MKL1888:Handschrift

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Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Handschrift“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 8 (1887), Seite 114116
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Handschrift. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 8, Seite 114–116. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Handschrift (Version vom 09.03.2021)

[114] Handschrift, was jemand mit seiner eignen Hand geschrieben hat, im Gegensatz zu der Druck- und Prägschrift, oder abstrakt gebraucht, der Charakter seiner Schriftzüge; dann ein geschriebenes Buch oder ein Teil desselben, die unmittelbare Übersetzung des lateinischen Liber manuscriptus, Manuskript, im Gegensatz zur Urkunde, d. h. einer kürzern, bloß zu einem praktischen Zweck bestimmten H.; zuweilen auch die in farbigen Zeichen auf einer Fläche bestehende Schrift im Gegensatz zu einer eingeritzten, gewirkten oder geätzten Schrift. Die Wissenschaft, welche sich mit der Untersuchung alter Handschriften beschäftigt, heißt im weitesten Sinn Handschriftenkunde; im engern Sinn wird die Entzifferung und Prüfung der darin vorkommenden Schriftarten Paläographie (s. d.) genannt. In Griechenland und Rom schrieb man in der ältesten Zeit auf Stein, Holz, Metall, Bast, Baumblätter und andre Materialien; aber erst die Erleichterung des Verkehrs mit Ägypten zur Zeit der 26. oder Saïtischen Dynastie (7. Jahrh.) verschaffte den Griechen in dem in Ägypten seit uralter Zeit zu Schriftzwecken verwendeten Papyrus (s. d.) ein bequemes und billiges Schreibmaterial, das die Entstehung einer Litteratur eigentlich erst ermöglichte. Schon zu Herodots Zeit (5. Jahrh. v. Chr.) war der Gebrauch des Papyrus in Griechenland sehr allgemein, da er es als eine Eigentümlichkeit barbarischer Völker anmerkt, daß einige von ihnen nur auf Felle schrieben. Doch wurde später nach der Erfindung des Pergaments (s. d.) auch dieses aus Leder bereitete Material häufig zu Handschriften verwendet, während für kürzere Notizen und Briefe namentlich mit Wachs überzogene Holztafeln beliebt [115] waren, weil man darauf ebenso leicht schreiben, wie das Geschriebene wieder auslöschen konnte. Zu diesem Behuf hatte der Griffel ein spitzes und ein plattes Ende. Die Handschriften oder Bücher der Alten (libri, codices) waren Rollen (volumina), d. h. eine Anzahl an den Enden zusammengeleimter Blätter (paginae), die sich hinten an einem hohlen Stab aus Holz, Knochen oder Elfenbein befestigt fanden, durch den ein oben und unten je mit einem dicken Knopf (cornu, umbilicus) versehener Zapfen lief. Die drei andern Ränder der Rolle wurden mit Bimsstein geglättet oder beschnitten; der Titel (titulus, index) stand auf einem auf der Rolle oder an dem Stab festgeklebten Papierstreifen. Die Stelle des Buchdeckels vertrat eine Kapsel aus gefärbtem Pergament; oft wurde beim Nichtgebrauch die H. auch nur zusammengerollt und mit einem Band umwickelt, wie dies auch bei uns mit Karten, Grundrissen, Noten u. dgl. geschieht. Eine H. aufschlagen, hieß bei den Römern evolvere, d. h. aufrollen. Die Handschriften waren meist von geringem Umfang, und daher kommt es, daß ein Teil eines Buches auch häufig Buch (liber) oder Rolle (volumen) heißt. In der Regel wurde nur die eine Seite eines Blattes beschrieben; waren beide Seiten benutzt, so hieß dies ein Opisthograph. Die Schreiber (librarii) waren in der Regel Sklaven, und gegen Ende der republikanischen Zeit entwickelte sich in Rom der Buchhandel. Die Vervielfältigung der Handschriften wurde in großem Maßstab betrieben, indem eine größere Anzahl Geschwindschreiber gleichzeitig nach einem Diktat schrieben. Dabei mögen in der Eile manche Fehler untergelaufen sein, und manche der falschen Lesarten, die sich in den auf die Neuzeit gekommenen Handschriften der alten Autoren vorfinden, gehen wahrscheinlich hierauf zurück; die meisten dürften aber auf Rechnung der Schreib- und Lesefehler zu setzen sein, welche sich die Mönche des Mittelalters beim Abschreiben der alten Handschriften zu schulden kommen ließen. Handschriften aus dem Altertum haben sich nur in sehr geringer Zahl erhalten, Papyrusrollen (s. d.) nur in Herculaneum und Ägypten; von den dauerhaftern Pergamenthandschriften des Altertums sind die wichtigsten die Palimpseste (s. d.). Sehr beträchtlich ist dagegen die Menge der aus dem Mittelalter, namentlich aus den spätern Jahrhunderten, auf unsre Zeit gekommenen Handschriften, besonders der lateinischen. Im frühern Mittelalter erwarben sich die Mönche das Verdienst der Fortpflanzung der litterarischen Schätze des Altertums und ihrer eignen Zeit, und von dem Werte, den man auf die Handschriften legte, gibt die Auszierung derselben durch die sogen. Miniatoren mit goldenen oder farbigen Anfangsbuchstaben, später sogar mit Bildern (Miniaturen) Zeugnis. In der Folge entwickelte sich auch der Stand der Lohnschreiber, die von Fürsten, Gelehrten und Buchhändlern beschäftigt wurden, aufs neue. Leider sind auch die Handschriften des Mittelalters in vielen Fällen dem Untergang anheimgefallen, und wieviel namentlich seit Erfindung der Buchdruckerkunst von Buchdruckern und Buchbindern zerstört wurde, entzieht sich der Schätzung. Die älteste griechische Pergamenthandschrift ist der von Tischendorf in einem Kloster am Sinai entdeckte Codex Sinaiticus, die Bibel enthaltend, wohl noch im 4. Jahrh. n. Chr. geschrieben. Die älteste in einer germanischen Sprache abgefaßte H. ist der sogen. Codex argenteus („silberne H.“, weil in Silber gebunden), jetzt in Upsala befindlich, der Ulfilas’ gotische Bibelübersetzung enthält und aus dem 5. oder 6. Jahrh. stammt.

Hinsichtlich des Materials zerfallen die erhaltenen abendländischen Handschriften in Pergament- und Papierhandschriften, wobei man unter Papier alles künstlich zusammengesetzte Material, im Gegensatz zu den bloßen Tierhäuten, zu verstehen hat. Im allgemeinen kann man von der Voraussetzung ausgehen, daß Handschriften auf Pergament und ravennatischem Papier älter, solche auf Baumwollen- oder Linnenpapier aber jünger sind. Selbst das Format und die Lagen der Blätter dürfen nicht übersehen werden. Indes ist es bei Pergamenthandschriften sehr schwierig, andre Formate anzugeben als Folio und Quart, da sich unmöglich eine Grenze zwischen Kleinfolio und Großoktav festsetzen läßt, wenn die Blätter nicht, wie bei dem Papier, ursprünglich von gleicher Größe gewesen und in eine gleich bestimmte Zahl von Falten gelegt worden sind. Die Lagen sind besonders wichtig, um Lücken in den Handschriften genau zu berechnen, da nur die Lagen, nicht aber die Blätter und Seiten in ältern Handschriften numeriert zu sein pflegen. Die meisten Lagen bestehen, wie in den jetzt gedruckten Oktavbänden, aus Quaternionen, d. h. aus vier Doppelblättern oder 16 Seiten; doch kommen auch Ternionen, Quinternionen, Sexternionen u. dgl. vor, und auf den italienischen Universitäten pflegte man die Handschriften nach Pezien, d. h. nach Lagen von zwei Doppelblättern, zu berechnen. Fast alle Handschriften sind liniiert, die ältesten durch bloßen Druck, ohne Farbe, die neuern mit grauen oder schwärzlichen Strichen. Die Farbe der Tinte ist in den ältern Handschriften gelblich, weil sie verloschen ist, vom 12. Jahrh. an gewöhnlich schwärzer, weil man sich, statt der Säuren, häufig schlechter Tusche bediente. – Bei der Benutzung der Handschriften handelt es sich vor allem darum, von den verschiedenen enthaltenen Handschriften eines Werkes durch Untersuchung ihrer gegenseitigen Verwandtschaft, namentlich der Fehler, in denen sie übereinstimmen, einen Stammbaum derselben zu entwerfen und auf diese Weise dann so genau wie möglich den Wortlaut des allen oder je einigen zu Grunde liegenden Codex archetypus (Urhandschrift) festzustellen. Wichtig ist hierfür auch das äußere Schicksal der Handschriften, und es gehört daher in dieses Kapitel auch die Geschichte der Handschriftensammlungen und des Manuskriptenhandels, der besonders während der Auflösung des byzantinischen Kaiserreichs in Italien die höchste Blüte erreichte. Vgl. A. Kirchhoff, Die Handschriftenhändler des Mittelalters (2. Ausg., Leipz. 1853; Nachträge, Halle 1855).

Von den orientalischen Handschriften sind die ägyptischen die ältesten, da die Papyrusrollen bis ins 19. Jahrh. v. Chr. zurückreichen. Auch die Chinesen, die Erfinder des Papiers und einer wenn auch unvollkommenen Druckerei, können sich sehr alter Handschriften rühmen; doch sind selbst die ältesten Inschriften, welche die Handschriften an Alter weit überragen, nicht über 2000 Jahre alt. Von den Chinesen scheinen die meisten andern orientalischen Völker den Gebrauch des Papiers überkommen zu haben, das dann namentlich durch die Mohammedaner weite Verbreitung erlangte. Unter den vorderasiatischen Handschriften sind die syrischen die ältesten und gehen teilweise ins 4. und 5. Jahrh. zurück. Die älteste hebräische H. gehört dem 9. Jahrh. an. Auch die armenischen, arabischen und persischen Handschriften haben alle kein hohes Alter aufzuweisen, und ganz jung sind begreiflich die türkischen. Die alten Iranier schrieben auf Kuhhäute, [116] aber die ältesten erhaltenen Handschriften des Zendavesta sind auf Papier geschrieben und nur wenige Jahrhunderte alt. Die alten Assyrer kannten noch kein andres Schreibmaterial als Thontäfelchen, deren sich bei den neuern Ausgrabungen viele gefunden haben. In Indien liegen Inschriften aus dem 3. Jahrh. v. Chr. vor, aber die ältesten Handschriften gehören dem 12. Jahrh. an. Dieser Umstand fällt indes dem zerstörenden Klima Indiens zur Last, dem die Palmblätter, auf die man gewöhnlich zu schreiben pflegte, nicht zu widerstehen vermochten, außer in Nepal, wo sich bedeutend ältere Handschriften erhalten haben. Noch weniger dauerhaft sind die Birkenblätter, und auch das chinesische Papier, das die Mohammedaner um das Jahr 1000 nach Indien brachten, pflegt sich daselbst nur wenige Jahrhunderte zu halten. Die hinterindischen Handschriften, die alle nicht alt sind, sind häufig mit schwarzen Lettern auf mit Silber überzogene Holztafeln geschrieben.

Bedeutende Handschriftensammlungen finden sich in allen größern Bibliotheken Europas. An wichtigen lateinischen und griechischen Handschriften sind Italien und Paris besonders reich; die wertvollsten Sammlungen orientalischer Handschriften besitzt England, wo namentlich die Bodleyanische Bibliothek in Oxford an persischen, das Britische Museum an syrischen und die India Office Library in London an indischen Handschriften ungemein reich sind. Die wichtigsten Handschriftensammlungen Deutschlands sind die Berliner und die Münchener. Gute Handschriftenverzeichnisse mit genauer Angabe der Beschaffenheit, des Alters, Schriftcharakters und der Herkunft der Handschriften sowie ihres Verhältnisses zu andern Handschriften oder Drucken des nämlichen Werkes gehören zu den verdienstlichsten Arbeiten eines Bibliothekars. Von ältern Werken dieser Art sind z. B. Bandinis Werk über die Lorenzbibliothek in Florenz (1764–93) und Montfaucons kürzere „Bibliotheca bibliothecarum manuscriptorum nova“ (1739, 2 Bde.) hervorzuheben. Unter den neuern europäischen Handschriftenkatalogen gehören die Berliner, Münchener, Wiener, Oxforder, Londoner Verzeichnisse zu den hervorragendsten. Ein bibliographisches „Verzeichnis der Handschriftenkataloge der deutschen Bibliotheken“ von A. Blau verdanken wir dem „Zentralblatt für Bibliothekswesen“ (3. Jahrg., 1886). In Frankreich ist 1885 ein „Catalogue général des manuscrits des bibliothèques publiques de France“ begonnen, der die Pariser und die Departementsbibliotheken umfassen soll. Die Handschriftenschätze des Vatikans werden verzeichnet in der seit 1885 zu Rom erscheinenden „Bibliotheca apostolica Vaticana codicibus manuscriptis recensita“. Eine wertvolle Sammlung mittelalterlicher Handschriftenkataloge lieferte G. Becker: „Catalogi bibliothecarum antiqui“ (Bonn 1885). Wichtig für das Studium der indischen Litteratur sind die verschiedenen im Auftrag der englischen Regierung neuerdings herausgegebenen Verzeichnisse über die außerordentlich massenhaften Sanskrithandschriften, die in den großen in Indien befindlichen Sammlungen aufgespeichert sind. Vgl. noch H. Hofmann, Handschriftenkunde für Deutschland (Bresl. 1831); Wattenbach, Das Schriftwesen im Mittelalter (2. Aufl., Leipz. 1875), und die Zeitschrift „Serapeum“ von R. Naumann (das. 1840–70, 31 Bde.).