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Lehrerleid und Lehrerglück

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Textdaten
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Autor: B. M.
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Titel: Lehrerleid und Lehrerglück
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 52, S. 851–852
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[851] Lehrerleid und Lehrerglück. Vor etwa achtzehn Jahren war zu H. in Ostfriesland der Lehrer G. mit einem jährlichen Gehalte von dreißig Thalern und dem Genuß des Reihetisches angestellt. Das baare Gehalt reichte eben hin zur Anschaffung der nothwendigen Kleidung; um auch in den Besitz einiger Bücher zu gelangen, wurde für ein Billiges Privatunterricht gegeben, und zwar nicht blos im Orte selbst, sondern auch in andern Gemeinden. G. war durchaus anspruchslos, und wurde es ihm daher leicht, auf besondere Vergnügungen und Genüsse, die mit Geldauslagen verbunden waren, zu verzichten. Seine Mußestunden benutzte er gewissenhaft, um sich die einem Lehrer nöthigen Kenntnisse und Fertigkeiten mehr und mehr anzueignen, lernte auch auf eigene Faust, so gut es eben ging, Englisch und trieb mit besonderer Vorliebe Musik. Ich kann nicht erzählen, wie er in den Besitz eines freilich durchaus nicht neuen Klaviers gekommen, vielleicht war es ein geliehenes, vielleicht ein geschenktes. Ueber dem Instrument hing ein sehr primitiver Tactmesser: ein Stein an einem mit Knoten versehenen Bindfaden.

„Die Welt wird alt und wird wieder jung
Doch der Mensch hofft immer Verbesserung.“

So auch bei unserem guten G. Von Jahr zu Jahr hoffte er, eine einträglichere Stelle zu erlangen, doch vergebens. Wahrscheinlich trug sein stilles Wesen, sein nicht besonders einnehmendes Aeußere mit dazu bei, daß er bei Wahlen fast immer unberücksichtigt blieb. Wie es bei solchen Prediger- und Lehrerwahlen häufig zuging und noch zugeht, brauche ich wohl nicht mitzutheilen: mancher Lehrer weiß ein Lied davon zu singen. Genug, G. mußte darben, und er darbte geduldig. In angestrengter Amts- und Privatthätigkeit verscheuchte er die ihn zuweilen befallende Schwermuth.

Ich weiß nicht, wie viele Jahre G. gehungert und gelitten, wie lange er seine kümmerliche Stelle bekleidet; sein Schicksal sollte endlich eine großartige Wendung nehmen. Die Veranlassung dazu war sein Bruder. Dieser, früher Ackerknecht, war vor etlichen Jahren mit vielen Andern nach dem gelobten Lande, nach Amerika, ausgewandert. Ob er viele Briefe von dort geschrieben, wird bezweifelt; so viel steht fest, daß G. eines Tages von demselben eine Schilderung erhielt, welche unzweifelhaft darthat, wie es in Amerika leichter sei, reich zu werden, als in Europa, und ihn einlud, hinüber zu kommen. Er, der Bruder, sei zwar augenblicklich nicht reich, indem ihm seine Baarschaft bereits zweimal gestohlen; auch sei er mit zu geringen Mitteln und Kenntnissen herübergekommen, so daß er manche Gelegenheit, manchen Vortheil nicht habe verwerthen können. G. möge indeß bestimmte Zusage geben und ihm Anzeige von seiner Abreise machen, in New-York hoffe er ihn bald zu empfangen. Die Anzeige seiner Abreise erfolgte bereits nach einigen Wochen, denn da G. hier so geringe Aussichten auf Beförderung und also nicht viel zu verlieren hatte, so verkaufte er seine Habseligkeiten und fuhr, seiner Heimath Lebewohl sagend, als Zwischendeckspassagier auf einem Segelschiffe über den Ocean.

Viel mehr als das nöthige Reisegeld hatte der Verkauf seiner Sachen nicht eingebracht. Nur einige wenige Groschen blieben ihm, als er nach einer mehrwöchigen Fahrt den fremden Boden betrat.

Da stand er nun neben seinem kleinen Koffer, dessen Inhalt aus einigen Kleidungsstücken und wenigen ihm liebgewordenen Büchern bestand, die große Weltstadt anstaunend, das großartige Leben und Treiben um sich her, betrachtend – ein ganzer Fremdling.

Die Passagiere verliefen sich. Ein paar Bekannte von der Reise luden ihn ein, mitzugehen; er aber blieb stehen und wartete auf seinen Bruder. Sein Auge spähte nach allen Seiten; er fragte viele der Umstehenden nach ihm. Man verstand ihn nur halb, und diejenigen, welche antworteten, konnten ihm keine Auskunft geben. Niemand kannte einen G. Er wartete mehrere Stunden lang – sein Bruder erschien nicht. Es wurde Abend; noch stand er da, allein und verlassen, hungrig und durstig. Bisher hatte er sich abgewandt, wenn ihm Arbeit und Logis angeboten wurde; jetzt trat wieder ein solcher Vermittler heran, und G. ließ sich geduldig führen und eine Herberge anweisen, wo er für wenig Geld ein Unterkommen fand. Als er bald darauf auf einem ärmlichen Lager saß, da stützte er den Kopf in beide Hände, da überkam ihn ein namenloses Gefühl des Verlassenseins. Bitterer Schmerz, tiefes Heimweh zogen sein Herz krampfhaft zusammen, und erst, nachdem er ein paar Stunden erquickenden Schlummers genossen, wurde sein Gemüth ruhiger. Er zürnte seinem Bruder und bedauerte ihn. Von dem Wirth erfuhr er, daß derselbe ein ziemlich verkommener Mensch geworden sei.

Wahrscheinlich hatte der Bruder erwartet, G. werde mit einem Beutel voll ehrlich und sauer ersparter deutscher Thaler anlangen. Er hatte sich wohl Rechnung gemacht, ihn gehörig zu rupfen. Als derselbe ihm aber mitgetheilt, er reise ab, jedoch ohne Mittel, da sah er sich wohl sehr getäuscht und mochte sich um ihn nicht bekümmern.

Unser guter G. mußte seinen Koffer und alles Uebrige dem amerikanischen Wirthe für Unterkommen und Pflege überlassen und stand nach ein paar Tagen völlig rath- und mittellos auf der Straße. Arbeit schändet nicht, und jegliche ehrliche Thätigkeit ist lobenswerth. G. erhielt einen Besen und wurde Straßenkehrer. Ob er nebenher noch sonstige Handlangerarbeiten verrichtet, wie Stiefelwichsen etc., vermag ich nicht zu sagen; genug, er verdiente so viel, daß er nicht zu verhungern brauchte. Seine Kleidung wurde jedoch bald bedenklich schäbig und dünn, und mit Schrecken blickte er in die Zukunft.

Eines Tages hörte er aus einem Hause, einige Schritte über sein Revier hinaus, die Töne eines Fortepianos. Für einige Cents tauschte er mit seinem Nachbar und stand nun oft in der Nähe des Fensters, aus dem die Klänge eines prächtigen Instruments drangen. Es waren aber fremde Melodien, die an sein Ohr schlugen, und ach! wie gern hätte er einmal dort gesessen, um ein deutsches Lied zu singen und zu spielen. Er wagte eines Tages, durch das halbgeöffnete Fenster einen Blick in die Stube zu werfen, und siehe, ein allerliebstes, etwa zehnjähriges Mädchen saß da und übte eine Melodie. Doch nicht sicher waren die Finger, nicht genau der Tact, und G. vermochte nicht ruhig zu bleiben. In freundlichem Tone rief er hinein:

„Mein liebes Kind, das war nicht ganz richtig.“

Erschrocken schaut die Kleine zum Fenster, faßt sich ein Herz und fragt:

„Kannst Du denn auch spielen?“

„Gewiß,“ erwidert G. und fügt verlangend hinzu. „Darf ich einmal hereinkommen?“

Und die Kleine kommt behende, öffnet dem fast Zitternden die Thür, führt ihn herein und spricht: „Nun spiel’ einmal!“

Mit hochklopfendem Herzen, in der größten Aufregung, setzt sich G. vor das brillante Pianino, greift in die Tasten, schlägt einige mächtige Accorde an und – sein Herz ist zu voll – helle Thränen laufen über die Backen, er kann’s nicht lassen: mit kräftiger Stimme ertönt das „Lied der Lieder“ aus voller Brust.

Blaß und verwirrt steht das liebe, freundliche Mädchen hinter ihm, zu mächtig und zu ergreifend ist für sie dieses Schauspiel und – wenn Papa und Mama das erfahren!

Da öffnet sich eine Seitenthür; eine Dame in rauschender Seide blickt verwundert herein, sieht den – Straßenkehrer, schreit auf und verschwindet augenblicklich. Doch G. hat es kaum bemerkt. Er bleibt ruhig sitzen, faltet stumm die Hände und dankt dem himmlischen Vater für diesen Genuß.

Wiederum öffnet sich die Seitenthür, und der Herr des Hauses, ein großer, stattlicher Mann von gewinnendem Aeußeren, erscheint. G. erhebt sich und stammelt verwirrt Entschuldigungen. Doch der Herr bittet ihn, Platz zu behalten, und fordert ihn zu einem Vortrage auf dem Klavier auf. G. faßt sich und gehorcht gern. Eine Sonate von Meister Beethoven wird intonirt. Bald rauschen die herrlichen Klänge dahin. Unser G. ist ganz versunken in die wunderbare Musik. Wie angebannt stehen Vater und Tochter, und hinter der Thür lauscht spannend die vornehme Dame, die Mutter.

Die Sonate ist zu Ende; unser G. ist ermattet von dem Ereigniß und den Gefühlen – ein minutenlanges Schweigen folgt. Dann spricht Herr X. (sein Name ist mir nicht bekannt geworden):

„Ich danke Ihnen für den schönen Vortrag. Solche Musik ist hier selten. Sagen Sie mir, wie Sie in Ihre jetzige Lage gekommen! Erzählen Sie mir Ihr Schicksal!“

Anfangs oftmals stockend, theilt G. dem fremden Herrn seine Vergangenheit mit; er schüttet sein Herz vor ihm aus und schließt mit der Bitte, Herr X. möge thun, was in seinen Kräften stehe, sein Loos zu ändern und zu bessern. Einen Augenblick schweigt Herr X., G. anblickend; dann reicht er ihm die Hand mit den Worten: „Ich glaube Ihnen. Sie sind ein würdiger Mensch – kommen Sie!“ Er führt ihn in sein Garderobezimmer und bittet ihn, sich einen Anzug auszusuchen: „In einer Stunde werde ich die Ehre haben, Sie in meinem Familienzimmer willkommen zu heißen.“

G. ist vollständig verwirrt, berauscht, überglücklich und kaum im Stande, sogleich Folge zu leisten. Er ruht einige Augenblicke im Sopha [852] aus, dann aber sucht er sich einen sauberen, noblen Anzug aus. Bald ist er völlig umgekleidet; seine halbzerrissenen und abgeschabten Kleider liegen, in ein buntes Taschentuch zusammengeschnürt, in einer Ecke des Zimmers. Was mag ihm die nächste Zukunft bringen?

Die Stunde ist abgelaufen. Herr X. kommt selber, G. in seinen Familienkreis zu führen. Er wird der Frau vom Hause vorgestellt, welche ihn freundlich zum Thee und zu einem kräftigen Imbiß einladet.

Im Verlaufe des Gesprächs erfährt G., daß die Eltern des Hauses X. ebenfalls Deutsche gewesen und eingewandert seien; so war es denn nicht zu verwundern, wenn Herr X. in der deutschen Sprache sich ziemlich gewandt zu unterhalten verstand. G. mußte viel erzählen aus der deutschen Heimath, und Herr X. theilte ihm Manches über amerikanisches Leben und amerikanische Verhältnisse mit. Bald hatten sie sich denn auch tiefer kennen gelernt. Wo gegenseitige Offenheit und Ehrlichkeit, wo Aufrichtigkeit und Herzlichkeit, da ist auch volles Vertrauen, da ist man bald glücklich und heimisch. Die kleine Laura war unterdeß einige Male hinter der Mutter Stuhl geschlichen und hatte flüsternd gefragt. „Bleibt der Onkel bei uns? O, er spielt und singt so schön! Soll ich ihn bitten, hier zu bleiben, Mama?“

Herr X. hatte den Werth seines nunmehrigen Gastes wohl erkannt; deshalb bat er ihn, vorerst zu bleiben und den Unterricht in deutscher Sprache und der Musik bei seinem einzigen Töchterchen zu übernehmen, natürlich gegen eine entsprechende Vergütung. G.’s Noth hatte ein Ende; er dankte aus tiefster Seele dem edlen Wohlthäter und bezog tief bewegt das ihm angewiesene Zimmer. Dasselbe war einfach, aber hübsch eingerichtet und mit allem Nöthigen versehen.

Zwei Jahre lang blieb G. in diesem Hause, glücklich und zufrieden. Inzwischen hatte Herr X. für ihn eine sehr lohnende Stellung in einer Instrumentenfabrik und -Handlung gefunden, woselbst G. die Aufgabe hatte, den Käufern vorzuspielen, die Waare zu empfehlen und zu verkaufen. Hier erwarb er sich viel Geld und hielt es zusammen. Seit einigen Jahren hat sich G., wenn ich recht berichtet bin, in Ph. als Buchhändler etablirt und hält dabei ein großes Lager bester Instrumente. Er ist reich und angesehen und darf auf sich das Wort anwenden: „Durch Nacht zum Licht!“

K.
B. M.