MKL1888:Gotische Sprache

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Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Gotische Sprache“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 7 (1887), Seite 560561
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Gotische Sprache. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 7, Seite 560–561. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Gotische_Sprache (Version vom 19.04.2022)

[560] Gotische Sprache, die Sprache derjenigen Völker, welche im 2. Jahrh. n. Chr. an der Weichsel bis gegen die Donau wohnten und der großen Verbindung der Goten angehörten oder diesen verwandt waren. Die g. S. bildete einen Hauptzweig der Germanischen Sprachen (s. d.), welcher am nächsten mit den skandinavischen Sprachen verwandt ist, eine Thatsache, welche ihre ausreichende Erklärung darin findet, daß die ursprünglichen Sitze der Goten (in der jetzigen Provinz Preußen) den skandinavischen Völkern sehr nahelagen. Das schwedische Gotland darf übrigens nicht mit den Goten in Zusammenhang gebracht werden, beide Völkernamen sind in ihrer Form ursprünglich verschieden; in gotischer Sprache würde die skandinavische Völkerschaft Gautôs heißen, während Gutans der Name der Goten war. Die Spaltung des großen Gotenstammes in mehrere Völkerschaften (Ost- und Westgoten, Gepiden) können wir sprachlich nicht verfolgen, da unsre Überlieferungen allein auf die Westgoten zurückgehen; die dialektischen Verschiedenheiten müssen aber mindestens sehr geringfügig gewesen sein, da die westgotische Bibelübersetzung ohne weiteres auch bei den Ostgoten in Italien in Gebrauch genommen wurde. Die nicht sehr umfangreichen Überreste der gotischen Sprache, die wir noch besitzen, sind für die Sprachforschung ein höchst wertvoller Schatz, denn von keiner andern germanischen Sprache sind gleich alte Überreste vorhanden. So liegt z. B. zwischen den ältesten Denkmälern unsrer hochdeutschen Sprache und den gotischen Denkmälern ein Zwischenraum von nahezu 400 Jahren. Die wichtigsten Überreste sind die Fragmente der gotischen Bibelübersetzung des Ulfilas (gest. 381 n. Chr.). Sie bestehen in bedeutenden Fragmenten der vier Evangelien, welche der „Codex argenteus“ (jetzt in Upsala) enthält, in Bruchstücken aus den Paulinischen Briefen an die Römer, die Korinther, Galater, Epheser, Philipper, Kolosser, Thessalonicher, an Timotheus, Titus und Philemon. Aus dem Alten Testament sind nur spärliche Bruchstücke der Bücher Esra und Nehemia übriggeblieben. Außerdem sind noch Bruchstücke einer Auslegung des Evangeliums Johannis, einige Urkunden aus den Zeiten Theoderichs d. Gr., das Bruchstück eines gotischen Kalenders und einige unzusammenhängende Zeilen und Namen vorhanden. Zwar berichten die griechischen Schriftsteller, daß Ulfilas das gotische Alphabet erfunden habe; doch wissen wir jetzt, daß diese Thätigkeit des Ulfilas nur darin bestand, daß er das griechische Alphabet der gotischen Sprache anpaßte, indem er fehlende Zeichen aus dem Runenalphabet, zum Teil [561] auch aus der lateinischen Schrift, herübernahm. Jedenfalls beweist die Größe des Werkes, da Ulfilas die Bibel fast ganz übersetzte, sodann der Umstand, daß man selbst Erklärungen der biblischen Schriften in gotischer Sprache besaß, und besonders auch die Pracht, mit welcher der „Silberne Kodex“ geschrieben ist, daß die Goten schon eine Litteratur hatten und die Kunst zu lesen sich nicht auf wenige Individuen beschränkte. Doch waltete ein unglückliches Los über dieser so schönen Sprache. In Italien verschwand sie mit dem Fall der Goten bis auf die letzte Spur, und in Spanien scheint sie bei den Westgoten durch die überwiegende einheimische Bevölkerung schon lange vor der Eroberung des Landes durch die Araber gänzlich unterdrückt worden zu sein, so daß sie sich kaum noch in einigen Namen erhielt. Dagegen haben sich in der Krim Überreste einer schon früh dahin versprengten Gotenabteilung bis in die neuere Zeit erhalten. Diese sogen. Gothi Tetraxitae oder Krimgoten hatten noch bis ins 16. Jahrh. ihre Sprache bewahrt, von welcher uns durch die Aufzeichnungen des Augerius Gisler von Busbeck in Flandern (1522–1592) beachtenswerte Reste überliefert sind. Obwohl schon im 18. Jahrh. alle Spuren dieses Völkchens verweht waren, so ist doch an der Existenz desselben sowie an der Echtheit der überlieferten Sprachreste nicht zu zweifeln. Ausführliche Nachweisungen darüber gab Maßmann in Haupts „Zeitschrift für deutsches Altertum“ (Bd. 1). Vgl. Tomaschek, Die Goten in Taurien (Wien 1881).

Die g. S. zeigt eine große Durchsichtigkeit der Laut- und Formenlehre. An Formenreichtum kommt ihr keine andre germanische Sprache gleich. Sie hat z. B. im Verbum und Pronomen noch den Dualis; in der Verbalflexion ist das Mediopassiv in genauer Übereinstimmung mit dem Griechischen erhalten, freilich nur im Präsens. Der Reichtum an Bildungssilben, welcher das Gotische vor dem Althochdeutschen und noch mehr natürlich vor dem Neuhochdeutschen auszeichnet, tritt uns klar vor Augen, wenn wir z. B. das gotische habaidêdeima vergleichen mit dem identischen althochdeutschen habêtîm, neuhochdeutsch „(wir) hätten“. Ist also in lautlicher und formeller Hinsicht das Gotische die Grundlage der germanischen Grammatik, so kann dies betreffs der Syntax nicht in ganz gleichem Maß gelten. Da unsre gotischen Sprachdenkmäler Übersetzungen aus dem Griechischen sind, so liegt eine Einwirkung der griechischen Syntax nahe, und es läßt sich dieselbe auch in der That in manchen Fällen nachweisen. Es gilt also bei der Betrachtung der gotischen Syntax, immer das germanische Element von den griechischen Einwirkungen zu sondern, ehe man darauf das Gebäude der historischen Syntax der germanischen Sprachen gründen kann. Die Kenntnis der gotischen Sprache in neuerer Zeit datiert von dem Bekanntwerden des „Codex argenteus“ in der zweiten Hälfte des 16. Jahrh. Der erste, welcher der gotischen Sprache ein gründlicheres Studium widmete, war der Niederländer Franz Junius. Außer seiner Ausgabe des „Codex argenteus“ (1665) lieferte er auch schon grammatische und lexikalische Arbeiten über das Gotische. Auch die gotische Grammatik wurde durch die eingehende Behandlung, welche ihr Grimm in seiner „Deutschen Grammatik“ zu teil werden ließ, auf einen ganz neuen Standpunkt gestellt. Von spätern Werken sind zu nennen: die ausführliche gotische Grammatik von Gabelentz und Löbe (Bd. 2, Abtlg. 2 ihrer Ausgabe des Ulfilas, Leipz. 1846) sowie die mehr sprachvergleichende Behandlung in dem Buch von Leo Meyer: „Die gotische Sprache“ (Berl. 1869). Das ausführlichste Wörterbuch der gotischen Sprache lieferte Ernst Schulze („Gotisches Glossar“, Magdeb. 1848) und in sprachvergleichender Hinsicht L. Diefenbach („Vergleichendes Wörterbuch der gotischen Sprache“, Frankf. a. M. 1851). Zur Einführung in das Studium des Gotischen ist zu empfehlen die Ausgabe des Ulfilas von Stamm-Heyne (8. Aufl., Paderb. 1885), welche auch eine kurze Grammatik und ein Wörterbuch der gotischen Sprache enthält, und die „Gotische Grammatik“ von W. Braune (2. Aufl., Halle 1882).