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MKL1888:Letten

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Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Letten“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 10 (1888), Seite 729730
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Letten. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 10, Seite 729–730. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Letten (Version vom 25.09.2022)

[729] Letten, s. Thon.

Letten, Volksstamm in Rußland, der mit den Litauern, den Shmuden (Samogitiern) und den alten Preußen einen besondern Zweig des baltischen Astes des indogermanischen Völker- und Sprachstammes, den litauischen oder lettischen, bildete. L. und Litauer haben denselben Nationalcharakter und in der Hauptsache dieselben Sitten, häuslichen Einrichtungen und Gewohnheiten. Solange die Geschichte sie kennt, erscheinen die L. als eine Fremden unterworfene Nation, zuerst den Russen tributpflichtig, später den Deutschen unterthan. Stets unkriegerisch, haben sie nicht einmal einen Landesadel aus sich erzeugt, sondern sind seit Jahrhunderten ein stilles, friedliches Volk von Ackerbauern und Hirten. Während die Litauer der polnischen Herrschaft und damit dem polnischen Katholizismus anheimfielen, wurden die L. dem Deutschen Orden unterthan und dadurch zum Luthertum geführt. Sie bewohnen ein Gebiet, dessen Grenzlinie bei Salis im O. des Rigaischen Meerbusens beginnt, über Rujen, Walk und Oppekaln ins witebskische Gouvernement führt, sich dann südlich wendet, an Marienhausen und Rositten vorbei bis gegen die Ostspitze Kurlands und von da, mit Einschluß von Birsen und Szaimen, nach Polangen führt. Unterabteilungen des eigentlichen lettischen Stammes gibt es vornehmlich drei: die eigentlichen L. im südlichen Livland, das oft vorzugsweise Lettland (Latweeschu seme) genannt wird, die kurländischen L. auf der Halbinsel Kurland und die Semgaller im Herzogtum Semgallen („Grenzland“), dem Teil von Kurland, der von Mitau aus sich an der Düna hinauf erstreckt. Ihre Anzahl wird auf 1,050,000 angegeben; davon leben 460,000 in Kurland, 17,500 im Gouvernement Kowno, 392,000 in Livland, 175,000 in Witebsk, der Rest in St. Petersburg und einigen benachbarten Gouvernements. Die L. sind von mittlerer Größe, selten korpulent, von weißer Hautfarbe, mit schlichtem, meist blondem Haar, grauen oder blauen Augen, mäßigem Bartwuchs und mäßig langem, ziemlich breitem Schädel. Seit der Aufhebung der Leibeigenschaft sind die L. in einer raschen Zunahme begriffen. Ihrem Nationalcharakter nach sind sie schüchtern, geduldig und fügsam, offenherzig, gastfrei, aber gegen ihre Herren, die Deutschen und Russen, mißtrauisch und versteckt. Die Spekulationssucht und die Handelstalente der Russen fehlen den L. Da es ihnen früher nicht erlaubt war, Manufakturen und andre Etablissements irgend einer Art zu begründen, so zersplitterten sie ihre von Natur reichen Anlagen in den kleinen Geschäften des Ackerbaues und der häuslichen Wirtschaft. Jetzt findet man bei ihnen Handwerker jeder Art, und besonders seit in jüngster Zeit der Erbgrundbesitz sich bei ihnen eingebürgert hat, entfalten sie eine rege Thätigkeit, infolgedessen der materielle Wohlstand im Wachsen begriffen ist. Dörfer gibt es namentlich in Kurland und im südlichen Livland nur wenige, da die L. vorzugsweise in Einzelhöfen leben. In ihrer Kleidung wählen sie fast ausschließlich die weiße und hellgraue Farbe, ihre alte Nationaltracht verschwindet aber von Jahr zu Jahr mehr. Die Propaganda der griechisch-katholischen Kirche hat es vermocht, daß etwa 50,000 L. vom Luthertum abgefallen und zur orthodoxen Kirche übergetreten sind. Die Sprache der L. bildet mit dem Litauischen und dem ausgestorbenen Altpreußischen zusammen die „lettische“ (baltische oder litauische) Familie des indogermanischen Sprachstammes, steht aber an Altertümlichkeit und daher an Wichtigkeit für die Sprachforschung hinter ihren beiden Schwestersprachen weit zurück. An sich ist sie wohllautend, kräftig und besonders in der Ausdrucksweise der Naturlaute reich und schön. Die Poesie der L. ist eine echte Volkspoesie und zwar lyrisch-idyllischen Inhalts. Der vor 400 Jahren beendigte Kampf gegen die deutschen Eroberer hat nirgends eine Spur von Kriegsliedern bei ihnen zurückgelassen; um so reicher sind sie an zarten und tiefsinnigen mythologischen Liedern, Liebesliedern, Hochzeits- und Klagegesängen und andern Volksliedern, deren man bereits ca. 40,000 gesammelt hat (vgl. Ulmann, Lettische Volkslieder, Riga 1874). Nicht weniger zahl- u. sinnreich sind die Volksrätsel, Sprichwörter und Sagen der L. (vgl. Bielenstein, 1000 lettische Rätsel, Mitau 1881). Mit der Poesie stets aufs innigste verbunden waren Musik und Tanz, und die echten alten Volks- und Tanzweisen zeichnen sich durch große Originalität aus (vgl. Jurjan, Lettische Volkslieder mit Klavierbegleitung, Riga 1885). Von den Musikinstrumenten der alten L., zu denen ein Kuhhorn (rags), eine Art Klarinette (stabule), eine Rohrpfeife (swilpe), der Dudelsack (duhkas) und eine Art Zither (kokle, das Instrument der Barden) gehörten, sind jetzt manche nur noch dem Namen nach bekannt; doch findet die Musik auch heute noch durch zahlreiche Gesangvereine eifrige Pflege.

Die von Ramm 1530 veranstaltete Übersetzung [730] der Zehn Gebote und der von Joh. Rivius (gest. 1586) übersetzte Katechismus Luthers werden für die ältesten Denkmäler der lettischen Litteratur gehalten. In der ersten Zeit haben besonders die Deutschen an der Ausbildung und Sammlung des lettischen Sprach- und Litteraturstoffs erfolgreich gearbeitet; in den letzten Jahrzehnten aber ist die lettische Litteratur fast ausschließlich von L. selbst bearbeitet und bereichert worden, vorzugsweise durch Übersetzungen aus fremden Sprachen, aber auch durch Originalarbeiten. Als der erste Dichter der L. muß Stender (1714–96), der als Volks- und Sprachbildner bahnbrechend wirkte, genannt werden; nächst ihm verdienen Erwähnung: Jur Alunan (gest. 1864), M. Kroghem (Pseudonym Ausaklis, gest. 1879) sowie von Lebenden der Epiker Lautenbach (Pseudonym Jusminis, geb. 1847), der Novellist M. Kaudsit (geb. 1848), Fr. Brihwsemneeks (geb. 1846) u. a. Zeitschriften in lettischer Sprache erscheinen gegenwärtig neun. Grammatiken lieferten in neuerer Zeit Rosenberger (Mitau 1830, Dorpat 1843), Hesselberg (Mitau 1841 u. 1848), besonders aber Bielenstein (s. d.), der auch um die Erforschung des lettischen und baltischen Altertums große Verdienste hat. Wörterbücher liegen vor von Stender (Mitau 1798, 2 Bde.), Ulmann und Brasche (Libau 1875 und Riga 1880, 2 Bde.). Vgl. Napierski, Chronologischer Konspekt der lettischen Litteratur (Mitau 1830); Paulus Einhorn, Historia lettica (Dorpat 1649); G. Merkel, Die L. (Leipz. 1800); C. F. Watson, Über den lettischen Volksstamm (Mitau 1822); Waeber, Anthropologie der L. (Dorpat 1879); v. Dorneth, Die L. unter den Deutschen (2. Aufl., Berl. 1887).