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MKL1888:Flechtenentwickelung

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Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Flechtenentwickelung“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 18 (Supplement, 1891), Seite 293294
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Flechtenentwickelung. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 18, Seite 293–294. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Flechtenentwickelung (Version vom 13.04.2024)

[293] Flechtenentwickelung.[WS 1] Das sonderbare Genossenschaftsverhältnis zwischen Pilz und Alge, welches nach den Untersuchungen von Schwendener, Bornet, Rees, Treub, Stahl u. a. den Aufbau des Flechtenkörpers bedingt, wird von einzelnen Flechtenkennern noch immer als thatsächlich unerwiesen betrachtet. Der von ihnen angeführte Haupteinwurf ist der, daß es bisher nicht gelungen sei, eine höher organisierte Flechte, z. B. eine Physcia, aus ihren beiden Bestandteilen, der Nähralge und dem auf ihr schmarotzenden Pilze, bei künstlicher Kultur derart zu erzeugen, daß die Entwickelung sich Schritt für Schritt verfolgen lasse und jeder Zweifel über das erlangte Resultat ausgeschlossen sei. Obgleich den obengenannten Forschern Synthesen aus Pilz und Alge, z. B. bei Collema, Endosiphon, Polyblastia u. a., teilweise gelungen waren, so bekamen sie doch entweder nur die Anfangsstadien der Vereinigung zu Gesicht, oder verwendeten an Stelle von wirklichen Algen die Gonidien der Flechte selbst als Nährsubstanz; weiteres Beweismaterial in dieser Frage war daher sehr wünschenswert. Zunächst wurden von Möller, unter Anwendung der Brefeldschen Kulturmethoden die Sporen einer Reihe von Flechten (Lecanora subfusca, Thelotroma lepadinum, Pertusaria communis, Arten von Opegrapha, Calicium u. a.) auf sterilisierte Nährstofflösung ausgesäet und nach erfolgter Keimung derselben bei vorsichtiger Kultur auf Objektträgern Thalluskörper erhalten, welche dem der normalen Flechten, abgesehen von dem selbstverständlichen Fehlen der Gonidien, in den wesentlichen Stücken vollkommen gleich waren; so bildete sich z. B. aus Sporen von Lecanora subfusca nach Verlauf eines Vierteljahrs ein kleiner, undurchsichtiger, weißer Thallus von 1,5–2 mm Durchmesser mit den charakteristischen Merkmalen einer Lecanora aus. Die Versuche mit Calicium parietinum zeigten ferner, daß bei Aussaat der sogen. Spermatien genau dieselbe Thallusform entsteht, wie sie aus Schlauchsporen hervorgeht, und daß damit zum erstenmal für eine Flechte die Zusammengehörigkeit beider Fruktifikationsformen direkt bewiesen ist. Die Untersuchungen Möllers liefern somit einen neuen Beweis für die Doppelnatur der Flechten, denn wenn der innerhalb der Flechte auf den Gonidien, d. h. den Algenzellen, schmarotzende Pilz auch ohne letztere aus einer Nährstofflösung auf Objektträgern sich zu ernähren und zu wachsen vermag, so erhellt daraus die ursprüngliche Unabhängigkeit des Pilzes von den Gonidien. Daß auch letztere sich unabhängig von den Pilzfäden bei geeigneter Kultur zu normalen Algen fortzuentwickeln vermögen, ist bereits seit längerer Zeit bekannt. Diese beiden Seiten der Flechtenfrage sind somit als endgültig entschieden zu betrachten.

Ein wesentlicher Fortschritt in der synthetischen Erzeugung einer Flechte aus Pilz und Alge wurde von Gaston Bonnier gemacht. Derselbe ging von wirklichen, unter normalen Bedingungen wachsenden Algen (Protococcus, Pleurococcus, Trentepohlia), also nicht von Gonidien des Flechtenthallus, aus und suchte zunächst Reinkulturen derselben in keimfreien Pasteurschen Flaschen zu gewinnen. Auf diesem Wege erhaltene Algenzellen nebst einigen, mittels des Mikroskops vorher geprüften Sporen der Flechte wurden dann auf sterilisierten Rinden- oder Gesteinsstücken in Pasteursche Flaschen gebracht und der Weiterentwickelung überlassen; in andern Fällen wurde das Aussaatmaterial behufs Verfolgung der Anfangsstadien auf Deckgläsern in niedrigen, den Zutritt keimfreier Luft gestattenden und feucht gehaltenen Glaskammern kultiviert; die zur Aussaat benutzten Sporen gehörten verbreiteten Flechtenarten, wie Physcia parietina und stellaris, Parmelia Acetabulum, Lecanora sophodes u. a., an. Am besten gelangen die Kulturen, welche in sehr keimfreier Gebirgsluft bei ca. 2000 m Höhe in den Pyrenäen angestellt wurden; freilich gehörte zur Erzielung eines größern Thallus mit ausgebildeten Sporenschlauchlagern (Apothecien) in der Regel ein Zeitraum von zwei Jahren. Ein auf die angegebene Weise aus Algenzellen (Protococcus vulgaris) und den Sporen der bekannten orangegelben Wandflechte (Physcia parietina) erzeugter Thallus erreichte einen Durchmesser von einigen Zentimetern. Im ganzen wurden elf verschiedene Kulturen mit positivem Ergebnis, darunter vier mit Erzielung von Apothecien, gemacht und die übrigen wenigstens bis zur Bildung eines deutlichen Thallus fortgesetzt; die so erhaltenen Exemplare wurden von hervorragenden Flechtenkennern identifiziert. Die an freier Luft angestellten Kulturen gingen entweder bald durch Pilze zu Grunde, oder es siedelten sich auf ihnen fremde, nicht ausgesäete Flechtenformen an. Die in den feuchten Kammern erhaltenen Anfangsstadien waren besonders bei Physcia parietina der Beobachtung günstig; schon nach 5 Tagen hatten die Keimfäden von 2 Sporen die ca. 30 vorhandenen Algenzellen sämtlich umklammert. Später bilden die Fäden teils dicke, etwas angeschwollene Gliederzellen, die zu dem pseudoparenchymatischen Teile des Thallus heranwachsen, teils Klammerorgane, welche die Algenzellen umspinnen und mit ihnen die Gonidienschicht herstellen, teils endlich strahlig nach allen Seiten auswachsende Ausläufer, die zur Aufsuchung neuer Nähralgen bestimmt sind. Nach 30 Tagen bildete sich über den Gonidien ein oberflächlicher Panzer von Pseudoparenchym, welcher die weitere mikroskopische Untersuchung unmöglich machte; der nach 50 Tagen entstandene Thallus stimmte im Bau der Rinde, der Gonidien- und der Markschicht mit ebensolchen von Rindenstücken vollkommen überein. Diese Ergebnisse erscheinen geeignet, auch den letzten Zweifel an der Doppelnatur der Flechten zu beseitigen.

Auch die vergleichende Untersuchung der wild wachsenden Flechtenarten führt zu einem gleichen Resultat. Bekanntlich zeigen die Gonidien der Flechten [294] Formen, welche von bestimmten, den verschiedensten Familien angehörigen Algen (wie Palmellaceen, Chroolepideen, Konfervaceen, Koleochäteen, Chrookokkaceen, Rivularieen, Sirosiphoneen, Scytonemaceen und Nostokaceen) nicht zu unterscheiden sind. Anderseits sind Flechten aufgefunden, in welchen der den Charakter derselben wesentlich bestimmende Pilz nicht wie gewöhnlich ein Schlauchpilz (Askomycet), sondern ein basidienbildender Pilz aus der Verwandtschaft der Hautpilze (Hymenomyceten) ist. Die hierher gehörigen Flechten, z. B. die grüne, in Form halbkreis- oder nierenförmiger Scheiben an dünnen Zweigen wachsende Cora pavonia, die von ältern Forschern teils als Alge, teils als Pilz beschrieben worden ist, wurden von Johow in ihrer westindischen Heimat näher studiert; ihr Thallus enthält lebhaft blaugrün gefärbte Zellen der Alge Chroococcus, die dicht von den Pilzfäden umsponnen werden. Auf der Unterseite der Flechte entsteht die sporenerzeugende Schicht (Hymenium), deren Elemente ganz den Bau typischer Hautpilze besitzen. Die Gattung Cora bildet mit einigen verwandten Formen (Rhipidonema, Dictyonema, Laudatea) die den gewöhnlichen Schlauchpilzflechten (Ascolichenes) gegenüberstehende Abteilung der Hautpilzflechten (Hymenolichenes). Neuerdings sind von Massee auch den Bauchpilzen an die Seite zu stellende, einem kleinen Bovist ähnliche Flechten (Bauchpilzflechten, Gasterolichenes) in Indien aufgefunden worden. Algen und Pilze treten somit innerhalb der Flechten stets in Formen auf, welche ihren frei wachsenden Arten und Typen durchaus gleichwertig sind, ein Parallelismus, der den doppelten Ursprung der Flechten auf das unzweideutigste bestätigt. Vgl. Möller, Über die Kultur flechtenbildender Askomyceten ohne Algen (Münst. 1887); Bonnier, Recherches sur la synthèse des Lichens (Par. 1889); Johow, Die Gruppe der Hymenolichenen (Pringsheims Jahrbücher, Bd. 15, 1884); Massee, On Gasterolichenes (Lond. 1887).

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vgl. den Artikel Flechten im Hauptteil.