MKL1888:Herodŏtos
[436] Herodŏtos (Herŏdot), gewöhnlich der Vater der Geschichte genannt, der älteste der drei großen griechischen Geschichtschreiber, geb. 484 v. Chr. (dies die wahrscheinlichste unter den verschiedenen Angaben über sein Geburtsjahr) zu Halikarnassos an der Westküste von Kleinasien, stammte aus einem angesehenen Geschlecht, zu dem auch der Dichter Panyasis, der Oheim des H., gehörte, wurde aber von Lygdamis, dem Tyrannen seiner Vaterstadt, vertrieben und lebte darauf in Samos; später, nachdem Lygdamis mit seiner Beihilfe gestürzt war, kehrte er zwar nach Halikarnassos zurück, wurde aber durch die politischen Verhältnisse wiederum genötigt, es zu verlassen, hielt sich dann eine längere Zeit in Athen auf, schloß sich aber von hier aus an eine Kolonie an, welche 443 von Athen unter dem Namen Thurioi an der Stelle des alten Sybaris in Unteritalien gegründet wurde, wo er, nachdem er noch einmal (wahrscheinlich von 431 bis 428) einen längern Aufenthalt in Athen gemacht, ungewiß wann, jedenfalls aber erst im Lauf des Peloponnesischen Kriegs, starb. Dies die Nachrichten, die uns von den Alten über sein Leben überliefert sind. Aus seinem Geschichtswerk aber ersehen wir, daß er einen großen Teil seines Lebens auf Reisen zugebracht haben muß. Er kannte nicht nur Kleinasien, das eigentliche Griechenland und Unteritalien aus eigner Anschauung, sondern hatte seine Reisen im Osten bis nach Babylon, im Norden bis zu den Gegenden des Schwarzen Meers ausgedehnt, hatte Ägypten bis Elefantine bereist und überall mit dem regsten Interesse für alles Wissenswerte und mit der frischesten, lebendigsten Auffassung eine Fülle von Kenntnissen gesammelt, die er sodann mit der größten Treue und Gewissenhaftigkeit in seinem Geschichtswerk niederlegte. Sein Leben fällt, wie aus den obigen Jahresangaben hervorgeht, in die Zeit, wo Kraft und Bewußtsein der Hellenen und insbesondere der Athener durch die gegen die Perser verrichteten Großthaten aufs höchste gesteigert waren, wo durch die Berührung mit den Völkern des Ostens ihr Gesichtskreis erweitert war, wo Kunst und Poesie in den Werken des Pheidias, Äschylos und Sophokles ihren Höhepunkt erreichten, und wo auch die Reflexion, wie namentlich die entstehenden philosophischen Systeme beweisen, sich zu regen anfing, wo aber die geographischen und physikalischen Kenntnisse noch äußerst gering waren, wo die eigne Erinnerung der Hellenen an ihre entferntere Vergangenheit durch die Phantasiegebilde der Sage verhüllt und von der Welt außer ihrem nächsten Gesichtskreis meist nur märchenhafte Klänge zu ihnen gelangt waren. Der Einwirkung dieser Zeitverhältnisse konnte auch H. sich nicht entziehen. Er war zwar eifrig bemüht, überall die Wahrheit zu ergründen, er hat auch das, was er selbst gesehen und erlebt hat, scharf beobachtet und meist richtig dargestellt, wie denn viele seiner lange bezweifelten Nachrichten über fremde Länder in überraschender Weise durch neuere Reisende bestätigt worden sind, und auch das, was er von andern gehört, hat er wenigstens in der Regel von demjenigen geschieden, was er aus eigner Anschauung kannte, und insoweit mit Kritik verwendet, als er oft aus mehrfachen nicht übereinstimmenden Nachrichten seiner eignen Erklärung nach diejenige ausgewählt hat, die ihm als die glaublichste erschien; indes war es doch hier bei der Beschaffenheit der umlaufenden Nachrichten und bei der Unvollkommenheit der damaligen Kritik nicht anders möglich, als daß sich ihm viel Märchenhaftes und Unglaubliches darbot und von ihm aufgenommen wurde. Und während der fromme Sinn, mit dem er überall die Hand der Gottheit zu erkennen sucht, im allgemeinen einen günstigen Eindruck macht, so ist doch nicht zu verkennen, daß namentlich die große Rolle, welche die Orakel als historische Motive bei ihm spielen, mit den höhern Anforderungen der Geschichtschreibung unvereinbar ist, und auch dies ist zuzugeben, daß seine einen ersten Anfang philosophischer Geschichtsbetrachtung bildende Ansicht, wonach die Gottheit aus Neid alles Hohe, das menschliche Maß Überschreitende zu erniedrigen liebe, der Objektivität seiner historischen Auffassung Eintrag thut. Gleichwohl ist das Werk nach Inhalt und Form eins der vortrefflichsten Erzeugnisse der alten Litteratur. Dasselbe ist, wahrscheinlich nicht von ihm selbst, in neun Bücher eingeteilt, die von den Alexandrinern, um damit ihre Vortrefflichkeit auszudrücken, mit den Namen der neun Musen bezeichnet wurden, und hat zum Hauptgegenstand [437] die Kämpfe zwischen den Barbaren und Hellenen, insbesondere die beiden großen Perserkriege. Er beginnt nach Vorausschickung einiger früherer Berührungen zwischen dem Osten und Westen mit der Geschichte des Krösos, des Königs von Lydien, als des ersten, der die kleinasiatischen Griechen seiner Herrschaft unterworfen, geht dann auf Kyros, den Besieger des Krösos, über, und indem er die Geschichte der Perser weiter verfolgt, kommt er auf den Aufstand der Ionier und auf die durch diesen veranlaßten Perserkriege, die er in den vier letzten Büchern ausführlich erzählt und bis zur Eroberung von Sestos (479) fortführt, einem allerdings wenig bedeutenden und daher zum Endpunkt des Werkes nicht eben geeigneten Ereignis, weshalb man auch nicht ohne Grund angenommen hat, daß er durch den Tod oder durch irgend ein andres Ereignis an der Vollendung des Werkes verhindert worden sei. Daneben aber nimmt er überall Gelegenheit, aus der Fülle seines Wissens anderweite Erzählungen und insbesondere auch Länderbeschreibungen (die ausführlichsten sind die von Ägypten im zweiten und von Skythien im vierten Buch) einzuflechten, so daß sein Werk gewissermaßen den ganzen Umfang der historischen Kenntnis nicht nur H.’, sondern seiner Zeit überhaupt repräsentiert. Und wie sonach der Inhalt, so ist auch die Form von besonderm Wert und Interesse, die durch die lichtvolle, anschauliche Darstellung und durch den Wohllaut und die Weichheit des ionischen Dialekts, in dem er, der Sitte seiner Zeit hinsichtlich historischer Darstellungen folgend, obgleich selbst Dorier, sein Werk geschrieben hat, einen ungemeinen Reiz ausübt. Wann er das Werk verfaßt hat, ist nicht mit Sicherheit zu bestimmen. Es wird zwar berichtet, daß er es 456 zu Olympia und 446 zu Athen öffentlich vorgelesen habe, und bei einer dieser Vorlesungen soll Thukydides zugegen gewesen und durch dieselbe zur Abfassung seines eignen Geschichtswerkes begeistert worden sein; indes sind diese Nachrichten nicht ohne Grund bezweifelt worden, und jedenfalls könnten nur Stücke oder Vorarbeiten des Ganzen den Gegenstand der Vorlesung gebildet haben, da sich in dem Werk mehrfach Hindeutungen auf Ereignisse einer spätern Zeit finden. Noch gibt es eine Biographie Homers (hrsg. von Westermann in „Biographi graeci minores“, Braunschw. 1845), die H.’ Namen trägt und vom Altertum für sein Werk gehalten worden zu sein scheint; neuere Kritiker ziehen seine Autorschaft in Zweifel. Ausgaben von H.’ Geschichtswerk sind: die erste von Aldus (Vened. 1502), mit den Anmerkungen der frühern Herausgeber von Schweighäuser (Straßb. 1816, 6 Bde.), ferner von Gaisford (Oxf. u. Leipz. 1824 ff., 4 Bde.), Bähr (Leipz. 1830–35, 4 Bde.; 2. Ausg. 1856–61), Stein (Berl. 1869–71, 2 Bde.) und die kleinern erklärenden Ausgaben von K. W. Krüger (2. Aufl., Leipz. 1881), von Abicht (4. u. 5. Aufl., das. 1883, 5 Bde.) und von Stein (Berl. 1864–68). Von deutschen Übersetzungen sind hervorzuheben: die von Jakobi (Düsseld. 1799–1801, 3 Bde.), Lange (2. Aufl., Bresl. 1824, 2 Bde.), Schöll (neue Ausg., Stuttg. 1855, 3 Bde.), Bähr (das. 1867, 9 Bde.), Stein (2. Aufl., Oldenb. 1884, 2 Bde.) und Abicht (Stuttg. 1885). Die englische Übersetzung von Rawlinson (Lond. 1858–60, 4 Bde.) enthält einen wertvollen Kommentar. Ein „Lexicon Herodoteum“ besitzen wir von Schweighäuser (Straßb. u. Par. 1824, 2 Bde.; Lond. 1841). Vgl. Creuzer, H. und Thukydides (Leipz. 1798 u. 1803); Dahlmann, H., aus seinem Buch sein Leben (Altona 1823); Blum, H. und Ktesias (Heidelb. 1836); Kirchhoff, Über die Abfassungszeit des Herodoteischen Geschichtswerkes (2. Aufl., Berl. 1878); Bauer, Die Entstehung des Herodotschen Geschichtswerkes (Wien 1877).