MKL1888:Auflösung
[61] Auflösung, im modernen Staatsleben die vor Ablauf der gesetzlichen Wahlperiode von der Regierung verfügte Beendigung einer Körperschaft behufs Herbeiführung einer Neuwahl derselben. Die Befugnis zur A. ist besonders parlamentarischen Körperschaften gegenüber ein wichtiges Recht der Krone; doch ist ein solches Recht auch in Ansehung von Gemeindekollegien, Kirchenvorständen u. dgl. den Aufsichtsbehörden nicht selten eingeräumt. Nach der preußischen Städteordnung für die östlichen Provinzen vom 30. Mai 1853 bedarf es aber zur A. einer Stadtverordnetenversammlung einer königlichen Verordnung. Der Volksvertretung gegenüber zur Anwendung gebracht, ist die A., zu welcher der Monarch in den modernen Verfassungsurkunden ausdrücklich ermächtigt ist, im Grund nichts andres als eine Aufforderung der Krone an das Volk, durch Neuwahlen darzuthun, ob eine zwischen der Regierung und der Volksvertretung bestehende Disharmonie und eine bisherige oppositionelle Haltung der letztern von den Wählerschaften gutgeheißen oder mißbilligt werde. Denn nur dann wird der Souverän zur A. schreiten, wenn nach seiner Überzeugung die Volksvertretung den Majoritätswillen des Volks nicht voll und ganz zum Ausdruck bringt, so daß von den Neuwahlen eine [62] Abhülfe in dieser Hinsicht erwartet wird. Freilich ist die Möglichkeit eines Mißbrauchs dieser außerordentlichen Maßregel durchaus nicht ausgeschlossen. Durch die A. werden nur die gewählten Mitglieder der Kammer und nicht diejenigen getroffen, welche kraft erblichen Rechts oder auf Grund einer Ernennung auf Lebenszeit der Kammer, insbesondere der Ersten Kammer, in Preußen dem Herrenhaus, angehören. Die A. bewirkt den Schluß der Session und die Neuwahl auf eine anderweite volle Legislaturperiode. Nur ausnahmsweise (in Oldenburg und Sachsen-Koburg-Gotha) findet sich die Bestimmung, daß die an die Stelle des aufgelösten Landtags tretende Körperschaft bloß für den Rest der Legislaturperiode der aufgelösten Kammer fungieren soll. Regelmäßig ist in den Verfassungsurkunden eine bestimmte Frist vorgesehen, binnen deren im Fall einer A. die Neuwahlen vorgenommen, sowie eine weitere Frist, innerhalb deren die neugewählten Volksvertreter versammelt werden müssen. So sind in Preußen die Wähler binnen 60 und die Kammern binnen 90 Tagen nach der A. zu versammeln (Verfassungsurkunde, Art. 53). Diese Bestimmung ist auch in die deutsche Reichsverfassung (Art. 25) übergegangen. Die A. des Reichstags (Art. 24) setzt einen Beschluß des Bundesrats und die Zustimmung des Kaisers voraus.
Auflösung, in der Medizin eine gewisse Zersetzung des Bluts (s. Septichämie); dann das allmähliche Sinken der Kräfte und das Herannahen des Todes; manche Erweichungsvorgänge, z. B. die Verfettung und Verflüssigung von krankhaften Ausschwitzungen und deren Aufsaugung (s. Resorption); endlich bedient man sich des Ausdrucks A. auch in der Therapie, indem man von auflösenden Mitteln (Resolventia) spricht. Solche sind entweder Hustenmittel, wie Ipekakuanha, Senega, Salmiak, Liquor ammonii anisatus, Brechweinstein etc., oder abführende Mittel (s. d.).
In der Technik ist A. ein Mühlenprodukt (s. Mühlen). – Über A. in der Chemie s. Lösung.
In der Mathematik versteht man unter A. das Verfahren, wodurch das Gesuchte in einfachster Form erhalten wird. Man unterscheidet geometrische Auflösungen, bei welchen das Gesuchte durch eine konstruktive, arithmetische, bei welchen es durch Rechnung, und gemischte, bei denen es teils durch Rechnung, teils auf dem Weg der Konstruktion erhalten wird. Eine empirische A. erhält man durch Versuche, wenn man z. B. eine Gerade durch Probieren mittels Zirkels und Lineals in zwei Hälften teilt. Von dieser letzten Auflösungsweise verschieden ist die mechanische, bei welcher man sich gewisser Werkzeuge bedient, um geometrische Konstruktionen unmittelbar auszuführen, z. B. des Zirkels, um einen Kreis, eines Ellipsographen, um Ellipsen zu zeichnen, etc.
In der Musik ist A. (Resolution) die befriedigende Fortschreitung eines dissonanten Akkords. Je nach der Art der Dissonanz kann auch die A. eine sehr verschiedene sein. Vorhaltsdissonanzen lösen sich meist durch Vertauschung des Vorhaltstons mit der vorgehaltenen Akkordnote; alterierte Akkorde fordern dagegen das Fortschreiten zu einem andern Klang, welchem der Ton angehört, zu welchem die eingeführte chromatische Note im Leittonverhältnis steht, z. B. c e ♯g – c f a (♯g a). Die Durakkorde mit kleiner Septime schreiten in der Regel nach dem Durakkord oder Mollakkord fort, der eine Quinte tiefer seinen Sitz hat, d. h. wirken als Oberdominante; dagegen haben die Durakkorde mit Sexte und die Mollakkorde mit Unterseptime oder -Sexte meist Unterdominantbedeutung, d. h. schreiten weiter zur Oberdominante fort oder machen einen Plagalschluß zur Tonika. Andre Fortschreitungen als die bezeichneten natürlichen und erwarteten wirken als Trugschlüsse oder Aufhaltungen. Vgl. Akkord. Außerdem versteht man unter A. auch die Wiederaufhebung von Versetzungszeichen (♯, ♭, ×, ♭♭); das Zeichen, welches diese A. fordert, heißt Auflösungszeichen (♮).