Li-Hung-Tschang in Berlin und Friedrichsruh
[500] Li-Hung-Tschang in Berlin und in Friedrichsruh. (Zu den Bildern S. 485 und 489.) Während der letzten Juniwochen erfreuten wir uns in Deutschland eines hohen und seltenen Besuchs: Li-Hung-Tschang, einer der berühmtesten Staatsmänner Ostasiens, der den Kaiser von China bei der Zarenkrönuug in Moskau vertreten hatte, kam von dort nach Deutschland, um unserem Kaiser ein Schreiben seines Herrschers zu überbringen. Bei der feierlichen Audienz, die am 14. Juni im Rittersaale des Königlichen Schlosses zu Berlin stattfand, sprach China durch den Mund Li-Hung-Tschangs seinen Dank für den wirkungsvollen Beistand aus, der dem großen Millionenreiche bei den letzten Friedens-Verhandlungen mit Japan von Deutschland gewährt worden war, und zugleich wurden Versicherungen freundschaftlicher Gesinnung zwischen den beiden so weit entfernten, aber durch Handelsbeziehungen einander näher gerückten Ländern ausgetauscht. – Li-Hung-Tschang ist eine hochinteressante Persönlichkeit. Er steht gegenwärtig in seinem 73. Lebensjahre und blickt auf eine thatenreiche Vergangenheit zurück. Als Vicekönig von Petschili, der wichtigsten vor den Thoren Pekings gelegenen Provinz des Reiches der Mitte, hatte er einen großen Einfluß am Hofe von China. Man rühmt ihm nach, daß er ein Mann des Fortschritts sei und wiederholt der europäischen Kultur das verschlossene China habe öffnen wollen. Die Gunst des kaiserlichen Hofes war ihm jedoch nicht beständig; wiederholt verfiel er in Ungnade. Im Laufe des letzten Krieges mit Japan wurden ihm auch die „Gelbe Jacke“ und die „Pfauenfeder“, Abzeichen der höchsten Würde in China, entzogen; als es aber galt, Frieden mit dem siegreichen Japan zu schließen, fand man in Peking keinen besseren Diplomaten und betraute den wieder in seine Ehren eingesetzten und zum Großkanzler des Reiches der Mitte ernannten Li-Hung-Tschang mit der schwierigen Aufgabe. Es ist bekannt, daß er dabei in Japan beinahe das Opfer eines Attentats geworden wäre. – Der Empfang des greisen chinesischen Staatsmanns in Berlin gestaltete sich besonders feierlich und herzlich. Li-Hung-Tschang selbst verstand es wohl, den guten Beziehungen zwischen China und Deutschland durch taktvolle Handlungen einen sinnigen Ausdruck zu verleihen. Zwei derselben, die wir im Bilde unseren Lesern vorführen, tragen ganz besonders ein sympathisches Gepräge.
Kurz nach seiner Ankunft in Berlin legte Li-Hung-Tschang einen Kranz am Sarge Kaiser Wilhelms I. nieder. Er brachte damit eine symbolische Huldigung dem Andenken des großen Monarchen, unter dessen Scepter Deutschland aus langjähriger Zerrissenheit zu einer Weltmacht emporgehoben wurde und auch zu China in freundschaftliche Beziehungen trat. Der Kranz war aus Lorbeer und Rosen geflochten und mit weißen Bandschleifen versehen, auf deren Enden die Widmung stand: „Dem großen Kaiser Wilhelm. Li-Hung-Tschang.“ Die Abbildung auf Seite 489 zeigt uns die Chinesen in der Gruft des Charlottenburger Mausoleums. Der alte, gebrechliche chinesische Gesandte wird zur Rechten vom Vicomte Li, zur Linken von dem Botschaftssekretär Lo-fang-luh gestützt. Dahinter steht Li-king-schi, während seitwärts Lieng-fang einen zweiten Kranz für den Sarg der Kaiserin Augusta trägt. Im Hintergrunde erblickt man die deutschen Begleiter, unter ihnen den zum Ehrendienst kommandierten Oberst Liebert und den als Dolmetscher dienenden chinesischen Zolldirektor Detring. Das Gewölbe ist spärlich durch Kerzen beleuchtet; links befindet sich der Sarg Kaiser Wilhelms, vor dem Li-Hung-Tschang steht; rechts sehen wir den Sarg der Kaiserin Augusta. Dahinter liegen die Särge der Königin Luise und Friedrich Wilhelms III., während im Kreuzungspunkt der vier Särge eine viereckige Platte sichtbar ist, unter der das Herz Friedrich Wilhelms IV. ruht.
Aber nicht nur dem ersten Deutschen Kaiser brachte Li-Hung-Tschang eine aufrichtige Huldigung dar. Der Großkanzler von China versäumte auch nicht, den ersten Deutschen Reichskanzler aufzusuchen. Seit mehr als dreißig Jahren war er nach seiner eigenen Aussage von dem Wunsche beseelt, den größten Staatsmann Europas von Angesicht zu Angesicht zu schauen. Er reiste nach Friedrichsruh und brachte damit die Zusammenkunft der beiden bedeutendsten Staatsmänner des Ostens und Westens der Alten Welt zustande. Wenn auch dieser Begegnung eine politische Tragweite nicht innewohnte, so ist sie doch, schon durch die Bedeutung der beiden Männer, von weltgeschichtlichem Charakter. Die Abbildung auf Seite 485 führt uns die beiden greisen Staatsmänner auf der Schloßterrasse von Friedrichsruh vor Augen. *