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MKL1888:Ketteler

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Ketteler“ in Meyers Konversations-Lexikon
Seite mit dem Stichwort „Ketteler“ in Meyers Konversations-Lexikon
Band 9 (1887), Seite 702703
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Ketteler. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 9, Seite 702–703. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Ketteler (Version vom 16.12.2023)

[702] Ketteler (Kettler), 1) Gotthard von, Heermeister des Schwertordens, trat um 1540 in den Orden, begab sich 1559, von den Russen bedrängt, mit den Ordensländern Esthland, Kurland und Livland, die evangelisch geworden waren, unter den Schutz Polens, überließ 1561 dem König Siegmund II. August von Polen Livland und behielt für sich selbst Kurland und Semgallen als weltliches, von Polen zu Lehen gehendes Erbherzogtum. Er vermählte sich 1566 mit Anna von Mecklenburg, unterwarf den Adel unter Gesetz und Recht, gründete zahlreiche evangelische Kirchen und Schulen und starb 17. Mai 1587. Kurland blieb bei seinen Nachkommen bis 1737, wo die russische Kaiserin Anna die Kurländer zwang, ihren Günstling Biron zum Herrn zu wählen. Die von Gotthard gegründete Linie starb zu Anfang des 19. Jahrh. aus; dagegen blüht das Geschlecht der K. noch in Westfalen in zwei Linien, einer protestantischen und einer katholischen. Letzterer gehört an:

2) Wilhelm Emanuel, Bischof zu Mainz, geb. 25. Dez. 1811 zu Münster, wurde in der Jesuitenanstalt zu Brieg in der Schweiz erzogen, studierte in Göttingen, Berlin, Heidelberg und München die Rechte und war 1834–38 Referendar in Münster. Infolge des Kölner Bischofstreits verließ er den Staatsdienst, studierte in München und Münster Theologie, erhielt 1844 die Priesterweihe und 1846 die katholische Pfarrei zu Hopsten in Westfalen. 1848 von dem westfälischen Wahlbezirk Lengerich in die deutsche Nationalversammlung zu Frankfurt abgeordnet, erregte er hier namentlich Aufsehen durch eine freimütige Rede, die er am Grab des in den Septemberunruhen ermordeten Fürsten Lichnowski hielt. 1849 ward K. als Propst an die Hedwigskirche nach Berlin, im Juli 1850 auf den Bischofsitz zu Mainz berufen. Hier verfolgte er rücksichtslos und konsequent das Ziel, die Kirche nicht nur von der Staatsgewalt unabhängig, sondern vielmehr diese zur ergebenen Dienerin der Kirche zu machen und in derselben den papistisch-jesuitischen Geist zur unbedingten Herrschaft zu erheben. Durch Einführung von Schulbrüdern und Schulschwestern, die Errichtung von katholischen Waisen- und Rettungshäusern, eines Priesterseminars und Knabenkonvikts suchte er die Jugenderziehung in die Gewalt des Klerus zu bringen, durch Stiftung klösterlicher Institute, auch einer Jesuitenniederlassung in Mainz (1858), von Vereinen etc. den ultramontanen, fanatischen Geist in der katholischen Bevölkerung großzuziehen. Den rechtlichen Zuständen in der oberrheinischen Kirchenprovinz kündigte er in seiner Schrift „Das Recht und der Rechtsschutz der katholischen Kirche in Deutschland“ einen Kampf auf Leben und Tod an. In der That gelang es K., der von der katholischen Großherzogin unterstützt wurde, die vom Minister Dalwigk geleitete reaktionäre Regierung in einer geheimen Konvention vom 23. Aug. 1854 zu Zugeständnissen zu bewegen, durch die der Staat seine Patronatsrechte, seine Mitwirkung bei der Besetzung des Bistums, das Placet, das Aufsichtsrecht über das katholische Vereinswesen und die geistlichen Lehranstalten preisgab, den freien Verkehr mit Rom und die Herstellung einer geistlichen Gerichtsbarkeit gestattete und dem Bischof nicht bloß die Heranbildung des Klerus völlig überließ, wodurch die katholisch-theologische Fakultät in Gießen beseitigt wurde, sondern ihm auch einen erheblichen Einfluß auf die Schule, namentlich die Volksschule, einräumte. Doch war der Ehrgeiz Kettelers hierdurch noch nicht befriedigt. Er strebte danach, Erzbischof von Freiburg zu werden und dadurch an die Spitze der oberrheinischen Kirchenprovinz zu treten, was jedoch die badische Regierung verhinderte. Daneben suchte er durch Beteiligung an der sozialen Bewegung (z. B. „Die Arbeiterfrage und das Christentum“, 3. Aufl., Mainz 1864) dem Einfluß der Kirche auf den Arbeiterstand die Wege zu bahnen, indem diese als der einzige Rettungsanker [703] im Kampf gegen das Kapital gepriesen wurde. Auch fügte er sich rasch und mit Geschick in die 1866 in Deutschland eingetretene Wendung der politischen Verhältnisse („Deutschland nach dem Krieg von 1866“, 6. Aufl., Mainz 1867). Seine Anhänglichkeit an das Papsttum bekundete er wiederholt in demonstrativer Weise: 1854 wohnte er der Publikation des Dogmas von der unbefleckten Empfängnis in Rom bei, feierte im Juni 1855 mit großem Pomp das 1100jährige Säkularfest des heil. Bonifacius und war 1860 und 1867 wieder in Rom. Auf dem Konzil 1870 gehörte er zu den Bischöfen, welche die Opportunität des Unfehlbarkeitsdogmas bekämpften, und that noch 15. Juli einen (vergeblichen) Fußfall vor Pius IX. Schon im August 1870 unterwarf er sich aber und verteidigte das Dogma in verschiedenen Hirtenbriefen, in denen er Unterwerfung von allen Gläubigen verlangte. Seitdem übernahm er die Führung der ultramontanen Partei im Kampf gegen das Deutsche Reich und die preußische Kirchengesetzgebung. In Tauberbischofsheim 1871 in den ersten deutschen Reichstag gewählt, wurde er Führer der Zentrumspartei, legte indes sein Mandat bald nieder, um sich durch seinen Domkapitular Moufang vertreten zu lassen. An den Versammlungen der preußischen Bischöfe in Fulda nahm er regelmäßig teil, obwohl nur wenige Gemeinden seiner Diözese seit 1866 preußisch waren, und vertrat hier mit Erfolg die Politik des unbedingten Widerstandes gegen die staatliche Gesetzgebung. 1874 untersagte er sogar in den Kirchen seiner Diözese die Feier des Sedantags u. nannte den Rhein einen katholischen Strom. Sein Bischofsjubiläum 1875 wurde zu einer großen ultramontanen Demonstration benutzt. Als nach dem Sturz des Ministeriums Dalwigk (1871) der Minister Hofmann 1874 den Kammern die den preußischen nachgeahmten Kirchengesetze vorlegte, protestierte K. 24. Sept. 1874 gegen dieselben u. erklärte, daß „er dem Recht und der Freiheit der katholischen Kirche auch im kleinsten Punkt nichts vergeben werde“. Indes vermied er, obwohl er die preußischen Bischöfe zum rücksichtslosen Kampf gegen den Staat hetzte, durch deren Schicksal belehrt, klüglich offene Konflikte mit der Regierung. Er starb auf der Rückreise von Rom 13. Juli 1877 in Burghausen bei Augsburg. K. besaß unstreitig bedeutende Gelehrsamkeit und große geistige Begabung sowie Gewandtheit und Schlagfertigkeit im mündlichen wie schriftlichen Gebrauch der Rede. Wohin aber ein bedeutender, energischer, ja in gewissem Sinn freiheitsliebender Priester durch die Konsequenzen des ultramontanen, jesuitischen Systems getrieben werden kann, dafür ist K. ein belehrendes Beispiel. Von seinen zahlreichen Schriften sind noch zu erwähnen: „Freiheit, Autorität und Kirche“ (7. Aufl., Mainz 1862); „Die wahren Grundlagen des religiösen Friedens“ (3. Aufl., das. 1868); „Das allgemeine Konzil und seine Bedeutung für unsre Zeit“ (5. Aufl., das. 1869). „Briefe von und an Wilh. Eman. Freih. v. K.“ gab Raich heraus (Mainz 1879).