MKL1888:Dionysios

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Dionysios“ in Meyers Konversations-Lexikon
Seite mit dem Stichwort „Dionysios“ in Meyers Konversations-Lexikon
Band 4 (1886), Seite 994996
Mehr zum Thema bei
Wiktionary-Logo
Wiktionary:
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Indexseite
Empfohlene Zitierweise
Dionysios. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 4, Seite 994–996. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Dionysios (Version vom 10.05.2023)

[994] Dionysios, 1) D. I., der ältere, Tyrann von Syrakus, geb. 431 v. Chr., Sohn eines armen Maultiertreibers, war in seiner Jugend Schreiber, nahm aber gleichzeitig am politischen Parteitreiben teil und schloß sich der Partei des Hermokrates an, zu deren kühnsten und tapfersten Führern er gehörte. Er klagte 406 nach der Zerstörung Agrigentums durch die Karthager die dorthin zu Hilfe geschickten Feldherren an und erreichte mit Hilfe des Hipparinos und des reichen Geschichtschreibers Philistos die Absetzung derselben, worauf er selbst zum Heerführer gewählt und mit einer Expedition nach Gela zum Schutz dieser Stadt gegen Karthago beauftragt wurde. Hier stürzte er die Oligarchen und gewann mit deren Gelde die Söldner für sich; darauf kehrte er nach Syrakus zurück, ließ seine Mitfeldherren absetzen, umgab sich mit einer Leibwache und bemächtigte sich der Burg auf der Insel Ortygia. Gestützt auf die Söldner und auf die Hermokratische Partei, die er durch Zurückberufung aller Flüchtlinge und Verbannten verstärkte und dadurch an sich kettete, daß er die Tochter des Hermokrates heiratete, herrschte er nun als Tyrann mit unbeschränkter Machtvollkommenheit über die Stadt. Als er nach einem unglücklichen Feldzug gegen Karthago diesem Gela und Camarina preisgeben mußte, brach zwar 405 in Syrakus ein Aufstand gegen ihn aus; doch gelang es ihm mit Hilfe der Söldner, denselben zu bewältigen und mit dem Vermögen der getöteten oder geflüchteten Bürger seine Herrschaft noch fester zu begründen. Darauf schloß er einen Frieden mit den Karthagern, der ihm den Besitz der Ostküste Siziliens sicherte, und verstärkte Ortygia durch die Anlage der großen Feste Hexapylon. Ein neuer Aufstand im Heer, als er 403 die Stadt Herbessos belagerte, zwang ihn zur Flucht nach Ortygia, wo er sich so lange behauptete, bis ihm kampanische Söldner zu Hilfe kamen. Nun unterwarf er die Stadt von neuem und entwaffnete die Bürger. Darauf bemächtigte er sich 401 der Städte Naxos und Catana und unternahm, nachdem er Syrakus mit einer neuen hohen Quadermauer, welche auch die Vorstädte Tycha und Epipolä umfaßte, umgeben und ein Heer von 80,000 Mann sowie eine Flotte von 300 großen Kriegsschiffen ausgerüstet hatte, wofür er das Geld durch Erpressungen und Tempelraub sich verschaffte, 397 einen Krieg gegen Karthago, um ganz Sizilien demselben zu entreißen. Zwar eroberte er Motye, aber 395 erlitt seine Flotte eine Niederlage bei Catana. D. wurde von dem karthagischen Feldherrn Himilko in Syrakus eingeschlossen und hart bedrängt, bis das feindliche Heer durch eine Seuche heimgesucht wurde und 394 abzog. Nun erweiterte D. seine Macht durch [995] Kriegszüge gegen die griechischen Städte in Sizilien und Unteritalien, eroberte Tauromenion, Kroton und Rhegium, dessen Bürger wegen höhnischer Zurückweisung der Werbung des D. um eine Rhegierin grausam bestraft wurden, plünderte im Bund mit den Galliern zahlreiche Städte in Etrurien und gründete am Adriatischen Meer mehrere Militärkolonien. Mit den Karthagern schloß er 383 nach wechselvollen Kämpfen Frieden und überließ ihnen Sizilien westlich vom Halykos. Auch in Griechenland suchte er Einfluß zu gewinnen, indem er die Spartaner gegen Theben und Athen mit gallischen und spanischen Söldnern unterstützte und 384 eine prächtige Festgesandtschaft zu den Olympischen Spielen schickte; doch wurden seine Chorgesänge von den Griechen in Olympia verhöhnt und ausgezischt, und die Gesandtschaft kehrte ohne Siegeskranz zurück. Als aber die Athener 367 seiner Tragödie „Hektors Lösung“ am Feste der Lenäen den ersten Preis erteilten, freute er sich so sehr, daß er ein großes Trinkgelage veranstaltete und an den Folgen desselben (oder nach andern an einem von seinem Sohn gereichten Gifttrank) starb, nachdem er 38 Jahre über Syrakus geherrscht. D. war ein tapferer, kühner Mann, mäßig in sinnlichen Genüssen und edler Regungen fähig, dabei klug und witzig. Herrschaft und Ruhm waren das Ziel, nach dem er unablässig strebte, und das zu erreichen er kein Mittel der Grausamkeit und Raubsucht scheute. Die Hinterlist und Gewaltthätigkeit, mit der er die Herrschaft erlangt hatte, sowie seine Eitelkeit machten ihn aber auch argwöhnisch und launisch. Ein unbedachtes Wort konnte seine vertrautesten Genossen in Gefahr bringen, wie er denn selbst seinen Freund Philistos verbannte, den Dichter Philoxenos wegen eines ungünstigen Urteils über seine Gedichte in die Steinbrüche werfen und den Philosophen Platon, durch ein freimütiges Wort desselben beleidigt, als Sklaven verkaufen ließ. Über seine Furcht vor Nachstellungen, seine Mittel, sich davor zu schützen (wie das „Ohr des D.“), und sein Bewußtsein von der Jämmerlichkeit eines solchen mißtrauischen, in steter Furcht schwebenden Lebens (Schwert des Damokles) erzählten die Alten viele Anekdoten.

2) D. II., Sohn des vorigen und der Lokrerin Doris, war talentvoll und höherer Regungen fähig, erhielt aber absichtlich eine schlechte Erziehung, da der tyrannische Vater fürchtete, der Jüngling möchte vor der Zeit nach der Herrschaft streben. Er hatte sich daher früh gewöhnt, der Genußsucht zu frönen und allen Launen nachzugeben. Erst nach seinem Regierungsantritt 367 v. Chr. suchte ihm sein Schwager Dion für wissenschaftliche Studien Interesse einzuflößen, was ihm besonders durch die Berufung Platons gelang. Bald aber erhielten Philistos und Aristippos, Männer von unedler Denkart, Einfluß auf den jungen Herrscher; Dion wurde 366 verbannt, und Platon verließ 365 Sizilien wieder. Zwar ließ sich derselbe durch D.’ Drängen bewegen, 361 nochmals nach Syrakus zu kommen; doch war sein Aufenthalt fruchtlos und endete schon 360. Als Regent und Krieger zeigte D. anfänglich Geschick und guten Willen, auch stand das Glück ihm zur Seite. Der Krieg gegen die Lukaner endigte mit einem für ihn vorteilhaften Frieden. D. befestigte hierauf mehrere Punkte am Adriatischen Meer und besiegte die illyrischen Seeräuber. Aber in Syrakus verlor er durch seine Schwelgerei und seinen Despotismus die Volksgunst und wurde 357 von Dion vertrieben, worauf er in Lokroi Epizephyrioi, der Heimat seiner Mutter, Zuflucht suchte. Die freundliche Aufnahme, die er dort fand, mißbrauchte er, um sich zum Herrn der Stadt aufzuwerfen und die ärgsten Gewaltthätigkeiten gegen die Einwohner, namentlich gegen edle Jungfrauen, auszuüben. Der Tod des Dion (s. d.) und die darauf in Syrakus ausgebrochenen Unruhen veranlaßten ihn, nach zehnjährigem Exil 346 einen Angriff auf jene Stadt zu versuchen. Das Unternehmen gelang, und nachdem er seinen Stiefbruder Nysäos, der sich der Herrschaft bemächtigt hatte, vertrieben, kam aufs neue die höchste Gewalt in seine Hand. Die unerhörte Strenge, mit welcher er nun verfuhr, trieb viele Bürger zur Flucht; bald aber kehrten dieselben unter Timoleon von Korinth 343 zurück, und ihre Schar wuchs bald zum mächtigen Heer heran, dem D. sich und seine Schätze überliefern mußte. Timoleon sandte ihn nach Korinth, wo er fortan als Privatmann lebte. Auch hier seinem Hang zu einem verschwenderischen, unordentlichen Leben frönend, soll er zuletzt teils durch Betteln, teils durch den Unterricht der Kinder sein Leben gefristet haben.

3) D. der Periegēt, griech. Geograph des 3. Jahrh. n. Chr., von unbekannter Herkunft, beschrieb (nach Eratosthenes) in Hexametern die Hauptmeere und die merkwürdigern Küstenländer und Inseln der damals bekannten Welt. Sein trefflich angelegtes und durch Reinheit und Eleganz der Sprache ausgezeichnetes Gedicht („Periegesis“) wurde vielfach (besonders von Eustathios) kommentiert, von Rufus Festus Avienus im 4. Jahrh. n. Chr., dann auch von Priscian im Anfang des 6. Jahrh. in lateinische Verse übertragen und war noch lange im Mittelalter ein geschätztes und häufig kommentiertes Lehrbuch. Neuere Ausgaben besorgten Passow (Leipz. 1825), Bernhardy (das. 1828), Müller (in den „Geographi graeci minores“, Bd. 2, Par. 1861) und Wescher („De Bospori navigatione quae supersunt“, das. 1874); eine Übersetzung Bredow (in seinen „Nachgelassenen Schriften“, Bresl. 1826).

4) D. Thrax (der „Thraker“), griech. Grammatiker um 100 v. Chr., Aristarchs Schüler, Verfasser eines kleinen grammatischen Lehrbuches („Techne grammatike“), des ältesten seiner Art. Das Werkchen ist gewissermaßen die Grundlage aller europäischen Grammatiken, jedoch nur in stark interpolierter Gestalt erhalten. Beste Ausgabe ist die von Uhlig (Leipz. 1884).

5) D. aus Halikarnassos, römischer, griechisch schreibender Historiker, kam 29 v. Chr. nach Rom, wo er mit vielen angesehenen Männern verkehrte und als Rhetor lehrte und schrieb, hauptsächlich aber sein großes historisches Werk verfaßte, welches er 7 v. Chr. vollendete. Er starb wahrscheinlich bald danach. Wir besitzen von ihm mehrere Schriften rhetorischen und litterarhistorischen Inhalts und eine Geschichte Roms, die jedoch nicht vollständig erhalten ist. Die erstern, die man unter dem Namen der rhetorischen Schriften zusammenzufassen pflegt, bestehen teils in Abhandlungen über einzelne Teile der Rhetorik, teils in Betrachtungen über angesehene Schriftsteller der ältern Zeit und legen für seine Kenntnis und sein Urteil im ganzen ein günstiges Zeugnis ab. Seine Geschichte Roms, von ihm selbst römische Archäologie genannt, bestand ursprünglich aus 20 Büchern, welche die Geschichte von der ältesten Zeit bis zum ersten Punischen Krieg (264) umfaßten; es sind aber davon nur die 10 ersten Bücher und ein Teil des 11. erhalten, welche bis 443 reichen. Sie ist hauptsächlich für Griechen bestimmt, denen der Beweis geliefert werden soll, daß die Römer griechischen Ursprungs und ihr Charakter und ihre Einrichtungen wesentlich griechisch seien, eine Tendenz, die nicht ohne nachteilige Einwirkung auf die Auffassung und Darstellung der römischen Dinge bleiben konnte; auch werden dem [996] Verfasser mit Recht die langen Reden, in denen er sich als Redekünstler zu zeigen sucht, und die weitläufigen politischen, oft eine große Unkenntnis verratenden Betrachtungen zum Vorwurf gemacht; gleichwohl ist das Werk von nicht geringem Werte, da es auf der Benutzung zahlreicher älterer Quellenschriftsteller beruht und neben Livius die einzige zusammenhängende Darstellung der ältesten römischen Geschichte bildet. Die erste Ausgabe des Originals erschien zu Paris 1546 und 1547 von R. Stephanus, sie enthält aber nur die 10 ersten Bücher der Archäologie und einen Teil der rhetorischen Schriften. Vollständig sind die Ausgaben von Sylburg (Frankf. 1586, mit lateinischer Übersetzung), von Reiske (Leipz. 1774 bis 1776, 6 Bde.), von welcher letztern der Tauchnitzsche Text (das. 1823, 6 Tle.) ein Abdruck ist, Schwartz (Utrecht 1877) und Jacoby (Leipz. 1885 ff.). Die Archäologie allein ist in neuerer Zeit herausgegeben von Kießling (Leipz. 1860–70), übersetzt ist dieselbe von Schaller und Christian (Stuttg. 1827–50, 12 Bdchn.). Von Ausgaben einzelner Schriften sind hervorzuheben: „Dionysii historiographica“ von Krüger (Halle 1823); „De compositione verborum“ von Göller (Jena 1815) und von Hanow (Leipz. 1868). Die Fragmente sind von Müller (Par. 1848) herausgegeben. Vgl. Weismann, De Dionysio Halic. vita et scriptis (Rinteln 1837); Lors, De Dion. H. etc. (Trier 1840); Kießling, De Dionysii Halic. antiquitatum auctoribus latinis (Leipz. 1858); Jacoby, Die Sprache des D. (Aarau 1874).

6) D. Areopagita, Beisitzer des Areopaggerichts zu Athen, wird Apostelgesch. 17, 34 als vom Apostel Paulus zu Athen für das Christentum gewonnen genannt und soll nach der Tradition als Bischof zu Athen hingerichtet worden sein. Der heil. D. von Paris, welcher nach seiner Enthauptung mit dem Kopf in der Hand noch bis zu dem nach ihm genannten St.-Denis gegangen sein soll und am 9. Okt. in Frankreich verehrt wird, ist eine ganz andre Person und gehört wahrscheinlich dem 3. Jahrh. an. Berühmt wurde der Name des D. durch eine Anzahl ihm zugeschriebener Schriften, welche dem Gebiet der theosophischen Mystik angehören und nicht lange vor ihrer ersten Erwähnung 533 entstanden sein können. Dieselben stellen eine durchgängige Umsetzung der christlichen Dogmatik in die neuplatonische Spekulation dar und leiten die vollkommene Gnosis, die sie versprechen, unmittelbar aus der angeblichen Erfahrung einer im Innern sich vollziehenden realen und übernatürlichen Einigung mit der „überwesentlich übererhabenen Übergottheit“ ab. Durch Joh. Scotus Erigena, der ihnen vieles entlehnte, wurden dieselben ins Lateinische übersetzt. Mit der abendländischen Mystik, deren Grundlage sie bilden, mischte sich seitdem pantheistische Sympathie. Die Normalausgabe der Werke des D. lieferte Balthasar Corderius (Antwerpen 1634, 1644 u. öfter, 2 Tle.). Eine deutsche Übersetzung mit Abhandlung gab Engelhardt (Sulzb. 1823, 2 Tle.) heraus. Vgl. Hipler, D., der Areopagite (Regensb. 1861); Schneider, Areopagitica (das. 1884).

7) D. der Große (D. von Alexandria), der bedeutendste Schüler des Origenes, seit 232 Vorsteher der Katechetenschule zu Alexandria und hierauf seit 247 Bischof daselbst, wurde in den Christenverfolgungen unter Decius und Valerian mehrmals verbannt; starb 264 n. Chr. Er war nach der praktischen Seite hin begabter als sein Lehrer, welchen er durch Schrift und Wort verteidigte. Er bekämpfte die Chiliasten und sprach die Apokalypse dem Apostel Johannes ab; in der Dogmatik wurde er Vorgänger des Arius. Vgl. Dittrich, D. der Große von Alexandria (Freiburg 1867); Förster in der „Zeitschrift für historische Theologie“ 1871; P. Morize, Denis d’Alexandrie (Par. 1881).