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MKL1888:Handschriftendeutung

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Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Handschriftendeutung“ in Meyers Konversations-Lexikon
Seite mit dem Stichwort „Handschriftendeutung“ in Meyers Konversations-Lexikon
Band 8 (1887), Seite 116
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Handschriftendeutung. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 8, Seite 116. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Handschriftendeutung (Version vom 29.10.2021)

[116] Handschriftendeutung (griechisch Graphologie, Chirogrammatomantie), die angebliche Kunst, den Charakter, die Fähigkeiten, Leidenschaften und Eigenheiten eines Menschen aus den Zügen seiner Handschrift zu erkennen. Nachdem schon in der ersten Hälfte des 17. Jahrh. der Professor Baldos in Bologna, später Lavater in seinen „Physiognomischen Fragmenten“ Andeutungen dieser Kunst gegeben, interessierte sich namentlich Goethe für dieselbe, indem er es für unbezweifelbar hielt, daß Sinnes- und Denkweise des Menschen, überhaupt sein geistiges Wesen, in der Handschrift insoweit einen Ausdruck finde, daß man darauf mehr oder weniger zutreffende Vermutungen basieren könne. In neuerer Zeit hat namentlich A. Henze in der Leipziger „Illustrierten Zeitung“ diese Kunst praktisch zu verwerten gewußt und in seiner „Chirogrammatomantie“ (Leipz. 1862) dargestellt. Zu gleicher Zeit versuchte in Frankreich der Jesuitenpater Martin ein System der H. zu geben, jedoch, wie Henze, ohne feste Regeln. Dagegen glaubt der Abbé Michon (gest. 1881) in seinem „Système de graphologie“ (7. Aufl. 1885) und in der „Méthode pratique de graphologie“ (3. Aufl. 1886) die H. auf wissenschaftliche Grundlagen gestellt zu haben. Nach seiner Meinung entsprechen gewisse unberechnete und unbeobachtete Nebenstriche etc., die graphologisch bedeutsamen Zeichen, stets denselben Eigenschaften. Diese Merkmale kehren in der Schrift jemandes regelmäßig wieder und sollen dann die Charaktereigentümlichkeiten desselben darstellen. Daß diese Zeichen nicht zufällig, sondern in unserm innern Wesen begründet seien, versucht auf physiologischer Grundlage Eugen Schwiedland („Die Graphologie. Geschichte, Theorie und Begründung der H., als Beiträge zur Physiologie der Bewegungen“, 2. Aufl., Berl. 1883) darzuthun. Schwiedland behauptet, daß bei allen spontanen natürlichen Bewegungsimpulsen des Menschen und allen Ergebnissen solcher (also Gang, Stimme, Ausdruck der Augen und Handschrift) ein psychisches, d. h. individuell-charakteristisches, Moment vorhanden sei; nur falle die Beobachtung der Handschrift, weil am ehesten meßbar, am leichtesten. Wenn sich gewisse Zeichen allmählich ändern, habe sich auch der Charakter des Schreibers geändert. Ob der Schreiber eine Frau oder ein Mann sei, lasse sich nicht immer sagen, doch stets, ob er einen männlichen oder weiblichen Charakter besitze. Von praktischer Bedeutung ist die Handschriftenbeurteilung vor Gericht bei anonymen Schmähschriften, Testaments- und Wechselfälschungen etc. Vgl. E. de Vars, Histoire de la graphologie (3. Aufl., Par. 1880); A. Varinard, J. H. Michon, sa vie et ses oeuvres (das. 1883); J. Crépieux, Traité complet et pratique de graphologie (das. 1884); Sittl, Die Wunder der Handschrift (Zürich 1880); Scholz, Die Handschrift und ihre charakteristischen Merkmale (Brem. 1885).