen, und Sie in mich verliebt!“ sagte er.

Der Landrath wurde etwas befangen.

„Ich meine, einmal bemerkt zu haben, daß es Sie freut, Ihre Tafel geschmückt zu sehen, und besonders heute abend …“

Raimar schlug ihm auf die Schulter.

„Verstehe, verstehe,“ rief er. „Und nun packen wir aus und bauen auf!“

Da erwies es sich aber, daß die beiden Männer recht hilflos waren. Als sich ein ganzer Berg eingewickelter Gegenstände auf der braunen Tischdecke im Wohnzimmer häufte, meinte Lüdinghausen, es sehe sehr häßlich aus. Bei seiner Mutter habe alles auf weißem Damasttuch gelegen und sei fein säuberlich ausgebreitet gewesen.

So schwierig hatten sie sich beide die Geschichte nicht vorgestellt.

Und während sie erregt und ungeschickt hantierten, ward ihnen beiden so eigen und so weich ums Herz.

Sie fühlten, daß da im Haus etwas fehle, ein lebensvoller Zauber, eine Anmuth, die Wärme bringt. Es schien ihnen dunkel und unwirthlich. Der Kuchenduft – wenn’s gleich Duft und kein Dunst war – so gasthausmäßig! Niemand lachte geheimnißvoll, keiner horchte und lauschte. Da waren keine neugierigen Augen, vor denen es etwas zu verbergen gab.

Auf dem Schreibtisch in der Stube, wo sie kramten, stand eine Reihe weiß eingewickelter Geldrollen in abgestufter Reihenfolge, der Größe nach geordnet. Sonst sah es aus wie alle Tage, nur auf dem Sofatisch und den Lehnsesseln daneben war ein greuliches Durcheinander von Einwickelpapier, leeren Schachteln und bunten Gegenständen, die sich auf keine Weise von den Männerhänden in zierliche Ordnung bringen ließen.

Wunderliche Gedanken weiteten dem alten Mann das Herz und machten ihn stumm; sein junger Freund war schon lange still.

Alle guten und traulichen Stunden, die sie einst unter Mutteraugen an solchem Tag erlebt hatten, kamen ihnen ins Gedächtniß. Und beide erinnerten sich, wie die Frau des Hauses der Mittelpunkt gewesen war, wie von ihr alles Licht, alle Freude, alle Familienfröhlichkeit auszugehen schien; wie ihre Hände den Baum mit Lichtern geschmückt, wie ihre Gestalt umstrahlt war vom Kerzenschein und umweht vom Tannenduft; und wie märchenhaft es gewesen war, daß Wünsche, die man kaum oder nie ausgesprochen hatte, dennoch Erfüllung fanden durch ihre sanften Segenshände.

Raimar warf plötzlich mit kühnem Wurf einen Ballen zusammengeknüllter Papiere und Bindfäden durch den ganzen Raum in die Richtung des Papierkorbes.

„Es scheint wahrhaftig, daß ein Frauenzimmer und ein Tannenbaum zum Fest gehören,“ sagte er mürrisch.

Lüdinghausen glättete mit sorglichen und liebkosenden Händen einen Seidenstoff und schwieg.

„Zum Donnerwetter, Freund,“ brach Raimar ungeduldig los, „machen Sie’s besser als ich!“

„Das steht nicht bei mir allein,“ erwiderte Lüdinghausen mit etwas unsicherer Stimme.

Christel kam mit der Lampe und war außer sich über die vielen theuren und unnützen Sachen. Sie behauptete fest, daß Fräulein Rahel sich höchstens ärgern werde und das meiste gar nicht brauchen könne. Dadurch nahm sie den armen Männern den letzten Rest von Vorfreude.

Zweifelhaft sahen sie auf den Tisch voll Gaben nieder. Lüdinghausen fand, daß er sehr unglücklich eingekauft habe, und jetzt fielen in seinen erinnernden Blick allerlei andere schönere Dinge, die gewiß besser gewesen wären.

Raimar schlug vor, lieber den „ganzen Kram“ schnell zu verstecken, denn die Damen konnten jeden Augenblick eintreffen.

Aber Lüdinghausen fiel ihm in die Arme. Nein, jede Kleinigkeit hatte er lange in seinen Händen gehalten, jeder Gegenstand war ihm theuer geworden, weil er ihr Besitz werden sollte. Ihm war es, als müsse alles in ihren Händen ihr ein wenig von der Wärme mittheilen, die er empfunden hatte.

[465] „Und wenn sie uns auch auslacht! Sie sieht doch den guten Willen! Und noch einmal, Raimar, daß Sie nicht verrathen, ich sei Ihr Kommissionär gewesen.“

Die Dunkelheit brach herein, die durch den Schnee, der hoch und rein draußen lag, in langer Dämmerung verzögert worden war. Rings am Hause wurden an den Fenstern des Erdgeschosses die Läden vorgeschraubt.

Die beiden Männer saßen in stiller Erwartung da und rauchten, ohne daran zu denken, daß dies kein hübscher Empfang für die Damen sei und daß die Weihnachtsbescherung zwischen ihnen auf dem Tisch den Tabakgeruch in sich einziehen werde.

Draußen klingelte ein Schlitten, er hielt vor dem Hause. Raimar ging hinaus.

Der andere blieb mit pochendem Herzen im Zimmer und horchte. Er hörte lachen und eine liebe Stimme, die sagte:

„Untersteh’ Dich nicht, die Thür aufzumachen! Geh’ rasch in Deine Stube! Da mußt Du warten, bis ich komme. Hier, Malchen kannst Du mitnehmen!“

Gleich darauf erschien Raimar wieder, und zwar mit Malchen, die Pelz und Hut hatte draußen lassen müssen und nicht einmal erst im Spiegel nachsehen konnte, ob ihr Scheitel auch glatt sei und ihre Halskrause ordentlich sitze.

Aus dem Entsetzen hierüber fiel Malchen sofort in ein anderes.

Da saß Lüdinghausen. Das war unerhört! Diesen Mann, in welchem Malchen den Todfeind ihrer Freunde sah, diesen Mann einzuladen, hatte Raimar die Taktlosigkeit gehabt!

Sie grüßte steif und nahm auf einer Stuhlecke Platz. Sie hüstelte und wehte sich den Cigarrendampf weg. Alles an ihr war Abwehr: Abwehr gegen diese „Höhle“, in welche man sie geschleppt hatte, Abwehr gegen den taktlosen Hausherrn und den noch taktloseren Lüdinghausen, der seine Person einer Römpker unter die Augen zu bringen wagte.

Dabei bemerkte Raimar nicht einmal, daß der Husten dem Rauch galt. Er erzählte, daß Rahel nur ihr Näschen durch die Thür gesteckt und strengen Befehl gegeben habe, sie draußen nicht zu überraschen.

Malchen erkundigte sich, ob Briefe aus Wiesbaden gekommen seien.

„Brief aus Paris. Kistchen noch aus Wiesbaden. Hier ist ein Brief für Sie!“

Malchen griff nach dem Brief von ihrer lieben Alide wie nach einem rettenden Schutzmittel.

„Sie erlauben?“ fragte sie mit einer steifen Art von Verbeugung.

„Lesen Sie nur immerzu!“ entgegnete Raimar vergnügt.

„Ich muß nothwendig ein Wort mit Rahel sprechen,“ sagte sie plötzlich und strebte der Thür zu.

[466] „Wenn sie geht, sieht es aus, als ob ein Schilderhaus auf Rollen geschoben würde,“ äußerte sich Raimar wohl sonst. Heute kam er zu keinen kritisierenden Beobachtungen, sondern war mit einem Satz bei ihr und ergriff ihren knöchernen Arm. Er konnte sich denken, daß jenes Wort lauten würde: Lüdinghausen ist da.

„Hiergeblieben!“ rief er. „Rahel hat es befohlen!“

Fräulein Malchen gab sich Mühe, zu erröthen, natürlich vergebens.

„Bitte, fassen Sie mich nicht an.“ sagte sie spitz.

Lüdinghausen aber lauschte mit höchster Spannung.

War der Zauber, der heimliche, süße, märchenhafte, nicht mit einem Male ins Haus gekommen? Raunte und huschte, flüsterte und lachte es nicht da draußen? Ging es nicht wie ein seliges Ahnen durch die Luft? Und die alte, dunkle, verräucherte Stube, sah sie nicht auf einmal ganz geheimnißvoll aus?

Ein leichter Schritt, den er nur zu gut kannte, eilte über die Diele draußen. Christels greisenhafte Stimme sprach halblaut, er hörte Töne der Verwunderung und dazwischen ein reizendes Lachen. Es rauschte und knisterte.

Und dann plötzlich athemlose Stille, die Pause vor dem großen Ereigniß.

Es raschelte wieder an der Thür, die Klinke bewegte sich, die Thür that sich auf, und auf der Schwelle, gerade da, wo sie einst gestanden in Kummer und Noth und die erwachende Liebe in den Augen, da stand sie wieder – wie ein Engel des Lichtes, der vom Himmel hernieder gekommen ist, Frieden und Glück auf diese Erde zu bringen.

Mit ihren beiden Händen hatte sie den Schaft eines schlanken Tannenbäumchens umspannt und hielt es aufrecht vor sich hin. Sie sah mit ihren strahlenden Augen in die grünen Zweige und auf die flimmernden Lichter, die an Bändchen pendelnden Zierate und das rauschende Gold. Sie ging langsam vorwärts, mit lachendem Gesicht und doch ängstlich vertieft in die Aufgabe, ihre schwierige Last im Gleichgewicht zu erhalten.

Und mit ihr kam der Weihnachtsglanz in die verräucherte Junggesellenstube.

Die Männer wichen zurück und sahen ihr zu, ihnen war’s, als träumten sie. Dem alten feuchteten sich die Augen, der junge preßte die Lippen zusammen, damit der Jubel seines Herzens nicht laut ausbreche.

Und nun war sie am Tisch, und Christel, die ihr nachgefolgt war, half ihr das Bäumchen in den dazu bestimmten Träger stellen.

Mit einem reizenden, kindlichen Triumph wandte sich Rahel jetzt dem alten, lieben Onkel zu. Da sah sie, daß jemand neben ihm war, den sie nicht hier erwartet hatte.

„O,“ sagte sie, weiter nichts, und sie stand mit herabhängenden Armen und blickte erröthend zu Boden.

„Mein Kind!“ rief der alte Mann und schloß sie in seine Arme.

Er war übermannt von dem Liebreiz dieses Anblickes.

Lüdinghausen aber nahm wieder wie damals eine ihrer Hände und fragte leise:

„Wollen Sie mich Einsamen auch Theil nehmen lassen an Ihrem Weihnachtsfeste?“

Rahel fühlte, daß die Rührung sie zu überwältigen drohte. Doch nein, das durfte nicht sein. Sie rang tapfer dagegen. „Nicht weinen,“ dachte sie, „nicht vor ihm! Es ist ja gar kein Grund dazu vorhanden.“

Sie versuchte zu lächeln und nickte zustimmend, dann drehte sie sich mit Augen, die nicht klar sahen, weil sie in Thau standen, wieder dem Tisch zu.

Mit spitzem Zeigefinger deutete sie auf die Sachen.

„O, wie viel schöne Dinge! Wer hat Dir denn das geschenkt?“ wandte sie sich an Raimar, obgleich ihr nicht entging, daß das lauter Gegenstände für eine Dame seien.

Nun war Onkel Raimar stolz und glücklich. Er vergaß alle Bedenken über die Würdigkeit und die geschmackvolle Auswahl der Geschenke und legte ihr jeden einzelnen Gegenstand vor.

„Das sollst Du haben, und das und das. Von wem? Von mir.“

Rahel schlug die Hände zusammen.

„Wie schön, wie schön!“ rief sie.

Raimar erklärte ihr alles, dabei lachte er immer mächtig dazwischen und sah Lüdinghausen an.

Fräulein Malchen wurde von seinem lauten Wesen nervös. „Es ist nur gut,“ tröstete sie ihr jungfräuliches Herz, „daß ich ihn nicht geheirathet habe, sein Organ hätte mich getödtet.“

„Aber wo hast Du denn diese Herrlichkeiten eingekauft?“ erkundigte sich Rahel.

„Ich – hm, ich bin heimlich nach Berlin gefahren,“ sagte er und sah Lüdinghausen herausfordernd an, als wollte er fragen: „Na, kann ich nicht großartig flunkern, wenn’s drauf ankommt?“

„Onkel, Du lügst ja wie gedruckt,“ rief Rahel, die den Blick auffing und sofort den „Kommissionär“ errieth.

Sie erglühte vor Freude und ihre Hand strich liebkosend über all die kleinen Dinge, denen man es freilich zum größten Theil ansah, daß sie von einem beredten Ladeninhaber einem unschlüssigen und ungewandten Käufer aufgedrängt worden waren.

„Kannst Du aber diese Geschichten auch brauchen?“ meinte Raimar bedenklich. „Christel hat uns so angst gemacht.“

„O gewiß, gewiß!“ behauptete Rahel entzückt. Gerade die Geschenke rührten sie am tiefsten, denen sie das Bemühen und die Rathlosigkeit ansah. „Christel versteht sich doch nicht auf die hunderterlei Luxuswünsche einer jungen Dame.“

„Und der Seidenstoff? Gefällt Ihnen die Farbe?“ fragte Lüdinghausen.

Er hatte ihn ausgesucht, weil er sich genau erinnerte, daß seine Mutter ein solches Kleid zu tragen pflegte, und es hatte eine große Mühe gekostet, bis er den Verkäufern in der Seidenhandlung seinen Wunsch verständlich beschrieben hatte. Er wußte, daß es weder blau noch roth noch grün oder gelb gewesen sei, daß aber seine Mutter sehr stattlich darin ausgesehen habe. Schweißperlen waren auf seiner Stirn gestanden, und endlich fand sich die Farbe vor.

Rahel nickte zu der Frage. Wenn es Sackleinwand gewesen wäre, ihr würde auch diese gefallen haben, weil er sie ausgesucht hatte.

Fräulein Malchen hatte den Seidenstoff gleich gesehen, als sie eintrat, und sich sofort gesagt, daß das eine Farbe für ältere Damen sei. Natürlich glaubte sie daher, man wolle ihr das Kleid geben, und regte sich sehr auf, ob sie ein so intimes Geschenk annehmen könne. Nun fiel ihr eine Centnerlast vom Herzen. Nein, sie hätte es auch um keinen Preis angenommen.

„Fräulein Malchen,“ redete jetzt Raimar sie an, „ich darf mir doch wohl erlauben, heute auch Ihnen eine Kleinigkeit …“

„Aber ich bitte Sie, Sie setzen mich in tödliche Verlegenheit,“ hauchte Malchen.

Raimar stand schon vor ihr, in der einen Hand einen großartigen Fächer, in der andern ein prachtvolles Tintenfaß.

Der Fächer paßte für eine junge Ballkönigin, und auf dem Tintenfaß stand ein Amor, ein völlig unbekleideter Amor.

Fräulein Malchen gerieth in die größte Verwirrung. Ihre Augen strahlten, aber ihre Lippen stotterten.

„Von Ihnen? Diese Gaben? Mein Gott, was soll ich dabei denken?“

Rahel lachte und Lüdinghausen begriff erst jetzt, wie ungeeignet seine Wahl gewesen sei. Er sah Rahel in die Augen und sagte leise:

„Wir Männer sind doch ganz ungeschickt ohne eine leitende Frauenhand.“

„Wo ist denn die Kiste von den Meinigen?“ fragte Rahel. „Auf diese bin ich ja eingeladen worden. Alles andere ist gegen die Abmachung.“

„Die Kiste steht im Eßzimmer. Ich meinte, Du packest sie vielleicht erst auf Römpkerhof aus.“

„O nein!“

Rahel ging rasch an die Thür, Fräulein Malchen hastete ihr nach.

„Bitte recht sehr,“ sagte Raimar, „sollen wir Männer hier allein die Lichter bewachen? Fräulein Malchen spielt eine Partie Bésigue mit mir, ich rechne darauf. Lüdinghausen kann beim Auspacken helfen.“

Seufzend ergab sich Malchen in diese Einsamkeit zu Zweien neben dem brennenden Tannenbäumchen.

Lüdinghausen folgte Rahel, die in der Thür zum Eßzimmer stand und den Blumenflor auf der kleinen Tafel überblickte. Wie im tiefsten Winter diese Fülle von Maréchal Nielrosen, von Maiblumen und Hyazinthen hierher kam, konnte sie leicht errathen. Sie war sich bewußt: das war sein Festgruß an sie.

[467] Sie sah ihn an, mit einem offenen und doch schmerzlichen Blick, und er glaubte zu verstehen, was ihre Augen sprachen: „Jetzt lernst Du, meiner Seele wohlzuthun, jetzt, wo es zu spät ist.“

„Kommen Sie,“ klang es indessen ganz ruhig von ihren Lippen, „lassen Sie mich erfahren, was Vater und Mutter schreiben!“

Als er ihr kameradschaftlich die Schnur von dem Kistchen gelöst und die Nägel herausgezogen hatte, wobei sie sich ein wenig stritten, weil jedes eine andere Seite für die am besten loszumachende hielt, hätte Lüdinghausen sie mit den Briefen und dem Kistchen allein lassen müssen. Er fühlte es und blieb doch.

Er schaute zu, wie sie auskramte. Das Kistchen stand auf einem der in einer langen Reihe an der Wand aufgestellten Stühle. Rahel saß links, er rechts daneben.

„Hier ist es beinahe wie in einem Wartesaal,“ scherzte er.

„Ja, wenn die schönen Blumen nicht wären.“

Aus den Papierschnitzeln holte Rahel zunächst eine Bonbonnière hervor. Dann ein Armband, auf dessen Umhüllung stand: „Alide ihrer lieben Freundin.“ Also für Fräulein Malchen. Dann noch ein sorgfältig eingepackter Gegenstand. Eine prachtvolle Brosche für Rahel, in der Form eines Sternes von Perlen und Diamanten. Rahel war ein wenig bleich. Man merkte es diesem Geschenk allzu sehr an, daß seine Kostbarkeit für die Wahl bestimmend gewesen war. Das viele Geld sollte beweisen, daß man auch für die jüngere Tochter keine Ausgabe scheue und mit Liebe ihrer gedenke.

Und eben das betrübte Rahel; dieser Liebesbeweis, erbracht durch einen kurzen Gang zum Juwelier, schien ihr so kalt. Der tadellos künstlerische Geschmack des Schmuckstückes erfreute kaum ihr Auge.

Das alterthümliche Seidenkleid, das da drüben für sie lag und in welchem sie sich wahrscheinlich wie eine Urgroßmutter ausnehmen würde, dünkte sie ein köstliches Geschenk und unbeschreiblich schön.

„Wie gut und liebevoll von Papa!“ sagte sie leise.

Erasmus Lüdinghausen las in ihrer Seele. Er erkannte, daß ein Blümchen, sinnig gewählt, bedeutsam gegeben, ein zartes Frauenherz mehr beglücken kann als alle Perlen und Diamanten. Und die Freude, welche sie vorhin an den gewiß unverständig gewählten Gaben gezeigt hatte, warf einen erneuten Nachglanz in sein Herz. Da hatte sie empfunden, daß Liebe für sie gedacht und gesorgt habe – das Ergebniß galt ihr gleich.

„Rahel,“ begann er und wußte nicht, was er sagen wollte und was die nächste Sekunde bringen würde. Eine unendliche Liebe, die Sehnsucht, dieses herrliche Wesen an seine Brust zu ziehen, erfüllte ihn ganz.

Aber sie streckte abwehrend ihre zitternde Hand aus, und er neigte ergeben das Haupt.

Nein, sie hatte recht, es konnte niemals sein. Für immer stand Lea zwischen ihnen. Es war undenkbar, daß er als Rahels Verlobter ein Haus betreten würde, wo er unausgesetzt jener begegnete, die mit ihm gespielt hatte und deren Anblick Rahel täglich neu daran mahnen mußte, daß er sie um der andern willen so lange nicht bemerkt! Sie nicht bemerkt, die er zum Inhalt seines ganzen Lebens machen mußte, wenn dies Leben nicht werthlos werden sollte!

[480] Da finde ich noch etwas,“ unterbrach Rahel die Stille, indem sie die Kiste weiter auspackte. Sie gab sich keine Mühe, sich zu beherrschen. Ihre Züge waren leidend, ihre Stimme matt.

Sie zog ein flaches Packet heraus, offenbar Bilder. Vielleicht Ansichten von schönen Punkten, welche die Ihrigen besucht hatten.

Sie löste die Schnüre. Zwei Kabinettphotographien, jede in einem Umschlag. Sie öffnete den einen.

Lea!

Lea, in einem Hals und Schultern tief freilassenden Ballkleid, so wie sich vielleicht fürstliche Damen oder Künstlerinnen abbilden lassen. Der Kopf war in malerischer Wendung halb erhoben, der Blick dunkel und groß in die Ferne gerichtet. Sie sah so blendend schön aus, daß Rahel sie kaum wiedererkannte. Aber schmäler waren ihre Wangen, und diese Schatten hatten sonst nicht unter ihren Augen gelegen.

Rahel reichte Lüdinghausen das Bild hin.

Er erblaßte und betrachtete es lange. Dann gab er es ihr zurück und schaute ihr frei und innig in die Augen.

„Und das zweite Bild ?“

Das blieb Rahel völlig unverständlich, als sie es hervornahm.

Es war das Brustbild eines Herrn im Frack. Diesen [482] bedeckten Orden, ein Ordensband mit einem großen Stern daran schlang sich um den Hals. Der Mann konnte vierzig oder mehr Jahre alt sein, er hatte unverkennbar slavische Gesichtszüge und schien sehr dunkel. Sein Blick war hochmüthig, seine starken Lippen deckte ein kleiner Bart.

„Die Briefe werden Aufschluß geben, was mir das Bild soll,“ sagte Rahel bebend.

Von Lea war kein Brief da, nur von den Eltern. Sie nahm den der Mutter und las:

„Mein Kind, ich bin sehr unglücklich, daß Du an Weihnachten fern von uns bist. Ich bat Papa, Dich mit Malchen nach Wiesbaden kommen zu lassen, aber wir gehen schon vorher nach Paris. Die kleine Kiste schicken wir im Augenblick der Abreise, des Zolles wegen. Die Zeit in Paris liegt entsetzlich vor mir. Ich halte Leas Wahl für übereilt und kann mich nicht daran gewöhnen, daß dieser Russe mein Schwiegersohn sein soll …“

Weiter kam Rahel nicht. Sie lehnte den Kopf zurück und schloß die Augen.

„Was ist Ihnen?“ rief Lüdinghausen und sprang auf. Er hatte mit wachsender Angst die Veränderung in ihren Zügen bemerkt.

Rabel faßte sich gewaltsam.

„Nichts! Ich will Papas Brief lesen.“

„Meine liebe Rahel! Dein Papa ist selig. Sei Du es mit ihm! Unsere Lea macht ihr Glück. Ich sage Dir: märchenhaft! Habe mich nach Dasanoff bei den Botschaften in Paris und Berlin erkundigt, trotzdem das überflüssig war, denn er ist hier bei allen ersten Persönlichkeiten der Gefeierte. Lea wird eine der reichsten und ersten Fürstinnen Rußlands. Dasanoff ist gestern nach Paris gegangen, wir folgen morgen. Die Hochzeit wird natürlich auf Römpkerhof und schon im Beginn des Februar abgehalten. Anbei sein und ihr Bild! Nächstens mehr! Dein Papa. 

P. S. Welche tragische Geschichte mit den Clairons! War übrigens ein merkwürdiger Zufall: am selben Tag, als Mama diese Nachricht von Malchen erhielt, erklärte Lea, daß sie Dasanoff nehmen wolle.“

Rahel stand auf. Sie sah aus wie der Tod.

„Lesen Sie!“ sprach sie rauh.

Lüdinghausen fuhr zurück, als sie ihm den Brief hinbot und hart hinzusetzte:

„Lea wird in sechs Wochen Fürstin Dasanoff. Sie hat sich mit ihm verlobt am Tage, wo sie vernahm , daß Clairon Herr auf Westernburg geworden sei.“

Aber plötzlich brach ihre Härte in leidenschaftliche Klagen aus.

„Lea!“ rief sie, „Lea! Wie spielst Du mit Dir und allem! Mit der Liebe und dem Leben!“

Sie barg ihr Antlitz in ihren Händen. Lüdinghausen war aufs tiefste erschüttert.

„Rahel,“ bat er, „um Gotteswillen, fassen Sie sich! Wer kann ermessen, was in diesem Herzen voll dunkler Abgründe vorgegangen ist! Wer entscheiden, ob es nicht lange verhehlte Verzweiflung war, die Lea zu diesem Schritt getrieben hat!“

„Könnte ich zu ihr,“ klagte Rahel fiebernd, „um sie abermals aufzuhalten, um ihr noch einmal in die Arme zu fallen, wenn sie auf den Wegen zum Unglück dahinrast.“

„Diesmal,“ sagte er ernst, „diesmal würde Ihr Zuruf vergeblich sein. Denn Lea hat jetzt mit eiserner Entschlossenheit und kalter Ueberlegung wiederholt, was sie damals in thörichter Verblendung wollte.“

„Meine arme, unglückliche Schwester! Fühlen Sie denn nicht, was das heißen will: gerade am Tag, als sie von Clairons Lebenswendung erfuhr, gerade da gab sie dem noch glänzenderen Bewerber die Hand. Das war eine That dämonischen Trotzes gegen das eigene Herz und gegen ihn, den dies Herz geliebt.“

„O Rahel, Sie haben recht, Lea zu beweinen, helfen aber können Sie ihr nicht, denn durch diese That entfernt sie sich weit und für immer von Ihnen, ihrem Elternhause, ihrem Vaterland.“

Und während er das aussprach, ging ein Erschrecken, ein glückliches und besinnungraubendes, durch sein Inneres. Wenn Lea so die Ihrigen verließ, so bewies sie, daß sie sich loslösen wollte von allen, die sie liebten und bereit waren, sich für sie zu opfern, dann – ja, dann stand ihre Gestalt auch nicht mehr wie eine drohende Abwehr zwischen ihm und der Geliebten.

„Rahel!“ sagte er mit einer Stimme, welche ihr in die Seele drang.

Sie ließ die Hände vom Gesicht sinken und sah ihn an.

Und mit jenem schnellen und geheimnißvollen Verständniß, welches nur zwischen Liebenden sich entzünden kann, wußte sie seine Gedanken.

„Rahel,“ begann er wieder und erfaßte ihre Hände, „soll ich wirklich ihretwegen ewig fern stehen und nie bekennen dürfen, daß ich sie nie geliebt habe, nie, mit keinem Herzschlag? Nicht gestehen, daß ich Dich liebe? Dich, so lang ich athmen werde?“

Sie schloß die Augen, aber sie sprach kein Wort.

„Mein Gott!“ rief er in heiß erwachender Angst, „kannst Du nicht verzeihen und vergessen? Einem Mann nicht glauben, der sich einmal so irre leiten ließ?“

Seine Hoffnung wollte versinken, aber voll Leidenschaft versuchte er noch einmal, das Glück zu zwingen.

„Rahel, so liebst Du mich nicht?“

Da richtete sie ihr Gesicht empor und blickte ihn an, und plötzlich hatte er sie umfaßt und küßte ihre Lippen und ihre Augen.

Sie hatten sich ohne weitere Worte für immer gefunden. –

Fräulein Malchen fiel beinahe in Ohnmacht, als sie das Vorgefallene hörte. Sie blieb bis an ihr Lebensende der Meinung, daß, wenn sie bei der Partie Bésigue nur ein bißchen mehr auf Raimars Scherze eingegangen wäre, der Abend mit einer Doppelverlobung geendet hätte, eine Ansicht, welche sie natürlich in der Tiefe ihrer Brust verbarg und nicht einmal ihrer lieben Alide anvertraute. Raimar dagegen sprach noch jahrelang von der „schauderhaften“ halben Stunde, wo er mit Fräulein Malchen beim Kartenspiel Höllenqualen der Langenweile ausgestanden hatte.

„Unsere berühmte Partie Bésigue“ wurde oft citiert, aber jedes dachte sich dabei in recht verschiedene Erinnerungen hinein.

Für jetzt wurde, als die Sammlung ein wenig wiedergekehrt war, beschlossen, daß Lüdinghausen und Rahel ihre Vereinigung vor Rahels Eltern und Lea noch verschweigen sollten.

Rahel war nicht ganz frei von der Furcht, ein Wort oder nur ein Blick von Seiten Leas könne ihr noch wehthun und ihr jene böse Rede der Schwester wieder ins Gedächtniß rufen: „Du wolltest ihn für Dich selbst haben.“ Sie empfand wohl, daß es kleinlich gehandelt sein würde, ihre Liebe deshalb zunächst zu verbergen, und war ganz froh, daß es außerdem noch Gründe für die Heimlichkeit gab.

Daß es Lea sowohl wie Lüdinghausen angenehmer sein mußte, sich jetzt noch nicht zu begegnen, war sehr begreiflich, obwohl Lüdinghausen in ehrlicher Ueberzeugung den Wunsch hegte, ihr in jeder erlaubten Form zu zeigen, er habe sie nie geliebt.

Ferner mußte es für Herrn von Römpker leichter sein, in Lüdinghausen zum zweiten Mal den Schwiegersohn zu begrüßen, wenn Lea nicht mehr im Hause war.

Rahel sprach auch für die arme Mama, Malchen für ihre liebe Alide, die gewiß ohnehin schon unter den Sorgen über Leas Brautstand zusammenbrach.

Und so schien es denn am besten, den Eltern diese unerwartete Neuigkeit erst am Tage nach Leas Vermählung mitzutheilen. Onkel Raimar versprach, die Liebenden wie bisher unter seine Fittiche zu nehmen und ihnen Gelegenheit zu geben, sich zu sehen.

„Ich danke Dir,“ sprach Rahel zu Lüdinghausen als Schlußwort dieser Verständigungen, „ich danke Dir, meinetwegen und auch ihretwegen, daß Du Dich geduldest. Denn so kann ich ihr, die in den kalten Glanz der Welt hinausziehen will, noch einmal das Herz zu erwärmen suchen, damit sie für alle Zeiten schöne und traute Erinnerungen mit hinwegnimmt von der Stätte unserer gemeinsamen Kindheit.“

Thränen schimmerten in Rahels Augen. Alle Liebe, alles Kinderglück, einst geteilt mit der verlorenen Schwester, war wieder wach in ihrem Herzen, aber auch alle Leiden, die sie erduldet hatte durch die eitle Selbstsucht der andern.

Und in dem Frieden dieses Augenblicks vermählten sich die heitern und die schmerzlichen Erinnerungen zu einer liebevollen Wehmuth. Ihr großes, treues Gemüth war ebenso erfüllt von eigener Seligkeit als von dem Wunsch, auch die Schwester einst glücklich zu wissen.

Der Mann aber, mit dem sie ihre Zukunft theilen wollte, küßte ihr voll Andacht diese schönen Thränen von den Wimpern.

[483]
13.

In einem der größten und elegantesten deutschen Ostseebäder war die Hauptzeit des Besuches vorüber. Das heißt, die Familien mit den Kinderscharen waren davongezogen, Schul- und Gerichtsferien zu Ende, und die nun noch ankommenden Gäste lebten stiller, gemessener dahin. Der Adel des Hinterlandes, die Besitzer der Güter in der Provinz hatten seit vielen Jahren die Gewohnheit, sich hier im September ein unverabredetes Stelldichein zu geben. Man war gewiß, um diese Zeit immer gute Gesellschaft und gute Wohnungen zu finden.

Hoch über dem breiten, weißsandigen Strand zog sich, im tiefsten Buchengrün, die Reihe der Villen hin. Von der Gartenpforte einer jeden führte eine kleine Treppe hinab zu der Strandfläche, die, weit und glatt, den herrlichsten Raum gewährte. Hier lebten die meisten Badegäste fast den ganzen Tag. Gruppen von Strandkörben standen da und dort beisammen. Fischerboote lagen umgestürzt im Sande. Weit ins Meer hinaus war eine Brückenpromenade gebaut, die gekreuzten eisernen Rippen, auf denen die Balken lagen, waren durchschäumt von den heranrollenden Wogen, über die Bretter des Stieges schritten elegante Spaziergänger. Fern, abwärts und aufwärts am Strand, ragten zwei mächtige Holzpavillons in die See, das Herren- und das Damenbad.

Der Glanz eines ungetrübten Septemberhimmels lag über Meer und Land. Die Wellen glänzten wie dunkle Saphire und rollten in ruhevoller Majestät strandwärts, wo sie sich in gehaltener Bewegung überschlugen und kurz weiß aufschäumten. Auf dem Strand war es menschenleer. Die Mittagshitze flirrte, und stumm flog eine Möve mit trägem Flügelschlag dicht über das Wasser hin und setzte sich endlich auf das Geländer des Steges, furchtlos dicht neben einen kleinen Knaben, der dort stand.

Er war schon lange da und schaute mit nachdenklichen Kinderaugen in die sich ewig verändernden Wogen. Sein schlankes Körperchen war von einem dunkelblauen Trikotwams und kurzen Höschen eng umschlossen. Seine Beinchen staken in schwarzen Strümpfen und die Füße in gelblichen Lederschuhen. Sein Gesicht war von dem Rand des weit zurückgesetzten Strohhutes wie von einem gemalten Heiligenschein umgeben. Blonde Locken fielen, quer geradegeschnitten, auf seine Stirn und kamen unter dem Hutrand an den Schultern hervor. Der Knabe hatte die Hände auf dem Rand des Geländers gefaltet und das Kinn aufgestützt. Mit der Geduld und Ausdauer, die Kindern eigen ist, beobachtete er alles, was die Wogen herantrieben und wieder vom Ufer ableckten. Auf die Menschen, die vereinzelt vorübergingen, achtete er gar nicht. Er sah auch nicht auf die Dame, welche jetzt am Strand allein daherschritt, obschon sie von jener Seite kam, der er sein Gesicht zugewandt hatte.

Sie war groß und schlank, der Wind, der übers Meer her wehte, erfaßte ihr Kleid, so daß es sich rechts eng an ihren Körper legte und links in bauschigen Falten flatterte. Langsam, in aufrechter Haltung, näherte sie sich. Sie trug gelbbraune Handschuhe und schräg vor sich einen geschlossenen weißen Spitzenschirm. Ihren Kopf bedeckte ein großer weißer Hut, weiß war auch ihr wollenes Gewand. Hut und Gesicht waren von meergrüner Gaze umhüllt.

Die Dame war an einigen Leuten vorübergegangen, an einer Frau, die in einem Strandkorb saß und las, und dann an einem Mann, der auf seinem Plaid im Sande lag. Sie bemerkte niemand. Mit der vollkommensten Gleichgültigkeit schaute sie ins Leere.

Der Knabe indeß zog ihre Augen auf sich. Sie stand still und blickte ihm zu, wie er regungslos die Wogen beobachtete. Der Schnitt seiner Züge war schön und vornehm und gemahnte die Frau an etwas – an etwas –

Sie schritt langsam weiter, trat auf die Brücke und stellte sich neben den Knaben. Der ließ sich, nach flüchtigem Aufblick, nicht stören.

Sie aber fühlte sich, je länger sie ihn betrachtete, desto mehr gezwungen, ihn anzureden.

„Wonach siehst Du da, Kleiner?“ fragte sie. Es war eine tieftönige, doch etwas verschleierte Stimme, mit welcher sie sprach.

Der Knabe machte eine leise Bewegung mit der Schulter und antwortete nicht.

„Ich habe Dich noch nicht bemerkt. Bist Du erst angekommen?“ forschte sie weiter.

„Gestern,“ sagte er kurz; seine kindliche Lebhaftigkeit und Ursprünglichkeit konnte dem Befehl der Mama, mit Unbekannten nicht zu sprechen, nur sehr schwer folgen.

Die Fremde aber hatte ein merkwürdiges und ihr selbst unerklärliches Verlangen, das blonde Haar des schönen Knaben zu streicheln, sein Pagenköpfchen ohne Hut zu sehen.

Sie nahm ihm den Hut ab und fuhr sanft über sein Haar.

Da riß er ihr den Hut aus der Hand.

„Nicht anfassen!“ schrie er und lief davon.

Die Villa gerade gegenüber der Brücke mußte seine Wohnung sein, denn er eilte dort die Treppe hinauf. Und von dem Garten aus mußte man ihn auch beaufsichtigt haben, denn eine kleine reizende Frau erschien in der Pforte und gesellte sich zu dem Flüchtling, der auf der obersten Stufe stehen blieb.

Die weißgekleidete Dame verharrte auf dem Brückensteg. Ihr war zu Muth, als habe man ihr eine schwere Beleidigung angethan, ihre Kniee zitterten. Doch sofort hob sie in Selbstverspottung hochmüthig die Lippe über diese „alberne Empfindung“. Um vor dem Knaben und seiner Mutter nicht zu thun, als habe sie bloß seinetwegen die Brücke betreten, blieb sie, machte sich mit dem Sonnenschirm zu schaffen und spannte ihn gegen den Wind auf.

Dann gab sie sich den Anschein, eine Weile ins Wasser zu schauen, denn da oben standen noch immer diese Menschen, jetzt um die Person eines Mannes vermehrt, und beobachteten sie. Wahrscheinlich ängstliche Leute aus der Provinz, die dachten, daß man ihnen den Sohn rauben wolle, wenn man freundlich mit ihm spreche. Sie ging bis an das Ende der über dem Wasser stehenden Promenade und kehrte langsam zurück. Ihre Schritte klappten hohl, der Wind zerrte an ihren Kleidern und schob förmlich ihre ganze, überschlanke Gestalt landwärts. Mit dem Schirm deckte sie sich den Nacken.

Jetzt musterte sie mit scharfem Auge nochmals die Gruppe vor der grünen Laubwand des Gartens.

Und ihre Wangen wurden fahl und ihre Nasenflügel bebten.

Sie glaubte den Mann zu erkennen, der da oben stand, den Knaben, sein Ebenbild, an der Hand, die fremde Frau am Arm. Dieses stolze Gesicht, dieser blonde lange Bart auf der Oberlippe, diese Gestalt …

Aber sie begab sich mit denselben gleichmüthigen Schritten an den Strand zurück und in derselben hoheitsvollen Haltung. Nur geschah es ihr, daß sie, anstatt weiter aufwärts zu gehen, wie sie gewollt hatte, gedankenlos sich umdrehte und den gleichen Weg wieder herunterkam.

Die Familie dort drüben sah ihr noch immer nach. Der Knabe lief jetzt wieder an den Strand, der Mann aber sagte:

„Welch eigenartige Erscheinung! Fast Modejournal und doch so sehr besonderer, siegesgewisser Schick, daß ich mich in Ostende oder in Biarritz nicht über diese Frauengestalt wundern würde. Wie kommt das in diesen still-vornehmen Ort? Und was für ein famoses Gefühl der Junge hat! Schreit einfach: ‚nicht anfassen‘ und läuft davon.“

Er lachte. In seinem Gedächtniß war nichts wach geworden, kein unbestimmtes, banges Erinnern, kein zitterndes Ahnen.

Seine Gattin blickte der interessanten Fremden nun doppelt neugierig nach. Aus den sicher umhegten Grenzen eigenen, friedlichen Lebens fliegen die Gedanken einer Frau gern halb scheu, halb wißbegierig zu dem räthselvoll Pikanten.

„Wie merkwürdig,“ meinte sie, „alles, was diese Dame anhat, ist an sich nicht auffallend. Und doch ist das Ganze zusammen herausfordernd.“

„Beruhige Dich nur darüber, das liegt außer Deiner Welt. Sage mir lieber, ob Du vor Tisch nicht noch liegen willst.“

„Nein, Schatz. Ich gehe noch ein wenig mit Dir auf und ab.“

Sie hing sich an seinen Arm und so wanderten sie miteinander im weißen Sand.

„Sieh, da giebt es noch mehr unverständige Menschen, die in der Mittagssonne ihren Teint verderben. Auch ein Ehepaar, wie es scheint, doch vielleicht erst von gestern. Sie sprechen so innig ineinander hinein,“ rief die Frau, auf einen Herrn und eine Dame deutend, welche ihnen entgegenkamen.

Ihr Gatte stutzte und blieb stehen.

„Ich meine, diesen Mann sollte ich kennen – unmöglich – und doch …“

„Was ist Dir, Robert?“ fragte sie ängstlich. „Eine unangenehme Begegnung?“

[484] Er hatte sich schon gefaßt. Mit seinem gewohnten freundlichen Ton sagte er:

„Unangenehm? O nein! Nur überraschend, thörichterweise überraschend. Da ist man erstaunt, in einem Badeort halb vergessenen Bekannten zu begegnen, und eigentlich sollte man sich wundern, daß man sich so lange nicht getroffen hat.“

Indessen war das Paar herangekommen und schien auch seinerseits den Herrn erkannt zu haben. Ein kurzer Zweifel, ob man sich begrüßen wolle, dann doch wirkliche Freunde, daß man sich wiedersah, und schon streckte die Dame herzlich ihre Hand aus und ihr Begleiter lüftete sehr höflich den Hut.

„Graf Clairon! Wirklich! Kennen Sie uns denn noch, und wissen Sie denn, daß Lüdinghausen und ich ein Paar geworden sind?“ rief Rahel.

„Natürlich weiß ich es. Ehrhausen ist der Vermittler aller Berichte zwischen Ihnen und uns geblieben,“ erwiderte Graf Clairon, „und Sie haben schon errathen, daß dies meine liebe Frau ist. Habe ich Dir nicht einmal von der Familie von Römpker erzählt,“ fragte er mit leichter Verlegenheit seine Gattin, „und vom Landrath Lüdinghausen? Alles gute Bekannte aus meiner letzten Garnison und, gleich uns, Freunde von Ehrhausen!“

Aus diesen Worten erriethen Rahel und ihr Mann, daß die Gräfin nichts erfahren habe von dem schmerzlichen Roman, den Clairon einst erlebt hatte, und mit heitern, schnellen Reden halfen sie ihm, eine oberflächliche Unterhaltung zu beginnen.

„Ich kann mir im voraus denken,“ sagte Rahel, „daß Sie auf die flehentlichen Bitten der Baronin Ehrhausen hergekommen sind. Die stets Gesellige mußte wenigstens früher immer einen ganzen Hofstaat von Freunden um sich haben, wenn sie nicht vor Langerweile sterben sollte.“

„In der That,“ antwortete Clairon, während man langsam zu Vieren in der Richtung auf die Wohnung des gräflichen Paares weiter ging, „in der That bin ich nur hierher gereist, um mit dem alten Kameraden zusammen zu sein. Ehrhausen hat uns jedes Jahr auf Westernburg besucht, die Frauen aber waren sich immer noch fremd, und die Baronin in ihrer graziösen Unart wollte durchaus mit meiner Gattin zuerst auf neutralem Boden zusammentreffen. Denn, meinte sie, wenn die Gräfin und ich uns nicht leiden mögen, sitze ich auf der Westernburg geradezu in der Falle. Die Unterhandlungen über eine solche Begegnung, welche von der Baronin als wichtige Staatsaktion behandelt wurde, dauern nun fünf Jahre, also fast seit unserer Verheirathung. Endlich haben wir uns denn aufgemacht.“

„Und Ehrhausen,“ sagte Rahel, „hatte natürlich keine Ahnung davon, daß wir diesen selben Ort auch zu einem Stelldichein bestimmten. Wir sind ihm gestern abend in die Arme gelaufen, ebenso zufällig wie Ihnen. Und die Baronin hat uns allesammt gleich für diesen Abend eingeladen.“

„Allesammt?“ fragte Clairon mit etwas gedehnter Stimme, „sind Herr und Frau von Römpker auch hier?“

„Nur mein Schwiegervater,“ erwiderte Lüdinghausen schnell, „und der Fürst und die Fürstin Dasanoff.“

„Verwandte von Ihnen? Ich erinnere mich, den Namen gehört zu haben. Richtig, einige Vettern von mir schwärmten von der schönen Fürstin, welche sie in Petersburg getroffen hatten und welcher dort alle Kavaliere zu Füßen liegen sollen. Und die ist hier?“ fiel die Gräfin lebhaft ein.

„Es ist meine Schwester,“ entgegnete Rahel mit großer Beklemmung.

„O, dann mußt Du sie ja auch kennen, Robert. Und Du hast nie davon gesprochen. Eine so interessante Frau!“

„Es giebt ja viele Dasanoffs, und ich hatte ganz vergessen, daß eine Römpker einen Fürsten dieses Namens geheirathet hat,“ entschuldigte sich Clairon.

Rahel empfand mit ihm das Peinliche dieses Augenblicks, das noch vermehrt wurde, als die Gräfin sagte:

„Er ist entsetzlich unhöflich. Verzeihen Sie ihm nur, gnädige Frau! Wie kann man Damen vergessen, mit denen man einst verkehrt hat, in deren Haus man vielleicht gar gastfreundlich aufgenommen war!“

„Ist das Ihr Knabe?“ fragte Lüdinghausen, als das Kind, dem man sich wieder genähert hatte, jetzt von seinem Spiel aufschaute.

„Ja,“ antwortete die Gräfin.

„Es ist mein Sohn,“ setzte Clairon hinzu.

Die Frau strahlte auf in Mutterglück, über das Gesicht des Mannes ging ein heller Schein, und in seinem Ton lag ein Ausdruck von tiefem ernsten Stolz.

[492] Ein herziger Junge!“ rief Rahel und kniete schon neben Clairons Sohne im Sand. „Was machst Du denn da?“

Mochte es nun sein, daß diese Dame ihm vertrauenerweckender schien als jene andere, oder geschah es, weil er sie mit seiner Mama zusammen sah, genug, der Knabe ließ sich gleich mit Rahel in eine Unterhaltung ein. Die anderen Erwachseneu hörten lächelnd zu. Rahel erwies sich als sehr sachverständig und konnte sich so drollig in den Standpunkt des Kindes hineinversetzen, daß dieses ganz glücklich lachte.

„Nun schau einer den Jungen an.“ sagte Clairon, „von Ihrer Frau läßt er sich die Locken streicheln und vorhin, als eine allerdings etwas – etwas exotische Dame schön mit ihm that, lief er einfach davon.“

„Haben Sie Kinder?“ erkundigte sich die Gräfin aus Höflichkeit. Sie waren ihr völlig gleichgültig, die Kinder anderer Leute, aber da man gegen ihren Knaben gütig war, wollte sie es wenigstens durch scheinbare gegenseitige Theilnahme belohnen.

„Zwei,“ gab Lüdinghausen mit dem heitersten Gesicht von der Welt zur Antwort, „allein wir haben sie Gott sei Dank zu Hause gelassen.“

„Er ist ein Rabenvater“ bemerke Rahel aufblickend.

„Ich bitte Sie, Gräfin, ich handle in der Wahrung berechtigter Interessen. Stellen Sie sich mein Leben und meine Ehe vor! Erst muß ich als Verlobter einen unnöthig langen Brautstand ertragen. Warum? Rahel will ihre Eltern nicht so schnell allein lassen. Dann – ich habe den Staatsdienst aufgegeben und lebe seit meiner Verheirathung bei meinem Vater – dann dreht sich alles um den alten Herrn. Warum? Rahel sagt, der liebe gute Papa ist so lange einsam gewesen, man muß ihn recht verziehen. Und außerdem bringt jeder Tag so viel Arbeit und Pflichten und ich sehe meine Frau oft kaum. Warum? Rahel sagt, daß wir für die Wohlfahrt der Tausende auf unsern Zechen und in unsern Gruben verantwortlich sind, und daß sie den Platz ausfüllen muß, auf den ich sie gestellt habe.“

„Um Gotteswillen!“ rief die Gräfin, welche nicht verstand, daß diese Anklagen eine besondere Form waren, in welcher innigste Liebe eine Lobrede hielt. Diese Rahel Lüdinghausen war ja offenbar eine ganz herzlose Gattin und eine schrecklich emanzipierte Frau. Sie, die Gräfin, lebte nur einem Gedanken: dem für Mann und Kind.

„Und wenn das noch alles wäre,“ fuhr Lüdinghausen fort, während Rahel ihn von Zeit zu Zeit mit zärtlichem Lächeln anschaute, „aber dann kamen die Kinder, und obgleich Rahels Tag schon vorher völlig ausgefüllt war, ging die Sorge für die Kleinen doch noch hinein in diese wunderbare Zeiteintheilung, darin die Stunden von Kautschuk zu sein scheinen. Und wenn ich somit einmal meine Frau für mich haben will, entführe ich sie mit Gewalt.“

Clairon drückte ihm fest, merkwürdig fest die Hand.

„Sie sind sehr glücklich,“ sagte er halblaut.

„Aber die Kinder hätte ich doch mitgebracht,“ meinte die Gräfin, die so etwas nicht begriff.

„Wenn mein Vater nicht wäre,“ rief Lüdinghausen lachend. „Denken Sie denn, Gräfin, daß er sich beides hätte nehmen lassen. Rahel und die Kinder? Nein, dieser Mann, der Erz und Kohle aus den Tiefen geholt, der für den Krieg das Material zusammengeschmiedet und Kanonenrohre gegossen hat – dieser gewaltige Mann lebt jetzt der Verehrung einer jungen Frau und der Pflege zweier kleiner Kinder.“

„Sie sind sehr verändert,“ sprach Clairon, als er mit Lüdinghausen voranging, während die Damen noch bei dem Knaben verweilten, „früher waren Sie wortkarg, ein wenig förmlich und kühl.“

„Rahel ist mein guter Geist, sie hat mir das Gemüth wärmer und die Zunge biegsamer gemacht. Ich bin in der That sehr glücklich, Clairon, sehr!“ Eine tiefe Bewegung übermannte ihn. Dann fuhr er fort: „Mir ist, als ob Sie und ich offen gegeneinander sein dürften. Offener, als es sonst Männer sind, die sich so wenig kennen. Aber in unserer Vergangenheit ist ein Tag, der uns beide in fast gleicher Gefahr sah. Sie freilich trieben aus Leidenschaft einer Klippe zu, ich aus Pedanterie. Ich glaubte, daß man nach einem vorgeschriebenen Programm sein Leben gestalten könne. Sie, meine Rahel, sie hat uns gerettet. – Sagen Sie mir nun auch, Clairon – mir scheint, ich habe ein Recht zu der Frage – sagen Sie mir: Haben auch Sie gefunden, was Sie einst vergeblich suchten?“

Clairons ernste Züge erhellten sich nicht, als er leise antwortete:

„Meines sterbenden Bruders Wunsch vermählte mich seiner Witwe. Unser gemeinsamer Kummer führte auch unsere Herzen schnell zusammen; meine Frau ist ein Kind, welches sehr des Schutzes [493] bedarf, noch jetzt. Ohne mich wäre sie rathlos in dieser Welt. Ich lebe ihr, ich lebe damit zugleich dem theuren Verstorbenen, indem ich ihr Dasein soweit ausfülle, als ihre Forderungen an das Glück nur immer gehen, und so bleibt mir das schreckliche Gefühl fern, daß ich um den Preis von meines Bruders Leben reich und glücklich geworden wäre.“

Lüdinghausen schwieg erschüttert. Er fühlte aus jedem Wort, welches den Mangel an innerster Befriedigung verbergen sollte, doch diesen Mangel heraus. Wenn Clairon auch nicht gerade leiden mochte, so war ihm doch offenbar eine höhere, geistige Vereinigung mit seinem Weibe versagt. Die Gräfin mochte ein gutes, reines Kindergemüth haben, aber größere Charaktereigenschaften schien sie nicht zu besitzen.

Es war, als ob Clairon in seinen Gedanken lese, denn plötzlich sprach er hochaufathmend:

„Ich habe meinen Sohn!“

Rahel kam ihnen nach. Ihr war eingefallen, daß Lea geäußert hatte, sie werde vielleicht die Geschwister am Strand treffen. Wenn sie jetzt erscheinen würde! Wenn sie Clairon so unvorbereitet begegnete!

„Clairon,“ versetzte sie hastig und halblaut, damit die Gräfin, welche sich noch mit dem Knaben unterhielt, sie nicht höre, „Sie wissen nun, daß Lea hier ist. Werden Sie ihr entgegentreten wollen? Was sollen wir thun? Ihre Frau scheint ahnungslos.“

„Meine Frau,“ erwiderte Clairon, „ist ein liebes, herziges Kind, das man nicht unnöthig mit vergangenen Geschichten beunruhigen darf. Wenn es sein muß, werde ich ein Wiedersehen auf mich nehmen. Feige der Fürstin auszuweichen, kann nicht meine Pflicht sein.“

Er war bleich geworden.

„Und Lea? Wie wird sie diese Begegnung auffassen? Sie ist unberechenbar. Seit sechs Jahren haben wir uns nicht gesehen, uns nur leere Briefe geschrieben. Jetzt bei unserem ersten Zusammentreffen wehrt sie meine Liebe nicht weniger kühl ab wie damals vor ihrer Vermählung; mit meinem Manne verkehrt sie in einer so großartigen Gleichgültigkeit, als wäre sie vorher ihm niemals nahe gewesen. Und dennoch, dennoch möchte ich Sie ersuchen: schonen Sie Lea!“ bat Rahel, die mit zitternder Stimme und kurzem Athem sprach.

„Es wäre zudringlich und unbescheiden,“ antwortete Clairon [494] eisig, „wollte ich annehmen, meine Persönlichkeit werde der Fürstin Dasanoff noch so wichtig sein, daß mein Anblick sie erregen würde.“

Diese Ablehnung war so stark, daß Rahel nur schweigen konnte.

Jetzt gesellte sich auch die Gräfin zu ihnen, und Rahel sagte, daß sie sich verabschieden müßten, denn die Fürstin habe ihnen entgegengehen wollen; sie hätten sich nun zu beeilen, sie zu treffen.

Eine plötzliche Ahnung durchzuckte Clairon, aber seine Lippen blieben fest geschlossen. Doch seine Frau rief:

„Ah – das wäre drollig! Vorhin ging hier eine Dame, sie redete unsern Sohn an. Sie sah so aus – so – – und wir dachten … ach nein, wie komisch!“

Und eine kindische Verlegenheit bemächtigte sich der Gräfin, weil es ihr beinahe entfahren wäre, welche Betrachtungen Clairon und sie über jene Dame angestellt hatten.

„Die Fürstin ist sehr groß, war heute früh wenigstens in Weiß gekleidet und pflegt Hut und Gesicht dicht mit Schleiern zu umhüllen,“ half ihr Lüdinghausen.

„Sie war es!“ entgegnete die Gräfin.

Rahel blickte wie gebannt in Clairons Züge.

Was mochte alles vorgehen hinter dieser gefurchten Stirn, die sich langsam mit flammendem Roth bedeckte!

„Nicht anfassen!“ hatte sein Sohn ihr zugerufen, ihr, die er über Ehre und Pflicht hinaus geliebt.

Und seine eigenen Augen hatten sie fremd, mißtrauisch und kritisch betrachtet wie etwa eine Abenteurerin. Und kein schnellerer Pulsschlag hatte ihm gesagt: sie ist es.

Clairon begegnete Rahels Blick und bemerkte, daß diese Angen in seiner Seele forschten.

Mit einem Lächeln, vor welchem sie erbebte, fragte er im leichtesten Ton:

„Also auf heute abend bei Ehrhausens?“

„Auf heute abend!“

„Bitte, gnädige Frau, was zieht man nur an? Ich bin ganz verzweifelt,“ klagte die Gräfin. „Seit sechs Jahren haben wir Westernburg nicht verlassen – Sie begreifen, ich bin noch heute nervös, wenn ich einen Wagen besteigen soll – und jetzt habe ich keine Gesellschaftskleider mitgenommen, ich habe überhaupt keine, denn seit dem Unglück, daß unser Bodo starb, machten wir nichts mehr mit.“

Lüdinghausen begriff, daß es für Clairon nicht leicht sein mußte, solche Reden anzuhören.

Der Verstorbene und das Unglück, welches ihn hinweggenommen hatte, beherrschte also die Westernburg und ihre Bewohner; trotz des neuen Lebens, welches seit der Vermählung Clairons mit seiner Schwägerin begonnen hatte, trugen beide doch gleichsam noch immer Trauer um den Gatten und Bruder. Welches Dasein für Clairon! Er war und blieb der „Stellvertreter“.

Nun verstand Lüdinghausen weiter auch den Ton, in welchem Clairon von seinem Knaben sprach.

Dieser Knabe wenigstens war sein, war seine echte, eigenste Welt.

„Aber Gräfin,“ sagte Lüdinghausen mit fast väterlichem Wohlwollen, „wenn die Baronin sich noch so streng ‚große Toilette‘ ausbittet, so ist man auf Reisen doch nicht verpflichtet, solche zu tragen. Kommen Sie, wie Sie da sind, und Sie werden immer reizend sein.“

Ihr enges Köpfchen war befriedigt. Man mußte ihr nur eine Weisung geben, einerlei welche, dann folgte sie und fühlte sich nicht mehr verantwortlich.

Als später Lüdinghausen mit seiner Frau am Arme in der Pension ankam, in welcher sie mit Herrn von Römpker einige Zimmer des ersten Stockwerks gemiethet hatten, fand er seinen Schwiegervater in großer Erregung seiner harrend.

Herr von Römpker war noch immer sehr jugendlich und sah genau so aus wie vor sechs Jahren. Ja, er vergnügte sich jetzt viel mehr als einst, denn es bot sich ihm ungleich mehr Abwechslung. Viele Monate brachte er in Petersburg oder auf Dasanoffschen Gütern zu. Er war eng befreundet mit seinem „großen“ Schwiegersohn, aber den Hintergrund dieser Freundschaft bildete doch das Gefühl eines gewissen Abstandes, über das Römpker dem Fürsten gegenüber nie hinauskam.

Mit Lüdinghausen stand er auch sehr gut, doch hier herrschte mehr vertrauliche Kameradschaftlichkeit. Ihm berichtete er alle Geldverlegenheiten, in denen er sich recht oft befand. Denn seit er der Schwiegervater von Millionären geworden war, lebte er selbst wie ein Nabob, und hinter Rahels Rücken hatte Lüdinghausen Römpkerhof schon beliehen. Römpker nahm das sehr leicht; erstens blieb die Geschichte in der Familie und kam nicht aus, zweitens erhielt Lüdinghausen Römpkerhof ja doch einmal, wobei er freilich Lea auszuzahlen hatte, und drittens, und das war die Hauptsache, erfuhr Rahel nichts. Denn vor dieser hatte er viel Respekt, unbequem viel.

Römpker hatte von der Pensionswirthin gehört, daß gestern wieder eine Familie angelangt sei, ein Graf Clairon-Westernburg.

Vor seiner geängstigten Einbildungskraft standen nun allerlei mehr oder minder bewegte Auftritte, welche sich abspielen mußten, wenn diese beiden – Clairon und Lea – sich plötzlich begegneten. Dasanoff war zwar nicht eifersüchtig, gar nicht, sonst würde er nicht geduldet haben, daß der Großfürst Feodor Lea überallhin begleitete und auf jedem Ball neben ihr erschien, aber eine aufsehenerregende Scene, die fand er sicher gräßlich.

Römpker war gleich hingegangen, Lea zu benachrichtigen.

„Nun, und was meinte Lea?“ fragte Lüdinghausen, der schon berichtet hatte, daß er Clairon getroffen habe und daß dieser der Fürstin nicht ausweichen wolle.

„Lea kam gerade von einem einsamen Spaziergang am Strand heim,“ erzählte Herr von Römpker, „sie sah noch blässer aus als sonst. Als ich ihr mittheilte: ‚Clairon ist da und gewiß sehen wir ihn bei Ehrhausens’ erwiderte sie ganz ruhig: ‚Nun, was weiter?‘ ‚Willst Du ihm begegnen, Kind?‘ forschte ich, worauf sie versetzte, während sie langsam die Handschuhe auszog: ‚Die kleine Ehrhausen würde untröstlich sein, wenn ich nicht da wäre, ich will die gute Frau nicht betrüben.‘“

„Also laß geschehen, was will,“ beschloß Rahel die Unterredung, „wenn beide sich stark oder gleichgültig genug wissen, ist es auch besser, sie sehen sich wieder; die Welt ist zu klein, immer kann man sich doch nicht aus dem Wege gehen.“

„Ist es nicht,“ fragte sie später ihren Gatten, „als ob die beiden von einem vernichtenden Hang besessen wären, sich Auge in Auge zu schauen? Wenn nun doch die alte Leidenschaft neu erwacht?“

„Mir ist nicht bange,“ tröstete er. „Clairon hat die Flammen in seiner Brust mit fester Hand erstickt.“

Und der Abend kam.

Der Fürst und die Fürstin Dasanoff mußten sich schon entschließen, zu Fuß die kurze Strecke zurückzulegen, welche ihre Villa von derjenigen trennte, die Ehrhausens bewohnten; die zwei Häuserlängen zu fahren, wäre komisch gewesen.

Der Fürst ging im Frack mit dem Klapphut auf dem Kopfe. Ueber seine Brust zogen sich an einer feinen Kette alle seine Orden in den üblichen Miniaturnachbildungen hin. Lea trug etwas mühsam an ihrer Schleppe. Ein weißer Mantel fiel von ihren Schultern und ihr Kopf war in einen indischen Seidenshawl gehüllt.

Hinter ihnen her stolzierte der französische Kammerdiener mit Leas Fächer und dem Ueberrock des Fürsten.

Der Abend war dunkel und merkwürdig warm. Es roch nach feuchter Erde und Kartoffelkraut. Die Grillen zirpten laut.

Aus dem einzigen Hause, an welchem man vorbei mußte, drang Lichtschein und Gesang. Das nächste war schon das Ehrhausensche. Man ging auf der landwärts gerichteten Seite der Häuser entlang, und das Meer, welches so nicht sichtbar war, verrieth durch keinen Laut seine Nähe.

Völlig unbewegt ragten die schwarzen Laubmassen in die dunkle Luft. Diese abendliche Herbststille hatte etwas Beklemmendes.

Im Flur der Ehrhausenschen Villa nahm der Diener seiner Herrin Mantel und Kopftuch ab, überreichte ihr den Fächer und half ihr die Schleppe ordnen. Die Jungfer der Baronin stand voll Ehrfurcht dabei und wagte nicht, der stolzen Dame ihre Dienste anzubieten.

Dann öffneten sich die Thüren und Lea schritt am Arme ihres Gatten in das Empfangszimmer.

Die Baronin, noch immer so zierlich, niedlich und laut wie einst, begrüßte sie mit großer Freude und stellte die bunte Welt einander vor.

In der Haltung des fürstlichen Paares prägte sich das selbstverständliche Bewußtsein aus, die ersten dieses Kreises zu sein. Es waren vielleicht zwanzig Menschen da, beurlaubte Offiziere [495] mit und ohne Damen, einige recht derb aussehende Gutsbesitzer aus der Gegend mit bekannten vornehmen Namen. Einige Damen in hochgeschlossenen Kleidern, die durch Spitzen und Blumen für diese Gelegenheit ein bißchen verschönert waren, andere in großen Schleppgewändern mit angeschnittenen Taillen.

Die Baronin sagte, daß sie sich wohl wegen ihres „möblierten“ Salons nicht zu entschuldigen habe, da sie ja alle hier in ähnlichen Räumen hausten.

Sie sprach unaufhörlich in Lea hinein, um die sich alle Welt bemühte.

Diese selbst stand kühl und hoch aufgerichtet da wie eine Königin, die dann und wann in Gnaden ein Lächeln oder ein Wort spendet. Ihr Gesicht war sehr weiß und ein leiser Puderhauch lag auf ihren Wangen. Ihr dunkles Haar war hoch geordnet, ein kleiner Halbmond voll Brillanten funkelte darin. Eine Reihe großer Brillanten umschloß ihren Hals. Und die entblößten Schultern tauchten aus echten Spitzen auf. Das Stückchen Arm, welches oberhalb des gelbbraunen Handschuhs sichtbar ward, sah aus wie von Elfenbein.

Sie langweilt sich wohl gar, dachte empört die eine oder andere Dame, wenn sie bemerkte, daß Lea kaum hörte, was man ihr sagte.

Der Fürst langweilte sich jedenfalls trotz der Bemühungen seines Schwiegervaters, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Sein hochmütiges Auge glitt über alle hinweg und ruhte nur zuweilen prüfend aus seiner Gattin, als überzeuge es sich befriedigt, daß sie die schönste und vornehmste Erscheinung des Kreises sei.

Manchmal schweifte Leas Blick kurz zu der Eingangsthür hin.

Aber die hatte sich nach ihrem eigenen Eintreten nur noch einmal geöffnet, um Rahel und Lüdinghausen einzulassen.

Diese beiden mischten sich fröhlich unter die Gesellschaft; Rahel hatte die Fähigkeit, sich mit jedem gut zu unterhalten: mit den Hausmüttern sprach sie Hausmütterliches, mit den Gutsbesitzern über die Ernte und mit den Offizieren über das Manöver. Sie sagte zu niemand etwas Bedeutendes, aber alle fanden sie sehr liebenswürdig, wenn auch lange nicht so bezaubernd wie die Schwester.

Lüdinghausen erschrak förmlich, als er Lea erblickte.

Er glaubte, noch niemals ein so schönes Weib gesehen zu haben. Aber es war eine Art von Schönheit, vor welcher ihm bangte. Er sah den feinen Puder und das müde Lächeln und er mußte denken, wie oft wohl dieses Weib mit tief verhehltem Ueberdruß sich für diese Welt schmücke.

Und wenn sogar er, der Lea nie geliebt, sich von ihrem Anblick fast verwirrt fühlte, wie mußte dieser erst auf Clairon wirken? Mußte nicht die alte Leidenschaft neu erwachen und wie so oft mächtiger aufflammen als bei ihrem Entstehen?

Er spürte den Drang, noch hinzueilen und den Mann zurückzuhalten von dieser Schwelle.

Zu spät. Eben jetzt that sich die Thüre auf und Clairon mit seiner Gattin erschien.

Lea, die sie bemerkt haben mußte, – der beobachtende Lüdinghausen war dessen gewiß, – wandte wie zufällig den Kopf nach der andern Seite und begann ein Gespräch.

Die Begrüßung zwischen der Gräfin und der Dame des Hauses war äußerst kühl. Bis jetzt schienen sich die Frauen der beiden langjährigen Freunde noch nicht lieben gelernt zu haben; die Gräfin fand das Benehmen und die Redeweise der Baronin beinahe „frech“, und diese wiederum hatte nicht für möglich gehalten, daß ein Mann wie Clairon eine solche „Hinterwäldlerin“ heirathen könne.

Ehrhausen und seine Frau hatten unter sich die einstige Geschichte zwischen Clairon und Lea als „total vergessen und verjährt“ behandelt, zu ihrer eigenen Bequemlichkeit, damit sie beide Theile zusammen einladen konnten. Jetzt empfand die Baronin für ihre „Herzensfreundin“ Lea einen förmlichen Triumph über die Unscheinbarkeit der Gräfin. Leas Eitelkeit durfte angesichts dieser Nachfolgerin im Herzen Roberts befriedigt sein.

Die Baronin zog nach einem schnellen, kecken Wort an Clairon dessen Frau mit sich, um sie der Fürstin vorzustellen.

Diese neigte so nebenher den Kopf, unterbrach ihr Gespräch nicht und musterte die Gräfin flüchtig mit unaussprechlicher Gleichgültigkeit. Der Herr, mit welchem Lea sich unterhalten hatte, versuchte die Gräfin durch eine gelegentliche Frage mit in die Unterhaltung zu ziehen. Aber da man gerade die Pariser und Petersburger Gesellschaft verglich, so konnte die Arme nicht mitreden. Sie war immer nur in Westernburg und vordem auf dem benachbarten väterlichen Gut gewesen.

Lüdinghausen sah sie schüchtern neben Lea stehen. Sie trug ein hellgraues Seidenkleidchen, vielleicht aus der Halbtrauer für den ersten Gatten, und sah wie ein Schulmädchen neben einer Königin aus. Es war etwas in dieser Lage, was dem ritterlichen Sinn Lüdinghausens widerstrebte; er wußte sich schnell der Gräfin zu nähern, nahm ihren Arm und führte sie mit sich fort, nicht ohne einen spöttischen Blick von Lea zu empfangen, den er mit Ernst erwiderte. Er setzte die Gräfin vor einer Skizzenmappe fest und blieb hinter ihr stehen, um zu beobachten, während er mit ihr sprach.

Und so entrollte sich vor ihm das wunderlichste und peinlichste Schauspiel.

In diesen kleinen Räumen, unter diesen zwei Dutzend Menschen schritten zwei aneinander vorbei, ohne sich scheinbar auch nur einen Augenblick zu bemerken.

Und dennoch athmete eines des andern Nähe. Alle ihre Sinne waren angespannt und unter dem Geschwirr der vielen Stimmen vernahm jedes nur die eine! Und wenn Clairon plaudernd der Fürstin den Rücken wandte, fühlte er es dennoch, wie sie hinter ihm vorbeiging. Ein Schauer rieselte dann durch seine Nerven, und die Falte auf seiner Stirn vertiefte sich.

Und in Leas Augen glühte eine so düstere Flamme, ihr Lachen war so völlig erlogen, daß es dem stillen Zuschauer unheimlich dabei wurde.

Die Hausfrau wollte, daß man musiziere. Es traf sich, daß einer der Herren als ausgezeichneter Sänger von seinen Freunden vorgeschoben wurde und daß er auch, an diese „Entdeckung“ seiner Kunst gewöhnt, Noten mitgebracht hatte.

Lea solle auch singen, bat die Baronin, darauf habe sie sich am meisten gefreut und deshalb Noten besorgt.

Bei diesen Unterhandlungen war die ganze Gesellschaft erwartungsvoll verstummt.

Lea erwiderte, daß sie fast nie mehr singe.

„Aber theuerste Lea, Sie können doch Ihre Kunst in so kurzer Zeit nicht verlernt haben,“ beharrte die Baronin, „sehen Sie, hier ist Schubert, den Sie früher so schön gesungen haben. Ich erinnere mich besonders als das ,Sei mir gegrüßt, sei mir geküßt‘. Es war Ihr Lieblingslied.“

Lea befand sich mit der Baronin am Flügel, mitten im Salon. Sie fühlte es mit jeder Faser: er, er stand ihr gerade gegenüber und sah an ihr vorbei wie sie an ihm. Und sie wußte, daß sein Atem stocke wie der ihre, als die Baronin von jenem Liede sprach.

Einen Herzschlag lang zögerte Lea. Dann sagte sie:

„Ich singe nie mehr Schubert und habe überhaupt seit sechs Jahren kein deutsches Wort gesungen.“

„So laß’ Dich mit einem russischen Liede hören!“ fiel hier der Fürst ein. Er sprach immer russisch oder französisch und verstand das Deutsche nur unvollkommen, er hatte sich auch nicht die Mühe genommen, es durch seine Gattin zu lernen.

Das fürstliche Paar beriet nun in einigen Wechselreden auf russisch, was Lea etwa zum besten geben könne.

Clairon glich einer Statue. Seine Hände waren wie von Eis, seine Lippen fest geschlossen, sein Athem ging kurz.

Wie das war – sie so in fremden Lauten mit jenem Mann reden zu hören, dessen Züge auch den Stempel einer fremden Rasse trugen! Dieser Mann, dessen hohe Stellung und gesellschaftliche Bildung die Rohheit seines Angesichts nicht zu verwischen vermocht hatten – dieser Mann war ihr Gatte, nein, ihr Herr.

Und alles dünkte Clairon wie ein Schattenspiel, ein Traum. In seinem Herzen ward es still. Ihm war, als dehne sich ein Weltmeer aus zwischen ihm und jener fremden, schönen Frau, die jetzt sang. Nur fern, fern wie aus versunkenen Zeiten vernahm er die Stimme.

Er kannte die Melodie dieses Liedes und der Text von Lermontow war ihm in deutscher Uebersetzung vertraut:

„Gönnt mir goldne Tageshelle
Nach des Kerkers langer Nacht!“

Wohl hörte er den heißen Aufschrei einer geknechteten Seele wahr, erschütternd wahr von ihren Lippen kommen. Aber es war, [496] als ob es ihn gar nichts angehe, als ob er diese Frau nie gekannt und diese Lippen nie geküßt habe.

Und nun sah er sie an, mit neugierigem Erstaunen, das noch mit einem leisen Schauer der Erregung gemischt war. Schön, dämonisch schön, sagte eine Stimme in ihm, und für ihn klang das so gleichgültig, als habe es jemand neben ihm gesprochen.

Lea hatte ihre Augen in die Ferne gerichtet und spürte doch, daß er sie anblickte. Allein ihre Seelen irrten auseinander. Während er sich traumverloren ferner und ferner von ihr fühlte, rang sie in heißen Tönen, um ihn noch einmal zu binden, und sei es auch nur für die Sekunde eines schmerzlichen Blicks.

Sie endete. Alles jubelte Beifall. Der Fürst lächelte, es war ein zärtliches Lächeln, und er küßte seiner Frau die Hand auf eine besondere und bedeutungsvolle Art. Lea erzitterte und ihr Auge flog schnell zu dem andern Mann hinüber. Da sah sie, daß jener die kleine Scene beobachtet hatte und daß auch er lächelte mit einem Ausdruck, vor welchem ihr Herz erstarrte.

Der Sänger, welcher sich vorhin von seinen Freunden hatte entdecken lassen und Lea geschickt begleitet hatte, ließ sich nun nicht mehr halten. Er wollte auch gehört sein. Und unter Schumann that er es nicht. Er begleitete sich selbst und erging sich zunächst in einem phantasierenden Vorspiel.

Lea war in der Nähe des Flügels, gegenüber von Clairon stehen geblieben. Es waren kaum zehn Schritte zwischen ihnen.

Der musikalische Herr begann zu singen: „Ich grolle nicht“. Ob er gut sang oder schlecht, ob er Stimme hatte oder keine – weder Clairon noch Lea hörte es. Sie vernahmen nur die höhnischen Worte eines Herzens, welches ohne Mitleid verzeiht.

Und da kam die Sekunde, wo ihre Augen sich nicht mehr flohen.

Sie schauten sich an, lange, so lange, als das Lied dauerte.

Was alles eine Menschenseele in ein Auge hineinlegen kann, sie faßten es zusammen in diesem Blick.

Und der Mann las die ganze Geschichte eines verlorenen Lebens in den Augen der Frau. Von der Schmach des Ehebundes ohne Liebe sprachen sie, von der verzweifelten Reue über das selbstbesiegelte Geschick, von den dunklen Stunden, wo mit künstlichem Leichtsinn vergebens Vergessenheit gesucht wird und nur erhöhter Ekel bleibt; und auch davon redete ein scheu aufflackernder, heißflehender Blick, daß dieses arme Herz noch immer ihn, nur ihn allein liebe.

Und das Weib las ebenso deutlich in des Mannes Seele. Da war kein Kampf mehr, nur ernste, eherne Ruhe. Wie ein Richter stand er vor ihr, stumm und doch so beredt. Und das Urtheil lautete auf „schuldig und verdammt“.

Das Lied endete. Wie ein Nachhall schwebte es durch den Raum:

„Ich sah, mein Lieb, wie sehr Du elend bist.“

Da lösten sich ihre Blicke auseinander.

Und Robert Clairon ging mit festen Schritten auf sein Weib zu. Er reichte dem edlen Freund, der schützend neben ihr gestanden hatte, mit starkem Druck die Rechte und sah ihm tief in die verständnißvollen Augen:

„Komm, mein Weib,“ sprach er mit einer unendlichen Güte in der bebenden Stimme, „komm heim! Es verlangt mich nach meinem Knaben.“

Und Erasmus Lüdinghausen sandte ihm einen frohen, beruhigten Blick nach.