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MKL1888:Flechten

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Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Flechten“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 6 (1887), Seite 350355
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Flechten. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 6, Seite 350–355. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Flechten (Version vom 13.04.2024)

[350] Flechten (Lichenen, Lichenes), kryptogamische Gewächse, zu den Thallophyten gehörig, früher als selbständige Klasse betrachtet, neuerdings als eigentümliche Doppelorganismen erkannt, die aus chlorophyllhaltigen Algen und auf ihnen schmarotzenden Pilzen bestehen. Der Körper der F. (Lager, Thallus) besteht nämlich aus zwei Elementen durchaus verschiedenen Ursprungs: aus fadenförmigen, chlorophyllfreien Pilzhyphen, die zugleich Fruktifikationsorgane von der Art der Disko- und Pyrenomyceten (s. Pilze) erzeugen, und chlorophyllhaltigen, durchaus mit bestimmten Algengattungen identischen Zellen (Gonidien), die das nährende Substrat für die parasitisch sie umstrickenden Pilzfäden abgeben und mit diesen gemeinsam zu gesetzmäßigen, für die einzelne Spezies charakteristischen Formen auswachsen. Für diese Formen hat man folgende Typen aufgestellt: 1) Der strauchförmige Thallus ist nur an seiner Basis angewachsen und erhebt sich in stengel- oder blattähnlicher, meist strauchartig verästelter Gestalt (Fig. 1). 2) Der laub- oder lagerförmige Thallus ist blattartig flach und dünn, der Unterlage allenthalben anliegend, doch so, daß er nur an einzelnen Stellen lediglich durch Haftfasern mit ihr zusammenhängt und daher ohne Zerstörung sich ablösen läßt (Fig. 2 u. 3). Bei manchen Cladonia-Arten erheben sich von dem kleine Schüppchen bildenden laubförmigen Thallus aufrechte, nach Art des strauchförmigen Thallus wachsende, oben oft becherförmige Stiele (Gestelle, Podetien), auf welchen die Apothecien sich entwickeln (Fig. 4). 3) Der krustige Thallus bildet eine das Substrat überziehende oder auch in demselben sich ausbreitende und mit ihm überall fest zusammenhängende, daher nicht ohne Zerstörung abtrennbare Kruste (Fig. 5). Hinsichtlich der anatomischen Struktur kennt man zwei Arten des Flechtenthallus. [351] Bei dem geschichteten (heteromeren) Thallus unterscheidet man auf dem Durchschnitt (Fig. 6) die Rindenschicht, welche aus innig verflochtenen

Fig. 2. Fig. 5.
Fig. 3.
Fig. 4.
Fig. 1.
Fig. 1. Strauchförmiger Thallus der Renntierflechte (Cladonia rangiferina). – Fig. 2. a Laubförmiger Thallus von Obryzum corniculatum; b stark vergrößerte Sporen; c Apothecien. – Fig. 3. Laubförmiger Thallus der Schildflechte (Parmelia conspersa). – Fig. 4. Säulchenflechte (Cladonia fimbriata) mit Podetien; a ohne, b mit Apothecien. – Fig. 5. a Krustenartiger Thallus der Schriftflechte (Graphis scripta); b schwach vergrößert; c Spore, 1000fach vergrößert.

Pilzhyphen besteht und daher ein scheinbares Parenchym darstellt (aa); die Gonidienschicht (gonimische Schicht), welche unterhalb der Rindenschicht liegt, und in welcher außer Hyphen, die von der Rinden- zur Markschicht verlaufen, die Gonidien und die chlorophyllhaltigen Algenzellen enthalten sind (g); endlich die Markschicht, ein wiederum nur aus Pilzhyphen bestehendes, meist lockeres, lufthaltiges Gewebe (m), welches im strauchartigen Thallus den innern, im laub- und krustenartigen den untern, dem Substrat anliegenden Teil ausmacht. An der Unterseite des laubartigen Thallus befinden sich die Haftfasern, dickere oder dünnere Hyphenbündel (rr), welche mit ihren Enden in das Substrat eindringen und dadurch den Thallus befestigen. Das Wachstum des geschichteten Thallus erfolgt durch Zunahme an den Spitzen, bez. an den Rändern und beruht im allgemeinen darauf, daß hier die Hyphen sich verlängern und durch Verzweigung neue zwischen sich erzeugen; die Gonidien sind hier nur als isolierte Zellen oder Zellengruppen zwischen die Hyphen eingestreut, gleichsam wie fremde Bestandteile nisten sie zwischen denselben und vermehren sich nur entsprechend der Zunahme des Thallus. Bei den F. mit ungeschichtetem (homöomerem) Thallus sind die Gonidien nicht auf eine besondere Schicht beschränkt, sondern, mit den Hyphen gemengt, gleichmäßig im ganzen Thallus verbreitet (Fig. 7 I). Hierher gehört der Thallus der Gallertflechten, welcher blattartige, meist unregelmäßig krause Gestalt und gallertartige Beschaffenheit besitzt. Seine Gonidien (Fig. 7 II) entsprechen genau gewissen Algengattungen, zumal dem Nostoc; auch rührt die gallertartige Substanz dieser F., wie

Fig. 6.
Durchschnitt durch den geschichteten Thallus einer Laubflechte (Sticta fuliginosa), 500fach vergrößert.

bei Nostoc etc., von den aufgequollenen Membranen derselben her, und ihre Vermehrung bedingt hier allein das Wachstum der Flechte, während die Hyphen den untergeordneten Bestandteil ausmachen, indem sie nur nach allen Richtungen hin in der Gallerte der Gonidien wuchern. Bei den Fadenflechten (Byssacei) besteht die Gonidienunterlage aus einer sich verzweigenden Fadenalge, die von zarten Fäden, den Pilzhyphen, umflochten wird, so z. B. bei Ephebe und dem auf Baumrinde in Südamerika lebenden Coenogonium. Noch merkwürdiger sind die Verhältnisse bei einigen rindenbewohnenden Graphideen, wie Graphis scripta Ach. und Arthronia vulgaris Ach., bei welchen zwei durchaus verschiedene Lebensstadien nacheinander auftreten. Zuerst entwickelt sich ein unter der Baumrinde wachsender gonidienloser Thallus von Pilzhyphen, der sich zentrifugal ausbreitet; [352] im zweiten Stadium wandern dann in diesen Pilzthallus Algenfäden der Gattung Chroolepus durch die Rindenschichten ein, und dann erst ist die Flechte zur Fruktifikation befähigt. Eine andre Arthronia-Art (A. epipasta Körb.) ist sogar zeitlebens gonidienlos und enthält keine Spur von algenartigen Elementen. Dieselbe bleibt also beständig ein echter saprophytischer Pilz, während die vorher genannte Art

Fig. 7 I. Fig. 7 II.
I. Längsschnitt durch den ungeschichteten Thallus einer Gallertflechte (Mallotium Hildenbrandii).
II. Stück desselben, welches die Hyphen und die nostocartigen Gonidien a zeigt.

zuerst saprophytischer Pilz, dann auf einwandernden Algen wachsender Parasit ist. Die meisten übrigen F., die ohne Algen sich nicht entwickeln können, sind zeitlebens Parasiten.

Die Fortpflanzungsorgane der F. (Fruchtlager, Apothecien) enthalten in großer Anzahl die Sporenschläuche

Fig. 8. Fig. 9.
Senkrechter Durchschnitt eines Apotheciums von Hagenia ciliaris, 60fach vergrößert. Apothecium von Hagenia ciliaris, 500fach vergrößert.

(asci), in denen die Sporen erzeugt werden. Sie treten aber in zwei verschiedenen Formen auf, und man unterscheidet danach die F. in gymnokarpe und angiokarpe. Die Apothecien der gymnokarpen F. sind den Fruchtkörpern der Diskomyceten unter den Pilzen (s. d.) gleichende, meist runde, schüssel-, bisweilen auch knopfförmige, gewöhnlich eigentümlich gefärbte Gebilde, welche in der Regel in großer Anzahl auf dem Thallus vorkommen, bei den strauchförmigen F. die Ränder oder Spitzen (Fig. 4b), bei den laub- und krustenförmigen die Oberseite des Thallus einnehmen (Fig. 2 u. 3). Die Apothecien der Graphideen haben längliche bis strichförmige Gestalt, denen von Hysterium unter den Diskomyceten analog (Fig. 5b). Die meist gefärbte, außen frei liegende Scheibe des Apotheciums wird gebildet von der Hymeniumschicht (Fig. 8h); unter derselben befindet sich eine aus feinen Hyphen bestehende Schicht (Excipulum y); oft ist die Scheibe von Thallusmasse (tt) rings umwallt (r Rinde-, g Gonidien-, m Markschicht). Die Hymeniumschicht besteht aus den dicht gedrängt stehenden Sporenschläuchen (Fig. 9; 1 und 2 Sporenschläuche mit beinahe reifen Sporen) und den zwischen diesen vorkommenden fadenförmigen Paraphysen, die mit ihren gefärbten Spitzen (p) etwas über die Sporenschläuche herausragen. Letztere sind, wie bei den Diskomyceten, schlauch- oder keulenförmige Zellen, in denen sich durch freie Zellbildung meist je acht Sporen erzeugen. Die Apothecien der angiokarpen F. sind runde Behälter, welche dem Thallus eingesenkt sind und nur mit dem an ihrem Scheitel befindlichen Mündungskanal frei liegen. Sie gleichen den Perithecien der Pyrenomyceten unter den Pilzen (s. d.) auch darin, daß ihr schwarzes Gehäuse einen farblosen Kern umschließt, welcher aus Sporenschläuchen und Paraphysen besteht, die aus der Innenwand des Apotheciums entspringen. Bei den meisten F. werden in jedem Sporenschlauch je acht Sporen gebildet, die nach erlangter Reife herausgeschleudert werden. – Bei zahlreichen F. hat man noch ein zweites Fruchtorgan, die sogen. Spermogonien, den gleichnamigen Organen bei den Pilzen durchaus gleiche Gebilde, gefunden, die sehr kleine, im Thallus eingesenkte Behälter darstellen, deren Mündungskanal als punktförmige, dunkle Papille oberflächlich sichtbar ist. In demselben werden zahlreiche Spermatien erzeugt, von denen ebensowenig wie bei den Pilzen eine Keimung und Weiterentwickelung bekannt ist, in denen man aber neuerdings die befruchtenden männlichen Elemente erkannt hat, durch welche gewisse weibliche Zellen zur ersten Anlage eines Apotheciums angeregt werden. Nach Beobachtungen von Stahl an Gallertflechten (Collema) entsteht bei denselben (Fig. 10) die erste Anlage der Fruktifikationsorgane, das Karpogon, als spiralig gekrümmter Hyphenast (Askogon), der sich in einen geraden cylindrischen Teil, die Trichogyne, fortsetzt (Fig. 10 B); letzterer wächst gegen die Thallusoberfläche und ragt zuletzt mit klebriger Spitze über dieselbe hervor (Fig. 10 A bei a). Die in den Spermogonien erzeugten männlichen Zellen gelangen durch Vermittelung von Wasser zu den Trichogynespitzen, haften an denselben fest (Fig. 10 C) und werden durch eine kurze [353] Kopulationsbrücke mit denselben verbunden. Durch diesen Befruchtungsakt treten bestimmte Veränderungen in der Trichogyne und dem Askogon ein; letzteres wächst fortgesetzt weiter u. erzeugt schließlich als Zweige erster und höherer Ordnung die Sporenschläuche (Fig. 11), während die Paraphysen aus Hyphen hervorgehen, die schon vor der Befruchtung als dichte Fadenknäuel die jungen Fruchtanlagen umsponnen hatten.

Bei den meisten heteromeren F. findet auch eine vegetative Vermehrung statt durch die sogen. Soredien (soredia, soreumata), Häufchen krümeliger

Fig. 10.
Befruchtungsorgane von Collema.
A Querschnitt des Thallus mit hervorragender Trichogynespitze (a); g Gonidien; h Pilzhyphen. B Junges Karpogon mit Askogon und Trichogyne. C Trichogynespitze mit Spermatien.
Fig. 11.
Junges Apothecium von Collema, das aus einem befruchteten Karpogon der Fig. 10 hervorgeht; im Innern des Apotheciums dichte Paraphysen und drei junge Sporenschläuche, im Umkreis bei g Gonidien und bei h Pilzhyphen.

oder staubartiger Massen, welche an der Oberfläche des Thallus zum Vorschein kommen. Dieselben bestehen aus Gonidien, welche einzeln oder gruppenweise von einem dichten Geflecht von Hyphen umsponnen sind; sie entstehen in der Gonidienschicht aus den gewöhnlichen Gonidien und den diese begleitenden Hyphen und brechen infolge ihrer Vermehrung aus dem Thallus hervor. Ihre Vermehrung geschieht, indem aus ihren Gonidien durch Teilung neue entstehen und um dieselben neue Hyphenhüllen sich ausbilden. Wenn Soredien auf eine geeignete Unterlage kommen, so entwickeln sie sich selbständig weiter zu einem neuen Flechtenthallus, demjenigen gleich, aus welchem sie abstammen. An schattigen und geschützten Orten bilden sie sich nur als solche fort; es entsteht ein staubartiger Thallus, der oft weite Strecken überzieht, aber in diesem Zustand keine Apothecien erzeugt. Erst wenn die äußern Bedingungen hierfür günstig werden, entwickelt sich aus ihnen der normale Thallus der Flechte.

Die Flechtengonidien gleichen gewissen Algen vollständig; sie bilden bei den meisten F. kugelförmige Zellen, welche sich innerhalb des Thallus durch wiederholte Teilung (Fig. 12; g, g′, g″ verschiedene Teilungsgrade) vermehren und nach allen Merkmalen den

Fig. 12.
Gonidien von Usnea barbata, stark vergr.

einzelligen Algengattungen Cystococcus u. Pleurococcus entsprechen. Besonders häufig bei Laub-, Strauch- und Krustenflechten tritt Cystococcus humicola Näg. als Gonidien bildend auf. Gewisse Gattungen der Gallertflechten, zumal Collema, haben blaugrüne, runde Gonidien, welche zu gekrümmten, perlschnurförmigen Reihen verbunden sind, in denen einzelne farblose, inhaltleere Zellen, die Grenzzellen, auftreten, welche teilungsunfähig sind, während alle blaugrünen Zellen durch Querteilung sich vermehren und dadurch das Wachstum der in die Gallerte ihrer aufgequollenen Zellmembranen eingebetteten Zellschnüre

Fig. 14.
Zweig des Thallus von Ephebe pubescens, 550fach vergrößert.
Fig. 13.
Gonidien einer Schriftflechte (Graphis scripta).

bedingen (Fig. 7 II). Hiernach sind diese Gonidien mit der Algengattung Nostoc genau identisch. Die ebenfalls blaugrünen Gonidien von Peltigera canina erscheinen einzeln oder zu kurzen Reihen ohne Gliederzellen verbunden und mit Gallerthülle, entsprechend denen der Algengattung Polycoccus. Ähnliche Gonidien, welche mit der Alge Gloeocapsa übereinstimmen, zeigt Omphalaria. Noch frappanter sind die Beziehungen bei den meisten Graphideen, indem ihre Gonidien, ästige Zellreihen mit durch rotes Öl gefärbtem Zellinhalt (Fig. 13), sogar mit einer höhern Algengattung, Chroolepus, identisch sind, und die eigentümliche Flechtengattung Ephebe ist eigentlich nichts weiter als eine Alge, Sirosiphon, deren verzweigte Zellreihen von Hyphen umwachsen sind (Fig. 14; gs ein aus Gonidien bestehender Faden, durch Teilung der Gonidien [g] an der Spitze wachsend, [354] bei a sich verzweigend; h die auf und durch den Algenfaden wachsenden Hyphen). Auch Gonidien, die mit Algengattungen aus der Abteilung der Konfervaceen, Koleochäten, Rivularieen und Scytonemaceen übereinstimmen, sind nachgewiesen. Schon ältere Botaniker hielten daher gewisse Algen, wie die an Baumrinden etc. häufig auftretenden Cystococcus, Pleurococcus, Chroolepus, desgleichen Nostoc, für nichts weiter als frei gewordene und selbständig vegetierende Flechtengonidien. Nachdem durch Famintzin, Baranetzky, Bornet u. a. der direkte Nachweis geliefert war, daß die grünen Gonidien mehrerer F., wenn sie aus dem Thallus befreit sind, auf feuchter Unterlage wie Algen fortleben und dabei sogar gleich diesen Schwärmsporen erzeugen, trat Schwendener mit der jetzt allgemein angenommenen Theorie auf, nach welcher die F. keine selbständigen Pflanzen, sondern Algen sind, auf denen Pilze schmarotzen. Diese Theorie wird durch zahlreiche Thatsachen und direkte Kulturversuche bewiesen. Die Hyphen des Flechtenthallus und die mit ihnen anatomisch und genetisch zusammenhängenden Apothecien und Spermogonien sind ausschließlich nur bei Pilzen vorkommende Organe. Die Gonidien sind als die einzigen chlorophyllhaltigen Zellen der F. wirklich die Ernährungsorgane für die Hyphen, Apothecien etc. Sie liegen auch meist frei, gleichsam als fremde Bestandteile zwischen den Hyphen, und wo man sie mit solchen im Zusammenhang gefunden (Fig. 12, h g), läßt sich nachweisen, daß die Verwachsung nachträglich zu stande gekommen ist. Grüne Pflanzen (hier Algen), wenn sie von parasitischen Pilzen befallen werden, erleiden ganz allgemein wesentliche Modifikationen ihres Wachstums und ihrer Gestalt, so daß auch die so eigentümlichen Gestalten des Flechtenthallus sich erklären lassen. Schlagend bewiesen wird die Doppelnatur der F. durch Kulturversuche. Rees sah nach Aussaat der Sporen einer Collema, d. h. einer Flechte mit nostocartigen Gonidien, auf reinen Nostoc aus letzterm eine Collema sich entwickeln, indem die aus den Sporen hervorgehenden Hyphen in dem Nostoc sich ausbreiteten, vermehrten und mit ihm als Flechte sich weiter entwickelten. Stahl erzog fruktifizierende Exemplare von Endocarpon pusillum Hedw. auf feuchten Lehmplatten, auf welche die Sporen nebst den Gonidien der Algengattung Pleurococcus ausgesäet worden waren; nach 4–6 Wochen traten in den jungen Flechtenlagern die ersten Spermogonien, bald darauf die ersten Perithecienanlagen auf, in welchen die Sporen aber erst nach 4–5 Monaten reiften. Demselben Forscher gelang es auch, auf denselben Gonidien von Endocarpon die Sporen einer andern Flechtengattung, des Thelidium minutulum Körb., zur Entwickelung zu bringen. Damit bewies er, daß die Gonidien und die sie umspinnenden Pilzfäden nicht in genetischem Zusammenhang stehen. Hiernach müssen die F. als parasitische Pyreno- und Diskomyceten diesen Abteilungen der Pilzklasse unmittelbar angeschlossen werden.

Als wesentliche chemische Bestandteile treten bei den F. auf: das Lichenin oder die Flechtenstärke, aus welcher ihre Hyphen bestehen, eigentümliche Flechtensäuren, welche oft schöne farbige Verbindungen geben, und Chromogene, aus denen gewisse benutzbare Farbstoffe dargestellt werden.

[Einteilung.] Man kennt etwa 1400 Arten F., die in 70–80 Gattungen verteilt sind; Acharius erhob die F. zu einer besondern Klasse und stellte das erste System derselben auf. Von den verschiedenen neuern Systemen, in denen bald die Beschaffenheit des Thallus, bald der Bau der Apothecien als erstes Einteilungsmoment angenommen wird, ist das von Fries aufgestellte am meisten berücksichtigt worden. Das von den meisten Lichenologen benutzte System ist folgendes:

I. F. mit heteromerem, selten homöomerem, nicht gallertartigem Thallus (Heteromerici):
A. Gymnocarpi, mit offenen, scheibenförmigen Apothecien, deren Fruchtscheibe, wenigstens im ausgebildeten Zustand, ausgebreitet ist, mit den Gruppen:
a) mit krustenförmigem Thallus: 1) Graphideae (Gattungen: Graphis Adans., Opegrapha Humb., Arthronia Ach.); 2) Calycieae (Gattungen: Calycium Pers., Coniocybe Ach.); 3) Baeomyceae (Gattung: Baeomyces Pers.); 4) Lecideae (Gattungen: Biatora Fr., Lecidea Ach.); 5) Lecanoreae (Gattungen: Lecanora Ach., Ochrolechia Mass., Placodium Hill.); 6) Umbilicarieae (Gattung: Umbilicaria Hoffm.);
b) mit laubartigem Thallus: 7) Parmeliaceae (Gattungen: Sticta Schreb., Parmelia Ach., Physcia Schreb.); 8) Peltideaceae (Gattung: Peltigera Willd.);
c) mit strauchartigem Thallus: 9) Ramalineae (Gattungen: Anaptychia Körb., Cetraria Ach., Evernia Ach., Ramalina Ach.); 10) Usneaceae (Gattungen: Cornicularia Ach., Bryopogon Lk., Usnea Dill.); 11) Roccelleae (Gattung: Roccella); 12) Cladoniaceae (Gattungen: Stereocaulon Schreb., Cladonia Hoffm.).
B. Angiocarpi, mit geschlossenen, an der Spitze mit einer Mündung versehenen, dem Thallus eingesenkte Behälter darstellenden Apothecien, mit den Gruppen:
a) mit krustenförmigem Thallus: 13) Pertusarieae (Gattung: Pertusaria DC.); 14) Verrucariae (Gattungen: Verrucaria Wig., Arthopyrenia Mass.); 15) Dacampieae (Gattung: Dacampia Mass.);
b) mit laubartigem Thallus: 16) Endocarpeae (Gattung: Endocarpon Hedw.);
c) mit strauchartigem Thallus: 17) Sphaerophoreae (Gattung: Sphaerophorus Pers.).
II. F. mit homöomerem, gallertartigem Thallus (Homoeomerici), die ebenfalls wieder in Angiocarpi und Gymnocarpi zerfallen und nach dem strauchartigen, laub- oder krustenförmigen Thallus in die Familien der Lichinaceae, Obryzeae, Porocypheae, Psorotichieae, Omphalarieae, Collemaceae, Leptogieae und Leothecieae geteilt werden.
III. Byssusflechten (Byssacei), die von Hyphen überzogene Fadenalgen darstellen und die Gattungen Coenogonium Ehrbg., Ephebe Fr., Thermutis Fr. u. a. umfassen.

[Verbreitung.] Die F. sind über die ganze Erde, vorzugsweise aber in den kalten und gemäßigten Zonen verbreitet; sowohl gegen die Pole hin als in den höhern Gebirgsregionen bis zur Grenze des ewigen Schnees finden sich noch zahlreiche Arten, die hier die letzten Spuren organischen Lebens darstellen. Sie lieben fast alle einen freien, dem Wetter und den Stürmen ausgesetzten Standort und kommen an den dürrsten Stellen fort; denn während langer Trockenheit erstarren sie vollständig, aber nach jedem Regen beleben sie sich von neuem. Manche wachsen auf nackter Erde, viele an der Rinde von Baumstämmen, an gezimmertem Holz, an Zäunen, auf Dächern, und eine sehr große Anzahl überzieht nacktes Gestein. Einige F. wachsen auf jedem Substrat, wohin sie der Zufall führte; die meisten aber lassen sich nach ihrem Vorkommen als Stein-, Erd- und Baumflechten unterscheiden, und viele Steinflechten sind sogar an bestimmte Gesteinsarten, wie an Urgebirge, Kalkgebirge etc., gebunden. Die an Baumstämmen lebenden sind nicht eigentliche Schmarotzer, denn sie sitzen nur an den äußern abgestorbenen Rindenteilen und kommen auch an andrer Unterlage vor; trotzdem schaden starke Flechtenüberzüge den Bäumen (s. Baumkrätze). Die steinbewohnenden F. bilden den ersten Anflug an den nackten Gesteinsflächen und bereiten hier den [355] Boden für die nachfolgende größere Vegetation, zunächst für Moose und kleinere Kräuter, vor. Dieser Lebensweise sind die F. fähig, weil sie ihre Nahrung vorzugsweise aus der Luft beziehen, indem sie vermöge ihres Chlorophyllgehalts aus Kohlensäure und Wasser sich ernähren können und aus der Unterlage nur die anorganischen Bestandteile aufzunehmen brauchen, die sich in ihrer Asche vorfinden.

Einen Nutzen gewähren die F. besonders im hohen Norden durch ihren Gehalt an Flechtenstärke (Lichenin) als Nahrungsmittel für Tiere und Menschen; auch wurden sie früher mehr als jetzt als Arzneimittel verwendet, während man jetzt die Flechtenstärke in Zucker umzuwandeln sucht und durch Gärung Spiritus daraus bereitet. Andre F. dienen zur Darstellung von Farbstoffen.

Vgl. G. F. W. Meyer, Entwickelung, Metamorphose und Fortpflanzung der F. (Götting. 1825); L. R. Tulasne, Mémoire pour servir à l’histoire organographique et physiologique des Lichens (in den „Annales des sciences naturelles“, 3. Serie, Bd. 17); De Bary, Morphologie und Physiologie der Pilze, F. und Myxomyceten (2. Aufl., Leipz. 1884); E. M. Fries, Lichenographia europaea reformata (Lund 1831); Körber, Systema Lichenum Germaniae (Bresl. 1855), mit der Ergänzung: Parerga lichenologica (das. 1859–65); Nylander, Synopsis methodica Lichenum (Par. 1858–60); Kummer, Führer in der Flechtenkunde (2. Aufl., Berl. 1883); Th. M. Fries, Lichenographia scandinavica (Upsala 1871 bis 1874); Schwendener, Untersuchungen über den Flechtenthallus (in Nägelis „Beiträgen zur wissenschaftlichen Botanik“); Rees, Über die Entstehung der Flechte Collema glaucescens (Berl. 1871); Stahl, Beiträge zur Entwickelungsgeschichte der F. (Leipz. 1877); Krempelhuber, Geschichte und Litteratur der Lichenologie (Münch. 1867–72, 3 Bde.).[WS 1]

Flechten, Verarbeitung biegsamer band- oder rutenförmiger Materialien zu allerlei Gebrauchsgegenständen (s. Geflechte).


Jahres-Supplement 1891–1892
Band 19 (1892), Seite 311312
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[311] Flechten. Über die Ernährung der F. war bisher wenig bekannt. Man nahm an, daß die Alge aus der Luft Kohlensäure aufnimmt und unter dem Einfluß des Lichtes organische Substanz bildet. Bei den meisten F. herrscht aber der Pilz, der keine organische Substanz zu erzeugen vermag, an Masse bedeutend vor, und es entsteht daher die Frage, ob nicht die Atmung des Pilzes stets, selbst im Lichte, die Bildung von organischer Substanz durch die Alge überwiegt. Wäre dies der Fall, dann müßten die F. den nötigen Kohlenstoff einer andern Quelle als der Luft entnehmen. Jumelle hat diese Verhältnisse untersucht und gefunden, daß die F., deren in Gestalt von Büscheln oder Platten entwickelter Thallus grau oder grünlich ist, ein deutliches Vorherrschen des Assimilationsprozesses erkennen lassen. Bei den F. mit auch noch gut entwickeltem Thallus, bei denen aber die Farbe des Chlorophylls hinter andern Färbungen mehr oder weniger vollständig verschwand, wurde das Vorhandensein der Assimilation schon weniger deutlich, und bei den F., deren Thallus auf Steinen und Rinden weiße, schwärzliche oder gelbe Flecke bildet, steigerte sich die Unsicherheit. Die F. der ersten und zweiten Reihe nehmen sämtlich im diffusen Licht Kohlensäure auf und entwickeln Sauerstoff, bei den F. der dritten Reihe aber fand dieser Vorgang nur im direkten Sonnenlicht statt, während im diffusen Lichte die Atmung überwog, d. h. Kohlensäure entwickelt und Sauerstoff aufgenommen wurde. Es ergibt sich mithin, daß unter günstigen Bedingungen der Beleuchtung, der Feuchtigkeit und der Jahreszeit alle F. im stande sind, die Kohlensäure der Luft so energisch zu zersetzen, daß dieser Prozeß die durch die Atmung bewirkte Kohlensäureentwickelung [312] überwiegt. Damit ist ein Gewinn an Kohlensäure für die F. verbunden.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Siehe auch die Artikel Flechtenentwickelung und Flechtenfarben (Band 18).