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Lichtenstein/Zweiter Teil/III

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Kapitel II Lichtenstein von Wilhelm Hauff
Zweiter Teil, Kapitel III
Kapitel IV
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[191]

III.


 „Die linden Lüfte sind erwacht,
 Sie säuseln und weben Tag und Nacht,
 Sie schaffen an allen Enden,
 O frischer Duft, o neuer Klang!
 Nun, armes Herze, sei nicht bang!
 Nun muß sich alles, alles wenden.“
 L. Uhland.[1]


Aber der Pfeifer von Hardt kehrte auch in dieser Nacht nicht nach Haus zurück, und Georg, der seine Sehnsucht nach der Geliebten nicht mehr länger zügeln konnte, sattelte, als der Morgen graute, sein Pferd. Die runde Frau hatte nach einigen harten Kämpfen mit ihrem Töchterlein erlaubt, daß sie den Junker geleiten dürfe. Sie wußte zwar, daß ein so unerhörtes Ereignis viele Abende zur Unterhaltung in den Spinnstuben von Hardt dienen werde und sah es deswegen nicht ganz gerne. Wenn sie aber bedachte, wie viel ihrem Eheherrn an dem jungen Ritter gelegen [192] sein müsse, weil er ihn in sein Haus aufgenommen und wie einen Sohn gepflegt hatte, so glaubte sie doch diesen letzten Dienst ihrem Gast nicht abschlagen zu dürfen; doch machte sie die Bedingung, daß Bärbele vorausgehen und ihn eine Viertelstunde hinwärts an einem Markstein erwarten müsse.

Georg nahm gerührt Abschied von der stattlichen, runden Frau, die ihm zu Ehren heute noch einmal in ihrem Sonntagsstaat prangte; er hatte in den geschnitzten Schrank einen Goldgulden gelegt, ein wichtiges Geschenk für die damalige Zeit und eine bedeutende Summe für die Reisekasse Georgs von Sturmfeder. Der Pfeifer von Hardt soll übrigens nie etwas von diesem Depositum erfahren haben; sei es nun, daß die gute, runde Frau den Goldgulden nicht gefunden hat, oder daß sie ihrem Eheherrn nichts davon berichtete, aus Angst, er möchte den Junker durch die Rückgabe des Geschenkes beleidigen. Nur so viel ist gewiß, daß die Frau des Spielmanns kurze Zeit nach diesem Vorfall mit einem nagelneuen Rock in der Kirche erschien, zur Verwunderung aller Weiber in der Gegend, und daß ihre Tochter Bärbele ein schönes Mieder von feinem Tuch mit Goldborden auf der nächsten Kirchweihe trug, das man früher nie an ihr gesehen. Auch soll sie jedesmal errötet sein, wenn die Mädchen das neue Mieder befühlten und lobten. Welch großen Staat konnte man in den guten Zeiten um einen Goldgulden machen!

Georg traf seine Führerin auf dem bezeichneten Markstein sitzen. Sie sprang auf, als er herankam, und ging mit raschen Schritten neben ihm her. Das Mädchen kam ihm heute noch viel hübscher vor als gestern. Ihre Wangen hatte der frische Aprilmorgen mit hohem Rot bedeckt, und ihre Augen glänzten freundlich. Ihre Tracht eignete sich ganz gut zu einem weiten Marsch, denn das kurze Röckchen hinderte den Fuß nicht, flink auszuschreiten. Sie hatte ein Körbchen an den Arm gehängt, als wolle sie zu Markt in die Stadt gehen. Sie trug aber weder Gemüs’ noch Früchte darin, was sie wohl sonst in die Stadt zu bringen pflegte, sondern ein Regentuch, mit dem sie sich gegen die wechselnden Launen eines Apriltages versehen hatte. Der Junker dachte bei sich, als sie so schmuck und rüstig neben ihm hinging, daß das [193] Mädchen wohl einmal eine gute, tüchtige Hausfrau zu werden verspreche, und pries den jungen Burschen glücklich, der einst das Kleinod des Spielmannes von Hardt für sich gewinnen werde.

Sie hatte unstreitig viel von dem lebhaften Geiste ihres Vaters geerbt. Denn, wie auch jener bei der Reise über die Alb seinem vornehmen Gefährten durch Erzählungen und Hindeutungen auf die Gegend den Weg zu verkürzen bemüht gewesen war, so wußte auch sie, so oft das Gespräch zu stocken begann, entweder auf einen schönen Punkt in den Thälern und Bergen umher aufmerksam zu machen, oder sie teilte ihm unaufgefordert eine und die andere Sage mit, die sich an ein Schloß, an ein Thal oder einen Bach knüpften.

Sie wählte meistens Nebenwege und führte den Reiter höchstens zwei- bis dreimal durch Dörfer, von zwei zu zwei Stunden aber machten sie Halt. Endlich nach vier solchen Stationen sah man in der Entfernung von einer kleinen halben Stunde ein Städtchen liegen; der Weg schied sich hier, und ein Fußpfad führte links ab in ein Dorf. An diesem Scheidepunkt blieb das Mädchen stehen und sagte: „Was Er dort sehet, ist Pfullinga, von dort kann Ich jedes Kind da Weg nach Lichtastoi zeiga.“

„Wie? du willst mich schon verlassen?“ fragte Georg, der sich an die munteren, sinnigen Reden seiner Begleiterin so gewöhnt hatte, daß ihn der Abschied überraschte; „warum gehst du nicht wenigstens mit mir bis Pfullingen? Dort kannst du in der Herberge etwas essen und trinken; du willst doch nicht geradezu nach Haus laufen?“

Das Mädchen suchte freundlich auszusehen und zu scherzen, doch konnte sie einen schmerzlichen Zug um den Mund und trübe Augen nicht verbergen; denn wohl mochte auch ihr die Nähe ihres schönen Gastes teurer geworden sein, als sie vielleicht selbst wußte. „Do mueß i von Ich geh, gnädiger Herr“, sagte sie, „so gerne au no weiters mitging; aber d’Mueter will’s so; dort in dem Dörfle am Berg hanne a Baas, und bei der bleibe heut, und morga gange wieder noch Hardt. Jetzt b’hüet Ich Gott der Herr und d’heilig Jungfrau und älle seine Heilige nemmet Ich in Schutz. Grüeßet mer de Vater und au“, setzte sie lächelnd hinzu, indem sie schnell [194] eine Thräne abschüttelte, „grüeßet mer sell Frähla, die Er so gern hent.“[Hauff 1]

„Dank dir, Bärbele“, entgegnete Georg und reichte ihr die Hand zum Abschied vom Pferd hinab. „Ich kann dir deine treue Pflege nicht vergelten. Aber wenn du nach Haus kommst, so schau in den geschnitzten Schrank, dort wirst du etwas finden, das vielleicht zu einem neuen Mieder oder zu einem Röckchen für den Sonntag reicht. Nun, und wenn du es dann zum erstenmal an hast und dein Schatz dich darin küßt, so denke an Georg von Sturmfeder!“

Der junge Mann gab seinem Pferde die Sporen und trabte über die grüne Ebene hin dem Städtchen zu. Zweihundert Schritte weit entfernt, schaute er sich noch einmal nach der Tochter des Spielmannes um. Sie stand noch dort, wo er sie verlassen hatte, im roten Mieder, im kurzen Röckchen, mit langen Zöpfen und weißen Strümpfen, sie war es und keine andere; aber sie hielt die Hand vor die glänzenden Augen, und Georg war ungewiß, ob sie die Strahlen der Sonne dadurch abhalten wolle, indem sie ihm nachblickte, oder ob sie vielleicht jene Thräne verwische, die er in ihren Wimpern blinken sah, als sie Abschied nahm.

Bald war er am Thor der kleinen Stadt angelangt. Er fühlte sich ermüdet und durstig und fragte daher auf der Straße nach einer guten Herberge. Man wies ihn nach einem kleinen düsteren Haus, wo ein Spieß über der Thüre und ein Schild, mit einem springenden Hirsch geziert, zur Einkehr einluden. Ein kleiner, barfußiger Junge führte sein Pferd in den Stall, ihn selbst aber empfing in der Thüre eine junge, freundliche Frau und führte ihn zur Trinkstube.

Es war dies ein weites, finsteres Zimmer, an dessen Wänden sich schwere eichene Tische und Bänke hinzogen. Die ungeheure Menge von Kannen und Bechern, die blank gescheuert von den Gestellen am Getäfer herabblinkte, bewies, daß die Herberge zum [195] Hirsch sehr besucht sein müsse. In der That saßen auch, obgleich es erst Mittag war, schon viele Gäste beim Wein. Sie schauten den stattlichen jungen Ritter prüfend an, als er an ihren Tischen vorüber zum Ehrenplatz, in ein sechseckiges, wie eine Laterne aus lauter Fenstern erbautes Erkerlein, geführt wurde; doch ließen sie sich in ihrem Gespräch durch den vornehmen Gast nicht lange stören, sondern schwatzten weiter über Krieg und Frieden, über Schlachten und Belagerungen, wie ehrsame Spießbürger in so unruhigen Zeiten, wie etwa anno 1519, zu thun pflegen.

Die Wirtin schien an ihrem Gast Gefallen zu finden. Sie schaute mit lächelnder Miene nach ihm herüber, wenn sie am Erkerlein vorbeiging, und als sie ihm eine Kanne alten Heppacher und einen silbernen Becher vorsetzte, zog sich ihr etwas großer Mund zu holdseliger Freundlichkeit. Sie versprach ihm auch, ein junges Huhn zu braten und einen Tisch zu decken, wenn er sich nur ein wenig gedulden wolle; einstweilen solle er sich den Wein gut bekommen lassen. Das laternenförmige Erkerlein lag um zwei Stufen höher als die übrige Trinkstube, Georg konnte daher mit Muße die Tische übersehen und trinkend die Gäste mustern. Obgleich er nicht viel in Herbergen und Weinstuben sich herumzutreiben pflegte, so hatte er doch, vielleicht dadurch, daß er weniger sprach als beobachtete, einen eigenen Takt in Beurteilung solcher Umgebungen gewonnen, der ihn auch bei seinen jetzigen Beobachtungen unterstützte.

Die Gesellschaft, die um einen der großen eichenen Tische saß, bestand aus etwa zehen bis zwölf Männern. Sie unterschieden sich auf den ersten Anblick nicht sehr voneinander; große Bärte, kurze Haare, runde Mützen, dunkle Wämser gehörten dem einen so gut wie dem anderen an. Doch sonderte ein schärferer Blick bald vorzüglich drei von den übrigen. Der eine, er saß Georg am nächsten, war ein kleiner, fetter, freundlicher Mann. Sein Haar war im Nacken etwas länger als das der anderen, er hatte es sorgfältiger gekämmt, auch schien sein dunkler Bart besser gepflegt zu sein. Ein Mantel von feinem, schwarzem Tuch und ein Filzhut mit spitzigem Kopf und breiter Krempe, die hinter ihm an einem Nagel hingen, bezeichneten einen Mann von einigem [196] Gewicht, vielleicht gar einen Ratsherrn. Er mochte auch eine bessere Sorte trinken als die übrigen, denn er schlürfte bedächtig, und wenn er mit dem Deckel an seinem Krug das Zeichen gab, daß er leer sei, that er dies mit einem gewissen Anstand und vernehmlicher als die übrigen. Er sah bei allem, was gesprochen wurde, überaus fein und listig aus, als wisse er noch manches, ohne es gerade hier preisgeben zu wollen. Auch hatte er das Vorrecht, das Kellnermädchen in die Wangen zu kneipen oder ihren runden Arm zu „tätscheln“, wenn sie ihm die gefüllte Kanne brachte.

Ein anderer Mann, der am entgegengesetzten Ende des Tisches saß, stach nicht minder gegen seine Umgebungen ab als der Fette; alles war an ihm länglich und hager. Sein Gesicht, von der Stirne bis zu dem langen, zugespitzten Kinn, maß wohl eine gute Mannesspanne; seine Finger, mit welchen er auf dem Tische den Takt eines Liedes spielte, das er leise vor sich hin pfiff, hatten etwas Spinnenartiges, und als sich Georg einmal zufällig bückte, gewahrte er zu seinem großen Erstaunen, daß der hagere Mann lange, dünne Beine beinahe unter dem ganzen Tisch hin ausgestreckt hatte. Er hatte um seine Nase etwas Hochfahrendes, das sich auch in der Art, wie er allem, was die Bürger vorbrachten, widersprach, ausdrückte; er sah aus wie einer, der viel mit vornehmen Herren umgegangen ist, ihre Art und Weise angenommen hat, aber doch nicht recht bequem damit zurecht kommt. Er konnte nicht aus dem Städtchen sein, denn er hatte die Wirtin nach seinem Pferd gefragt. Nach Georgs Mutmaßungen war er ein reisender Arzt, wie sie zu jener Zeit im Land umherzogen, um die Menschen künstlich umzubringen.

Der dritte Mann, der dem Gast im Erker auffiel, sah etwas zerrissen und zerlumpt aus; er hatte übrigens etwas Bewegliches, Listiges in seinem Wesen, das ihn von der gutmütigen, behaglichen Ruhe der Spießbürger merklich unterschied. Er hatte über dem einen Auge ein großes Pflaster, das andere aber blickte kühn und offen um sich. Ein großer Reisestock mit eiserner Spitze, der neben ihm lag, und sein lederbesetzter Rücken, worauf er gewöhnlich einen Korb oder eine Kiste tragen mochte, ließen schließen, daß [197] er entweder ein Bote sei, oder wahrscheinlicher noch einer jener herumziehenden Krämer, die auf Märkte und Kirchweihen, nebst wunderbaren Nachrichten aus fernen Landen für die Weiber wirksame Mittel gegen verhextes Vieh und für die Mädchen schöne bunte Bänder und Tücher bringen.

Diese drei waren es auch, die das Gespräch führten, das nur hin und wieder durch einen Ausruf der Verwunderung oder durch ein Klopfen mit den Krugdeckeln von den übrigen ehrsamen Bürgern unterbrochen wurde.

Diese Männer handelten übrigens eine Materie ab, die Georgs Interesse sehr in Anspruch nahm. Sie sprachen über die Unternehmungen des Bundes im württembergischen Unterland. Der Krämer mit dem ledernen Rücken hatte erzählt, daß Möckmühl, worin sich Götz von Berlichingen eingeschlossen, von den Bündischen erstürmt und jener tapfere Mann gefangen worden sei[Hauff 2].

Der Ratsherr hatte zu dieser Nachricht listig gelächelt und einen guten Zug von seiner besseren Sorte getrunken; der Hagere ließ aber den Lederrücken nicht aussprechen, er schlug den Takt mit den langen Fingern etwas vernehmlicher und sagte mit hohler Stimme: „Das ist erstunken und erlogen, Freund! seht, das ist gar nit möglich, denn der Berlingen versteht die schwarze Kunst und ist fest, das muß ich wissen; und überdies hat er allein mit seiner eisernen Hand in mancher Schlacht zweihundert Mann maustot geschlagen, was wird er sich denn fangen lassen?“

„Mit Verlaub“, unterbrach ihn der fette Herr, „dem ist nicht also, sondern Götz ist in der That gefangen und sitzt in Heilbronn. Aber nicht weil er erlegen ist, denn sein Schloß in Möckmühl ist nicht erstürmt worden, sondern die Bündischen haben ihm und den Seinigen freien Abzug versprochen; wie er aber aus dem Thor kam, wurde er überfallen, seine Knechte getötet und er gefangen[2]. Seht, das ist nicht recht, und da hat der Bund schändlich gehandelt.“

„Da muß ich doch bitten, Herr“, sprach der Lange, „daß man nicht also von den Bundesobersten spricht; ich kenne viele [198] Herren davon genau, wie z. B. Herr Truchseß von Waldburg mein geneigter Herr und Freund ist.“

Der fette Herr schien etwas erwidern zu wollen, spülte aber das, was ihm auf der Zunge lag, mit einigem Wein hinunter. Jedoch die Bürger brachen bei Erwähnung so vornehmer Bekanntschaften in ein Gemurmel des Staunens aus und lüfteten ehrerbietig ihre Mützen.

„Nun, wenn Ihr bei dem Bunde so gut bekannt seid“, sagte der Zerlumpte mit etwas trotziger Miene, „so werdet Ihr uns die beste Nachricht geben können, wie es um Tübingen aussieht.“

„Es pfeifet auf dem letzten Loch“, antwortete der Gefragte; „ich war vor kurzer Zeit dort und sah die fürtrefflichen und schrecklichen Anstalten zur Belagerung.“

„Ei, – So, – Wie“, flüsterten die Bürger und rückten näher zusammen, als erwarteten sie wichtige Kunde.

Der hagere Mann lehnte sich an die Lehne seines Stuhles zurück, steckte die langen Finger in die Degenkuppel, streckte die Beine um einige Zoll länger aus und sprach: „Ja, ja, ihr Leute, dort sieht es arg aus; alle Ortschaften in der Nachbarschaft sind in großem Schaden, denn die Obstbäume sind alle abgehauen, man schießt mit aller Macht auf Stadt und Schloß, und die Stadt hat sich schon ergeben; im Schloß liegen vierzig Ritter, aber sie können die paar Mäuerlein nicht mehr lange halten!“

„Was? ein paar Mäuerlein?“ rief der fette Herr und setzte seine Kanne klirrend auf den Tisch; „wer je das Schloß von Tübingen gesehen hat, kann nicht von ein paar Mäuerlein reden. Hat es nicht auf den Seiten, wo es an den Berg stößt, zwei tiefe Graben, daß die Bündler mit keiner Leiter hinauf können, und Mauern zwölf Schuh dick und Türme, aus welchen sie ihre Feldschlangen nicht übel spielen lassen.“

„Umgeschossen, umgeschossen!“ rief der lange Mann mit so greulich hohler Stimme, daß die erschrockenen Bürger die Türme von Tübingen krachen zu hören glaubten; „den neuen Turm, den der Ulerich neulich aufbaute, hat der Frondsberg umgeschossen, wie wenn er nie dagestanden wäre.“[Hauff 3]

[199] „Aber damit ist noch nicht alles hin“, antwortete der Zerlumpte. „Und die Ritter machen Ausfälle aus dem Schloß und haben schon manchen auf dem Wörth am Neckar schlafen gelegt. Und dem Frondsberg haben sie den Hut vom Kopf geschossen, daß er heute noch Ohrensumsen hat.“[Hauff 4]

„Da seid Ihr falsch berichtet“, sprach der Hagere nachlässig; „Ausfälle? dafür haben die Belagerer leichte Reiter wie die Teufel; es sind Griechen, ich weiß nicht, vom Ganges oder Epiros, man heißt sie Stratioten[3]; die haben einen Obersten, den Georg Samares, der läßt keinen Hund aus dem Loch ausfallen.“[Hauff 5]

„Der hat halt auch ins Gras beißen müssen“, entgegnete der zerlumpte Mann mit einem höhnischen Seitenblicke; „die Hunde, wie Ihr sie nennt, sind dennoch ausgefallen, obgleich der Grieche vor dem Loch stand, und haben ihn gebissen und gefangen, und –“

„Gefangen? den Samares?“ rief der Lange aus seiner vornehmen Ruhe aufgeschreckt; „Freund, das habt Ihr falsch gehört!“

„Nein“, antwortete jener sehr ruhig, „ich habe die Glocken läuten hören, als man ihn in Sankt Jörgenkirche begraben hat.“

Die Bürger schauten aufmerksam nach dem langen Fremden, um zu erforschen, was für einen Eindruck diese Nachricht auf ihn mache. Er ließ seine buschigen Augenbrauen herab, daß von seinen Augen nichts mehr zu sehen war, zwirbelte seinen langen, dünnen Knebelbart, schlug mit der knöchernen Hand auf den Tisch und sagte: „Und wenn sie ihn auch in zehn Stücke zerhauen hätten, den Griechen, es hilft doch nichts! Das Schloß muß über, da hilft nichts, und hat man Tübingen, dann gute Nacht Württemberg. Der Ulerich ist zum Land hinaus, und meine gnädige Herren und Gönner sind Meister.“

„Wer steht Euch davor, daß er nicht wiederkommt? und dann – –?“ sagte der kluge, fette Herr und klappte den Deckel zu.

„Was, wiederkommen“, schrie jener; „der Bettelmann? Wer sagt das, daß er wiederkommt; wer wagt es? He?“

[200] „Was geht es uns an?“ murmelten die Gäste unmutig; – „wir sind friedliche Bürger, uns ist’s einerlei, wer Herr im Land ist, wenn nur die Steuern anders werden. – Wenn man in der Herberg’ ist, wird doch auch noch ein Wort erlaubt sein?“ So sprachen sie, und der Hagere schien zufrieden, daß ihm keiner etwas Ernstliches entgegnete. Er sah einen um den andern mit stechendem Blicke an, zog dann sein Gesicht in freundlichere Falten und sagte: „Es war nur zur Erinnerung, daß wir den Herzog fürder nicht mehr brauchen; mein Seel’, mir ist er wie Gift und Operment[4], darum gefällt mir auch das Paternoster so gut, das einer auf ihn gemacht hat; ich will es einmal singen.“ Die Bürger sahen finster vor sich hin und schienen nicht sehr begierig auf den Spottgesang, der ihrem unglücklichen Herzog galt. Jener aber befeuchtete seine Kehle mit einem guten Trunk und sang mit heiserer, unangenehmer Stimme:

„Vater unser
Reutlingen ist unser.
Der du bist
Eßlingen hat nicht lange Frist.
Geheiligt werde dein Nam’,
Heilbronn und Weil wollen wir han.
Zukomm’ uns dein Reich,
Ulm sieht uns auch gleich.
Dein Will’ geschehe
Die Münz’ hat gereiht ein anderes Geprähe.
Unser täglich Brot
Wir haben Geschütz für alle Not.
Gib uns heut’ und vergib uns unsere Schuld,
Wir haben des Königs in Frankreich Huld,
Als wir vergeben unseren Schuldigern,
Wir wollen dem Bund das Maul zusperr’n!
Laß uns nicht versucht werden
Wir wöllen bald Kaiser werden.
Sondern erlös’ uns vom Übel. Amen!
So behalten wir des Kaisers Namen.“[Hauff 6][5]

[201] Er schloß seinen Gesang mit einem fatalen zitternden Schnörkel, der weiter keinen Effekt hervorbrachte, als daß die Bürger einander heimlich anstießen und über die jämmerlichen Töne des Sängers die Achsel zuckten. Er aber schaute stolz in dem Kreise umher, als wolle er in den Mienen seiner Zuhörer den gerechten Beifall lesen.

„Ihr habt da ein gar frommes Lied gesungen“, sagte der Zerlumpte, „so fein kann ich’s nicht, aber doch weiß ich auch ein neues Lied und will es mit Eurem Verlaub singen.“

Der Hagere sah ihn scheel und spöttisch an, die Bürger aber nickten ihm zu, und er begann mit einem angenehmen Tenor, indem er die Augen halb zuschloß, aber doch hin und wieder auf den langen Mann hinüberschielte, als beobachte er, welchen Eindruck sein Gesang mache[Hauff 7][6]:

„O weh, wo bleibet deine Kraft,
Württemberg, du arme Landschaft;
Ich klag’ dich billig hart und sehr,
Denn der Bader von Ulm, der ist dein Herr.

Der zu Nürnberg die Wetschger[7] macht,
Der Weber von Augsburg treibt auch seine Pracht[8],
Der Salzsieder von Schwäbisch-Hall,
Von Ravenspurg die Krämer all’.

Von Rothweil die neuen Schweizerknaben
Wollten der Gans auch ein Feder haben,
Und der Schneider von Memming ist in der Sach’
Und auch der Kürschner von Biberach.“

Lärmender Beifall und Gelächter unterbrach den Sänger; sie langten über den Tisch herüber, schüttelten dem Zerlumpten die [202] Hand und lobten sein Lied. Der Hagere sprach kein Wort, sondern warf finstere Blicke auf die Gesellschaft; man war ungewiß, ob er den Beifall des Zerlumpten beneidete, oder ob der Gegenstand des Liedes ihn beleidigte. Der fette Herr aber sah ungemein klug aus, brummte die Weise des Liedes mit und nickte bei jeder Kraftstelle mit dem Haupt.

Der Sänger mit dem ledernen Rücken fuhr fort:

„Den Saymer[9] von Kempten ich euch meld’
Und Holzhauer von dem Herdtfeld
Und andere, die ich nit nennen will,
Der Haufen ist groß und wird gar zu viel.

Und auch der ist in dem Strauß’,
Der richt’ alles mit Ungeld aus,
Ich mein’ Junker Ermlich und sein Gesind’
Des reichen Barchetwebers Kind.“

„Daß Euch der Kuckuck in den Hals fahr! Ihr Lumpenhund!“ fuhr der lange Mann auf, als er die letzten Worte hörte. „Ich weiß wohl, wen Ihr mit dem Barchetweber meint; meinen gnädigen Gönner, den Herrn von Fugger. Den soll mir ein solcher Landläufer verunglimpfen?“ Er begleitete diese Worte mit einem ausdrucksvollen Mienespiel und mit schrecklicher Gebärde.

Doch der mit dem ledernen Rücken ließ sich nicht einschüchtern; er stellte seine ungemein muskulöse Faust vor sich hin und sagte: „Den Landläufer könnt Ihr für Euch behalten, Herr Calmus, man weiß wohl, wer Ihr seid; und wenn Ihr nicht augenblicklich Euer Maul haltet, so will ich Euch Eure Rührlöffelarme vom Leib schlagen.“

Der Hagere stand auf und bedauerte sich selbst, daß er in so gemeine Gesellschaft geraten sei; er zahlte seinen Wein und ging vornehmen Schrittes aus der Trinkstube.



  1. Erste Strophe von Uhlands Lied „Frühlingsglaube“.
  2. Götz wurde in der Nacht vom 10. zum 11. Mai bei einem Ausfall aus seinem Schloß Möckmühl verwundet und gefangen nach Heilbronn gebracht, wo man ihn erst 1522 wieder frei ließ.
  3. Es waren leichtbewaffnete albanesische Reiter in türkischer Tracht.
  4. Aurigpigment, gelbes Mineral, aus Schwefelarsen bestehend; wirkt giftig
  5. Dieses Lied, wahrscheinlich dem übermütigen Selbstvertrauen der herzoglich gesinnten Kreise entstammend, soll, wie man damals glaubte, der Herzog selbst [201] haben ausgehen lassen. Bei Hauff ist es als eine Verspottung des Herzogs aufgefasst.
  6. Diese Verse sind einem größeren Liede mit der Überschrift „Wyrtenbergscher spruch wider die stet des bunds und antwort von wegen des adels“ entnommen, das in Ulrichs Lager entstand und die Städte des Schwäbischen Bundes mit Spottnamen belegt.
  7. D. i. Mantelsack- oder Taschenmacher, vom mittelhochdeutschen wât-sac = Tasche für Kleidungsstücke.
  8. Bezieht sich auf die Fugger, deren Ahnherr und ältere Familienglieder Webermeister waren.
  9. D. i. Führer von Saumtieren oder Frachtwagen.

Anmerkungen (Hauff)

  1. „Hier muß ich scheiden; so gerne ich noch weiter mitginge. Die Mutter will es so. Dort in dem Dorf am Berge habe ich eine Muhme. Bei ihr bleibe ich heute nacht. Behüt’ Euch Gott. Grüßt mir den Vater und jenes Fräulein, das Ihr liebt!“
  2. [297] Lebensbeschreibung Götzens von Berlichingen (von ihm selbst geschrieben), edit. Pistorius, Nürnberg 1731.
  3. [297] Sattler II, § 9. Hierüber ist vorzüglich zu vergleichen Fried. Stumphardt, Chron. § III, Die Geschichte der Herren v. Frondsberg, Frankfurt a. M., 2. Buch, und Tethinger, Commentarius de Würt. reb. gest. Lib. II.[WS 1]
  4. [297] Bei dieser Belagerung wurde Georg von Frondsberg das Barett vom Kopf geschossen. So erzählen Sattler, Stumphardt, Tethinger u. a.
  5. [297] Diese Griechen sind eine sonderbare Erscheinung bei der Belagerung von Tübingen: man hieß sie Stratioten; ihr Hauptmann war Georg Samaras aus Corona in Albanien. Er ist in der Stiftskirche in Tübingen begraben. Ausführlich beschreibt sie Tethinger, Comment.[298] de Würt. gest. 931. Crusius nennt sie vorzüglich berühmt im Lanzenschwingen. κονταριο φορουσιν.
  6. [298] Man vergleiche über diesen Volkswitz des Freiherrn von Aretin, Beiträge zur Geschichte und Litteratur 1805, 5. Stück, Seite 438.
  7. [298] In der Chronik des Georg Stumphardt über die gewaltsame Verjagung des Herzogs Ulerich findet sich als eigener Artikel ein: „gereimter Spruch also lautend“; wo in einer großen Menge Knittelversen das Unglück des Herzogs und des Landes beschrieben ist. Aus diesem Gedicht sind jene Verse im Text entlehnt.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Hauffs Anmerkung Nr. 4 zum zweiten Teil fehlt in diesem Exemplar, an dieser Stelle eingefügt nach G. Schwabs Ausgabe: Wilhelm Hauff’s sämmtliche Schriften, Brodhag’sche Buchhandlung, Stuttgart 1830, Fünftes Bändchen, S. 24 unten – Google.
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