MKL1888:Lateinische Sprache
[537] Lateinische Sprache (römische Sprache), einer der reichsten und kräftigsten Äste des indogermanischen Sprachstammes, ursprünglich neben dem Umbrischen und Oskischen (Sabellischen) eins der Hauptidiome der nichtetruskischen Bevölkerung Mittelitaliens und auf die Bewohner der Ebene Latiums beschränkt, aus welchen die Römer hervorgingen. Während die Sprache der übrigen Völker Italiens außer den stammverwandten Umbrern und Sabellern (Etrusker, Iapygen, Ligurer) auf mehr oder minder enge Bezirke beschränkte Volksdialekte blieben und seit Unterwerfung der ganzen Halbinsel unter die römische Herrschaft allmählich verschwanden, wurde das Latein durch die Römer nicht nur aus einem Dialekt zur herrschenden Sprache Italiens erhoben, sondern auch zur Litteratursprache entwickelt. Diese Entwickelung begann erst um die Mitte des 3. Jahrh. v. Chr., also des 5. Jahrh. seit dem Bestehen Roms, und zwar unter der Einwirkung der griechischen Litteratur und Bildung. Durch die zuvor geübte dramatische und epische Poesie wurde die noch neue, ungefüge und wenig melodische Sprache bald so gefördert, daß sie bereits im 2. Jahrh. zu litterarischen Prosadarstellungen befähigt war. In grammatischer und stilistischer Beziehung wurde die Prosa, namentlich die rednerische, erst im letzten Jahrhundert v. Chr. besonders durch Cicero, mit dem das sogen. goldene, bis zu Augustus’ Tod (14 n. Chr.) reichende Zeitalter der lateinischen Sprache beginnt, ausgebildet und überhaupt zu wissenschaftlicher Darstellung geeignet gemacht. Entscheidend für die weitere Entwickelung der Prosa wirkten die von ihren griechischen Mustern abhängigen Augusteischen Dichter, vor allen Vergil; durch ihren Einfluß drang in die Sprache eine Menge von Gräzismen, namentlich syntaktischer Art, und die ganze silberne Latinität ist von ihnen, wenn auch in verschiedenem Grad, angefüllt und modifiziert. Mit dem im 2. Jahrh. beginnenden Sinken der prosaischen Litteratur verschwindet zwar diese gräzisierende Richtung allmählich, indem man auf die archaische, vorciceronische Latinität zurückging; dafür greift aber seit dem Anfang des 3. Jahrh. eine zunehmende Verwilderung der Sprache Platz, indem der Unterschied zwischen dem Sermo urbanus, der gebildeten Sprache der Hauptstadt, und dem Sermo plebeius und rusticus, der Pöbel- und Bauernsprache, welche zahlreiche altertümliche, von der Schriftsprache abgestoßene Formen und Ausdrücke erhalten und sich im Lauf der Zeit vielfache Provinzialismen angeeignet [538] hatte, stetig schwand. Dazu kam, daß in den Provinzen sich mehr oder weniger erhebliche Eigentümlichkeiten geltend machten, welche der herrschenden Umgangssprache eine eigenartige Färbung verliehen (afrikanisches, gallisches Latein). So büßte die hochlateinische Schriftsprache nach einem Zeitraum von ungefähr 300 Jahren ihre Herrschaft ein, und an ihre Stelle trat die Vulgärsprache, aus deren Vermischung mit der Sprache der alten Bewohner der Provinzen sich die neuen Sprachen bildeten, die man als romanische zu bezeichnen pflegt. Nach dem Untergang des römischen Reichs erhielt sich die l. S. nicht nur im Munde der Besiegten, sondern ward als die ausgebildetere auch von den Siegern angenommen. Natürlich war sie dabei vielfacher Veränderung und Verunreinigung ausgesetzt und geriet infolge davon mehr und mehr in Verfall. Dieser ist schon im 6. Jahrh. vorhanden und zeigt sich in der Aufnahme vieler fremder Wörter, welche man latinisierte, in Vertauschung, Verdumpfung, Schwächung etc. der Vokale, in Nichtbeachtung der grammatischen Regeln, in verändertem Gebrauch der Präpositionen, in Vernachlässigung der Regeln der Flexion etc. Die Bemühungen einzelner, dem völligen Verderb der Sprache entgegenzuarbeiten, scheiterten an der Abneigung des christlichen Klerus, der diese entartete l. S. zu der seinigen gemacht hatte, wie sie auch Sprache der Regierung geworden war, gegen das Studium der altrömischen Litteratur als einer heidnischen. Nur hier und da erhielt sich in Klöstern und Schulen mit dem Studium der alten klassischen Litteratur auch eine notdürftige Kenntnis der klassischen Sprache. Mit der Ausbildung der Scholastik, mit der Gründung der Universitäten und mit den anhebenden theologisch-philosophischen Streitigkeiten begann eine vermehrte Anwendung der damals üblichen lateinischen Sprache, des sogen. Mittellateins, indem sie als Schriftsprache und verhältnismäßig immer noch am meisten ausgebildete unter den damaligen Sprachen sich allein zur Sprache der Wissenschaft eignete. Die Wiederbelebung des klassischen Altertums seit der Mitte des 14. Jahrh. führte auch eine vollständige Regeneration der lateinischen Sprache aus der mittelalterlichen Entartung herbei, indem man an den jetzt wieder ans Tageslicht gezogenen Klassikern mit dem größten Eifer wie die alten Römer sprechen und schreiben zu lernen sich bemühte. Auch nach dem Erlöschen der humanistischen Bewegung erhielt sich das Latein als Sprache der Gelehrten und Geistlichen im gegenseitigen Verkehr und der Staatsmänner; in Wort und Schrift bediente man sich derselben auf den Universitäten, in den Schulen, auf den deutschen Reichstagen, in allen öffentlichen Akten des Reichs, namentlich bei völkerrechtlichen Beschlüssen, ja auch vielfach an den Höfen, von denen sie erst zur Zeit Ludwigs XIV. von Frankreich durch die französische verdrängt ward. An den deutschen Universitäten wurde ihre Alleinherrschaft erst seit 1687 durch Chr. Thomasius gebrochen; doch hat ihre Verwendung bei öffentlichen Disputationen und in Promotionsschriften erst seit etwa zwei Jahrzehnten aufgehört, Pflicht zu sein. Im Reich wurde das Deutsche seit 1717 dem Latein gleichberechtigt und verdrängte es dann schnell in den Reichstagsverhandlungen und den Erlassen der Gerichtsbehörden. In Verträgen halten das Latein am längsten fest der Papst, Polen, Ungarn, der Kaiser und England. Französisch sind zuerst abgefaßt die Rastatter Friedensverhandlungen 1714, freilich unter Verwahrung des Reichs; seitdem erst gewinnt das Französische allmählich hier die Herrschaft. Gegenwärtig ist die l. S., wie vorzeiten, die Kirchensprache der römisch-katholischen Welt.
Wie die Alphabete der übrigen italischen Völkerschaften, so geht auch das lateinische auf ein griechisches zurück und zwar auf das in der Latium benachbarten griechischen Kolonie Cumä übliche chalkidische. Von den 24 Buchstaben des dorisch-cumäischen Alphabets ließ das Lateinische die drei ihm unbekannten Aspiraten Θ (th), Φ (ph) und Ψ (ps) fallen und behielt somit 21 Buchstaben: A B C D E F H I K L M N O P Q R S T V X Z. Von diesen kam Z allmählich außer Gebrauch und fand erst zu Ciceros Zeit aus dem Griechischen wieder Aufnahme in die Bücherschrift zusammen mit Y. Das ursprünglich dem griechischem Γ wie in der Stellung, so in der Aussprache entsprechende C diente, als schon seit der Mitte des 5. Jahrh. K für gewöhnlich außer Gebrauch kam und sich nur in einzelnen Wörtern vor A (wie Kalendae) erhielt, lange als Bezeichnung zugleich für den weichen und harten Gaumenlaut, bis im 3. Jahrh. v. Chr. für den erstern G aufkam und C ausschließlich den letztern bezeichnete. So bildete sich ein Alphabet von 23 Buchstaben, denn die graphische Unterscheidung zwischen I und J sowie zwischen V und U ist nicht antik. Vgl. hierzu die Übersichtstafel beim Art. „Schrift“; über die lateinischen Zahlzeichen s. Ziffern. – Die Aussprache der Vokale war wohl im wesentlichen der jetzt üblichen gleich. Selbstverständlich aber ist, daß dieselben Buchstaben, Konsonanten wie Vokale, weder zu allen Zeiten noch zu derselben Zeit in allen Lautverbindungen ganz gleich gelautet haben. Von den Konsonanten ist es besonders das c, das jetzt in gewissen Verbindungen (vor e, i, y) fälschlich wie z statt k gesprochen wird; so sprechen wir Cicero: Zizero, während es Kikero lauten muß. Vgl. Corssen, Über Aussprache, Vokalismus und Betonung der lateinischen Sprache (2. Aufl., Leipz. 1868–70, 2 Bde.); E. Seelmann, Die Aussprache des Latein nach physiologisch-historischen Prinzipien (Heilbr. 1885); H. Schuchardt, Der Vokalismus des Vulgärlateins (Leipz. 1866–68, 3 Bde.). Für die Feststellung der Orthographie ist erst in neuerer Zeit durch die kritischen Ausgaben der Schriftsteller und die inschriftlichen Forschungen eine festere Grundlage geschaffen worden (vgl. Brambach, Die Neugestaltung der lateinischen Orthographie, Leipz. 1868).
Schon die Römer begannen frühzeitig, namentlich seit dem 1. Jahrh. v. Chr., ihre Sprache wissenschaftlich zu behandeln und zwar im Anschluß an die Systematik der Griechen. Durchaus überwiegend war die Thätigkeit der Grammatiker der Formenlehre zugewendet; in der Behandlung der Syntax kamen sie über schüchterne Anläufe nicht hinaus. Im Mittelalter erhob man sich nicht über dürren Formelkram und magere grammatische Systeme nach der Weise des Donatus (s. d.). Seit dem 15. Jahrh. beginnt die Bearbeitung der lateinischen Grammatik durch die italienischen Humanisten, deren Reihe Laurentius Valla mit „Libri VI elegantiarum“ (um 1470), einer Sammlung einzelner scharfsinniger Beobachtungen über Grammatik und Phraseologie ohne systematische Ordnung, eröffnet. Im 16. Jahrh. waren in derselben Richtung thätig besonders der Engländer Thomas Linacer, der zuerst die Syntax systematisch und ausführlich behandelte, der Deutsche Philipp Melanchthon, der Franzose Ramée und der Spanier Francisco Sanchez de las Brozas (Franciscus Sanctius Brocenzis), dessen „Minerva, s. de causis linguae latinae commentarius“ (zuerst Salamanca 1587, nachher sehr oft, namentlich mit den wertvollen Zusätzen [539] des gelehrten Perizonius) auf die systematische Gestaltung der Grammatik der Folgezeit einen Einfluß gehabt hat wie keine frühere Leistung. Seine Methode wurde besonders verbreitet durch Kaspar Schoppe (Scioppius) in seiner „Grammatica philosophica“ (1628 u. öfter). Durch Belesenheit und Gründlichkeit überragte seine Vorgänger Gerh. Joh. Vossius („Aristarchus, s. de arte grammatica libri VII“, Amsterd. 1634 u. 1662; neu hrsg. von Förtsch und Eckstein, Halle 1833–34, 2 Bde.). Aus dem 18. Jahrh. verdienen Erwähnung: Th. Ruddimanns „Institutiones latinae linguae“ (Edinb. 1725; zuletzt hrsg. von Stallbaum, Leipz. 1823), die „Grammatica marchica“ (Berl. 1718; zuletzt von Bernhardi, das. 1795–97, 2 Bde.), unter den deutsch geschriebenen Schulgrammatiken die erste bedeutendere, und Seyferts „Lateinische Sprachlehre“ (Brandenb. 1798–1802, 5 Bde.). Um von der langen Reihe der für die Schule bestimmten Bearbeitungen der lateinischen Grammatik seit dem Ausgang des vorigen Jahrhunderts abzusehen, erwähnen wir von ältern Werken nur noch K. L. Schneiders „Elementarlehre der lateinischen Sprache“ (nur Bd. I u. II,1 erschienen, Berl. 1819–21) als einen Anfang umfassender Darstellung des grammatikalischen Stoffes; Ch. K. Reisigs „Vorlesungen über lateinische Sprachwissenschaft“ (hrsg. von Fr. Haase, Leipz. 1839; neu bearbeitet von Hagen, Landgraf und Schmalz, Berl. 1881 ff.); Haases eigne „Vorlesungen über lateinische Sprachwissenschaft“ (hrsg. von Eckstein und Peter, Leipz. 1874–80). Zu einer wirklich wissenschaftlichen ist die Methode der lateinischen Grammatik erst in neuerer Zeit durch den Einfluß der vergleichenden und der sogen. historischen Grammatik erhoben worden. Als Schöpfer der letztern ist namentlich zu bezeichnen Fr. Ritschl, dessen (in den „Opuscula philologica“, Bd. 2–4, Leipz. 1868–78, gesammelten) Forschungen wir die Grundlagen einer methodisch-kritisch gesicherten Kenntnis der alten handschriftlich und inschriftlich überlieferten Latinität verdanken. Aus der großen Fülle neuerer Bearbeiter der verschiedenen Teile der lateinischen Grammatik, von denen E. Hübners „Grundriß zu Vorlesungen über die lateinische Grammatik“ (2. Aufl., Berl. 1881) ein bis 1880 reichendes, fast erschöpfendes Verzeichnis gibt, heben wir hier nur folgende hervor: R. Kühner („Ausführliche Grammatik der lateinischen Sprache“, Hannov. 1877–79, 2 Bde.), Fr. Stolz u. J. H. Schmalz („Lateinische Grammatik, Laut- und Formenlehre, Syntax und Stilistik“, Nördling. 1885), F. Neue („Formenlehre der lateinischen Sprache“, 2. Aufl., Berl. 1875–77, 3 Bde.), Fr. Bücheler („Grundriß der lateinischen Deklination“, neu hrsg. von J. Windekilde, Bonn 1879), A. Draeger („Historische Syntax der lateinischen Sprache“, Leipz. 1878–81, 2 Bde.), Fr. v. Nägelsbach („Lateinische Stilistik“, 7. Aufl. von I. Müller, Nürnb. 1881), R. Klotz („Handbuch der lateinischen Stilistik“, Leipz. 1874), F. Hand („Lehrbuch des lateinischen Stils“, 3. Aufl. von H. L. Schmitt, Jena 1880). Vgl. L. Meyer, Vergleichende Grammatik der griechischen und lateinischen Sprache (Berl. 1861–65, 2 Bde.; Bd. 1, 2. Aufl., das. 1882–84); E. Herzog, Untersuchungen über die Bildungsgeschichte der griechischen und lateinischen Sprache (Leipz. 1871).
Die ersten Anfänge der Lexikographie bei den Römern lassen sich bis in das 1. Jahrh. v. Chr. zurückverfolgen; vorzugsweise ist dieselbe der Sammlung sogen. Glossen zugewendet. Vertreter dieser Richtung sind für uns Verrius Flaccus (1. Jahrh. v. Chr.), Nonius Marcellus (Anfang des 4. Jahrh. n. Chr.) und Isidorus von Sevilla (erste Hälfte des 7. Jahrh.), an den sich eine ganze Reihe auf alte Tradition zurückgehender Glossensammlungen anschließt (vgl. Löwe, Prodromus corporis glossariorum latinorum, Leipz. 1876). Als Anfang wissenschaftlicher, auf eigner Quellenforschung beruhender Lexikographie ist Rob. Stephanus’ „Thesaurus linguae latinae“ (zuerst 1531, dann 1543, 3 Bde.; neue Ausg., Lond. 1733–53 u. Basel 1740–43) zu betrachten. Auf diesem Werk beruht zum Teil J. M. Gesners „Novus linguae et eruditionis latinae thesaurus“ (Leipz. 1749, 4 Bde.). Ein selbständiges Werk ist Forcellinis „Totius latinitatis lexicon“ (Padua 1771, 4 Bde.; neu bearbeitet von Corradini, das. 1864 ff., und de Vit, Prato 1858 ff., 6 Bde.). Auf Gesner und Forcellini basieren mehr oder weniger Schellers „Ausführliches lateinisch-deutsches und deutsch-lateinisches Wörterbuch“ (Leipz. 1783, 2 Bde.; 3. Aufl. 1804, 5 Bde.), Freunds „Wörterbuch der lateinischen Sprache“ (das. 1834–45, 5 Bde.), Klotz’ „Handwörterbuch der lateinischen Sprache“ (Braunschw. 1853, 2 Bde.; zuletzt 1874), Georges’ u. Mühlmanns „Thesaurus der klassischen Latinität“ (Leipz. 1854–1868, 2 Bde.; unvollendet) und Georges’ „Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch“ (7. Aufl., das. 1879–80, 2 Bde.), zur Zeit das beste Werk dieser Art. Vgl. G. Autenrieth und F. Herdegen, Lexikographie der griechischen und lateinischen Sprache (Nördling. 1885); Vaniček, Griechisch-lateinisches etymologisches Wörterbuch (Leipz. 1877); Derselbe, Etymologisches Wörterbuch der lateinischen Sprache (2. Aufl., das. 1881). Die mittelalterliche Latinität behandelte Du Cange (s. d.) in seinem „Glossarium ad scriptores mediae et infimae latinitatis“.