Lehren und Lernen im Blindeninstitute
Lehren und Lernen im Blindeninstitute.
„O, eine edle Himmelsgabe ist
Das Licht des Auges – Alle Wesen leben
Vom Lichte, jedes glückliche Geschöpf –
Die Pflanze selbst kehrt freudig sich zum Lichte.
Und er muß sitzen, fühlend, in der Nacht,
Im ewig Finstern – ihn erquickt nicht mehr
Der Matten warmes Grün, der Blumen Schmelz,
Die roten Firnen kann er nicht mehr schauen –
Sterben ist nichts – doch leben und nicht sehen,
Das ist ein Unglück – Warum seht ihr mich
So jammernd an? Ich hab’ zwei frische Augen
Und kann dem blinden Vater keines geben,
Nicht einen Schimmer von dem Meer des Lichts,
Das glanzvoll, blendend mir ins Auge dringt.“
So klagt Melchthal, als er die Nachricht erhält, daß sein alter Vater von dem tyrannischen Landenberger geblendet worden ist. Und wir, wir fühlen den tiefen Jammer mit; wir sind noch im Besitz der edlen Himmelsgabe; aber wir zittern bei dem Gedanken, daß irgend ein
Unglück uns oder eins der Unsern blind machen könne.
Und es giebt schon so viel Blinde in der Welt. In Deutschland kommt im Durchschnitt auf etwa 1100 Sehende ein Blinder, in Norwegen einer auf 737, in Aegypten gar auf 300 Sehende ein Blinder. – Gottlob, daß unsere Zeit, die fälschlich des engherzigsten Materialismus so sehr angeklagte Gegenwart, sich dieser Unglücklichen mehr und mehr annimmt, daß wenigstens in allen kultivierten Staaten die Fürsorge und Teilnahme für die Blinden immer reger wird.
Es sind jetzt mehr als hundert Jahre, daß in Paris die erste Blin- denunterrichtsanstalt durch den edlen Valentin Hauy im Jahre 1784 eröffnet wurde. Der Anlaß hierzu war folgender. An einem öffentlichen Orte sah Hauy täglich 10 blinde Bettler, die höchst erbärmlich musizierten und, um dennoch Zuhörer anzulocken, sich selbst lächerlich herausgeputzt hatten. Der eine unter ihnen, als Midas mit langen Ohren und einem Pfauenschweife auf dem Rücken, sang, die übrigen begleiteten, äußerst burlesk gekleidet, mit hohen spitzen Mützen auf dem Kopfe und großen Brillen von Pappe ohne Gläser auf der Nase; selbst die Noten, welche vor ihnen lagen, sollten noch das Lächerliche erhöhen. Durch diesen Anblick aufs lebhafteste ergriffen und empört, faßte Hauy den Entschluß, durch Unterricht und Erziehung eine geistige Hebung der Blinden anzustreben. Da er sah, daß die Blinden die ihnen geschenkten Geldstücke an dem Gepräge unterschieden, kam ihm der Gedanke an die Möglichkeit, den Blinden zum Lesen einer tastbaren erhabenen Schrift verhelfen zu können. Das Beispiel Hauys fand überall Nachahmung; heute sind auf der ganzen Erde in civilisierten Staaten etwa 170 Blindenanstalten vorhanden, wobei Deutschland allein deren 33 und Oesterreich-Ungarn 13 besitzt. Und fast alle diese Stätten, in welchen das harte Los der unglücklichen Blinden in so hohem Maße gemildert wird, sind von der Privatwohlthätigkeit gestiftet; sie zeugen beredt von der echte Nächstenliebe und Barmherzigkeit, die unser Jahrhundert durchdringen.
Bezüglich der Aufgabe, welche zu lösen die Blindenanstalt bestrebt sein muß, hat sich im Laufe der Zeit die Auffassung, wie es begreiflich ist, bedeutend geändert. Zwar erkannte [733] man gleich anfangs, daß den Blinden außer dem Unterricht in den eigentlichen Schulgegenständen noch Anleitung gegeben werden müsse zur Erlernung irgend einer nützlichen Beschäftigung fürs spätere Leben. Der Zweck dieser technischen Ausbildung wurde aber hauptsächlich darin erblickt, durch Beschäftigung die Blinden der Nacht tödlicher Langweile zu entreißen.
Erst in zweiter Reihe stand der Gedanke, sie durch Erlernung einer beruflichen Thätigkeit erwerbsfähig zu machen. Nachdem indes durch unzählige Beispiele der Beweis geliefert worden ist, daß auch der Blinde dahin kommen kann, sein eigenes Brot zu essen, darf die Blindenanstalt ihre Aufgabe erst dann als erfüllt ansehen, wenn sie ihrem Zögling zur vollen Erwerbsfähigkeit verholfen hat. Hilfe zur Selbsthilfe! ist hier das Losungswort. Um dieses hohe Ziel zu erreichen, ist es erforderlich, daß der eigentlichen professionellen Ausbildung eine gründliche körperliche, moralische und intellektuelle Erziehung vorausgehe, denn es ist auch hier wie überall
im Leben der intelligente und sittlich gefestigte Blinde der leistungsfähigere. Dieser Teil der Aufgabe fällt der Blindenschule zu. Derselben wird das blinde Kind in der Regel im 8. bis 10. Jahre zugeführt, und es verbleibt in ihr bis zur Konfirmation. Ihr Ziel ist das einer guten Bürgerschule. Auch die Gegenstände sind die der Volksschule, also Religion, Lesen, Schreiben, Rechnen, Formenlehre, Naturkunde, Geographie, Geschichte, Deutsch (Grammatik und
Litteratur), Zeichnen und Turnen; besonders betont wird dann noch aus dem Gebiet der Musik der Gesang, und zwar für alle, und die Pflege einzelner Instrumente von seiten der musikalisch Begabten.
Was zunächst die physische Seite der Erziehung betrifft, so bedarf diese bei Blinden einer besondern Sorgfalt. Das blinde Kind neigt infolge seines Gebrechens zu einer Ruhe und Unthätigkeit, die dem vollsinnigen im höchsten Grade unnatürlich ist. Gesunden Kindern ist Beweglichkeit eigentümlich, ihre Spiele sind nicht selten mit einem Kraftaufwande verbunden, der in keinem Verhältnis zu den schwachen Gliedern zu stehen scheint. Bei Blinden ist das gerade Gegenteil der Fall; sie bewegen sich wenig und furchtsam, um sich nicht zu verletzen. Dieser Scheu vor Bewegung tritt das Elternhaus in vielen Fällen nicht mit dem nötigen Nachdruck entgegen, und oft wird der Anstalt das blinde Kind in einem Grade der Verwahrlosung übergeben, welcher geradezu erschreckend ist. Die Blindenschule sucht diese Schäden einer unzweckmäßigen Pflege auszugleicheu, indem sie ihren Zöglingen möglichst viel Bewegnng, namentlich im Anstaltsgarten, bietet, sie zu freien Spielen und gymnastischen Uebungen anhält; nicht selten aber ist alle Mühe vergebens. Die erschlafften Glieder bleiben kraftlos und ungelenkig für immer und auch der Geist ist aus dem dumpfen Vorsichhinbrüten nicht aufzurütteln. Solchen Thatsachen gegenüber muß der häufig laut gewordene Wunsch, das blinde Kind so früh wie möglich in die Anstalt aufzunehmen, als gerechtfertigt erscheinen. Auf ihm beruht auch das Streben der Blindenfreunde, überall, wo solches noch nicht geschehen, zu den eigentlichen Blindenanstalten sogenannte Vorschulen zu errichten. In dieser sollen blinde Kinder vom 6. Jahre an Aufnahme finden, auch, wenn es wünschenswert erscheint, schon früher. Frühzeitig sucht auch die Blindenschule ihre Zöglinge im Gebrauch der Hand zu üben und erreicht dieses Ziel durch die sogenannten Fröbelbeschäftigungen, durch das Modellieren in Thon oder besonders präpariertem Wachs und durch das Holzschnitzen.
Wenn nach dem Vorhergehenden schon die körperliche Erziehung des Blinden ein gut Stück Erzicherarbeit erfordert, so sind die Schwierigkeiten seiner geistigen Ausbildung nicht geringer, da hier die Unterrichtsmethode eine eigentümliche ist und besondere oft recht komplizierte Lehrmittel zur Verwendung kommen. In manchen Fächern ist es zwar ganz gleich, ob der Lehrer sehende oder blinde Kinder vor sich hat, z. B. in Religion, Deutsch, Geschichte, Kopfrechnen etc.; in anderen dagegen, wie im Lesen, Schreiben, Geographie, Geometrie, sind besondere Hilfsmittel zur Veranschaulichung und besondere Apparate nötig. Erstere zielen darauf ab, überall, wo es erforderlich, eine Ersetzung der Farbe durch das Relief vorzunehmen und dadurch dem Blinden die Aneignung der sinnlichen Vorstellungselemente zu ermöglichen. Statt des gebräuchlichen schwarzen Drucks und schwarzer Schrift muß der Blinde erhabene Schrift gebrauchen, die er mit den Fingerspitzen liest. Die Bücher für Blinde sind entweder mit den großen lateinischen Buchstaben (A B C D) oder in dem sogenannten Brailleschen Punktschriftsystem gedruckt.
Es ist einleuchtend, daß diese Bücher sehr dickleibig werden müssen. So umfaßt eine von der Bibelgesellschaft in Stuttgart besorgte Ausgabe der Bibel mit Druck in lateinischen Schriftzeichen 64 große Bände. Zu seiner Korrespondenz hat der Blinde ebenfalls zwei Systeme. Will er an einen Blinden schreiben, so gebraucht er die schon mehrfach erwähnte tastbare Punktschrift; handelt es sich dagegen um einen Brief an seine sehenden Verwandten, so benutzt er die großen lateinischen Buchstaben, die er mit Hilfe eines unter [734] das zu beschreibende Blatt gelegten Blaubogens oder mit einer Bleifeder farbig zu schreiben erlernt. Zur Herstellung dieser beiden Schriftarten ist ein besonderer Apparat notwendig. Derselbe besteht aus einer in der Richtung der Breite mit Rillen versehenen Zinkplatte, über welche ein Holzrahmen fällt, der mit Löchern versehen ist. Letztere dienen zur Aufnahme eines aus Messing hergestellten Lineals, in welchem sich zwei Reihen rechteckiger Ausschnitte befinden (s. S. 733). Das Lineal läßt sich auf der Platte fortrücken. Legt man nun auf die Platte ein Stück Papier und über dieses das Lineal, so lassen sich, wie in der Zeichnung angedeutet, in jedes Rechteck, da es über 3 Rillen reicht, mit Hilfe eines Stahlstiftes im ganzen 6 Punkte stechen, 3 links und 3 rechts. Aus der Zahl und dem Ort der gestochenen Punkte ergiebt sich die Verschiedenheit der entstandenen Zeichen. Die Gesamtzahl der möglichen Zeichen beträgt 62, ist also zur Bezeichnung der vorhandenen Buchstaben, Satzzeichen und Ziffern mehr als ausreichend. Wie der Titel unsres Blattes in dieser Blindenschrift geschrieben wird, ist auf S. 733 zu ersehen.
Im geographischen Unterricht werden statt der farbigen Karten ebenfalls solche in Hochdruck gebraucht. Die Flüsse und Seen sind vertieft, die Städte durch kleine Nägel mit Knopf, die Grenzen durch eine Stiftreihe dargestellt. Das Rechnen ist meistens Kopfrechnen, doch kommen auch in einigen Anstalten besondere Lehrmittel fürs schriftliche Rechnen zur Anwendung. Der musikalische Unterricht wird meistens nach dem Gehör erteilt, welches bei den Blinden oft sehr fein ist. Um indes den Blinden von der Hilfe eines Sehenden unabhängiger zu machen, läßt man ihn, namentlich wenn er die Musik zum Broterwerb ausüben soll, eine eigene Musknotenschrift erlernen, in der wir bereits eine reiche musikalische Litteratur besitzen. In der Kopenhagener Anstalt wird sogar nach Noten gesungen. Wird der Klavierunterricht nach Noten erteilt, so hat die Schülerin, wie dieses unser Bild zeigt, mit der einen Hand zu spielen, was die andere liest. Zuerst spielt die rechte und es liest die linke; ist ein Abschnitt eingeübt, so vertauschen die Hände ihre Rollen. Der Unterricht in den Naturwissenschaften zeigt ebenfalls ein eigentümliches Gepräge. Die zu betrachtenden Objekte muß der Schüler in Wirklichkeit oder im Modell zur Betastung vor sich haben, um sie kennenzulernen. Er sucht sich dann über alle ihm zugänglichen Eigenschaften derselben zu unterrichten. Sind ihm seine Fingerspitzen nicht fein genug, so nimmt er wohl auch die Zunge zu Hilfe. Die sittlich-religiöse Erziehung wird in allen Anstalten stark betont. Die Trostgründe der Religion sollen die Leuchte sein, welche dem Blinden den dunkeln Weg durchs Erdendasein erhellt.
Hat nun die Blindenschule dem Zögling eine gründliche physische, moralische und intellektuelle Erziehung gegeben, so setzt die technische Ausbildung die Krone darauf, denn sie macht es ihm möglich, daß er ein nützliches Mitglied der Gesellschaft werden kann. Als für den Blinden geeignete Berufsarten sind anzusehen das Lehramt, die Musik uud das Handwerk. In Frankreich, England und Amerika giebt es sehr viele blinde Lehrer an Blinden-Anslalten, in Deutschland nur wenige, da sich hier die Ansicht ziemlich allgemein ausgebildet hat, ein Blinder dürfe, abgesehen vom Musikunterricht, nicht der Leiter seiner blinden Genossen sein. Als Musiklehrer und Organist kann der Blinde Tüchtiges leisten und als solcher findet er in manchen Ländern auch später ein gutes Fortkommen. Kopenhagen hat 11 blinde Organisten versorgt, Amerika gar 88, außerdem noch 463 nicht an Anstalten beschäftigte Musiklehrer. In Deutschland ist die Zahl der blinden Organisten nicht groß, weil hier das Organistenamt meistens mit dem Schulamt verbunden ist. Der praktische Gesichtspunkt, ob der ausgebildete Zögling Gelegenheit finden könne, seine Kenntnisse und Fertigkeiten für sich nutzbar zu machen, muß bei der Berufswahl der entscheidende sein. Weil es nun, wie die Erfahrung gelehrt hat, häufig schwer hält, einen ausgebildeten Musiker passend unterzubringen, so hat bei uns die Musik mehr und mehr an Boden verloren. In demselben Grade hat das Handwerk daran gewonnen, denn es hat sich gezeigt, daß dieses „auch für den Blinden einen wenn auch nicht goldenen, so doch einen eisernen Boden“ hat. Am geeignetsten haben sich erwiesen das Korbmachen, die Seilerei und die Bürstenbinderei. In Kopenhagen wird außerdem noch die Schuhmacherei betrieben, die aus den deutschen Anstalten, soweit sie hier Eingang gefunden, als zu wenig ergiebig wieder verschwunden ist. Daß es übrigens noch weitere Erwerbszweige giebt, in welchen der Blinde mit Nutzen beschäftigt werden kann, geht aus obiger Abbildung hervor, die uns neben dem Korbmacher den Scherenschleifer an der Arbeit zeigt. Ob indes dieser in der Berliner Anstalt angestellte Versuch in anderen Anstalten Nachahmung finden wird, nnuß erst noch die Zukunft lehren. Auch das neuerdings in deutschen Anstalten nach dem Vorgange Englands [735] und Frankreichs in Aufnahme gekommene Klavierstimmen darf nicht unerwähnt bleiben. Leider ist das Mißtrauen, dem der Blinde mit seiner Arbeit fast überall beim Publikum begegnet, auch auf diesem Gebiete schwer zu überwinden. Und doch ist hier seine Leistungsfähigkeit, falls er über ein gutes Gehör verfügt und von einem tüchtigen Stimmlehrer ausgebildet ist, über allen Zweifel erhaben. So ist der erste Stimmer der Weltfirma Steinway in New York ein Blinder; die Hamburger Filiale beschäftigt ebenfalls Blinde, ebenso Blüthner in Leipzig und viele andere der berühmtesten Fabriken. Endlich ist noch eine Beschäftigung zu nennen, die von dem Bilde S. 734 veranschaulicht wird, nämlich die Herstellung von Punktdruckbüchern. Man benutzt dazu dünne Zinkplatten, reichlich doppelt so lang als die Seite des zu druckenden Buches, falzt sie in der Mitte zusammen und versieht diese Doppelplatte dann mit Punktschriftzeichen, ähnlich wie beim Beschreiben des Papiers auf der Tafel. Da zum Eindrücken der Punkte in das Zinkblech größere Kraftanstrengung nötig ist, so bedient man sich bei dieser Arbeit einer von Direktor Kull in Berlin erfundenen sinnreichen Maschine. Man sieht auf dem Bilde deutlich, wie sie gehandhabt wird. Auf dem Tisch derselben liegt der Apparat, in welchen die Zinkplatte eingespannt worden ist. Auch das Lineal mit den Ausschnitten ist sichtbar und der Stift, der die Punkte eindrücken soll. Ueber dem senkrecht gehaltenen Stift befindet sich ein beweglicher Querbalken, der in Verbindung steht mit dem Schemel, auf welchen das blinde Mädchen die Füße gestellt hat. Tritt es den Schemel jetzt herunter, so geht auch der Querbalken nach unten, drückt auf den Stift und dieser ruft in der Zinkplatte einen erhabenen Punkt hervor, nur daß er nicht nach oben, sondern nach unten gerichtet ist. Noch ein zweiter, ein dritter Punkt, und der Buchstabe ist fertig. Während die rechte Hand den Stift hält, liest die linke das Manuskript. Ist die ganze Platte bunziert, so wird sie auseinander gebogen, zwischen dieselbe ein vorher angefeuchtetes Blatt Papier gelegt und, mit einer Guttaperchaplatte bedeckt, unter die Presse geschoben. Das zweite junge Mädchen ist eben im Begriff, den Hebel der Presse in Bewegung zu setzen.
In größeren Anstalten sind für die hier aufgezählten Professionen besondere Werkmeister fest angestellt; kleinere müssen sich mit einem Stundengeber und blinden Hilfslehrern behelfen. In einer 4- bis 6jährigen Lehrzeit vom 14. bis 18. resp. 20. Jahre lernt der blinde Zögling fast alle in dem betreffenden Fache vorkommenden Arbeiten, ausgenommen die allerfeinsten, gut und rasch anfertigen, so daß er bezüglich seiner Leistungsfähigkeit in seinem Fache dem sehenden Genossen durchaus nicht nachsteht. Minder begabte Blinde erreichen dies hohe Ziel freilich nicht, aber auch diese werden befähigt, durch ihr Handwerk einen großen Teil ihres Lebensunterhaltes sich selbst zu verdienen. Ueber die Höhe des Verdienstes, den die ausgebildeten entlassenen Handwerker zu erzielen wissen, liegen bestimmte Angaben vor. Dieselben schwanken bei den Korbmachern zwischen 2 und 18 Mark pro Woche, bei den Bürstenmachern zwischen 3 und 18 Mark und bei den Seilern zwischen 6 und 18 Mark. 6 bis 12 Mark darf man als denjenigen Betrag bezeichnen, den ein Blinder mit gewöhnlicher Begabung, wenn er fleißig ist und Arbeit findet, bei seiner Geschäftsthätigkeit wöchentlich verdienen kann. Das sind freilich bescheidene Einkünfte, aber es ist damit thatsächlich der Beweis erbracht, daß die Mehrzahl der bildungsfähigen Blinden erwerbsfähig gemacht werden kann.
Trotz seiner Erwerbsfähigkeit hält es nun für den Blinden oft schwer, dieselbe in wirklichen Erwerb umzusetzen. In unserer geschäftlich und wirtschaftlich so hoch entwickelten Zeit hat eben jeder, der vorwärts will, alle seine Sinne nötig, und da ist der viersinnige Blinde dem Vollsinnigen gegenüber im Nachteil. Soll darum das auf seine Ausbildung verwandte Kapital nicht gänzlich unproduktiv bleiben, so darf die Anstalt ihre sorgende Hand nicht von ihm ziehen. Die Pflicht der Fürsorge für die Entlassenen wird daher auch von vielen Anstalten als ein wesentlicher Teil ihrer Aufgabe angesehen. Die dabei eingeschlagenen Wege gehen indes weit auseinander. Die einfachste Form der Versorgung ist die in den sogenannten Blinden-Asylen, die man früher als den Schlußstein des schützenden Gewölbes betrachtete, unter dem der arme Blinde eine sichere Zuflucht finden könne. Diese Art der Fürsorge hat aber ihre großen Nachteile. Abgesehen davon, daß sie recht kostspielig ist und immer nur auf wenige sich erstrecken konnte, macht sie den Blinden nicht wahrhaft glücklich. Auch er will nicht lediglich empfangen ohne Gegenleistung. Ueberdies ist dem erwachsenen Blinden die in einer Anstalt notwendige Beschränkung der persönlichen Freiheit unerträglich. Er hat es daher meistens vorgezogen, sich durch seiner Hände Arbeit ehrlich, wenn auch kümmerlich, durchzuschlagen, als sich im Asyl versorgen zu lassen. Als den blinden Asylisten in Dresden freigestellt wurde, ob sie im Asyl verbleiben oder mit Zusicherung einer geringen Leibrente in ihre Heimat gehen wollten, da zogen über zwei Drittel das letztere vor. Seitdem sind hier wie auch in manchen andern Städten die Asyle eingegangen. Diejenige Form der Unterstützung, welche die Freiheit und Selbständigkeit des Blinden unangetastet läßt, wird also die bessere sein. Hierzu gehört die schon berührte Unterhaltung gemeinschaftlicher Werkstätten für blinde Handwerker sowie die Errichtung von Blindenheimen für Mädchen. Diese Veranstaltungen, besonders die Mädchenheime, wirken mit großem Segen und finden überall Nachahmung. Um den Absatz [736] zu erleichtern, bestehen in einigen Städten besondere Verkaufsläden, in welche der Blinde seine fertigen Waren bringt. Die meiste Anerkennung hat sich dasjenige System der Fürsorge zu verschaffen gewußt, welches im Königreich Sachsen befolgt wird. Es ist kurz folgendes. Ist der Zögling ausgebildet, so wird er in die Heimat oder, falls es aus irgend einem Grunde für zweckmäßiger gehalten wird, nach irgend einen andern Ort des Landes hin entlassen. Der Anstaltsdirektor hat eine passende Wohnung gemietet und für ihn einrichten lassen. Mit dem nötigen Handwerksgerät und Material versehen, beginnt der Blinde seine Arbeit. Durch eine Anzeige im Lokalblatt wird er dem Publikum empfohlen. Eine angesehene Persönlichkeit des Orts (ein Gutsbesitzer, Geistlicher, Beamter, Lehrer etc.) wird gewonnen, sich in jeder Weise für das Fortkommen des Blinden zu verwenden. Dieselbe dient sowohl dem Blinden als auch der Anstalt als Mittels- und Vertrauensperson. Durch Ueberlassung des Materials zu Engrospreisen, durch Ueberweisung von Arbeitsaufträgen, durch Abnahme fertiger Waren, die der Blinde an seinem Wohnort nicht absetzen kann, durch kleine Geldunterstützungen etc. wird er in Fällen der Not vor Mutlosigkeit bewahrt und zur Anstrengung aller Kräfte angespornt. Weiß er doch, daß ihn die Anstalt nicht verläßt, wenn er selbst nur redlich seine Pflicht thut. In allen wichtigeren Unternehmungen holt er den Rat der Anstalt, seines Vaterhauses, ein. Auf jährlichen Inspektionsreisen sucht der Anstaltsdirektor sich durch den Augenschein über die Lage jedes einzelnen Entlassenen zu unterrichten, so daß er fortwährend genau weiß, wem Hilfe not thut und in welcher Form sie am zweckmäßigsten zu gewähren ist. In dieser Weise hat Sachsen alle seine früheren Anstalts-Blinden versorgt. Manche von ihnen haben sich ein eigenes Haus erworben und stehen sich gut.
Dies System der Fürsorge ist allerdings nur durchführbar, wenn der Anstalt ein bedeutender „Fonds für Entlassene“ zur Verfügung steht, wie das in Sachsen der Fall ist. Durch freiwillige Beiträge (Vermächtnisse, Geschenke etc.) ist er dort auf die bedeutende Höhe von etwa 11/4 Million Mark gebracht, wovon die Zinsen zur Verwendung kommen. In den übrigen deutschen Staaten sucht man das glänzende Beispiel Sachsens nachzuahmen, wenn auch mit entsprechenden Abweichungen.
Dank dem opferfreudigen Gemeinsinn unseres Zeitalters hat sich die Lage der Blinden gegen früher wesentlich gebessert. Immer mehr kommt das Publikum zu der Einsicht, daß der arbeitsfähige Blinde seine Teilnahme beanspruchen darf, nicht in der Form des Almosens, mit dem sich der blinde Vagabund begnügt, sondern dadurch, daß man von seiner Arbeitsfähigkeit Gebrauch macht und ihm sein Arbeitsprodukt abkauft. Das ist für den Blinden „Hilfe zur Selbsthilfe“. Möge die Zeit nicht mehr fern sein, wo „blind sein“ und „betteln müssen“ für den Unbemittelten aufgehört haben, zusammengehörige Begriffe zu sein!