MKL1888:Äginētische Kunst

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Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Äginētische Kunst“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 1 (1885), Seite 192
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Äginētische Kunst. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 1, Seite 192. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:%C3%84gin%C4%93tische_Kunst (Version vom 09.06.2023)

[192] Äginētische Kunst. Unter den ältern griechischen Kunstschulen hat die auf der Insel Ägina (s. d.) bis gegen die Mitte des 5. Jahrh. v. Chr. blühende frühzeitig einen hohen Ruf erlangt. Sie hatte sich besonders an der Darstellung von Kämpferfiguren, die den Siegern in den Kampfspielen zu Ehren aufgestellt wurden, geübt und gibt uns daher heldenmäßige Gestalten, in deren Körpern männliche Kraftfülle mit naturalistischer Schärfe und noch ohne ideale Schönheit zum Ausdruck gelangt. Muskeln, Adern, die Verbindung der Gliedmaßen sind sehr genau wiedergegeben; es sind Athletenfiguren, die hier als Helden vor uns auftreten. Neben diesem Naturalismus überrascht aber die Strenge, mit welcher das alte Gesetz der Symmetrie beibehalten wurde. Dieselbe Grundidee der Komposition beherrscht z. B. beide um 475 entstandene Giebelgruppen des Athenetempels in Ägina. Dieses Bauwerk wurde 1811 zuerst untersucht. Die Giebelfiguren wurden damals aufgefunden, durch Thorwaldsen restauriert und von dem bayrischen Kronprinzen Ludwig erworben, später in die von ihm erbaute Glyptothek in München versetzt. Von den 22 ursprünglich vorhandenen Figuren sind 10 des Westgiebels (s. Tafel „Bildhauerkunst II“, Fig. 1) vollständig, die 11. in Fragmenten erhalten; von denen des Ostgiebels sind 5 und viele Trümmer übrig. Beide Gruppen stellen Kämpfe vor Troja vor, in denen Athene die griechischen Helden schützt. Sie bildet den Mittelpunkt der Darstellung, beide Male in fast übereinstimmender Erscheinung. Im westlichen Giebel sehen wir den über die Leiche des Achilleus entbrannten Kampf, wobei Odysseus die Trojaner abwehrt; im östlichen Telamon und Herakles den gefallenen Oikles gegen Laomedon schirmend, eine Szene aus dem frühern Kampf zwischen Griechen und Troern. Während sich in der liebevoll genauen Naturbeobachtung an diesen Marmorbildern ein wesentlicher Fortschritt der griechischen Kunst zu erkennen gibt, zeigen alle übrigen Merkmale noch den alten naiven Stil der vorhergehenden Epoche, in der die hellenische Kunst zuerst den Versuch machte, sich einerseits der Einflüsse von orientalischen Völkern her, anderseits des strengen und starren Kultstils zu entledigen. Daher noch jenes charakteristische Lächeln in den emporgezogenen Mundwinkeln, die schief stehenden, glotzenden Augen, der Mangel an Lebendigkeit in der Bewegung der Körper, vor allem jedoch das Fehlen des Ausdrucks der Seelenstimmung im Antlitz. Die Teilnehmer des Kampfes bewahren in ihrem ganzen Wesen eine ruhig milde, freundliche Erscheinung. Nur im Ostgiebel zeigt sich an einem der Gefallenen, welche die Ecken an beiden Giebeln ausfüllen, der Versuch, den Ausdruck der Todesschmerzen in den Zügen wiederzugeben, wie der Ostgiebel überhaupt eine etwas vorgeschrittenere Stufe der Entwickelung zeigt, welche wohl der Vorstellung entsprechen dürfte, die wir uns von dem hervorragendsten Künstler Äginas, Onatas, zu machen haben. Die Figuren des Äginetentempels waren an den Gewandsäumen, Haaren, Augen und andern Details bemalt, Haare, Waffenstücke etc. teilweise aus Metall angesetzt. – Der Erzgießer Onatas fertigte zahlreiche Figurengruppen, heroische Kämpfe darstellend, die als Weihgeschenke aufgestellt wurden. Von ihm hatte man auch Götterbilder (Apollon, Hermes). Die Blüteperiode dieses gefeierten Künstlers fällt noch vor die Mitte des 5. Jahrh. Neben ihm ist namentlich Kallon zu nennen, dessen strengen Stils die alten Schriftsteller gedenken; unter den ältern Künstlern ist der Bildschnitzer Smilis hervorzuheben. Vgl. J. M. Wagner, Bericht über die äginetischen Bildwerke (hrsg. und mit kunstgeschichtlichen Anmerkungen begleitet von Schelling, Tübing. 1817); Overbeck, Geschichte der griechischen Plastik (3. Aufl., Leipz. 1882); Brunn, Über das Alter der äginetischen Bildwerke (Sitzungsberichte der bayrischen Akademie der Wissenschaften 1867); K. Lange, Die Komposition der Ägineten (Leipz. 1878).